Meine Heimat in der Fremde

oder

Warum ich etwas dagegen hatte, dass mich ein Oberstudienrat aufhängen wollte

imagesAn einem kalten Wintermorgen landeten wir auf einem fremden Planeten namens Hannover. Wir waren mit dem Nachtzug aus Rom gekommen, meine Mutter, mein Bruder und ich, begleitet von einer deutschen Tante, die meiner Mutter unter die Arme griff. Mein Vater hatte sich ein paar Tage zuvor während eines Spaziergangs auf dem Petersplatz von mir verabschiedet. Er sagte, wir sollten schon einmal nach Hannover vorfahren, er werde später nachkommen. Ich nickte, aber ich wusste, dass er nicht die Wahrheit sprach. Meine Eltern hatten sich getrennt. Deshalb kehrte meine Mutter mit ihren Söhnen nach Deutschland zurück.

Wenn mir Hannover wie ein Albtraum vorkam, lag das bestimmt nicht nur an der Stadt. Aber eine niedersächsische Provinzstadt hatte in den Siebzigerjahren eben auch noch nichts mit dem relativ offenen Deutschland zu tun, wie wir es heute vor Augen haben.

Mein Bruder und ich wurden von der fünften Klasse der italienischen Grundschule in die sechste eines humanistischen Gymnasiums verpflanzt, zur Akklimatisierung musste ein knappes halbes Jahr an der Deutschen Schule in Rom reichen. Der Klassenlehrer in Hannover bemühte sich nach Kräften, uns für die Mitschüler annehmbar erscheinen zu lassen – leider in völliger Verkennung unserer Talente: Es kämen da zwei wahre italienische Fußball-Cracks in die Klasse, verkündete er den anderen. Es war allenfalls die Kraft der Verzweiflung, die mich dazu trieb, in der ersten Sportstunde das erste Tor zu schießen. Danach war es vorbei mit meiner Fußball-Karriere in der Klasse 6d.

In anderen Fächern lief es für mich besser, dachte ich zumindest. Doch schon nach wenigen Wochen nahm mich die gutmütige Deutschlehrerin beiseite und gab mir einen guten Tipp: »Es macht sich nicht gut«, sagte sie, »wenn man vor den anderen Schülern zu erkennen gibt, dass man mehr weiß als sie.« Ich weiß noch, dass sie im Unterricht gefragt hatte, was ein Kibbuz sei – und ich mich gemeldet hatte. Kurz darauf fragte mich ein ansonsten freundlich gesinnter Klassenkamerad während des Lateinunterrichts, ob es denn in Rom auch richtige Häuser gebe. Er stellte sich eine Stadt vor, die vor allem aus Kirchen, Säulen und Höhlen bestand.

Allmählich verstand ich, welches Bild die Deutschen von den Italienern hatten. Ich sah sie zum ersten Mal am Hauptbahnhof in Hannover, diese Italiener, die meine Landsleute waren. In Gruppen standen sie da, die meisten dunkel gekleidet, und unterhielten sich in Dialekten, die ich noch nie gehört hatte. Sie ähnelten immer noch jenen verloren wirkenden Gestalten aus Viscontis Rocco und seine Brüder, die der Zug aus Bari spätabends auf dem Mailänder Hauptbahnhof in die Großstadt entließ. Der eine oder andere von ihnen hatte einen rosafarbenen Fleck unter dem Arm – eine mindestens zwei Tage alte Gazzetta dello Sport. So oder so ähnlich sahen viele Deutsche die Italiener, und ich merkte bald, dass es viel Kraft kostet, sich nicht mit den Augen derer zu sehen, die auf einen herabblicken.

imagesWie fundamental sich Deutschland in fünfzig Jahren verändert hat, wird mir am besten durch einen Vergleich bewusst: Meine jüngste Tochter ist fünf Jahre alt und hat drei beste Freundinnen. Die Mutter der allerbesten Freundin ist Peruanerin, der Vater Deutscher. Die Eltern der zweitbesten Freundin sind Vietnamesen. Die drittbeste Freundin stammt aus Bosnien, beide Eltern sind vor etlichen Jahren von dort gekommen.

