Freitag, Frankfurt


Der Tierpfleger Willibald Krummholz war an diesem Morgen früh im Frankfurter Zoo eingetroffen. Seit über dreißig Jahren arbeitete er hier. Angefangen hatte er als Hilfskraft in der Affenanlage, dann hatte er sich hochgedient, bis er heute, mit fast sechzig Jahren, Cheftierpfleger der Raubkatzen war.

Die Morgenstunden waren ihm die liebsten. Es war noch kühl und der Besucheransturm hatte noch nicht eingesetzt. Um diese Uhrzeit hatte er „seine“ Tiger noch für sich. Später würden sich wieder Schlangen vor dem Gehege bilden. Besonders seit die Tigerin Malea Junge bekommen hatte, waren die Tiere Touristenattraktion und Publikumsmagnet.

Er lief am Gehege vorbei und blickte im Vorbeigehen hinein. Hatten die Tiger noch vor wenigen Jahrzehnten in engen Käfigen gelebt, bewohnten sie heute ein großes, ihrem natürlichen Lebensraum entsprechend gestaltetes Habitat. Ein Teil davon war mit einem Glasfenster abgegrenzt, sodass die Besucher die Tiere direkt und ohne Gitterstäbe anschauen konnten. Der restliche Teil der Anlage war durch einen breiten Graben vom Gehweg abgeteilt. Manchmal, wenn sie sich im Gebüsch versteckten, konnte man das Tigerpärchen gar nicht entdecken. Heute jedoch waren die beiden ungewöhnlich aktiv und spielten vorne am Graben. Stirnrunzelnd trat Willibald näher, konnte jedoch nicht erkennen, was für die beiden so interessant war. Er lief weiter ins Gebäude, bereitete die Fütterung vor und lockte die Tiger hinein. Sehr zögerlich kamen sie, obwohl sie wussten, dass eine Mahlzeit auf sie wartete. Als sie im Innenbereich waren, schloss Willibald von außen die Schiebetür, schnappte sich Eimer und Schippe und ging daran, das Gehege zu reinigen. Vorher wollte er jedoch nachsehen, was die Tiger so beschäftigt hatte. Manchmal flogen Vögel zu tief. Oder er fand einen Regenschirm oder einen Hut im Gebüsch, alles schon vorgekommen. Nicht wenige Zootiere starben an Gegenständen, die verantwortungslose Besucher über die Absperrungen warfen.

Er näherte sich der Stelle, an der die Tiger gescharrt hatten. Etwas Weißes lag da. Rot konnte er auch erkennen. Vorsichtig griff er danach und wischte mit der anderen Hand das anhängende Laub ab. Er riss die Augen auf, schrie erschrocken und ließ das Ding fallen. Bleich sank er auf die Knie und atmete schwer. Mühsam versuchte er ein Würgen zu unterdrücken. Jetzt wünschte er sich so ein neumodisches Ding, ein Handy. Stattdessen rappelte er sich hoch, verließ das Gelände durch das Gebäude und schwang sich auf ein Fahrrad, das an der Außenwand lehnte.

Fünf Minuten später stürzte er ins Büro der Zooverwaltung und keuchte. „Polizei, wir müssen die Polizei anrufen!“ Die Sekretärin starrte ihn entsetzt an. „Warum?“

Im Tigergehege liegt ein Fuß!“ Mit diesen Worten fiel er in Ohnmacht.