Mein größtes Dilemma: Gerechtigkeit
oder
Was ich verdiene, aber nicht bekomme
Ich bin 54 Jahre alt. Ich verdiene Geld genug, um damit meiner Familie mit vier Kindern ein komfortables Leben zu ermöglichen. Wir wohnen in einer schönen Wohnung, fahren ein gutes Auto, die Kinder können studieren. Manchmal habe ich, wenn ich von einer Lesung nachts aus dem Theater nach Hause fahre, an einem einzigen Abend das Monatsgehalt einer Krankenschwester verdient, an guten Tagen sogar erheblich mehr. Ich kann das oft selbst nicht fassen, staune über diesen Erfolg wie ein Kind und freue mich daran.
Bloß stellt sich mir trotzdem die Frage: Ist das gerecht? Ist es in Ordnung, dass ich so viel mehr verdiene als ein gleichaltriger Bauarbeiter, der noch dazu in meinem Alter vielleicht körperlich bereits abgerackert ist oder sogar krank?
Ich lege mir meine Rechtfertigungen zurecht: Es dauert noch nicht sehr lange, dass ich so viel verdiene, früher war es bedeutend weniger. Ich habe dafür studiert, bin während des Studiums selten in Discotheken gewesen, habe immer viel gearbeitet und mir mit allerhand Jobs etwas dazuverdient zu dem Geld, das mir meine Eltern geben konnten; es reichte oft nicht. Ich habe, weil ich Freiberufler bin, nahezu keine Rentenversicherung, muss mir fürs Alter selbst viel Geld zurücklegen und werde mit Sicherheit nicht mit 65 oder gar früher in Rente gehen können, weil ich kaum eine Rente bekommen werde. Ich habe, nebenbei gesagt, nur selten Achtstundentage, sondern arbeite oft bedeutend länger. Und ich zahle so viel Steuern, dass von diesem Geld einige Staatsangestellte leben können; also bin ich nicht der Einzige, der davon profitiert, dass ich gut verdiene.
Im Übrigen kann mein Erfolg schon im nächsten Jahr beendet sein. Es könnte sein, dass wir dann bedeutend bescheidener leben müssen. Die neurotische Angst, mir könnte ab morgen kein einziger vernünftiger Text mehr einfallen, lässt mich gelegentlich nachts in einem schweißnassen Pyjama aufwachen.
Risiken hat allerdings ein Arbeiter auch: Man kann ihn entlassen oder er muss kurzarbeiten. Er kann sein Schicksal viel weniger beeinflussen als ich, weil es von den Entscheidungen einiger Manager abhängt, die er oft nicht einmal kennt. Ich hingegen lebe im Gefühl, mein Leben selbst bestimmen zu können. Das ist viel wert. Und ich tue – was man auch nicht von jedem Berufstätigen sagen kann – meine Arbeit in der Regel richtig gern.
Nein, es ist nicht gerecht, dass ich so viel mehr Geld bekomme als jede Krankenschwester oder jeder Busfahrer. Aber es ist auch nicht gerecht, dass ich sehr (sehr!) viel weniger verdiene als der Fußballspieler Franck Ribéry. Obwohl es mir gut gefällt, dass einer mit seinem Herkommen es schafft, ein reicher Mann zu werden, nur mit dem, was er so gut kann wie wenige andere.
Es ist auch nicht gerecht, dass es mir wahrscheinlich nie gelingen wird, mit meiner Kopfarbeit ein Vermögen zusammenzutragen wie mancher Vorstandsvorsitzende, der nach einigen Jahren mittelmäßiger bis miserabler Arbeit aus einem laufenden Vertrag entlassen wird und sich dann, wenn er will oder keinen Job mehr findet, auf den Golfplätzen der Welt tummeln kann, während das Geld aus seiner Abfindung auf dem Konto für ihn arbeitet, das alles, weil eine Managerkaste sich risikolos gegenseitig selbst absichert.
Und es ist sogar schreiend ungerecht, dass ich in meinen Jahren als Zeitungsredakteur das Vermögen einiger Zeitungsverleger vergrößert habe, die sich ihre Unternehmensanteile nicht einmal erarbeitet, sondern sie nur von ihren Vätern geerbt hatten.
Alles ist ungerecht, ungerecht, ungerecht.
Ist es nicht übrigens sogar ungerecht, dass ein Arbeitsloser in Deutschland, ohne einen Finger zu rühren, sehr viel besser leben kann als ein Migrant aus dem Senegal, der sich unter unfassbar großen Entbehrungen und bei größter Lebensgefahr bis nach Italien oder Deutschland durchgeschlagen hat? Wobei es übrigens auch nicht gerecht ist, dass die Familie dieses Mannes in Afrika ihr Geld für ihn gespart und zusammengelegt hat – und nicht für einen anderen, seinen Bruder vielleicht, der deshalb im Senegal bleiben musste, weil das Geld nur für die Wanderschaft des einen reichte. Und im Grunde fängt die Ungerechtigkeit vielleicht schon damit an, dass die Natur den einen Bruder mit einer sehr viel robusteren Gesundheit und sehr viel größeren geistigen Gaben ausgestattet hat als den anderen.
