oder
Wofür stehst Du?
Die Geschichte spielt ungefähr 1977. Ich war seit etwa zwölf, vielleicht fünfzehn Monaten Soldat, 19 Jahre alt und gerade zum Unteroffizier befördert, als ich mit einem Ritual konfrontiert wurde, von dem ich schon gehört hatte, dessen ganze Dimension mir aber nicht bewusst gewesen war: der sogenannten »Uffz-Aufnahme«, die man zu absolvieren hatte, um Mitglied des Unteroffizierskorps der Kompanie zu werden.
Dieses Ritual bestand darin, im Unteroffizierskeller der Kaserne, der nichts anderes als eine gut ausgebaute Kneipe war, vor allen anderen Unteroffizieren stehend in einem Zug ein Halbliterglas auszutrinken, das mit allerhand Schnäpsen, Bier, gewürfelten Zwiebeln, Pfeffer, Tabasco und einem rohen Ei gefüllt war.
Drei von uns sollten das an diesem Abend tun. Es wird mir ein Leben lang peinlich bleiben, dass ich da überhaupt mitmachte und dieses fürchterliche Gebräu tatsächlich hinuntertrank, ja, dass ich den einen von uns dreien, der das Richtige tat und sich weigerte mitzumachen, auch noch gemeinsam mit anderen seiner mangelnden Trinkfestigkeit wegen verspottete. Das Allerschlimmste jedoch: Ich sah zu, wie der Dritte im Bunde, ein Neuer mit weichen Gesichtszügen und wenig Bartwuchs, der Alkohol im Gegensatz zu mir kaum gewöhnt war, dass der also neben mir an dem Getränk herumwürgte, es schließlich in sein Glas hinein erbrach und darauf, nun schon weinend, das Erbrochene wieder hinunterschluckte – bis er es endlich geschafft hatte und die bestialische Zeremonie zu Ende war.
Dass ich zu feige war, dem armen Kerl an meiner Seite beizuspringen und der Sache wenigstens für ihn ein Ende zu machen, nicht couragiert genug, mich überhaupt dieser Viecherei zu entziehen – ich schäme mich bis heute dafür.
Manchmal bleibt einem von einem Gedicht nur eine Zeile in Erinnerung, weil sie einem etwas bedeutet, das möglicherweise sogar über den Zusammenhang des Gedichtes hinausgeht.
Mir ging es immer so mit Ingeborg Bachmanns Gedicht Alle Tage, das sie 1953 veröffentlichte. Damals wurde in Deutschland über die Wiederbewaffnung gestritten, und darum ging es auch in Bachmanns Text, mit dem sie sich als Pazifistin zu erkennen gab und in dem sie bisher gültige Werte sozusagen umwertete: Künftig soll ein Held sein, wer den Kämpfen fernbleibt, es soll einen Orden bekommen, wer vor den Fahnen flieht und wer (und dies ist eben die Zeile, die mir immer im Gedächtnis blieb) »Tapferkeit vor dem Freund« zeigte.
Warum habe ich mir diese Worte so gemerkt?
Weil sich dieses Gedicht nur oberflächlich auf den Streit um eine Bundeswehr bezieht, in Wahrheit aber viel mehr ist: ein Plädoyer für den eigenen Willen, den eigenen Kopf, die eigene Meinung – dafür, nicht das zu tun, was Menschen immer getan haben, also zum Beispiel Tapferkeit vor dem Feind zu zeigen, sondern etwas anderes, das Gegenteil, Tapferkeit vor dem Freund, dem man mit einer eigenen Haltung entgegentreten muss, wenn es notwendig ist.
Was zu den größten Aufgaben jedes Menschen zählt: eine eigene Haltung zu entwickeln. Nicht ohne Bewusstsein im Strom der vielen zu leben.
Aber warum ist das eigentlich eine so große, schwierige Aufgabe?
Das mag seine Gründe in den biologischen Notwendigkeiten des Menschen haben, darin, dass er immer Teil einer Gruppe ist und in seiner Frühzeit nur überleben konnte, wenn er Teil dieser Gruppe blieb. Das Risiko, wenn man Tapferkeit vor dem Feind bewies, war dann manchmal geringer, als wenn man tapfer vor dem Freund war, der einen aus der Gruppe verstoßen – und den Feinden ausgeliefert hätte …
Das ist ja übrigens, was einem am politisch Korrekten bisweilen so widerwärtig ist: dass einer eine moralische Position nicht deshalb vertritt, weil er gute Gründe dafür hätte, sondern weil er Teil einer Gruppe sein möchte, auf deren Beifall er hofft. (Und das ist, was einen mittlerweile auch an der rituellen Ablehnung des politisch Korrekten abstößt: dass es so in Mode gekommen ist, das politisch Korrekte abzulehnen, dass man sich auch hier schon wieder als Gruppentier fühlen kann.) Deshalb ist Tapferkeit vor dem Freund schwer. Wir haben sie sozusagen nicht in den Genen.
