Frankfurt
Jenny Becker wäre gefühlt an tausend Orten lieber gewesen als hier in der Abflughalle des Frankfurter Flughafens. Ihr Flug nach Los Angeles war aufgerufen worden, doch es würde noch über eine Stunde bis zum Abflug dauern.
Sie hasste große Höhen und musste sich immer wieder ermahnen, dass sie sich auf den bevorstehenden Amerika-Urlaub wie verrückt freute.
Verdient hatte sie ihn sich wahrlich. Erst die lange Genesungszeit, nachdem der Sagen-Mörder, wie ihn die Presse tituliert hatte, sie schwer verletzt hatte. Der Mord an ihrer Freundin, den sie erst vor wenigen Wochen aufklären konnten. Und dann die anonymen Briefe. Der erste wurde in ihr Büro im Polizeipräsidium geschickt und enthielt nur ein einfaches weißes Blatt mit der Aufschrift
Ich denke an Dich
Zunächst hatte sie an einen albernen Scherz geglaubt. Als jedoch einer dieser harmlos wirkenden weißen Umschläge zu Hause auf ihrem Kaminsims lehnte, bekam sie es mit der Angst zu tun. In ihm steckte ein Blatt Papier mit den Worten
Und jetzt bin ich da
In Panik war sie herumgefahren und hatte fast erwartet, den Schreiber hinter sich zu finden. Doch niemand befand sich mit ihr im Zimmer. Vorsichtig kontrollierte sie die Wohnung, froh, dass sie ihre Dienstwaffe mit nach Hause genommen hatte. Doch alles war wie immer. Kein Eindringling versteckte sich hinter dem Duschvorhang.
Die Spurensicherung fand keine Hinweise, wie jemand in die Wohnung hatte eindringen können. Die Nachbarn hatten weder etwas gesehen noch gehört.
Nun spürte Jenny am eigenen Leib, wie groß der Einbruch in die Privatsphäre war, wenn sich die eigene Wohnung als unsicher erwies. Kein Wunder, dass die Opfer oftmals nach einem Einbruch rasch umzogen. Doch das wollte sie auf keinen Fall, schließlich war sie erst vor einigen Monaten in diese Wohnung gezogen, auf der Flucht vor der Erinnerung an andere, noch schlimmere Erlebnisse. Doch die Angst blieb seither ihr ständiger Begleiter, auch wenn sie mittlerweile über eine Alarmanlage und Riegel an Türen und Fenstern verfügte.
Bis heute wusste man nicht, wer der Briefeschreiber war. Der Einzige, dem sie ein Motiv zutraute, war Paul Gascon, der ‚Sagen-Mörder‘, mit dem sie unseligerweise vor seiner Entlarvung eine Beziehung hatte. Doch er saß im Untersuchungsgefängnis Weiterstadt in strengster Isolation und wartete auf seinen Prozess. Wie also hätte er die Briefe schreiben und ihr zukommen lassen können?
Ihre Kollegen Logo Stein und Sascha Meister hatten sich der Aufgabe verschrieben, sie zu beschützen, doch konnten sie nicht Tag und Nacht um sie herum sein. Staatsanwalt Biederkopf, mit dem sie schon in mehreren Fällen zusammengearbeitet hatte, nahm ebenfalls regen Anteil. Er war es gewesen, der sie nach ihren körperlichen und seelischen Verletzungen überredet hatte, in den Polizeidienst zurückzukehren. Sie wusste oder vielmehr vermutete, dass er mehr in ihr sah als eine Arbeitskollegin. Doch beiden war klar, dass sie noch lange nicht für eine neue Beziehung bereit sein würde.
Ihm hatte sie den Urlaub zu verdanken, den sie heute antrat. Wenn sie nicht noch in letzter Minute einen Rückzieher machen würde. Der Gedanke, einfach wieder aus dem Flughafen hinaus zu spazieren, war verführerisch.