Aber so gesehen ist es schließlich sogar ungerecht, dass der Braunbär in Kanada mit leichter Tatze Lachse aus dem Fluss angeln kann, während der Eisbär in der Arktis unter unwirtlichsten Bedingungen gegen das Aussterben ankämpfen muss.
Wir halten fest, erstens: Die Welt ist von vorneherein immer ungerecht, ein Umstand, der wahrscheinlich schon in den Höhlen der Neandertaler erörtert worden ist, für den Sokrates und Thrasymachos in ihrem von Platon in der Politeia geschilderten Streit keine Lösung fanden, und dem der moderne Klassiker der Gerechtigkeitstheorie, der Amerikaner John Rawls, vor vierzig Jahren sein Hauptwerk widmete: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Wer anfängt, sich mit der Frage nach Gerechtigkeit in der Welt auseinanderzusetzen, der öffnet ein Fass ohne Boden, zumal ja, nicht selten, Gerechtigkeit mit Gleichheit verwechselt wird, es aber doch die meisten von uns zutiefst ungerecht fänden, wenn man alle Menschen gleich behandeln würde.
Zweitens: Ob und was man als ungerecht empfindet, ist immer eine Frage des Bezugsrahmens, auch der persönlichen Einstellung.
Drittens wird einem, je länger man über das Thema nachdenkt, immer klarer, dass Gerechtigkeit zwar ein sehr relativer und außerordentlich schwer zu fassender Begriff ist, dass es nichtsdestoweniger aber ohne die Idee der Gerechtigkeit nicht geht, die dabei weniger einen Zustand als ein Ziel beschreibt. Denn das Wertvollste an der Gerechtigkeit ist nicht ihre schließlich-endliche und ja sowieso nie mögliche Herstellung, sondern das dauernde Streben nach ihr: der immerwährende Versuch, jedem Einzelnen seinen Respekt zu zeigen, indem man ihm gerecht zu werden versucht.
Ich lernte den Unternehmensberater H. kennen, als er gerade in eine Sinnkrise geraten war. Wir waren ungefähr im selben Alter, saßen stundenlang an einem Flughafen fest und kamen ins Reden, das heißt, er holte bald zu einem Monolog aus, es brach aus ihm heraus, als habe er seit Wochen mit niemandem mehr gesprochen.
Er hatte zuletzt ein Familienunternehmen beraten. Die Eigentümer litten unter einem Einbruch der Produktivität und der Rendite, sie wünschten sich ein »Optimierungs- und Restrukturierungskonzept«, versprachen aber, möglichst wenige Mitarbeiter zu entlassen. Sie sagten, das Betriebsklima sei gut, man wolle es nicht allzu sehr belasten.
Es sah nach einem Routineeinsatz aus. Er sprach lange mit den Eigentümern und Geschäftsführern, gemeinsam gingen sie eine lange Liste von Mitarbeitern durch. Zu einigen gaben sie Einschätzungen ab, die H. sich stichwortartig notierte. Danach machte er sich im Betrieb kundig. Zunächst schienen die Mitarbeiter verängstigt zu sein, wenn er mit ihnen sprach. Nach einiger Zeit aber, das war jedenfalls sein Eindruck, gewann er ihr Vertrauen. Es gab langgediente Angestellte, die sich von seiner Arbeit so etwas wie eine Befreiung aus alten Verkrustungen versprachen. Die meisten waren lange dabei, das gehört zur Tradition des Unternehmens, aber gut, das fand er schnell heraus, war das Betriebsklima schon lange nicht mehr.
Dann unterlief ihm ein folgenschwerer Fehler, es war ein Versehen: H. ließ in einem Besprechungsraum Unterlagen liegen – unter anderen die kommentierte Personalliste. Ein Mitarbeiter fand sie und lief damit zum Betriebsrat, der Vorgang wurde im ganzen Haus bekannt.
H. war zu dieser Zeit im Urlaub. Genauer gesagt: Er war gerade mit einem Freund zu einer Expedition durch die große Salzwüste im iranischen Hochland aufgebrochen und nur über Satellitentelefon zu erreichen. Der Geschäftsführer rief ihn aufgebracht an und machte ihm schwere Vorhaltungen. H. solle so schnell wie möglich zurückkehren. Der Unternehmensberater brauchte vier Tage, um wieder einen Flughafen zu erreichen und zurückzufliegen.
Es waren Tage, in denen er sich zunächst Vorwürfe über die professionelle Fehlleistung machte und darüber nachdachte, wem er wohl mit seinen Notizen Schaden zugefügt haben könnte. Dann aber, davon war er selbst am meisten überrascht, wähnte er sich plötzlich selbst als Opfer. Er hatte ja zu diesem Zeitpunkt nur karge Informationen, und seine Fantasie baute sie nun zu einem sinnfressenden Monster auf. Warum war der Geschäftsführer plötzlich so ungehalten?, fragte sich H. Konnte es überhaupt sein, dass er Unterlagen vergessen hatte? Roch das nicht alles nach einer bösartigen Intrige gegen ihn selbst, weil er Systemfehler im Unternehmen entdeckt hatte, die den Eigentümern und Geschäftsführern inzwischen bedrohlicher erschienen als den Mitarbeitern, die ursprünglich auf dem Prüfstand gestanden hatten? »Ich fühlte mich an Kriminalfilme erinnert, bei denen der Mann, der vorgab, einen Mord aufzuklären, sich am Ende selbst als Mörder entpuppte.«
H. dachte über den Fall nach und über seine Arbeit als Berater. Und er begann das System zu hassen, in dem er sich bewegte. Nie zuvor, sagte er, habe er sich so einsam gefühlt wie in diesen Tagen.