Einmal verfolgte ich eine Podiumsdiskussion, an der Bernhard Bueb teilnahm, ein kluger und schätzenswerter Pädagoge, früher Leiter des Internates in Salem und Autor des Bestsellers Lob der Disziplin, einer Streitschrift für mehr Autorität in der Erziehung. Bueb schilderte dem Publikum, wie seine Familie, nach langem Bitten und Betteln der Kinder, einen Hund angeschafft hatte. Natürlich mussten sich die Kinder verpflichten, mit diesem Hund regelmäßig Gassi zu gehen. Aber dann ebbte das Interesse der Kinder an dem Hund und besonders an ihren Pflichten, den Hund betreffend, nach wenigen Monaten ab. Das Ergebnis: Buebs Frau führt nun den Hund regelmäßig zu den Bäumen.
Das sei in achtzig Prozent der Familien so, sagte Bueb vollkommen richtig; geteiltes Leid sei halbes Leid. Aber es sei doch, fuhr er fort, »ein Fehler, ein klassischer Fehler« gewesen, den Kindern ihre Pflichten zu erlassen.
Er fügte hinzu: »Diese Schwäche der Erwachsenen, die klage ich an.«
Na ja, anklagen!
Was wäre denn die Konsequenz aus dem ganz normalen Fehlverhalten der Kinder gewesen, die bei Anschaffung eines Hundes aus mangelnder Lebenserfahrung eben nie wissen, was das für sie selbst bedeutet? Den Hund wieder wegzugeben? Grausam, allen Beteiligten gegenüber, auch dem Hund. Die Kinder zwingen, sich um ihn zu kümmern? Das möchte ich sehen! Das Beste wäre wahrscheinlich noch gewesen, gar kein Tier zu kaufen, aus der Einsicht, dass ein Hund immer ein Familien-Hund ist und damit auch ein Eltern-Hund, nie bloß ein Kinder-Hund.
Bueb klagt an, dass Eltern oft schwach sind und inkonsequent – womit er recht hat, weil Kinder konsequente und starke Eltern brauchen. Aber gleichzeitig schwingt in diesem »anklagen« etwas mit, das mich stört: Humorlosigkeit, Strenge, eine gewisse Unerbittlichkeit sich selbst gegenüber. Es ist einfach nicht menschlich, dem Menschen Konsequenz in allen Lebenslagen abzuverlangen. Man muss auch seine Schwächen sehen, verstehen und im Umgang mit diesen Schwächen Vorbild sein.
Die besten Werte werden entwertet, wenn sie mit Humorlosigkeit, Strenge und Unerbittlichkeit durchgesetzt werden sollen.
Ohne das Beispiel des Bueb’schen Hundes überstrapazieren zu wollen: Am meisten würden alle Beteiligten über die Werte ihres Lebens lernen, wenn sie reden würden über all das. Also: Warum die Eltern keinen Hund wollten und dann doch einen gekauft haben. Wieso die Kinder einen mochten und dann nicht mehr. Wie es das Leben dann doch wieder irgendwie geregelt hat. Und wie man es beim nächsten Hund besser machen könnte.
So ist es nicht nur in der Familie. So ist es überall.
Übrigens hätte ich die Meinung Ingeborg Bachmanns zur Wiederbewaffnung damals nicht geteilt, weil ich, wie schon erwähnt, kein Pazifist bin. Ich kann nicht einen Wert über alle anderen stellen, den der Friedfertigkeit über den der Freiheit oder der Ablehnung jeder Diktatur.
Ich finde den Frieden ungeheuer wichtig, aber keineswegs durchweg wichtiger als die Freiheit, und wenn wir in diesem Zusammenhang auf unsere Ausgangsfrage, Wofür stehst Du?, zurückkommen: Die Antwort liegt nur zum Teil in Begriffen wie Freiheit oder Frieden. Sie liegt vor allem darin, dass wir solche Werte so umfassend und kompliziert sehen wollen, wie sie sind.
Man kann sich nicht für ein Ja oder ein Nein zu einer Abtreibung entscheiden, ohne die konkreten Umstände zu kennen und dann nach einem Entschluss zu suchen. Man kann nicht aus reinem Ekel vor den Vorgängen auf Lampedusa die Einwanderung schrankenlos freigeben wollen, denn auch hier befindet man sich im Konflikt mit anderen Werten: Der innere Frieden eines demokratischen Staates ist eben auch wertvoll.