Als ich fünf Jahre alt war, also 1961, kannte ich, ebenfalls in einer niedersächsischen Provinzstadt lebend, keinen einzigen Ausländer, von den Menschen im Aussiedlerlager auf der anderen Straßenseite einmal abgesehen, die aber keine Ausländer waren, sondern uns nur wie solche vorkamen. Sie waren Deutsche, aus Polen oder der UdSSR gekommen, hier erst einmal für mehr oder weniger lange Zeit in schäbigen Baracken lebend. »Die Polen«, nicht selten auch »die Pollacken«, hießen sie überall. Dabei waren sie keine Polen, sondern eben von dort übergesiedelte Deutsche. (Oft waren sie nicht einmal aus Polen gekommen, sondern aus Russland, aber egal, sie blieben »die Polen«.)

Einige von ihnen waren meine Spielkameraden, und mit einem freundete ich mich sehr an. Er besuchte mich zu Hause. Bei ihm daheim zu spielen war schwer möglich, seine ganze Familie hauste in einem Zimmer, es roch immer nach Kohl, ein betrunkener Vater, nur mit Hose und Unterhemd bekleidet, schrie herum, eine überforderte Mutter schrie zurück. Meinen Kameraden mochte ich gerne, doch spürte ich, wenn er zu uns kam, dass meine Eltern ihn ungern im Haus haben wollten; ein seltsames, aber untrügliches Gefühl. Bevor das irgendwelche Folgen haben konnte, verließ er mit seiner Familie schon wieder das Lager und verschwand, ich weiß nicht wohin.

»Die Baracken« hatten fremde, bedrohliche Präsenz für uns Kinder. Es gab dort eine ganze Weile einen älteren Jungen, der gebrochen Deutsch sprach und oft auftauchte, wenn wir im Park Fußball spielten. Er hatte dann ein, zwei Kumpane dabei, verwahrlost wie er, gebrochen Deutsch redend. Sie kickten einfach mit, ob wir wollten oder nicht. Wenn irgendetwas passierte, was ihnen nicht passte, wenn ein Tor gegen sie fiel oder einer sich angerempelt fühlte, schlugen sie einen von uns zusammen.

Wir hatten deshalb Angst vor denen aus dem Lager. Andererseits erschienen uns die Prügeleien nicht als etwas Ungewöhnliches. So etwas passierte damals, in den Sechzigerjahren, nicht selten. Auch auf dem Schulweg nahmen wir regelmäßig, wenn wir an einer bestimmten Straße vorbeikamen, die Beine in die Hand, mit den Jungens dort war ebenfalls nicht zu spaßen, wenn sie einen von uns erwischten. Das wussten wir aus Erfahrung.

Erst mit fünfzehn fuhr ich zum ersten Mal in ein anderes Land, nach Italien, in ein Ferienlager am Gardasee, geleitet von niedersächsischen Polizisten, die das ehrenamtlich in ihren Ferien machten. Die Kommissare konnten aber auch im Urlaub nicht von ihren Gewohnheiten lassen: Mehrere Male wurde ich regelrechten und sehr scharfen Verhören unterzogen, weil man mich Händchen haltend mit einem Mädchen erwischt hatte. Das war verboten, denn die Kommissare hatten panische Angst davor, eines der Mädchen könnte schwanger werden – und sie würden dafür zur Rechenschaft gezogen, weil sie ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen wären. Nur knapp entging ich der Heimreise.