Dies war aber nur der erste Teil der Geschichte, die H. loswerden wollte, von der er selber sagte, dass sie wie ein Hollywood-Schinken wirke, dramatisch, anrührend, gegen Ende eben auch hoffnungsvoll – und gefährlich nah am Kitsch, aber nur, wenn man sie nicht selbst erlebt habe.
Als H. in das Unternehmen zurückkehrte, musste er sich zunächst den enttäuschten Mitarbeitern stellen. Er sagte ihnen, er habe in seiner Personalliste nur die Beurteilungen der Vorgesetzten übernommen, er selbst habe die Mitarbeiter doch gar nicht persönlich gekannt. Besonders war den Kollegen ein böses Wort aufgestoßen, das H. hinter den Namen einer Frau geschrieben hatte, die die Älteste in ihrem Team war: »Sozialfall«. H. sagte, er wolle sich stellen, er werde mit der Frau persönlich sprechen.
Und so verabredeten sie sich in einem Café in einer Großstadt, der Unternehmensberater und die Mitarbeiterin, die ihre Chefs als Sozialfall stigmatisiert hatten. Da stand H. eine gestandene Frau gegenüber, die ihm in die Augen schaute und ihn mit festem Handschlag begrüßte. Noch bevor sie sich setzten, fragte sie ihn: »Warum machen Sie so etwas? Sie kennen mich doch gar nicht.« Die Frau erzählte ihm, was sie in den vergangenen Jahren durchgemacht hatte, wobei es ihr wichtig war, nicht den Eindruck zu erwecken, als wolle sie Mitleid erheischen. Ihr Mann hatte sich das Leben genommen, und sie war jahrelang von der Rolle gewesen. Sie hatte schnell gespürt, dass die Kollegen mit ihrer Arbeit nicht mehr zufrieden waren, sie konnte das sogar verstehen. Sie hatte sich ihnen auch gelegentlich verweigert, aus Stolz und Trotz, wie sie sagte.
H. sagte mir, erst in diesem Moment habe er wirklich gespürt, was er da angerichtet hatte.
Er habe immer geglaubt, er sei ein Mensch, der sich gut im Griff habe, ein gestandener Profi, ein erfahrener Familienvater. Im Verlauf des Gesprächs aber passierte etwas, was er im Leben nicht für möglich gehalten hätte. H. fing vor der Frau und mitten im Café an zu weinen. Da nahm der Sozialfall seine Hand und sagte: »Das kriegen wir schon wieder hin, Herr H.«
Die Frau blieb in dem Unternehmen, die Kollegen solidarisierten sich mit ihr, und weil sie von der Angst befreit war, dass jemand schlecht über ihre Arbeit reden könnte, lief sie nicht nur zu alter Stärke auf, sie war, wie es ein Vorgesetzter Herrn H. bescheinigte, so gut wie nie zuvor. Die Frau und Herr H. halten bis heute Kontakt.
So weit das Hollywood-Finale. Aber Herr H. war noch lange nicht am Ende. Jetzt kam er auf seine Arbeit im Allgemeinen zu sprechen, redete über die Manager, die er bislang kennengelernt hatte: Es war die Anamnese eines Systems, das krank ist und krank macht. H. berichtete von seinen Erfahrungen mit Spitzenkräften kleiner und großer Unternehmen, bis hinauf zu DAX-Vorständen. »Sie werden es nicht glauben«, sagte er, »aber wissen Sie, wovor diese Menschen die größte Angst haben? Es ist die Angst, dass jemand durchschauen könnte, dass sie ihren Aufgaben im Prinzip nicht gewachsen sind.«
»Warum sollten sie sich so verwundbar fühlen?«, fragte ich. »Meistens handelt es sich doch um hartgesottene Profis mit langer Berufserfahrung.« Aber H. rückte nicht von seiner These ab, er spitzte sie eher noch zu. Seine Formel lautete: Je mehr Angst die Angestellten einer Firma haben und je mehr Druck sie bekommen, desto mehr schwindet bei ihnen der Überblick und, schlimmer noch, das Gefühl für die eigenen Stärken. Das gelte für alle Ebenen der Hierarchie.