Wir wollen also nicht Dogmen hinterherlaufen, sondern in einer Art von effizientem Idealismus solche Werte, für die wir stehen, in ihrer Anwendung immer wieder gegeneinander abwägen, neu justieren, diskutieren, verhandeln. Ein Alibi, keinen festen Standpunkt einzunehmen, darf das allerdings nicht sein. Das wäre nichts anderes als Gleichgültigkeit, ja, mehr als das: eine wohlfeile Art, sich der Komplexität des Lebens zu entziehen. Zu dem, was in unserem Leben wichtig ist, gehört aber: die Welt mit ihren vielen Widersprüchen wahrzunehmen und zu ertragen, sich der Vereinfachung zu widersetzen – und sich dennoch für einen Weg zu entscheiden.
Kann man in diesem Buch jede Erfahrung mit Kirche und Religion aussparen? Die Versuchung, genau das zu tun, ist groß, denn für mich ist der Glaube eine besonders private Privatsache. Ich bin davon überzeugt, dass Gesellschaften (und auch Kirchen) sich dann am freiesten entfalten können, wenn keiner mehr den anderen missionieren möchte. Ich habe Angst davor, dass ein religiöses Bekenntnis als aufdringlich empfunden werden könnte oder ich meinen eigenen Schutzpanzer ausgerechnet an der Stelle ablege, an der ein Schlag ganz besonders wehtun würde.
Aber Kirche ist von meinem Leben nicht zu trennen, zu stark ist meine christliche Prägung gewesen. Da ich auch noch katholisch bin, fühle ich mich durch ein Wort von Heinrich Böll, das er einst an seine Kollegin Christa Wolf richtete, besonders gut getroffen: »Wer einmal Katholik war und wer einmal Kommunist war, der wird das nie wieder los.«
Wenigstens habe ich es versucht und schon als Kind gelegentlich rebelliert. Während einer Kommunionstunde in Rimini behauptete ein Priester, dass nur die Katholiken wahre Christen seien, worauf ich – keinesfalls kleinlaut – erwiderte, dass meine halbe Verwandtschaft aus Protestanten bestehe, und das seien auch gute Menschen. Der Einfaltspinsel erklärte, mein Bruder und ich sollten zur Mutter Gottes beten, dass der Teufel nicht von ihnen Besitz ergreife.
In den wildesten Zeiten unserer Pubertät bekannte meine Mutter einmal, sie habe sich immer gewünscht, dass einer ihrer Söhne Geistlicher werde. (Gottlob findet sie heute Journalisten auch ganz gut.) Das führte natürlich zu wütendem Hohngelächter und war das sicherste Mittel, uns genau von diesem Weg fernzuhalten. Aber es hinderte mich keinesfalls daran, gerade in jenen Jahren immer wieder in einem Kloster von Benediktinerinnen Urlaub zu machen, die mich, obwohl ich lange Haare und hochhackige Lederstiefel trug, freundlich und neugierig aufnahmen; mit einer Schwester stehe ich nach Jahrzehnten noch in Verbindung.
Als Krankheit und Tod meine Familie trafen wie Vernichtungswaffen und Trauer und Verzweiflung sich unseres Lebens bemächtigten, da stellten sich selbst bei meiner frommen, zum Katholizismus konvertierten Mama jene quälenden Zweifel ein, die wohl zu jedem erwachsenen Glauben gehören und auch nie mehr aufhören: Wenn es dich gibt, lieber Gott, wie kannst du diesen Schmerz zulassen?
Dazu kam, immer wieder, der Ärger über die Verfehlungen der Amtskirche: Was habe ich mit anderen geschimpft über Papst Wojtyla, der uns dogmatisch erschien wie ein Ajatollah! Was haben wir uns lustig gemacht über die Marotten seiner Amtsführung, das Küssen der Landebahnen zum Beispiel in jenen Ländern, denen er einen Besuch abstattete. Ganz zu schweigen von den zwielichtigen Machenschaften der vatikanischen Bank IOR, die intensive Geschäftsbeziehungen zur Mafia unterhielt und von einem Monsignore geleitet wurde, der in Personalunion ein Gangster und ein Vertrauter des Papstes war. Und damals wussten wir noch gar nichts über den massenhaften Missbrauch kleiner Jungen durch pädophile Kirchenmänner.
Mir ist trotzdem nie in den Sinn gekommen, aus der Kirche auszutreten; schwer verständlich, weil kleinlich, finde ich es, wenn Menschen erklären, sie täten das allein wegen der Kirchensteuer.