Eigentlich sollte Biederkopf heute hier sitzen. Doch er war vor knapp zwei Wochen mit dem Fahrrad so unglücklich gestürzt, dass er sich den rechten Knöchel gebrochen hatte. Schon nach zwei Tagen war er mit einer Gehhilfe wieder im Polizeipräsidium erschienen. Doch eine Rundreise durch den Südwesten der USA, wie er sie geplant hatte, schien in diesem Zustand nicht empfehlenswert.
Vor knapp zwei Wochen, es war morgens kurz nach neun und Jenny saß gerade mit ihren Kollegen in einer Besprechung, rief Biederkopf an und bestellte sie in sein Büro. Jenny ahnte nichts Gutes, als sie eintrat und vor seinem Schreibtisch Platz nahm.
„Frau Becker“, begann er gewichtig und lehnte sich vor. „Ich habe eine prächtige Idee.“ Jenny schluckte. Sie hatte gewisse Zweifel, dass sie die Idee genauso prächtig finden würde.
„Ich habe mir Ihre Personalunterlagen kommen lassen.“ Sie blickte ihn verwirrt an, doch Biederkopf sprach ungerührt weiter. „Wenn ich das richtig sehe, hatten Sie seit fast eineinhalb Jahren keinen Urlaub.“ Er hob abwehrend die Hand. „Nein, Ihre Krankenzeit zählt nicht. Ihnen stehen tatsächlich noch über dreißig Urlaubstage zu.“
Jenny wusste, dass er recht hatte, aber Urlaub? Allein zu Hause sitzen und grübeln. Nein, da ging sie lieber arbeiten und war beschäftigt.
Biederkopf lehnte sich weiter vor. „Ich weiß genau, was Sie jetzt denken. Aber mir geht es nicht einfach nur darum, Ihnen freizugeben.“
„Nicht?“, warf Jenny verwirrt ein.
„Nein, ich will Sie auch noch wegschicken.“
„Wegschicken?“, echote sie und kam sich dabei vor wie ein Papagei.
„Sie wissen doch, dass ich eine Reise geplant hatte. Eine USA-Reise, um genau zu sein. Ich liebe den Südwesten. Waren Sie schon einmal da?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nun, dann wird es Zeit. Ich kann ja nicht fahren und wenn ich die Reise so spät storniere, fallen horrende Gebühren an. Wie wäre es, wenn Sie statt meiner fahren? Und bitte“, fügte er hinzu, als sie zum Sprechen ansetzte, „überlegen Sie es sich erst einmal, bevor Sie ablehnen. Urlaub machen Sie, das ist eine Dienstanweisung. Und wäre es dann nicht schöner, ihn mit einer tollen Rundreise zu verbringen? Und außerdem wären Sie hier aus dem Schussfeld. Die Sache mit den Briefen geht mir nicht aus dem Kopf.“
„Aber …“, meinte Jenny hilflos.
„Nichts aber! Sie werden sehen, es wird Ihnen gefallen. Die Rundreise dauert nur zwei Wochen und findet in einer geführten Kleingruppe statt. Nichts mit Bussen und Massentouristik. Übernachtet wird nur in ausgesuchten Hotels. Ist extra gedacht für Singles. Sie müssen sich um rein gar nichts kümmern, alles durchorganisiert. Das Ganze ist zwar recht teuer, aber ich weiß, dass Sie es sich leisten können. Und es würde Ihnen bestimmt gut tun.“
Jenny schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich überrumpelt. „Darf ich erst mal drüber nachdenken? Wann soll die Reise denn losgehen?“
„In knapp zwei Wochen. Hier sind die Unterlagen. Schauen Sie in Ruhe rein. Aber bitte sagen Sie mir bis Ende der Woche Bescheid. Ich muss ja ansonsten stornieren. Und das wäre wirklich schade.“
Jenny hatte die Unterlagen genommen und war kopfschüttelnd in ihr Büro zurückgegangen. Logo und Sascha, ihre Kollegen, bestürmten sie und wollten wissen, was der Staatsanwalt von ihr gewollt hatte. Natürlich fanden die beiden die Idee toll.
„Der Biederkopf ist immer für eine Überraschung gut!“, meinte Logo und der große schlanke Sascha nickte dazu wie ein Wackeldackel.