Vieles davon sei gewiss der Schnelllebigkeit und auch der großen Unwägbarkeit unserer Zeit geschuldet, aber das habe einen uralten Mechanismus nur verstärkt, nicht erst geschaffen. »Die Leute gehen in die Kantine und quälen sich mit der Frage: Was denken die da am Nebentisch über mich? Und auf dem Weg zum Fahrstuhl treffen sie dann vielleicht noch einen Vorgesetzten oder einen Kollegen, der, weil selbst mit einem Problem befasst, grußlos vorübergeht – und schon kann aus einer anfangs vagabundierenden Angst eine Obsession werden. Und je älter die Beschäftigten sind, desto mehr wächst aus Unsicherheit die Neigung dazu.«
H. sagte, die individualpsychologische Ebene interessiere ihn gar nicht so sehr, viel mehr beschäftigten ihn die Auswirkungen auf die Unternehmen, für die er arbeite. Wenn die Mitarbeiter Angst hätten, bauten sie Fassaden auf und neigten dazu, sich immer stärker dahinter zu verstecken und nach Möglichkeit keine Entscheidungen zu treffen, mit denen sie etwas riskieren. »Sie können es nämlich drehen und wenden wie Sie wollen: Wer etwas anpackt, der macht Fehler.«
Gibt es einen Ausweg aus diesem pathologischen System? Man merkte H. an, dass er sich selbst nicht besser machen wollte, als er war. Es gebe kein Unternehmen, in dem es keine Härten, keine Ungerechtigkeiten und keine Angst gebe – und keinen Unternehmensberater, der daran völlig unschuldig sei. Aber eines sei ihm über die Jahrzehnte schon aufgefallen, sagte er und redete nun wie ein Gewerkschaftssprecher, obgleich er sich später als FDP-Wähler zu erkennen gab: »Der Respekt vor dem Mitarbeiter ist völlig verloren gegangen.«
Und dann plädierte er doch noch für eine neue Unternehmenskultur: »Offenheit, Offenheit, Offenheit!« Jeder Chef müsse bekennen, was er erwarte, sonst sei er kein Chef. Und wenn es ein Problem mit einem Mitarbeiter gebe, dann helfe am ehesten die Ansage, dass man es mit ihm zusammen lösen wolle. »Ich bin kein Guru«, sagte H. »Aber Sie glauben gar nicht, was für Kräfte Menschen entfalten, wenn sie sich nicht mehr in der Defensive sehen.«
Ich finde es übrigens immer wieder erstaunlich zu sehen, welche Energien in Menschen stecken können, ohne dass man sie erkennt, ja, wie unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen diese inneren Kräfte entweder gelähmt oder geweckt werden können.
In meiner Abiturklasse gab es einen Schüler, M., der unbedingt Medizin studieren wollte. Unglücklicherweise war er der schlechteste Schüler unter uns, und der Numerus clausus in Medizin war damals außerordentlich streng.
Diesen Freund quälte lange Zeit ein Satz unseres Mathematiklehrers, der eines Tages dem vor ihm Sitzenden bei der Rückgabe einer Schularbeit sagte: »Dich sehe ich doch bei der Müllabfuhr wieder.«
»Hat er wirklich ›Müllabfuhr‹ gesagt?«, fragte ich meinen Mitschüler, als ich ihn vor Kurzem wieder einmal anrief, um mich der Richtigkeit meiner Erinnerung zu vergewissern.
»Nein, ›am Bankschalter‹ hat er gesagt. Aber das ist egal, es klang für mich wie ›Müllabfuhr‹, ein Leben am Bankschalter wäre für mich das Gleiche wie bei der ›Müllabfuhr‹ gewesen.«
Es war so herabsetzend und verachtungsvoll gemeint wie es klingt, und noch nach der Schulzeit erzählte mir M. viele Jahre lang diese Geschichte immer neu, so tief saß dieser Stachel in ihm. So sehr hatte sich ihm eingeprägt, dass die Schule ihn nicht mochte und er deshalb auch die Schule nicht.
Seine Abiturnoten waren entsprechend.
Aber sein Wille, Arzt zu werden, war so groß, dass er nach langem Suchen herausfand, in Belgien sei es auch mit schlechteren Noten möglich, Medizin zu studieren. Das Problem war nur, dass man in Belgien Französisch spricht, und dass er auch in Französisch nicht eben Klassenprimus gewesen war.
Nun begann er aber, Französisch zu lernen. Und er zog nach Brüssel, studierte dort Medizin, in französischer Sprache. Er wurde ein leidenschaftlich für seinen Beruf engagierter Arzt, der heute Oberarzt an einer Klinik in den neuen Ländern ist.
Sein Abiturzeugnis hing viele Jahre lang an der Wand seiner Toilette.
Ich erinnere mich an einen schönen Abend in München. Ich saß mit meiner Frau bei einem stadtbekannten Italiener, einem schillernden Neapolitaner mit stechenden Augen, einer großen Nase und langen schwarzen, nach hinten gekämmten Haaren. In seinem Gesicht lag stets eine Andeutung von Spott, er sah aus wie eine Figur aus einem Grand-Guignol. Dieser Wirt hatte es in der Stadt zu einigem Ansehen gebracht und sich einen Michelin-Stern erarbeitet. Sein zweites Lokal war zu einem Anziehungspunkt für die Münchner Prominenz geworden.
Ich hatte an diesem Tag einen Vertrag unterschrieben, der mich zu einer anderen Zeitung und in eine andere Stadt brachte. Spät am Abend merkte ich, wie mir mulmig wurde. Der Wirt setzte sich zu mir an den Tisch und fragte: »Freust du dich nicht?« Ich hatte schon ein bisschen zu viel Rotwein getrunken, deshalb rutschte mir ein vertrauensseliger Satz heraus: »Doch, aber wenn ich an die neue Aufgabe denke, fühle ich mich ein bisschen wie ein Hochstapler.« Da sprach der Wirt einen Satz, in dem die ganze neapolitanische Philosophie eines Jahrhunderte währenden Überlebenskampfes verdichtet war: »Aber wenn du ein richtig guter Hochstapler bist, merkt das keiner.«
Sein Lachen hallte in meinen Ohren noch lange nach.