Anfang 2005 begann das lange, öffentliche Sterben von Papst Johannes Paul II. Man konnte es kaum mit ansehen, kaum aushalten. Die Haltung immer gebückter, die Hände immer zittriger, die Stimme immer brüchiger. Der Papst, der – wie nur wenige vor ihm – für Vitalität und Sicherheit im Glauben gestanden hatte, wurde zur Verkörperung von Siechtum und Vergänglichkeit. Und er wollte das ganz offensichtlich auch sein – der Gegenentwurf zu einer Gesellschaft, in der jeder immer nur zu funktionieren hat, am besten gesund und gut aussehend. Am Anfang hat es mich noch irritiert, dann beeindruckt. Schließlich, als nach einer letzten kaum noch zu verstehenden Ansprache am Ostersonntag auf dem Petersplatz klar war, dass er innerhalb von Tagen sterben würde, war ich geradezu überwältigt. Ich lag stundenlang auf dem Bett und trauerte, als sei ich dabei, einen meiner liebsten Angehörigen zu verlieren.
Wenige Stunden vor seinem Tod machte ich mich mit meiner späteren Frau auf den Weg zur St.-Hedwigs-Kathedrale in der Nähe des Berliner Gendarmenmarkts. Es war schon spät, und in der Kirche waren viele junge Leute, die nicht so aussahen, als seien sie geübte Besucher von Gottesdiensten. Wir zündeten Kerzen an und verharrten in Andacht. In diesem Moment fühlte ich mich ganz und gar eins mit meiner Kirche. Das Gefühl war: Nicht wir waren ihm, dem Papst, im Sterben nahe, sondern der Papst war sterbend bei uns. Er hatte am Ende vorgelebt, was fast jeder Mensch früher oder später erfährt: Dass es nichts Wichtigeres gibt, als in der Stunde des Leids für einen anderen Menschen da zu sein – oder selbst nicht allein zu bleiben.
Nein, es war kein Erweckungserlebnis. Seit einigen Jahren jedoch haben wir zu Hause etwas aufleben lassen, was lange verschüttgegangen war: Vor dem Essen wird still gebetet, auch wenn Gäste da sind. Sehr oft ist das der schönste Moment des Tages.
Vor vielen Jahren, als ich meine ersten Bücher geschrieben hatte, stellte man mir ab und zu eine dieser seltsamen, manchmal aber doch ganz lehrreichen Interviewfragen: »Haben Sie ein Vorbild für das, was Sie machen?«
Natürlich hatte ich nicht nur ein Vorbild, sondern mehrere, aber nicht in dem Sinn, dass ich alles zu machen versuchte wie sie. Sondern so: Ich weiß, dass große Autoren oft eine bestimmte Sache besonders gut können, ganz handwerkliche Dinge meine ich vor allem. Wenige konnten in knappen Sätzen die Stimmung eines Tages oder eine bestimmte Szenerie so gut beschreiben wie Georges Simenon. Kaum einer schaffte es, in einem Text einen Sound so klar anzustimmen und durchzuhalten, wie Tucholsky. Niemand konnte mit Ironie in all ihren Schattierungen so gut umgehen wie der große Journalist Herbert Riehl-Heyse.
Man kann von jedem etwas zu lernen versuchen.
So ist es mit Vorbildern in allen Bereichen. Bei vielen Menschen gibt es Dinge, die man ihnen abschauen kann, auch im moralischen Sinn. Es sind keineswegs berühmte Fälle, von denen ich rede, sondern im Grunde alltägliche, die ich zum Beispiel in den Jahren meiner Arbeit als Reporter kennengelernt habe.
Da ist jener Pfarrer in Dorndorf bei Jena, den ich bis heute bewundere für den Mut, mit dem er zu DDR-Zeiten gegen die Behörden auftrat: Die ignorierten schwere Umweltschäden durch ein Düngemittelwerk in seinem Dorf und bedrängten ihn, als er das öffentlich anprangerte, erfolglos mit Drohungen, Verhören, der Verhaftung.
Da sind die Menschen, die nach Unfällen manchmal jahrzehntelang im Wachkoma liegen; Tag für Tag kümmern sich ihre Angehörigen um sie, ohne große Hoffnung, im Grunde auch ohne erkennbaren Dank, einfach nur, weil sie es als ihre menschliche Pflicht betrachten. Ich habe das gesehen, als ich einmal einige Tage in einer Klinik in Burgau verbrachte.