„Tolle Idee. Es wird sowieso Zeit, dass du mal Urlaub machst. Und so ne Reise, Mensch, da träum ich schon lange von.“
„Dann fahr du doch“, murmelte Jenny.
„Nee, du bist diejenige, die hier mal weg muss. Vielleicht finden wir in der Zwischenzeit raus, wer diese Briefe schreibt.“
„Ist ja gut. Könnten wir jetzt das Thema wechseln?“
Der Gedanke, den Biederkopf ihr in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie nicht mehr los. Zwar hasste sie es ihrer Arbeit den Rücken zu kehren, die USA zu bereisen war jedoch ein lange gehegter Traum von ihr. Und tatsächlich, sie hatte letztes Jahr ihre Wohnung in Sachsenhausen so gut verkaufen können, dass es finanziell keine Probleme geben würde. Und die Reise, die der Staatsanwalt sich ausgesucht hatte, war vom Feinsten. Sie würde nach Los Angeles fliegen und dort die Reisegruppe kennenlernen. Am nächsten Tag würden sie die Stadt Richtung Osten verlassen und über Palm Springs Richtung Las Vegas fahren. Von dort aus über das Death Valley nach Norden und durch den Yosemite Nationalpark nach San Francisco, von wo sie zurückfliegen würden.
Als sich auch Jennys Therapeutin, die sie nach wie vor jede Woche konsultierte, begeistert von der Idee zeigte, gab sie sich einen Ruck und sagte zu.
Mit dem Ergebnis, dass sie jetzt hier am Flughafen saß und ihre Entscheidung zutiefst bereute.
Als die Ansage kam, an Bord zu gehen, wurde es immer schlimmer. Mit verkrampftem Lächeln passierte sie die Stewardess, die ihr strahlend einen guten Flug wünschte. Im Gedränge im Gang bekam sie Platzangst. Wahrscheinlich würde sie zwischen einem übergewichtigen Kettenraucher und einer Mutter mit schreiendem Baby sitzen.
Sie ging tapfer weiter. Ah, ihr Platz. 49 G. Am Fenster, na toll! In der Reihe saß noch niemand und sie quetschte sich hinein, nachdem sie ihre Tasche im Fach darüber verstaut hatte. Mit gemischten Gefühlen blickte sie den Gang entlang. Da, der Dicke. Sie hätte wetten können, dass er ihr Sitznachbar war. Aber zum Glück schnaufte er an ihr vorbei. Zu schön wäre es, wenn der Flug nicht ausgebucht wäre und die Nachbarplätze leer blieben. Kaum hatte sie die Hoffnung zu Ende gedacht blieb ein jüngerer, schüchtern aussehender Mann vor ihrer Sitzreihe stehen und starrte auf seine Karte. Nach kurzem Zögern schob er sich in die Reihe und nickte ihr zu. „Ich glaube, ich sitze hier.“
Jenny lächelte ihn freundlich an. Immerhin wog er nicht mehr als achtzig Kilo. Und unangenehmer Körpergeruch strömte ihr auch nicht entgegen. Etwas seltsam sah er schon aus. Sehr konservativ für einen Mann seines Alters. Die Haare hatten einen Seitenscheitel und er trug einen Pullunder mit einem rosa Hemd darunter. Auch die Tasche, die er auf den Knien balancierte, war altmodisch und hätte eher zu einem Rentner gepasst. Sie sortierte ihn in die Kategorie Muttersöhnchen ein.
Kurz bevor die Türen geschlossen wurden hechelte noch eine ältere Dame den Gang entlang und ließ sich auf den dritten Platz fallen.
„Geschafft“, stöhnte sie. „Diese Taxifahrer sind wirklich unmöglich.“
Als Jenny und Muttersöhnchen ihr höflich zunickten, verfiel sie in eine weitschweifige Erklärung für ihr spätes Eintreffen.
Jenny bekam davon nichts mehr mit, denn in dem Moment, als die Motoren des Flugzeugs starteten, verabschiedete sich ihr Gehirn in den Stand-by-Modus.