Die bittere Pointe daran: Als ich sein Lokal während meines ersten Heimaturlaubs in München wieder besuchen wollte, war es nicht mehr da. Der Wirt hatte sich von einem Tag auf den anderen aus dem Staub gemacht, einen Haufen Schulden zurückgelassen und die Gehälter seiner Mitarbeiter nicht gezahlt. Die letzte Nachricht, die ich von ihm erhielt, war, dass er sich in einem Ort in der Nähe von Neapel eine neue Existenz aufgebaut habe.
Das Gefühl, ein Hochstapler zu sein, kenne ich gut. Wie oft habe ich mich schon so gefühlt? Du gehörst hier nicht hin. Du kannst das doch gar nicht, was man von dir erwartet (und von dem du ja selbst vorgegeben hast, es zu können). Das ging mir schon als Kind so, wenn ich in den Häusern der wohlhabenden Eltern mancher Mitschüler zu Besuch war. Es ist heute nicht viel anders, wenn ich in einem schönen Hotel wohne. Oft denke ich, gleich macht einer die Tür auf und fragt mich, wie ich denn hierhergekommen sei …
Woran liegt das? An meinem Herkommen? Ich bin ja nicht mehr da, wo ich herkam. Mir fehlt oft ein festes inneres Vertrauen in meine Fähigkeiten, die in der Welt meiner Eltern keine wirkliche Rolle spielten und mit denen ich bei ihnen auf keine große innere Resonanz stieß. Sie waren nicht wirklich zu begeistern mit dem, was ich tat – oder wenn sie begeistert waren, zeigten sie es nicht, ich hörte das dann allenfalls von anderen: dass sie stolz waren. Eine berufliche Entscheidung wie die, meine Anstellung bei der Zeitung zu verlassen und freier Schriftsteller zu werden, hätte meinen Vater, dem Sicherheit über alles ging, geradezu mit Panik erfüllt – und ich selbst spüre diese Vaterangst logischerweise natürlich immer wieder in mir.
Ich bin ja auch ein Kind der Aufstiegsgesellschaft, die es einmal gab und natürlich immer noch gibt und der wir viel verdanken. Mein Vater hatte kein Abitur, sondern mittlere Reife, aber am Ende hatte er sich auf einen Posten hinaufgearbeitet, für den man eigentlich das Abitur gebraucht hätte. Alle seine Söhne machten am Ende Abitur, und es öffnete sich für sie eine weitaus größere Welt als jene, die sie als Kinder kannten. Allein zwei von ihnen wurden Journalisten, ein berühmtes Zitat bestätigend, das Raymond Walter Apple zugeschrieben wird, der lange einer der großen Reporter der New York Times war: Journalismus ist für die Mittelschicht, was Boxen für die Unterschicht bedeutet: eine Möglichkeit, schnell anerkannt zu werden, zu Geld und nach oben zu kommen.
Die Wahrheit über Hochstapler aber ist: Ich fühle mich nicht nur wie einer, ich bin wirklich einer. Oder ich war einer, ein kleiner jedenfalls, doch ein guter. Als ich Anfang der Achtzigerjahre als Sportreporter bei der Süddeutschen Zeitung anfing, fand gleich zu Beginn meiner Zeit dort eine alpine Ski-Weltmeisterschaft statt, ein großes Ereignis, bei dem man sich als Reporter schnell einen Namen machen konnte. Ein Mann dafür wurde noch gesucht. Der Chef fragte in die Runde, wer sich das zutraue. Er müsse etwas vom Skisport verstehen und selbst Ski fahren können.
Ich hörte, wie eine Stimme, die wie meine klang, sagte: »Ich«. Und ich sah, wie ein Finger, der wie mein Finger aussah, in die Höhe ging – obwohl ich damals mit Mühe einen Spezial- von einem Riesenslalom unterscheiden konnte und nie auch nur einen einzigen Hang auf Skiern heruntergefahren war.
Sie nahmen mich. Bei der Ski-WM regnete es dann fast die ganze Zeit, sodass zunächst nur wenige Rennen stattfanden und ich eine lustige Regenglosse nach der anderen schreiben musste, was mir gut gelang. Dass ich nicht Ski fahren konnte, fiel nicht weiter auf.
Ich habe es dann viel später gelernt. Da war ich aber nicht mehr Ski-Reporter.