Niemand sonst aus unserer Familie war je im Ausland gewesen, mein Vater natürlich ausgenommen, der als Soldat mit der Eroberung diverser Länder beschäftigt gewesen war – und für den danach jegliches Ausland immer etwas Bedrohliches hatte. Erst als Rentner wagte er, bedrängt von meiner Mutter, erstmals wieder eine Reise nach Frankreich, natürlich in einer Reisegruppe. Ich werde nie vergessen, wie sie mir von dieser Fahrt erzählten: Ein einziges Mal waren sie in der Normandie ohne ihre Gruppe unterwegs gewesen und hatten, weil sie einfach nicht wagten, allein ein französisches Restaurant zu betreten, bei McDonald’s gegessen. Das kannten sie wenigstens aus Deutschland, von Besuchen mit ihren Enkeln.

Entschuldigung, doch, einer meiner beiden Patenonkel war in den Fünfzigerjahren einmal nach Italien gefahren, aus beruflichen Gründen. Die Firma, in der er arbeitete, produzierte Rechenmaschinen und zeigte sie auf einer Messe in Mailand, da war er drei Wochen lang dabei. Bis heute unterhält mein lieber Onkel die Familie mit den Schilderungen des Essens in Italien und den damit verbundenen technischen Problemen, bei Spaghetti natürlich und auch bei grünem Spargel, den er noch nie gesehen hatte. Der Kellner machte ihm schließlich vor, wie der zu essen sei, biss den Spargelkopf ab, sagte buono und ließ den Rest auf dem Teller liegen. Das kannte der Onkel nicht: dass man nur das Beste aß und etwas auf dem Teller ließ … Er war froh, dass es in Italien auch Wiener Schnitzel gibt. Bloß heißt es eben nicht Wiener Schnitzel, sondern cotoletta alla milanese.

Es blieb sein einziger Auslandsaufenthalt, ein Leben lang.

Aber langsam kehrten italienische Lebensmittel bei uns ein, »Spachetti« zum Beispiel, wie meine Großmutter sagte, und »Matscheroni«, sehr viel später dann erst »Gnotschi«, so meine Mutter. Sie wurden gekocht und dann mit Ketchup übergossen, ein reines Kinderessen. Mein Vater rührte es nicht an.

imagesIch machte mich auf die Suche nach einem Stück Heimat in Hannover, aber ich fand nichts. Das Essen in den Pizzerien schmeckte anders als das in Rom, und die Kellner behandelten uns nicht wie Italiener. Einmal hörte mein Bruder, wie ein Pizzabäcker aus dem tiefsten Süden zu seinem Kollegen sagte: »Warum müssen uns diese Deutschen auch noch auf Italienisch anquatschen?« Wo es noch nicht schick war, machten die ersten italienischen Lebensmittelläden auf. Unweit des Steintors verkaufte eine Sardin Nudeln, Tomatenkonserven und billiges Olivenöl. Dazu gab es einen Imbiss; sie machte Panini mit Parmaschinken und Cappuccino. Im Hintergrund dudelte trostlose italienische Schlagermusik, die ich in Italien noch nie gehört hatte: Mamma Leone, gesungen von einem gewissen Bino, und Tornerò von I Santo California.

Ich fand die Heimat nicht, wenn ich an frühen Abenden durch die gepflegten Wohnviertel am Waldrand stromerte. Dann schaute ich über sauber geschnittene Hecken in stimmungsvoll beleuchtete Wintergärten, in denen Familien beim Abendessen saßen. Jedes Detail, das ich zu erkennen glaubte, schien mir unerreichbar weit entfernt zu sein, sogar der Obstsaft von Granini, der bei uns nie auf den Tisch kam, weil so ein Getränk für uns plötzlich zu teuer geworden war. Auch die deutsche Sprache, die wir in Italien zuletzt nur noch gesprochen hatten, wenn Verwandte aus Deutschland zu Besuch kamen, bot mir zunächst keine Heimat. Es reichte für eine Vier oder eine Drei minus in Deutsch, aber ich spürte die Ohnmacht, wenn ich versuchte, etwas genauer zu beschreiben, und mir die Worte fehlten.