Als der große Flieger zur Startbahn rollte, verweigerten ihre Muskeln jeden Befehl, außer den, sich möglichst fest an die Armlehnen zu klammern. Das würde im Falle eines Unfalls bestimmt helfen. Hilfreich war auch die Einweisung der Stewardess für den Notfall. Jetzt gesellten sich zu ihrem Kopfkino auch noch Bilder von herabfallenden Atemmasken und ausgefahrenen Notfallrutschen. Ob sie für alle Fälle schon mal die empfohlene Haltung für Abstürze einnehmen sollte?
Mist, es ging los. Die Motoren heulten auf, die schwere Maschine setzte sich langsam in Bewegung und raste nach wenigen Momenten die Startbahn entlang. Nie würde das riesige Ding abheben, da war sie ganz sicher.
Irgendwie musste es doch geklappt haben, denn sie spürte, wie sich die Maschine schräg legte. Und als sie einen Blick durch fast geschlossene Augenlider riskierte, waren Bäume und Häuser klein wie Ameisen.
Ein Blick zu ihrem Sitznachbarn zeigte, dass sie wohl nicht die einzige mit Höhenangst war. Mit zusammengekniffenen Augen saß er da und krallte sich in die Armlehnen. Die ältere Dame hingegen blätterte ungerührt im Duty Free-Katalog.
Jenny schubste ihn vorsichtig mit dem Ellbogen und ließ die Armlehnen langsam los. „Sie fliegen auch nicht so gerne, was?“, meinte sie freundlich.
Es dauerte einen Moment, bis er ihr antworten konnte. „Ist mein erster Flug“, kam es kläglich.
Sie nickte verständnisvoll. „Ab jetzt wird es besser. Der Start ist am schlimmsten.“
„Und die Landung?“, fragte er mit aufgerissenen Augen.
„Halb so wild“, beruhigte sie ihn, ohne selbst daran zu glauben. Sonderlich überzeugt sah er nicht aus.
Dafür entspannte sich Jenny und kramte einen Roman heraus. Ablenkung war immer eine gute Idee.
Die erste Hälfte des Fluges war langweilig. Sie flogen über den Wolken, ihr Krimi war nicht wirklich fesselnd und über das Essen sollte man besser den Mantel des Schweigens breiten. Über dem amerikanischen Kontinent änderte sich das jedoch. Jenny klebte durchgehend mit der Nase an der Scheibe.
Zuerst flogen sie über Neufundland, dann über die großen Seen. Bald überquerten sie die Rocky Mountains, und als sie deren Größe und Erhabenheit von oben sah, schien es ihr unvorstellbar, dass einst Siedler den Weg von der Ost- zur Westküste in Planwagen zurückgelegt hatten.
Ihr Sitznachbar schlief die meiste Zeit und seine Nachbarin hatte Unterhaltung auf der anderen Gangseite gefunden.
Elf Stunden später begann der Landeanflug auf Los Angeles. Der Blick auf eine der größten Städte der Welt war spektakulär und sie konnte es kaum erwarten, ihren Fuß endlich auf amerikanischen Boden zu setzen. Die Einreiseformalitäten waren jedoch langwierig und es dauerte über eine Stunde, bis sie mit ihrem Koffer vor dem Flughafen in der Sonne stand und ihr Hoteltaxi suchte.
Kurz darauf fuhr es vor und sammelte sie ein. Die Fahrt ging über mehrspurige, palmengesäumte Straßen ins Zentrum von Los Angeles, wo ein älteres uriges Hotel mit einem hübschen, exotisch bewachsenen Innenhof auf sie wartete.