Da sind auch die vielen Frauen, die – gerade sind die Kinder aus dem Haus –, anstatt beruflich durchzustarten, die nächste Aufgabe übernehmen, die Pflege der nun bedürftigen Eltern zum Beispiel, eine Arbeit, für die es keinerlei gesellschaftliche Anerkennung gibt. Da sind überhaupt jene Frauen, die bereit sind, Familienarbeit größerenteils zu übernehmen, die immer noch über 80 Prozent der Alleinerziehenden stellen, auf Karrierevorteile verzichten und von Anfang an bestimmte Berufe deshalb ergreifen, weil sie mit der Familienarbeit besser zu verbinden sind als andere.
Ich tue so etwas nicht, ich könnte es nicht – warum? Weil ich zu sehr angewiesen bin auf Anerkennung, darauf, dass ich für das, was ich mache, etwas bekomme, Ruhm, Ehre.
Könnte ich etwas tun ohne Aussicht auf Beifall? Könnte ich tapfer sein, wenn es mich wirklich etwas kosten würde?
Jeder von uns ist ein Vorbild für andere – und sei es für die eigenen Kinder. Es geht gar nicht anders, man ist es einfach, im Guten wie im Schlechten. Also sollte man versuchen, es möglichst oft im Guten zu sein.
Schön und gut: Aber wann ist man ein Vorbild? Was finde ich vorbildlich? Was bedeutet »im Guten«?
Möglicherweise: wenn man handelt, ohne etwas dafür zu bekommen, uneitel, ohne Rücksicht auf sich selbst, auf der Basis des Verzichts?
Vielleicht aber auch (wenigstens das): Wenn man erkennt, bestimmten Ansprüchen nicht genügen zu können, wenn man das zugibt, offen seine eigenen Fehler sieht, sich Kritik stellen kann, wenn man also fähig und willens zum Gespräch ist, kommunikationsbereit – was doch nichts anderes bedeutet, als die eigene Fehlerhaftigkeit zu erkennen und zu verantworten. Wenn man weiß, dass jeder das Recht hat, Fehler zu machen, aber auch die Pflicht, aus ihnen zu lernen?
Vorbild ist, wer auch tapfer ist vor sich selbst.
Wenig ist ja so enttäuschend im Leben, wie von einem Menschen, den man für ein Vorbild hielt, zu erfahren, wie schwach er in anderen, unbekannten Teilen seines Wesens war. Wie verheerend war es für viele zu sehen, welch klägliche Figur der große Pädagoge Hartmut von Hentig machte, als die Scheußlichkeiten bekannt wurden, für die sein Lebenspartner Gerold Becker als Leiter der Odenwaldschule verantwortlich war! Kein ehrliches Wort des Bedauerns für die Opfer kam ihm über die Lippen. In dieser Lebenssituation hatte ihm offenbar keiner der von ihm selbst propagierten Werte geholfen. Nichts ist plötzlich falsch von dem, was er in seinen Büchern geschrieben hat. Entwertet ist es trotzdem, weil es von jemandem geschrieben wurde, dessen persönliche Glaubwürdigkeit binnen kürzester Frist plötzlich gegen null ging. Der immer das große Wort führte und plötzlich, als es um ihn selbst und seine Fehler ging, nicht einmal das kleinste mehr fand.
Und wenn wir uns noch so sehr nach Menschen sehnen, die etwas vollbringen, wozu man selbst nicht die Begabung, die Kraft, die Ausdauer oder die Leidensfähigkeit hätte – machen wir sie bloß nicht zu Helden!
Roberto Saviano, der junge Schriftsteller aus der süditalienischen Kleinstadt Casal di Principe, wehrt sich ganz besonders gegen dieses Etikett: »Ein Held darf keinen Fehler machen«, sagt er, »aber ich mache Fehler. Und ich habe auch das Recht dazu.« Helden sind Gefangene unserer Projektionen, dazu verurteilt, immer hilfreich, edel und gut zu sein.
Dabei bin ich ganz besonders versucht, Roberto Saviano Heldenverehrung entgegenzubringen. Er wirkt sehr ernst, ein zurückhaltender junger Mann mit Stoppelhaaren, Bart und schüchternem Lächeln. Franziskanerpatres sehen manchmal so aus. Was er auf sich genommen hat, erscheint mir übermenschlich, schon seines Alters wegen: Während ich diese Zeilen schreibe, ist er gerade einmal 30 Jahre alt.