Schon gar nicht fand ich die Heimat, wenn ich mich aus der Beamtenhochburg der Südstadt auf den Weg in die Stadt machte. »Die Stadt«, das stand plötzlich nicht mehr für Basiliken, Paläste und Piazze, so anheimelnd wie Wohnzimmer. Es beschrieb eine Ansammlung hässlicher Kaufhäuser, die »City« genannt wurde. Wo ein Stück Altstadt den Krieg überstanden hatte, gab es nur ein paar Fachwerkhäuser, innen längst entkernt und funktional gemacht, außen so sauber saniert, dass sie wie Kulissen eines Freizeitparks wirkten.

Natürlich habe ich auch gemerkt, wie gut ich es noch hatte. Immerhin hatte ich eine deutsche Mutter, eine Akademikerfamilie und einen ganz selbstverständlichen Zugang zum Gymnasium. Und das Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein, kannte ich ja schon aus Italien. Dort hatten mir der italienische Vater und der italienische Name auch nicht geholfen; mein Bruder und ich waren wegen meiner Mutter immer i tedeschini, die kleinen Deutschen. Aggressivität habe ich in Italien allerdings selten zu spüren bekommen, auch nicht vor dem WM-Halbfinale zwischen Deutschland und Italien 1970 in Mexiko.

In Hannover war das plötzlich anders. Ich muss heute öfter daran denken, weil es mir manchmal so vorkommt, als litten wir im Alltag mehr an einem Übermaß an Korrektheit als an Fremdenfeindlichkeit. Ich bin zum Beispiel genervt, wenn ich mich wieder einmal sprachlich verrenken muss, um das Wort »Ausländer« zu vermeiden. Aber damals war es schlimmer. Am humanistischen Gymnasium waren mein Bruder und ich die einzigen Ausländer, und als ich nach einigen Jahren zum Schülersprecher gewählt wurde, gefiel das nicht jedem. Der Oberstudienrat, der sich rühmte, noch immer eine Panzerfaust halten zu können, und als alter Nazi galt, kommentierte meine Wahl vor versammelter Klasse mit den Worten: »Di Lorenzo, diesen Itaker, sollte man aufhängen.« Er hatte mich zwar noch keine einzige Stunde unterrichtet, hielt mich aber für einen ganz gefährlichen Revoluzzer.

Obwohl es genug Zeugen für den Vorfall gab, kostete es mich Überwindung, ihn beim Schulleiter anzuzeigen. Der Direktor äußerte vor allem die Sorge, dass hier etwas »aufgebauscht« werden solle. Doch das war für mich gar nicht das Schlimmste. Schlimmer war, dass ich, als ich ihm von der Beschimpfung erzählte, in Tränen ausbrach. Zu Hause habe ich kein Wort über die Geschichte verloren. Ich dachte, meine Mutter würde das nicht aushalten.

In den Monaten des Jahres 2010, in denen die furchtbaren Missbrauchsfälle an einigen der besten Schulen des Landes endlich öffentlich wurden, merkte ich, dass eine große, eine unbändige Wut in mir aufstieg. Ich konnte so gut nachempfinden, was ein Vierzehnjähriger fühlt, wenn der eigentliche Adressat seiner Klage, derjenige, der für Gerechtigkeit, ja für Strafe sorgen müsste, zum Komplizen des Täters wird, oder, wie im Fall des ehemaligen Leiters der Odenwaldschule, selbst derjenige ist, der sich an Kindern vergriffen hat. Die Schmähung durch einen alten Nazilehrer ist verglichen mit sexuellem Missbrauch ein geringes Vergehen. Aber ich spüre heute noch Ohnmacht und Trauer darüber, dass niemand da war, der Trost und Schutz geben konnte. Was mit einem anderen, nicht minder quälenden Gefühl einherging: Wenn mir so etwas passiert, dann bin ich vielleicht selber daran schuld.