Sie checkte ein und freute sich, dass ihr eingerostetes Englisch offenbar verstanden wurde. Mit einem klapprigen Aufzug fuhr sie in den dritten Stock und brachte ihr Gepäck ins Zimmer. Schnell zog sie sich um. Die Luft war warm und drückend. In kurzen Hosen fuhr sie wieder nach unten und schlenderte durch die Lobby zum Innenhof. Ein kleiner Swimmingpool war von Palmen und Büschen mit großen Blüten umgeben. An einer Seite befand sich eine Bar, an der sie Platz nahm und sich eine Cola bestellte. Es herrschte wenig Betrieb. Zwei Frauen sonnten sich, während ihre beiden etwa zwölfjährigen Töchter auf Luftmatratzen im Pool trieben. Ein älteres Ehepaar saß im Schatten und las. Ob schon andere Mitglieder ihrer Reisegruppe hier waren? Sie war gespannt, wer dazugehörte. Und auch etwas besorgt. Was, wenn die Mitreisenden unsympathisch waren oder aufdringlich? Das konnte die schönste Landschaft nicht aufwiegen. Man würde sich kaum aus dem Weg gehen können. Zum Glück hatte sie ein Einzelzimmer. Etwas anderes wäre auch nicht infrage gekommen.
Jenny nahm ihr Glas und bummelte ins Foyer. Der Stil des Hotels war mexikanisch. Überall farbige Kacheln und Webteppiche. Auf einem der Tische stand ein Aufsteller mit der Aufschrift „Special Adventures“, der Name ihrer Reisegesellschaft.
Verzeichnet waren auf einem eingesteckten Blatt das Treffen heute Abend um neunzehn Uhr und die Abfahrt morgen früh. Sie machte große Augen. Acht Uhr? Das würde wohl kein Erholungsurlaub werden. Sie brachte ihr Glas zurück zur Bar und trat vor das Hotel. Nachdem sie in alle Richtungen geblickt hatte, verging ihr die Lust auf einen Spaziergang. Sie war mitten in Downtown, dem Äquivalent zu Frankfurts Büro-City. Überall Hochhäuser und Beton. Sie ging wieder hinein und verbrachte den Rest des Nachmittages am Pool. Abends gegen halb sieben ging sie auf ihr Zimmer und zog sich um.
Als sie wieder herunterkam, sah sie von Weitem einige Leute am Tourentisch sitzen. Nervös ging sie zu ihnen und stellte sich vor.
Ein dunkelhaariger, hagerer junger Mann schüttelte ihre Hand und stellte sich mit Schweizer Akzent vor. „Hi, ich bin der Markus, dein Tourguide. Willkommen in den USA.“
„Danke“, lächelte sie und setzte sich zu den anderen. Ein gegenseitiges Vorstellen begann. Neben ihr saß ein junges Mädchen, höchstens Anfang zwanzig, in Jeans und bauchfreiem Top. Sie stellte sich als Mandy vor. Augenbrauen, Nase und Oberlippe waren gepierct, die Ohren voller Stecker. Wie sie sich eine solch teure Tour leisten konnte, wunderte sich Jenny. Vielleicht würde sie es ja im Verlauf der Reise erfahren.
Neben ihr saß ein muskulöser Typ, den Jenny auf Ende zwanzig schätzte. Er trug Shorts und ein kurzärmliges Hemd. Hosenbeine und Ärmel waren fast zu eng für seine Muskelpakete. Bodybuilder wahrscheinlich, von Arbeit oder normalem Sport sah man nicht so aus. Kevin war sein Name.
Ein Platz weiter saß eine Frau, deren Alter Jenny gar nicht schätzen konnte. Sie sah unscheinbar aus, war ziemlich mollig und, nun ja, wohlwollend würde man das, was sie trug, als hausbacken bezeichnen. Ihr rosa und braun gemusterter Pulli, der viel zu warm für das Klima schien, war selbstgestrickt, ihr dunkelbrauner Rock aus einem Material, das Jenny an Teleshopping erinnerte. Die Schuhe wirkten klobig und passten eher zu einer älteren fußkranken Dame. Dicke Nylonstrumpfhosen rundeten das Bild ab. Ganz offensichtlich war sie kürzlich beim Friseur gewesen. Das mausbraune Haar lag in ordentlich ondulierten Wellen. Mit leiser Stimme stellte sie sich vor. Irmtraud, passte ja.