Ich musste zuletzt auch deshalb an ihn denken, weil mir ein Beispiel aus meinem Arbeitsalltag vor Augen geführt hat, wie schnell wir selbst es mit der Angst zu tun bekommen: Meine Redaktion will ein Dossier über die merkwürdigen geschäftlichen Beziehungen eines deutschen Rappers recherchieren. Schon mehrere Reporter haben nach ersten Gesprächen im Umfeld des Sängers, aber auch mit Ermittlern bei der Polizei und in der Justiz den Auftrag wieder zurückgegeben, aus nachvollziehbarem Grund – der Clan, der den Rapper angeblich beschützt, könnte selbst für Journalisten gefährlich werden. Das geschieht in der Hauptstadt eines Landes wie Deutschland, das als eines der sichersten in der Welt gilt. Roberto Saviano wäre wahrscheinlich sehr erleichtert, wenn er nur mit dem Milieu eines deutschen Popstars zu kämpfen hätte. Die Prüfung, die ihm auferlegt wurde, kann ihn das Leben kosten.
Es begann damit, dass er im Jahr 2006 ein Buch über die kampanische Spielart der Mafia veröffentlichte, die Camorra. Dass es sich millionenfach verkaufen würde, hat ihn selbst am meisten überrascht, er hoffte auf ein paar Tausend Exemplare. Es gibt ja Hunderte von Büchern über alle Varianten des organisierten Verbrechens, Dokumentationen und Romane über Opfer und Täter. Es gibt kaum etwas, das von irgendjemandem noch entdeckt werden könnte. Saviano war ein unbekannter freier Autor aus der kampanischen Provinz, niemand unterstützte ihn, Kontakte zu großen Verlagen hatte er nicht. Als ich ihn kennenlernte, hatte er Gomorrha längst veröffentlicht. Er erzählte mir, dass er sich noch kurz vor Erscheinen des Buches meine Telefonnummer von einer gemeinsamen Bekannten besorgt und versucht hatte, mich vom Bahnsteig in München aus anzurufen. Er wollte mich fragen, ob es in Deutschland irgendeinen Verlag gebe, der sich für sein Thema interessieren könnte. Inzwischen hat allein die deutsche Ausgabe mehr als 700 000 Käufer gefunden.
Was ist anders an Savianos Mafia-Buch? Es ist ganz sicher die sprachliche Virtuosität und der Reichtum seiner Bilder. Aber es ist noch mehr der persönliche Zugang, den er zur Beschreibung der Verbrechen gefunden hat. Er ist in einer Hochburg der Camorra aufgewachsen: Jeder in Casal di Principe, auch sein Vater, ein angesehener Arzt, hat unter ihren Machenschaften gelitten und sie gleichzeitig unter dem Mantel der omertà, des Schweigens, versteckt. Saviano nannte in seinem Buch nun plötzlich Taten, Daten und Namen, und das in einer Ballung, wie sie der Öffentlichkeit noch nie vorgelegt worden war. Vor allem aber tat er dies nicht mit der Distanz eines Reporters, der von außerhalb ins Mafialand eingeflogen wird, sondern als jemand, der die Camorra selbst erlebt hat – nicht nur ihre repressive, sondern auch ihre, ja, anziehende Seite. Mafia, das hat Saviano seinem verdutzten Publikum gerade außerhalb Italiens immer wieder zu erklären versucht, ist auch eine Subkultur, die junge Leute wie ihn von einem Gefühl der Ohnmacht befreien kann.
Es war nicht das Buch, das ihn in Lebensgefahr brachte, es war der Erfolg des Buches. Das fanden Polizei und andere Ermittler schnell heraus, als sie Telefongespräche abhörten und Kassiber der Camorristi auswerteten. Der Staat bot ihm Schutz an, und Saviano lieferte sich einem Sicherheitssystem aus, das ihn sehr viel schlechter leben lässt als die meisten Verbrecher, die in Gomorrha beschrieben werden – und die bis heute nicht gefasst worden sind.
Wenn er unterwegs ist, sind mindestens zwei gepanzerte Fahrzeuge im Einsatz. Die Polizisten, die ihn bewachen, ziehen ihre Waffen, sobald sie das Auto verlassen. Für Saviano ist dieses Leben die Hölle. Er hat in einer kargen Hochhauswohnung gelebt, in der zuvor angeblich reuige Mafiosi, mutmaßliche Killer, im Rahmen des Zeugenschutzprogrammes untergebracht worden waren. Nachdem er dort eingezogen war, würdigten ihn die Nachbarn lange Zeit keines Blickes, weil sie ihn ebenfalls für einen Verbrecher hielten. Erst als Saviano häufiger im Fernsehen gezeigt wurde, begannen sie, ihn zu grüßen.