Gott sei Dank bin ich nicht mehr Ski-Reporter. Es hätte mich irgendwann gelangweilt, als erwachsener Mann immer noch die Nachfolger Hans Klammers nach dem Abschwingen im Zielbereich über ihre Empfindungen beim Abfahrtslauf zu befragen und ihre nichtssagenden Antworten zu notieren. Ich konnte mich anders weiterentwickeln und Karriere machen, konnte reisen, meinen Neigungen nachgehen – und gleichzeitig vier Kinder haben. Natürlich habe ich oft abends, nachts und an den Wochenenden geächzt (und ächze immer noch): dass ich mich jetzt nicht entspannen könne, sondern für die Kinder präsent sein müsse, dass ich keine Zeit mehr für mich hätte, dass mich die Verantwortung drücke, dass, dass, dass …
Nur muss man, wenn es um Gerechtigkeit geht, auch erwähnen, dass alle meine Kinder immer eine Mutter hatten, die für sie da war (und ist), wenn sie nach Hause kamen (und kommen), eine Mutter, die ihren eigenen beruflichen Ambitionen nur in reduzierter Weise nachgehen konnte (und kann). In meiner eigenen Kindheit war das noch eine Selbstverständlichkeit, es gab nur wenige verheiratete arbeitende Frauen mit Kindern – und wenn es sie gab, wurden sie oft scheel angesehen oder vielmehr: Ihre Männer galten als Luschen, die ihre Familie nicht ernähren konnten. Wie es einer meiner Onkels einmal ausdrückte, über einen Nachbarn redend, dessen Frau als Haushaltshilfe Geld verdiente: »Der«, sagte er abfällig, »schickt seine Frau arbeiten.«
Heute, eine Generation weiter, gibt es Frauen mit Kindern, die auch noch berufstätig sind, und Frauen mit Kindern, die ihren Beruf nicht ausüben. Es gehört zu den Dingen, die ich an heutigen Familien bewundere: wie sie es oft schaffen, Rollenverteilungen, die ja bei unseren Eltern noch ganz strikt und selbstverständlich von vorneherein fixiert waren, immer wieder neu und ganz individuell für sich auszuhandeln – das ist nämlich, wie jeder Betroffene weiß, sehr anstrengend. Es ist jedoch ein Fortschritt.
Aber: Die nicht berufstätigen Frauen werden häufig in Gesprächen gefragt, was sie denn beruflich so machten, und wenn sie antworten, sie seien im Moment nicht berufstätig, der Kinder wegen, schwingt in den Reaktionen darauf oft der überraschte Unterton mit: »Ach, und sonst haben Sie nichts zu tun …?« Die Berufstätigen müssen sich mit dem genau gegenteiligen Subtext in dem auseinandersetzen, was ihr Gegenüber sagt: »Und ihre armen Kinder, wer kümmert sich um die?«
Dass es so ist, weiß ich übrigens von meiner Frau. Ich selbst bin so etwas nie gefragt worden.
Was sehr ungerecht ist.
Ich kenne keinen jüngeren Chef in Deutschland, der nicht irgendwann einen merkwürdigen Drang verspürte; mir selbst ist es auch nicht anders ergangen: Kaum sitzt er einigermaßen fest im Sattel, nagt in ihm der Verdacht, dass es noch viel besser laufen könnte, wenn man es nur schaffte, einen Teil der alten Mitarbeiter zu entlassen. Jeder hat inzwischen jüngere, oft sympathischere und besser motivierte Kollegen vor Augen, die in der Regel auch noch für niedrigere Gehälter zu haben wären. Er denkt sich (und mancher versucht es auch): Könnte ich die Alten bloß loswerden! Was die meisten nicht sagen, vielleicht auch, weil es ihnen gar nicht so bewusst ist: Die Älteren sind immer auch eine Erinnerung an die eigenen Vorgänger, die ihren Job, wie man mit der Zeit merkt, zwar anders, aber auch nicht schlechter gemacht haben, eine Erkenntnis, die für Egomanen etwas Kränkendes hat.
Weil es in Deutschland, im Unterschied zu Nachbarländern wie der Schweiz oder Dänemark, sehr schwer ist, altgediente Mitarbeiter zu entlassen, und weil manche darunter sind, die sich womöglich auch aus einem Gefühl der Bedrohung heraus in den Betriebsrat wählen lassen (weshalb sie auf Jahre erst recht unantastbar sind), fangen einige an, ganz furchtbar auf das deutsche Modell zu schimpfen. Aber abgesehen davon, dass auch das deutsche Arbeitsrecht längst nicht mehr so starr angewendet wird, erkennen sie eines nicht oder viel zu spät: Gute Unternehmen brauchen den Mix der Generationen und Talente.
Wahrscheinlich ist es auch so, dass man einen gewissen Prozentsatz von Mitarbeitern, die nicht so gut sind wie die Spitzenkräfte, einfach mittragen muss. Denn zum einen ist eine objektive Einschätzung der realen Fähigkeiten nahezu ein Ding der Unmöglichkeit und dann auch noch abhängig von den eigenen Führungsqualitäten. Zum anderen stehen viele Unternehmen bereits an der Schwelle zum Effizienzwahn. Das Modell einer Firma, in der nur Leistungsträger arbeiten, ist eine Utopie; sie zu verwirklichen schaffte in letzter Konsequenz ein System, in dem jeder permanent unter der Bedrohung arbeiten müsste, den Anforderungen nicht zu genügen und schnell wieder abgeworfen zu werden. Wie man es auch anstellte: Die totale Effizienz (wie übrigens auch die Idee der totalen Gerechtigkeit) führt, wie bislang alle utopischen Vorstellungen, in ein System der Willkür.