Ein weiterer Mann kam lässig auf die Gruppe zugeschlendert. Er trug einen hellen Leinenanzug und sein weißes Hemd gewährte einen Blick auf seine dunkle Brustbehaarung. Im Gegensatz zu dieser waren die kurzen welligen Kopfhaare blond gesträhnt, eine Lacoste-Sonnenbrille war auf die Stirn hochgeschoben. Sonnenstudiobräune zierte sein markantes, leicht herablassend wirkendes Gesicht. Tourguide Markus begrüßte ihn und stellte Johann den anderen vor. Jenny und Mandy ernteten interessierte Blicke, Kevin einen abschätzenden. Irmtraud wurde kaum beachtet.
Die letzten zwei Mitglieder der Reisegruppe trafen gleichzeitig ein. Eine ältere Dame mit knallroten Haaren kam durch die Halle gehetzt. Schon von Weitem entschuldigte sie sich für ihr Zuspätkommen, dabei war es erst kurz nach Sieben. Auf den ersten Blick hatte Jenny eine Vermutung, was sie aufgehalten hatte. Ihr Gesicht war dick mit Schminke zugekleistert. Knallblauer Lidschatten und Mascara, so dick, dass sie aussah wie ein Waschbär. Alles an ihr war mit Goldschmuck behangen, ihre Ohren, ihr faltiger Hals und ihre Armgelenke, die aus einem weiß-pinken Jogginganzug herausragten. An den Füßen trug sie neue weiße Joggingschuhe.
„Huhu, ich bin die Walli!“, rief sie quer durch die Halle, sodass etliche Leute sich umdrehten. Markus sah leicht verdattert aus und Jenny fühlte Sorge in sich aufsteigen. Das war ja eine illustre Gesellschaft, mit der sie die nächsten zwei Wochen verbringen sollte.
Sie wandte ihren Blick dem letzten Ankömmling zu, der in der Aufregung um Walli ganz untergegangen war und stutzte. Das war doch … natürlich … ihr Sitznachbar aus dem Flugzeug. Pullunder und Stoffhose hatte er gegen Shorts und T-Shirt ausgetauscht und sah damit aus wie verkleidet. Jenny guckte genauer hin. Das Shirt musste er wohl gerade erst gekauft haben. Es war hellblau und darauf stand: „I love LA“. Wie originell. Endlich hatte Markus ihn bemerkt und begrüßte ihn. Wie sich herausstellte, hieß Muttersöhnchen Wolfgang. Ob seine Mutter ihn wohl Wolfi rief, fragte sich Jenny.
Jetzt, wo alle da waren, hielt Markus eine Begrüßungsrede und erklärte ihnen die Durchführung der Reise. Jeden Tag würden sie früh aufstehen und eine neue Etappe der Rundreise in Angriff nehmen. Der Guide würde ihnen die schönsten Plätze zeigen und sie in die besten Restaurants führen und mehr oder weniger würden sie alles zusammen machen. Natürlich war es kein Zwang bei der Gruppe zu bleiben, doch Jenny hatte den Eindruck, als käme es äußerst selten vor, dass jemand eigene Wege ging.
Auf einer Karte zeigte Markus ihnen die Route. Fahren würden sie in einem großen Van, erklärte er, das Gepäck würde ein Hänger transportieren und der Gepäcktransport zu und von den Zimmern wäre inklusive. Sie müssten es nur zur angegebenen Zeit vor die Zimmertür stellen.
Nach seiner Ansprache führte er sie zur Bar und sie nahmen einen Drink. Langsam setzte die allgemeine Müdigkeit ein. Schließlich waren alle aufgrund der Zeitverschiebung schon wesentlich länger auf den Beinen als üblich. Markus riet ihnen schlafen zu gehen, um morgens fit zu sein. Die Einzige, die protestierte, war Walli. Sie schlug vor, noch in einen Club zu gehen, doch niemand ging darauf ein. Wolfi, wie Jenny ihn insgeheim nannte, schlief fast auf dem Barhocker ein.
Kaum war Jenny in ihrem Zimmer überwältigte sie ebenfalls die Müdigkeit. Trotz der klappernden Klimaanlage schlief sie wie ein Baby und wachte erst auf, als der Wecker klingelte.