Am häufigsten aber wird er in Kasernen der Carabinieri untergebracht – ein trostloses Versteckspiel. In Neapel teilt er sich ein Zimmer mit einem Carabiniere, der immerhin noch ein Original ist, der wohl einzige Polizist Süditaliens, der sich als Kommunist bekennt: Stolz trägt er Che Guevara als Tattoo auf seiner Brust. Meist sind Savianos Zimmergenossen oder Gesprächspartner jedoch Carabinieri, die noch jünger sind als er, nie ein Buch gelesen haben und oft nicht einmal wissen, mit wem sie es zu tun haben. Weil Personenschützer in Italien neuerdings nur noch geringe Feiertagszuschüsse erhalten, versucht Saviano seine Leibwächter am Wochenende zu schonen; er bleibt dann den ganzen Tag über in der Kaserne.
Was bedeutet so ein Leben? Man muss nur einmal darüber nachdenken, dass ein junger Mann wie Saviano natürlich gerne eine Partnerin hätte, sich in eine Frau verlieben möchte. Doch für diesen Mann ist es nahezu unmöglich, mit einer Frau zusammenzuleben.
»Ich möchte eine Familie gründen«, sagt Roberto Saviano, »das ist der höchste Wert in meinem Leben, auch wenn manche Schriftstellerkollegen das für spießig halten. Aber finde mal jemanden, der bereit ist, mit dir ein Leben unter ständiger Todesdrohung zu teilen.«
Schwer zu sagen, ob Roberto Saviano über all diese Erfahrungen besonders schnell gereift ist oder ob er schon immer ein besonders besonnener und auch strategisch denkender Mensch gewesen ist. Es fällt aber auf, wie klar er seine eigene Lage analysiert. Er weiß, dass etwas anderes ihn womöglich besser schützt als seine Bodyguards, von deren Kollegen sich die Mafia bei den Anschlägen auf Giovanni Falcone und Paolo Borsellino kein bisschen beeindrucken ließ: Sie sprengte diese Männer einfach mit in die Luft. Saviano ist inzwischen zu einer Ikone im Kampf gegen die Mafia geworden. Ein Mordanschlag auf ihn würde weltweit Aufsehen erregen und vermutlich eine geballte Offensive gegen die Camorra auslösen. Dieses Risiko, auch das geht aus abgehörten Telefongesprächen hervor, meiden die Camorra-Clans – jedenfalls noch. »Es wird Situationen geben, in denen ich angreifbarer sein werde, weil man mich weniger beachtet«, sagte Saviano schon vor Jahren. Die Öffentlichkeit ist also vorerst seine Lebensversicherung. Aber die Camorristi und ihre Handlanger in Politik und Medien wissen, wie man an der Ikone kratzen kann.
Schon bald nach Erscheinen von Gomorrha prangten in Casal di Principe an einigen Mauern Schmähungen gegen Saviano, die wie ein Bazillus übergriffen, zunächst auf die Gespräche der Leute, dann auf manche Journalisten und ihre Artikel: Er sei ein Mann, der sich auf Kosten der Menschen in seiner Heimat aufspiele und damit reich werde. Protagonismo heißt das giftige Wort. Es sind nicht nur die Jünger der Mafia, die Todesdrohungen an die Mauern schmieren, nicht nur die Extremisten, die im Internet ihren Hass gegen den Autor zum Ausdruck bringen und sich nicht scheuen, ihren vollen Namen zu nennen. Der Musiker Daniele Sepe hat es mit einem Rap gegen Saviano in die Charts geschafft. (Es gibt tatsächlich ein Internetforum mit der Überschrift: »Für die, die der Camorra helfen wollen, Saviano umzubringen«.) Saviano stößt auch bei Italienern auf Ablehnung, die nicht solch elende Kanaillen sind, aber besser mit der Täuschung zu leben glauben, dass der Kampf gegen die Kriminalität bloß eine Handvoll Polizisten und ein paar Richter betreffe, die allein damit fertigwerden müssten. Der neapolitanische Fußballspieler Marco Borriello, bei Berlusconis AC Mailand unter Vertrag, warf Saviano Nestbeschmutzung vor.
In dieser Situation wäre jede Schwäche, die Saviano zeigen würde, gerechtfertigt. Man würde verstehen, wenn er einfach alles hinschmisse und erklärte, dass er seinen Beitrag im Kampf gegen die Mafia geleistet hat, dass er fortan nur noch historische Biografien schreiben oder mit kampanischer Büffelmozzarella handeln wolle. Man würde verstehen, wenn er Italien verließe und unter falschem Namen ein neues Leben begänne. Er hat es sich mehrmals überlegt, aber er ist geblieben.