Wie fühlt sich einer, der Mitarbeiter entlässt – glaubt er, gerecht zu sein? Macht es ihm überhaupt etwas aus? Ich habe diese Frage oft Managern gestellt, seltener, was ein Versäumnis ist, den Eignern von Unternehmen, in deren Namen das geschieht; manchmal habe ich auch die Inhaber kleiner Agenturen, Wirte oder Chefredakteure (was gelegentlich auch meiner eigenen Orientierung und Entlastung diente) damit konfrontiert. Nie habe ich einen getroffen, der nicht als Erstes bemerkt hätte, wie schwer das sei. Wobei schon auffällt, dass einige gleich derart gequält tun, dass sich die Rollen zu verkehren scheinen: Die wirkliche Zumutung muss ja nun mal der ertragen, der entlassen wird – nicht der Chef, der sich überwinden muss, die schlechte Nachricht zu verkünden. Einzelne verfallen in einen abstoßend wirkenden Kriegsslang, der vielleicht auch ein besonders schlechtes Gewissen übertönen soll, aber vor allem so wirkt, als sei das Mitgefühl für die Betroffenen ähnlich gering ausgeprägt wie beim siegreichen Feldherrn, der nach dem Kampf das mit Opfern übersäte Schlachtfeld abschreitet: »Als wir damals den Laden übernommen haben«, sagte mir einmal der Vorstand eines großen Unternehmens, natürlich off the record, »sind wir monatelang kniehoch durch Blut gewatet.«
Die Parallele zu kriegerischen Auseinandersetzungen ist natürlich eine Gemeinheit, vielleicht auch unzulässig, ich weiß das. Aber es gibt doch eine Gemeinsamkeit zwischen Menschen, die Soldaten in den Krieg schicken, und Führungskräften, die ihre Mitarbeiter entlassen: Aus der Perspektive der Opfer ist ihr Tun nur sehr schwer zu rechtfertigen. Welcher der Verantwortlichen fände zum Beispiel noch Worte für den Militärschlag in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2009, wenn er zum Beispiel vor Abdul Hanan stünde, der noch vor Sonnenaufgang die Leichen seiner beiden Söhne Sanullah, 11 Jahre alt, und Abdul Daian, 13 Jahre alt, und weiterer Verwandter südlich von Kunduz fand? Sie waren in der Nacht elendig verbrannt, als amerikanische Kampfjets auf Anforderung eines deutschen Kommandeurs in Afghanistan zwei von Taliban entführte Tanklastzüge bombardiert hatten.
Also flüchten sie sich in Distanz zum Tatort und in übergeordnete Begründungen, etwa für die Mission der Bundeswehr in Afghanistan. Das Problem ist aber nicht, dass es keine guten Gründe für den Einsatz gäbe, humanitäre wie militärische. Das Problem im Krieg wie in der Wirtschaft ist, dass die Kluft zwischen Begründung und Realität einer Entscheidung mit der Zeit immer größer wird. Kaum einer kann die Lücke argumentativ schließen, ohne in Gewissensnot zu geraten. Weil es jedoch nur wenige Menschen vermögen, ständig ihr Gewissen zu befragen (schon aus Mangel an Gelegenheiten), fangen die meisten an, sich selbst zu belügen.
Nur ein Sadist könnte es fertigbringen, die angeblich zum Sozialfall gewordene Sechzigjährige von ihrer Stelle zu drängen, wäre ihm die Frau vorher persönlich bekannt gewesen. Hätte er von ihr persönlich ihre Not erfahren – dann erginge es ihm wahrscheinlich wie dem Unternehmensberater H. Führungskräfte versuchen deshalb, anders als die Inhaber kleiner Betriebe, die ihre Mitarbeiter ständig bei der Arbeit beobachten können, ihre Entscheidungen gerade nicht aus der Perspektive des Einzelnen zu begründen, sondern aus übergeordneten Erwägungen: Wenn ich jetzt nicht zehn Prozent des Personals entlasse, dann ist die Existenz aller im Unternehmen bedroht, nicht nur die jener zehn Prozent, die von der Kündigung betroffen sind. Meine Pflicht ist es, das Auskommen der großen Mehrheit abzusichern.
Natürlich ist das sehr oft die Wahrheit. Aber eben nicht immer die ganze. Der Chef weiß nämlich auch: Manchmal hängen seine eigene Weiterbeschäftigung und seine Jahres-Tantieme davon ab, dass er im Unternehmen rationalisiert. Meistens muss er das tatsächlich tun, weil der Markt ihn dazu zwingt; manchmal aber nur, um einer zuvor noch undenkbaren Renditeerwartung gerecht zu werden, und in seltenen Fällen auch im vollen Bewusstsein darüber, dass die geforderten Entlassungen eine Fehlentscheidung sind (oder die Konsequenz eines vorangegangenen Fehlers desselben Managements). Ich kenne kaum Geschichten, bei denen die Verantwortlichen dann ihrem Gewissen gefolgt wären.
Wenn Gerechtigkeit weniger ein Zustand als ein Prozess ist, dann muss, finde ich, unsere größte Sorge sein, dass dieser Prozess funktioniert. Es muss also möglich sein, dass die inneren Kräfte jedes Menschen geweckt werden und dass er aus ihnen etwas machen kann. Unsere Gesellschaft muss eine Gesellschaft der fairen Chancen sein, der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten. Aber ist sie das?
Nein, sie entwickelt sich sogar in die andere Richtung. Viele Untersuchungen, noch mehr persönliche Wahrnehmungen weisen darauf hin, dass sich die Schichten in Deutschland voneinander abschotten, dass es nicht leichter, sondern schwieriger wird aufzusteigen, und dass unser Bildungssystem diese Entwicklung nicht ändert, sondern geradezu zementiert.
