Danach


In Jennys Leben kehrte Ruhe ein. Ihre Gedanken drehten sich zwar noch oft um die Ereignisse, die dem Tod Ammerlands gefolgt waren, doch bald gab es andere Fälle, die ihre Aufmerksamkeit erforderten.

Biederkopf hatte sie überraschend zum Essen eingeladen, doch sie hatte abgesagt. Zu viel lastete auf ihr. Als sie versuchte eine Entschuldigung zu formulieren, hatte er sie nur angestarrt. „Ich verstehe.“ Ein leichter Anflug von Bitterkeit lag in seiner Stimme. Aber sie wollte es ihm erklären. Schließlich lag es nicht an ihm. „Es ist einfach noch zu früh. Ich sehe immer noch … Vielleicht nach dem Prozess.“

Seine Lippen wurden schmal. Er nickte und drehte sich um. Grußlos verließ er den Raum.

Bambachs Genesung machte äußerst langsame Fortschritte. Als man ihn aus dem Koma geweckt hatte, krampfte er, sodass er rasch wieder in einen künstlichen Schlaf versetzt wurde. Möglicherweise hatte sein Gehirn über zu lange Zeit zu wenig Sauerstoff bekommen. Erst wenn er endgültig wach war, würde man das endgültige Ausmaß seiner Hirnschädigung beurteilen können.

Über zwei Wochen später war es soweit. Jenny beschäftigte sich gerade mit einem Bandenmord, als ihr Telefon klingelte.

Ein Doktor Göbel war am Telefon. „Herr Bambach ist aufgewacht“, begann er ohne große Einleitung. „Und er möchte Sie sehen.“

Mich?“

Zumindest jemanden von der Polizei und Sie haben den Fall doch bearbeitet. Ihre Telefonnummer ist hier hinterlegt.“

Sicher. Wie geht es ihm?“

Lässt sich schwer sagen. Er redet wirr und halluziniert. Und er wirkt sehr erregt. Ich habe ihm ein Beruhigungsmittel geben müssen. Wirklich ruhiger wurde er jedoch erst, als ich ihm versprochen habe, Sie umgehend anzurufen.“

Ich komme sofort.“ Logo blickte sie fragend an.

Komm mit, ich erzähl´s dir unterwegs.“

Kaum eine halbe Stunde später betraten sie die Station, auf der Bambach lag. Der Arzt wartete bereits auf sie und brachte sie zu ihm. Von der Tür aus sah es aus, als würde Bambach schlafen. Sein Gesicht war so blass, dass es sich kaum von den Kissen abhob.

Als sie näher trat, schlug er die Augen auf. Sie schrak zurück. Sie brannten, als würde ein unsichtbares Feuer in ihm lodern. Er griff überraschend kräftig nach ihrem Unterarm.

Sie müssen sie finden!“, zischte er. „Bevor noch mehr passiert.“

Jenny machte sich vorsichtig los. „Keine Angst, Herr Bambach. Wir haben sie. Frau Hölzel ist im Gefängnis. Sie hat den Mord gestanden.“

Er schüttelte den Kopf. „Frau Hölzel? Nein! Sie ist gefährlich. Lassen Sie sie nicht weg!“ Er schrie fast und warf sich unruhig herum.

Jenny sah hilflos zu dem Arzt, der eine Ampulle von einem Beistelltisch nahm und sie aufzog. Einen Teil injizierte er in den Infusionsschlauch, der in Bambachs Arm mündete. Sofort wurde er etwas ruhiger. Jenny beugte sich vor. „Herr Bambach. Erklären Sie mir ganz langsam und deutlich, was Sie meinen. Sie sind sicher verwirrt. Immerhin lagen Sie über zwei Wochen im Koma. Es kann Ihnen hier nichts passieren.“ Er wurde noch bleicher, wenn das überhaupt möglich war.

Zwei Wochen?“ Er flüsterte jetzt fast. „Das ist unmöglich. Das darf nicht sein. Sie…“

Wen meinen Sie mit sie?“

Susanne!“ Unbehaglich sah sich Jenny nach dem Arzt um. Wusste Bambach, dass seine Frau versucht hatte, ihn zu töten?

Was wissen Sie noch vom letzten Mal, als Sie Ihre Frau gesehen haben?“

Ihm liefen jetzt Tränen übers Gesicht. „Sie wollte mich umbringen. Wieder mal.“

Wieder mal?“

Dabei wollte ich immer nur ihr Bestes. Sie müssen sie aufhalten.“

Sie tätschelte ihm die Schulter. „Sie kann Ihnen hier nichts tun.“

Jetzt lachte er unter Tränen. „Mir? Sie glauben, es geht hier um mich?“

Jetzt war Jenny vollends verwirrt. Hatte der Sauerstoffmangel seine Denkfähigkeit beeinträchtigt? Oder verstand sie nur nicht, was er ihr sagen wollte? „Um wen geht es denn sonst? Ihre Frau wollte Sie töten. Weil Sie sie misshandelt haben.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich hab ihr nie ein Haar gekrümmt. Ich hab sie geliebt, von klein auf.“

Aber…“

Ich musste sie doch beschützen. Ich wusste schon immer, was sie war. Und wozu sie fähig war. Sie ist doch meine kleine Schwester.“ Er sprach jetzt völlig gefasst.

Schwester?“, echote Jenny und Logo trat näher.