Er prangert weiter die Verschleppung von Ermittlungen gegen die Camorra an. Er zeigt die Verstrickungen mit der Politik auf. Er klagt die Ermordung unschuldiger afrikanischer Tagelöhner durch Mafiakiller an. Was ihm dabei besondere Autorität verleiht, ist die Tatsache, dass er es bislang abgelehnt hat, sich auf die Seite einer politischen Partei zu schlagen – auch nicht auf die Seite jener, die ihn gern als Abgeordneten ins Parlament geschickt hätten. »Das kann ich nicht«, sagt er, »schon allein deswegen nicht, weil zwar die Rechte und Berlusconi die größeren Sympathien bei der sizilianischen Mafia haben, es aber in Kampanien oft die linken Stadtverwaltungen sind, die von der Camorra durchdrungen werden.« Diese Haltung hat seine Gefährdung noch einmal erhöht.
Im April 2010 griff kein Geringerer als Ministerpräsident Silvio Berlusconi Saviano frontal an: Obwohl die Mafia längst nicht die größte kriminelle Organisation sei, sei sie weltweit die bekannteste, und zwar »dank der Werbung, die sie durch Fernsehserien und Bücher wie Gomorrha erfährt«. Das werfe ein schlechtes Bild auf Italien. Saviano hat Berlusconi postwendend in einem offenen Brief in der Zeitung la Repubblica Paroli geboten, aber die Wirkung hätte verheerender nicht sein können: »Was sollen die Polizisten jetzt denken, die mich beschützen sollen?«, fragt er (und es ist keine Klage in diesem Satz zu hören). »Und was die Leute, die mich bedrohen?« Was er nicht sagt, ist: Berlusconis Worte könnten wie das Signal wirken, dass Savianos Sicherheit dem italienischen Staat nicht mehr so wichtig ist.
Nun also muss Saviano der Camorra und dem Regierungschef in Italien trotzen. Aber er macht weiter, und man fragt sich, woher er diesen Heldenmut nimmt, eine Frage, die ihn sofort in Abwehrhaltung bringt: »Die Beschreibung als Held ist für mich etwas ganz Furchtbares, eine zusätzliche Verurteilung«, sagt er.
Aber was hat ihm die Kraft gegeben standzuhalten, warum hat er nicht gezögert, als sich für ihn die Frage stellte: Wofür stehst du?
Saviano sagt, er sei in diese Situation geraten, weil er aus Mangel an Erfahrung unfähig gewesen sei, sich vorzustellen, was auf ihn zukommen würde. Jetzt, da er es könne, wolle er nicht jene im Stich lassen, die so leben müssten wie er: einige Richter und Staatsanwälte, ein paar Ermittler, vor allem die Kronzeugen aufseiten der Opfer. Sie seien auch für ihn ganz besondere Menschen: keine Helden, aber oft Vorbilder, weil sie manche Lebenssituationen schon durchgestanden hätten, die er nun selbst kennenlerne. »Insofern«, sagt er, »sind sie beispielhaft für mich. Aber eben nur auf einem Gebiet – und das auch nur für eine bestimmte Zeit.«
So angespannt ist die Lage, dass Roberto Saviano, der schon lange darauf verzichtet, Urlaub in Italien zu machen, nicht einmal mehr in die Stadt fährt, um ein Eis zu essen. Als er das zuletzt tat, fand es sogleich Erwähnung in einer Zeitung, die zufällig der Familie Berlusconi gehört. Es stand nicht explizit im Text, aber der Unterton war klar: Da prangert einer effektvoll die angeblich großen Missstände in Italien an – und lässt es sich selbst gut gehen. Wohlgemerkt: Roberto Saviano hatte sich an einem schönen Frühlingstag ein Eis genehmigt.
Als halber Italiener, der ich nun einmal bin, schäme ich mich dafür, dass es in Westeuropa ein Land gibt, in dem ein Schriftsteller im 21. Jahrhundert um sein Leben bangen muss, weil er mit seiner Feder auf Verbrecher zielt. Wie kann es sein, dass in einer Region Kerneuropas Kriminelle stärker sind als der Staat, der sie verfolgen müsste? Ich appelliere auch an die Deutschen, dass sie durch ihr Interesse und ihre Anteilnahme helfen mögen, einen Schutzring um ihn zu bilden.
Denn wir können vielleicht auf Helden verzichten, aber nicht auf Vorbilder wie Roberto Saviano.
Bei der Arbeit an diesem Buch haben uns einige Menschen sehr geholfen, denen wir an dieser Stelle danken möchten, nämlich Maxim Biller, Frank Drieschner, Benedikt Erenz, Alexander Fest, Antje Hier beginnt - Das Buch -Kunstmann, Helge Malchow, Georg Mascolo, Ursula Mauder, Dieter Reithmeier, Susanne Schneider, Sabrina Staubitz, Sybille Terrahe, Chaia Trezib, Bernd Ulrich, Anne Weyerer, Dominik Wichmann und Marcus Wyrwol. Und vor allem Jan Patjens.