Die elfte Klasse musste ich wiederholen. Ich wechselte vom humanistischen auf ein neusprachliches Gymnasium, eine experimentierfreudige Lehranstalt, die im Vergleich zu der vorigen so antiautoritär wie Summerhill wirkte. Die meisten Lehrer und Schüler standen weit links. Auch hier war ich Schülersprecher und bei meinen neuen Mitschülern ziemlich beliebt. Aber es war ganz normal, dass ich vom Oberstufenkurs Gemeinschaftskunde gelegentlich mit einem kräftigen »Ausländer raus!« begrüßt wurde, wenn ich den Klassenraum betrat. Das hielt man für witzig. Und die linken Lehrer hörten weg. Ausgerechnet an dieser Schule tummelte sich eine kleine, aber in ihrem Auftreten besonders fiese Gruppe junger Neonazis. Einer von ihnen machte später eine rasante Karriere als rechter Terrorist. Wir Mitschüler bemerkten die Umtriebe durchaus, sie waren auch gar nicht zu übersehen. Aber ich kann mich an keine Schulstunde erinnern, in der wir uns mit den Nazis im eigenen Haus auseinandergesetzt hätten.

Als ich kurz vor dem Abitur stand, wurden meine ersten Artikel in der Hannoverschen Neuen Presse gedruckt; ich hatte mich längst für den Deutsch-Leistungskurs entschieden. Meine Mutter und mein Bruder gingen zurück nach Italien. Ich blieb. Denn ich hatte endlich eine Heimat gefunden: die Sprache. Es war ein schönes Gefühl.

imagesIch kenne sie, die gepflegten Wohnviertel am Stadtrand von damals, mit den sauber geschnittenen Hecken und den Jägerzäunen drum herum und den Familien, die man abends durchs Fenster sieht, wie sie beim Essen sitzen. Ich bin dort aufgewachsen. Es hätte, von Hannover aus sechzig Kilometer weiter Richtung Osten, meine Familie sein können, die der Junge aus Italien beim Herumstromern sah.

Ich denke an dieses Elternhaus als einen Ort großer Geborgenheit. Wir Kinder waren tagsüber fast immer irgendwo draußen unterwegs, spielten in den Gärten, im Park, im Wald, auf der Straße, und abends wartete dieser Esstisch mit Wurst- und Käsebroten und Früchtetee, »Abendbrot« hieß das. Danach lag ich in meinem Bett und las.

Ein Idyll? Das war es nicht.

Mein Vater regte sich fast jeden Abend aus irgendeinem Grund auf über einen meiner Brüder, der nur wenig jünger war als ich und oft krank, verletzlich und eigensinnig, und dessen Schwäche der Vater schier nicht aushielt. Er begann zu schreien und zu toben, und es ist mir heute, als schrie und tobte er nicht wirklich über den Sohn, meinen Bruder, sondern eigentlich über sich selbst, seine eigene, vom Krieg her rührende Schwäche, seine Verletzungen und seine eigene, stets uneingestandene Angst. Schweigend nahmen wir das Gewitter entgegen. Je größer ich jedoch wurde, desto mehr stellte ich mich auch dem Vater entgegen, versuchte den Bruder in Schutz zu nehmen. Oft liefen wir im Streit auseinander von diesem Familientisch und jeder schwieg irgendwo unglücklich vor sich hin.

Mit zunehmendem Alter empfand ich eine Fremdheit gegenüber dieser Familie, dem Unausgesprochenen dort, dem Unerklärten und dem in Schweigen Erstarrten, eine unabänderliche Fremdheit, die mich heute traurig macht, weil ich jetzt glaube zu wissen, was meine Eltern bewegte oder eben gerade nicht bewegte, sondern bewegungslos machte. Und weil ich, da sie beide früh starben, nie mit ihnen darüber reden konnte. Allerdings weiß ich auch nicht, ob mir ein Gespräch gelungen wäre, hätten sie länger gelebt.