Als ich zur Schule ging, war es normal, dass Kinder aller Schichten gemeinsam zur staatlichen Schule gingen. Private Schulen und Internate waren etwas für den Nachwuchs reicher Leute, dessen Begabungen nicht ausreichten, um auf einer Staatsschule zu reüssieren, oder dessen Eltern weder Zeit noch Lust hatten, sich um die Kinder zu kümmern.
Heute kenne ich viele Wohlhabende, die ihre Kinder von vorneherein auf private Schulen schicken oder ihnen mit viel Geld einige Jahre auf englischen Colleges ermöglichen. Der Mangel an Kindertagesstätten lässt private Kindergärten aus dem Boden schießen, in denen die Eltern selbst über die Aufnahme neuer Kinder entscheiden; kein türkisches oder bosnisches Kind hätte da die geringste Chance, schon aus Kostengründen. Und wenn Eltern mit ihren Kindern nicht an private Institute fliehen, weil sie das auch nicht immer können, so verlassen sie doch oft zumindest jene öffentlichen Schulen, die ihnen nicht mehr aussichtsreich oder überhaupt erträglich scheinen. Ende 2008 beklagten 68 Schulleiter im Berliner Bezirk Mitte in einem Brief an den Regierenden Bürgermeister die Gettoisierung ihres Bezirks.
Wobei ich nichts gegen private Schulen habe. Zwei meiner Kinder waren Waldorfschüler, indes vor allem, weil wir, als sie eingeschult wurden, beinahe neben einer Waldorfschule wohnten, während die nächste Staatsschule nur mit dem Bus erreichbar war. Aber natürlich auch, weil wir damals den Traum von einer anderen Schule vor Augen hatten, besser als die, die wir selbst erlebt hatten.
Was aber, wenn das Bildungssystem immer weniger dazu beiträgt, unsere Gesellschaft durchlässiger und chancenreicher zu machen?
Die Sozialforscherin Renate Köcher hat 2009 konstatiert, die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten in Deutschland seien »in den letzten Jahren und Jahrzehnten keineswegs geringer geworden, sondern größer, materiell wie in Bezug auf Weltbilder und Mentalität«. Während die oberen Schichten wohlhabender würden und die Einkommen in der Mittelschicstagnierten, sei das frei verfügbare Geld einer Familie in den unteren Schichten sogar in Wirklichkeit niedriger als Mitte der Neunzigerjahre.
Was aber viel wichtiger ist: In diesen unteren Schichten gebe es, so Köcher, einen »Statusfatalismus«, der gesellschaftlichen Aufstieg weitgehend ausschließe. Aufstiegschancen würden »eher in der Mittel- und Oberschicht angesiedelt als in der Schicht, für die der Aufstieg wirklich eine völlige Veränderung ihrer Lebenslage und Aussichten bedeutete«.
Nach wie vor hängen Bildungsweg und schulische Erfolge der Kinder in Deutschland, anders als in vielen anderen Ländern, eng mit der Schichtzugehörigkeit und dem Bildungshintergrund des Elternhauses zusammen, ein Satz, den ich heute so schreiben kann wie ich ihn in den Achtzigerjahren als bildungspolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung geschrieben habe. Wenig hat sich seitdem verändert, im Gegenteil.
Das Führungspersonal unserer Wirtschaft rekrutiert sich zu mehr als drei Vierteln aus der oberen Bürgerschicht, die Elite bleibt unter sich. Eine große Mehrheit der unteren zwanzig Prozent der deutschen Gesellschaft, schreibt Köcher, »bekennt sich freimütig dazu, sich kaum mit gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zu beschäftigen, sondern ausschließlich mit dem eigenen Nahbereich«.
Die Duisburgerin Lamya Kaddor, die als muslimische Religionspädagogin an einer Hauptschule im Problemviertel Lohberg arbeitet und unter dem Titel Muslimisch – weiblich – deutsch! ein Buch über einen moderneren Islam in Deutschland schrieb, hat dem Berliner Tagesspiegel einmal auf die Frage geantwortet, warum sie, trotz ähnlicher familiärer Voraussetzungen, sich selbst so anders entwickelt habe als viele ihrer jetzigen Schüler: »Als ich acht Jahre war, sind wir in einen Stadtteil gezogen, wo es eine gute Schule gab. Das war mein Glück, so bin ich nicht in einem Getto aufgewachsen wie viele meiner Schüler. Alle um sie herum sind so wie sie. Keiner ist klüger, ehrgeiziger. Alle leben in den Tag hinein. Meine Eltern kommen aus Syrien, aus dem städtischen Umfeld. Sie sind auch schulisch ungebildet. Aber Disziplin, sich bilden – das war ein großer Wert bei uns. Ich wurde immer gefragt, wie eine Klausur gelaufen ist, meine Mutter war hinterher, dass ich Hausaufgaben mache, auch wenn sie inhaltlich nichts verstanden hat.«
Ungleichheit ist heute für viele kein Ansporn mehr, sie lähmt. Und wir akzeptieren resigniert, dass in Deutschland fast jedes sechste Kind unter fünfzehn Jahren von Hartz IV lebt und dass viele von dieser prägenden Lebenserfahrung vielleicht später nicht mehr loskommen werden.