Etwas in Bambachs Gesicht fiel auseinander wie die Scherben einer Schüssel. Tonlos sprach er weiter. „Ja, meine Schwester. Ich wusste immer, was mit ihr los ist. Glauben Sie, dass es Menschen gibt, die böse zur Welt kommen? Ich weiß es. Ich habe es gesehen. Schon als Kleinkind misshandelte sie Tiere, riss Käfern die Flügel aus, brach Küken die Beine und sah dann zu, wie sie starben. Als sie größer wurde, hat sie unseren Hund eingesperrt und verhungern lassen. Täglich hat sie ihn besucht und zugeschaut, wie er dünner und schwächer wurde. Mit Essen hat sie ihn verhöhnt. Und so gut verstellt hat sie sich. Ich bin natürlich zu meinen Eltern gegangen, aber sie haben mir nicht geglaubt. Haben gesagt ich bin eifersüchtig. Ich war nur ein Adoptivkind, müssen Sie wissen. Sie dachten, sie könnten keine eigenen Kinder bekommen. Aber dann kam sie nach wenigen Jahren.“

In Jennys Innerem machte sich ein eiskaltes Gefühl breit. „Weiter!“, drängte sie ihn.

Als sie zehn war, ist ihre Freundin beim Schwimmen ertrunken. Viele Jahre später sie mir erzählt, dass sie sie ertränkt hat. Mit einem Ruder hat sie sie unters Wasser gedrückt. Dann ist sie weinend nach Hause gelaufen. Niemand hat Verdacht geschöpft. Ich habe geschwiegen. Immer habe ich gesagt bekommen, ich müsste auf meine kleine Schwester aufpassen, sie beschützen. Stattdessen habe ich angefangen, andere zu beschützen.“ Sein Redestrom stockte. „Kann ich ein Glas Wasser haben?“ Der Arzt reichte ihm eines. „Mit sechzehn hat sie unsere Eltern umgebracht. Sie hat sie eingeschlossen und das Haus angezündet. Lachend stand sie davor, als ich nach Hause kam. Aber ich hätte es nie beweisen können. Sie hätte alles abgestritten und vielleicht sogar mich beschuldigt. Jeder hätte ihr geglaubt, sie war so ein hübsches zartes Mädchen. Da habe ich mich dazu entschlossen, wenigstens zu verhindern, dass sie weiter tötet. Seitdem habe ich aufgepasst, dass sie niemandem mehr schaden konnte. Wir zogen um und ich gab sie als meine Frau aus.“ Er sah Jennys zweifelnden Blick.

Für wie alt halten Sie uns?“

Sie überlegte. „Ende vierzig?“

Ich bin Ende dreißig und meine Schwester ist Anfang dreißig. Mich hat die Sorge altern lassen und sie die Krankheit. Denn sie ist krank. Soziopath nennt man das wohl. Ich habe alles darüber gelesen. Hab ihr über einen befreundeten Apotheker Medikamente besorgt. Ich ließ sie nicht alleine weggehen. Blieb selbst zu Hause, soweit es ging. Verzichtete auf ein eigenes Leben. Vergraulte die meisten Menschen. Und es klappte. Sie wurde ruhiger. Am Anfang hat sie noch versucht, vor mir wegzulaufen und zweimal hat sie versucht, mich zu töten. Allerdings glaube ich nicht, dass sie es ernst gemeint hat. Eher wollte sie mir zeigen, dass sie es kann. Sie brauchte mich. Alleine wäre sie nie zurechtgekommen. Und das wusste sie. In den letzten Jahren habe ich gedacht, sie hätte sich geändert. Hätte eine Art Frieden gefunden. Als ich jedoch von dem Mord auf dem Nachbargrundstück hörte, wusste ich, sie hat wieder angefangen.“

Er schluchzte hemmungslos. „Ich kann ihr nicht mehr helfen. Sie müssen sie aufhalten! Unbedingt. Ohne Kontrolle wird sie weiter morden. Nur zum Spaß!“

Jenny hatte genug gehört. Sie drehte sich zu Logo um. „Schick sofort ein Kommando zu ihr. Ich fahr zur Hölzel und konfrontiere sie. Mal sehen, wie sie reagiert. Einer von beiden lügt und ich werde herausfinden, wer.“

Vierzig Minuten später stand sie im Untersuchungsgefängnis vor Frau Hölzel. „Ich habe keine Zeit. Wir wissen, dass Frau Bambach den Mord an Ammerland begangen hat. Warum haben Sie gelogen?“

Die Frau sah ihr gerade ins Gesicht, fast herausfordernd. „Am Abend von Ammerlands Termin hörte ich draußen ein Geräusch. Susanne kam weinend und voller Blut aus dem Gewächshaus. Sie hat nachts immer mal Spaziergänge zu uns herüber gemacht. Ihr Mann ließ sie ja sonst nicht weg. An diesem Abend war sie auf Ammerland gestoßen. Sie hat mir erzählt, dass er sie ins Gewächshaus gezogen hat und vergewaltigen wollte. Da hat sie ihn umgebracht. Bei mir hat sie geklingelt und um Hilfe gebettelt. Sie hat schon genug durchgemacht. Soll sie auch noch ins Gefängnis?“ Trotzig sah die Frau Jenny an. „Ihr Mann hätte sie totgeprügelt. Da hab ich ihr geholfen. Hab sie heimgeschickt und versprochen, ich kümmere mich um alles. Dann war alles, wie ich es Ihnen erzählt habe.“

Jennys Telefon klingelte. Logo. Sie meldete sich mit einem tonlosen „Ja.“

Das Haus scheint schon ein paar Tage leer zu stehen. Alles Wertvolle ist weg. Ich hab eine Fahndung rausgegeben.“

Hätte sie sich nicht regelmäßig auf dem Revier melden müssen?“

Vor einer Woche war sie dort. Heute hätte sie wieder hin gemusst.“

Jenny ließ die Hand mit dem Telefon sinken, drehte sich um und verließ die Zelle.