Die Vergangenheit existierte in dieser Familie oft wie hinter Milchglas. Ich hörte zum Beispiel als Kind meine Eltern in Ausdrücken reden, die ich nicht verstand. Sie beklagten, wenn ihnen etwas zu schnell ging, »diese jüdische Hast«, oder sie sagten, wenn man etwas wieder und wieder tun musste, üben zum Beispiel, man müsse es tun »bis zur Vergasung«. Ich kannte als Kind den Hintergrund dieser sprachlichen Wendungen nicht. Aber als ich ihn kennenlernte, als ich erfuhr, dass in Deutschland die Juden verfolgt und ermordet worden waren und dass der Krieg, der zweite nun schon in einem Jahrhundert, von Deutschland ausgegangen war – da spürte ich, dass das Land, in dem ich groß wurde, keines war, dem man sich einfach so zugehörig fühlen konnte, sondern dass man ihm misstrauen musste. Dieses Trennende wurde nicht geringer dadurch, dass es unendlich schwer war, mit den eigenen Eltern offen über diese Vergangenheit zu reden, sicher nicht, weil sie etwas zu verbergen hatten (meine Mutter zum Beispiel war bei Kriegsende 17), sondern weil sie selbst rat- und sprachlos waren.

Ich bin mitten in Deutschland geboren, mitten in Deutschland aufgewachsen, ich bin ein Deutscher. Aber ich dachte als Kind oft, es müsse schön sein, Franzose oder Italiener zu sein, Bürger eines Landes, in dem man sich einfach so, ohne jedes Wenn und Aber, geborgen und sicher fühlen konnte.

Ich wuchs also mit dem Gefühl einer Fremdheit gegenüber dem eigenen Land auf, einem unabänderlichen Misstrauen.

Als ich das Buch Unser Jahrhundert las, das lange Gespräch zwischen Helmut Schmidt und Fritz Stern, haben sich mir einige Sätze von Schmidt besonders eingeprägt:

»Ich habe ein dumpfes Gefühl im Bauch, dass es irgendwelche Gene gibt, die dabei eine Rolle spielen. (…) dass jemand in großer Zahl fabrikmäßig Menschen ermordet – das ist einmalig. Und das ist für mich der Grund, weshalb mir mein eigenes Volk nach wie vor ein bisschen unheimlich ist. Mein Vertrauen in die Deutschen ist nicht unbeschränkt groß, muss ich bekennen … Man kann das Wort Gene von mir aus ersetzen und sagen, dass es irgendeine Veranlagung gibt. Das kann man machen, dann ist die Konnotation, die mit dem Wort Gene verbunden ist, vermieden. Aber das Rätsel bleibt, was die Deutschen hier gemacht haben.«

Ist das irgendwo sonst auf der Welt denkbar: dass ein ehemaliger Regierungschef sagt, sein eigenes Volk sei ihm unheimlich?

imagesGab es Zeiten, in denen ich diesem Land wirklich nah war, in denen ich es mochte? In denen ich also nicht nur dachte, dass dies mein Land ist, ein schönes Land? Sondern in denen ich das fühlte?

Das waren die Jahre, in denen die DDR zerfiel und ich, kaum waren Mauer und Grenzzaun weg, Rucksack und Tasche in den Kofferraum meines Autos warf, um loszufahren und mit Leuten zu reden, die plötzlich, nach mehr als vierzig Jahren Sozialismus, ihr Leben neu suchen, erfinden, gestalten mussten. Ich war, als Zeitungsreporter, gepackt davon, in etwas ganz und gar Fremdem das sehr Vertraute zu entdecken, und es begeisterte mich, dass es möglich war, nun hinter diese Zonengrenze zu blicken, die für mich als Kind das Ende der Welt gewesen war. Nie zuvor und nie danach habe ich eine solche Offenheit von Menschen irgendwo in Deutschland erlebt, eine solche Bereitschaft, alles infrage zu stellen und über alles zu reden. Nie zuvor und nie danach habe ich so viele imponierende, anrührende, aufregende, ergreifende, ehrliche, anständige Geschichten über mein Land gehört.

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Siegfried Malaschewski, den ich in Hötensleben traf, einem Dorf in Sachsen-Anhalt. Der war als Dreijähriger zusammen mit Bruder und Schwester, schließlich sogar ganz allein aus Ostpreußen nach Westen gewandert, ohne die Mutter, die bei seiner Geburt gestorben war, und ohne den in Kriegsgefangenschaft geratenen Vater, zuerst mit einem Köfferchen in der Hand, dann ohne dies, ein russischer Soldat hatte es ihm abgenommen. Er landete in verschiedenen Heimen in der DDR (keine schöne, eine prügelreiche Zeit), schließlich in jenem Hötensleben, wo er Pflegeeltern bekam, nur einige Hundert Meter von der Zonengrenze und später vom Todesstreifen und vielleicht dreißig Kilometer von der Stadt entfernt, in der ich aufwuchs, bloß eben auf der anderen Seite der Grenze. Er blieb in der Ostzone, er verließ auch die DDR nicht, obwohl das möglich gewesen wäre – warum? Er habe das nicht geschafft, sagte er, diesen einen einzigen weiteren Schritt habe er nicht mehr geschafft, so froh sei er gewesen, nach der großen Wanderung irgendwo angekommen zu sein. Aber er fand eine Frau, er hatte eine Familie, ein kleines Haus mit einem Garten.

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Der Mann, so Mitte fünfzig, mit dem ich auf einem Parkplatz beim früheren Grenzkontrollpunkt Marienborn ins Gespräch kam, ein kleiner dünner Kerl mit zwei blutigen Rasiernarben am schon faltigen Hals. Der erzählte mir von seiner Zeit als Soldat in der Nationalen Volksarmee und wie sie 1968, während der »Tschechenkrise«, in Alarmbereitschaft versetzt worden waren. Neunzig scharfe Schuss habe jeder von ihnen bekommen und damit ein plötzliches Gefühl der Macht: den eigenen Offizieren habe man mit einem Mal die Angst angemerkt, einer könne aus Wut über all die Schikanen mal einen von ihnen umlegen. Und ich dachte: Mit dem hier hättest du dich, wenn die Geschichte anders gelaufen wäre, im Krieg befinden können, und er hätte auf dich geschossen und du auf ihn.

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Der Protokollchef des Außenministeriums der DDR, den ich kurz vor dem 3.Oktober 1990 beim letzten Empfang für das Diplomatische Corps in Ostberlin traf, ein kleiner Mann, der Deutsch mit einem leichten französischen Akzent sprach, das muss man sich mal vorstellen, in der DDR. Er war als Diplomat in Guinea und Kongo-Brazzaville gewesen, und nun hatte er einen traurigen Blick, denn es war sein letzter Arbeitstag. Er wollte nicht als Letzter den Saal verlassen, »ich möchte hier nicht der Saalschließer sein«, sagte er, stieg unten in den Fonds eines dunkelblauen Lada und ließ sich noch einmal davonfahren, ein letztes Mal.

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Der Kohlenhändler Braun, den ich ein paar Mal in Ostberlin traf, in der Prenzlauer Allee, Ecke Sredzkistraße, auf einem kleinen, mit Kohlenschmiere vollgesogenen Areal, auf dem Kopf eine schwarze Lederkappe, darunter die schwarzen drahtigen Haare zur Seite stehend. Immer wieder erklärte er mir mit rußumwölktem Haupt, wie sehr ihm die neue Freiheit gefalle, wie sehr er aber auch nun, in der Marktwirtschaft, gegen große Konzerne um preiswerte Kohle für seine Kunden kämpfen müsse. Als eines Tages die Kohlenhändler deswegen streikten, wurde er sogar von SAT.1 interviewt. »Da konnte man seine Meinung sagen, ohne hintaher vahaftet zu werden«, sagte er. »War jut.«

Ich hatte plötzlich das Gefühl, im interessantesten Land der Welt zu leben, und entdeckte, dass eben dies das Bemerkenswerte an Deutschland ist: die Brüche, die Umwälzungen, das Widersprüchliche – und wie man damit umgegangen ist.

Ich fand auch heraus, dass ich Heimatgefühl und Nichtfremdsein nicht mit Landstrichen, Städten, Stimmungen verbinde, sondern mit diesen Geschichten und mit der Sprache, in der sie erzählt wurden und erzählt werden müssen.

imagesWenn es um Ausländer geht, schwanken die Deutschen zwischen zwei Extremen: Da ist zum einen eine Art Verklärung, die sie manchmal blind macht selbst für die offensichtlichsten Fehlentwicklungen in den verschiedenen Einwanderergruppen, zum anderen aber eine verletzend wirkende Gleichgültigkeit.

Besonders gerne redet man sich den Italiener schön. Man kennt ihn in Deutschland fast ausschließlich in seiner Erscheinungsform als Wirt oder Kellner. Dabei hat er sich seiner Umgebung hier oft schon so weit angepasst, dass er mit Italienern in Italien kaum noch verglichen werden kann: Überschwänglich radebrechend begrüßt er seine Gäste, die er mit Komplimenten überhäuft. (In Italien würde man das als eher kauzig ansehen.) Froh gestimmt unterstützt er den Weinkonsum seiner Gäste, die wie festgewurzelt im Lokal sitzen. (In Italien kommt es auf schnellen, effizienten Service an, und viel zu trinken ist absolut verpönt.) Er spielt den Romantiker und läuft den Damen, die das Lokal verlassen, noch mit einer Rose hinterher. (Der Italiener ist aber in Wahrheit, es tut mir leid, das zu sagen, durch und durch unromantisch; er ist ein nüchtern kalkulierender Pragmatiker.)

Jedenfalls gelten Italiener schon lange nicht mehr als »Gastarbeiter«, jeder hält sie für besonders gut integriert. Das stimmt aber nur zum Teil. Der Anteil an Sonderschülern zum Beispiel ist in keiner anderen ethnischen Gruppe in Deutschland so hoch wie unter italienischen Kindern. Darüber zu reden, ist aus Gründen falsch verstandener Toleranz immer noch ein Wagnis. So weit ist das Pendel inzwischen auf die andere Seite ausgeschlagen.

Dabei hilft ein Übermaß an Rücksicht den Italienern im Ausland gar nichts. Viele Familien tragen selbst dazu bei, dass ihre Kinder keine Chance in der Schule haben: Sie reden mit ihnen zu Hause nur Italienisch, dank Satellitenschüssel laufen in vielen Haushalten überwiegend italienische Fernsehprogramme, und in den Ferien werden die Kinder regelmäßig nach Italien geschickt. Das hören auch viele Italiener nicht gerne, aber es ist so.

Und wahr bleibt auch das Grundprinzip der Einwanderung: Sie tut so oder so weh, und Linderung verspricht nur die Aussicht darauf, sich selber, spätestens aber seinen Kindern durch eigene Tüchtigkeit eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

imagesAuf der anderen Seite ist da diese Gleichgültigkeit. Neulich sprach ich bei meinem Italiener um die Ecke mit einer Kellnerin, die jung und sehr tüchtig ist. Sie spricht fast noch besser Italienisch als Deutsch, ist aber keine Italienerin, sondern Rumänin. Das merken die meisten Gäste nicht – und sagen deshalb gerne solche Sätze zu ihr: »Ach, Sie sind Italienerin, das ist ja schön! Aus welcher Gegend kommen Sie denn?« Das ist freundlich gemeint. Dann antwortet sie: »Ich bin keine Italienerin, ich komme aus Rumänien.« Die Kellnerin hört dann verlegen gesprochene Sätze wie: »Rumänien – auch schön ….« Sie glaubt dann, Enttäuschung und auch Geringschätzung in den Gesichtern lesen zu können, sie sagt: »Wie ich diesen Moment hasse!« Manchmal besteht Integration nur aus ein paar Worten, aber die fallen offenbar schwerer als die Bereitstellung von Sprachkursen oder Geld.

images Wie gesagt, die Deutschen lieben ihren »Italiener«. Das Lokal, das ich jetzt vor Augen habe und von dem ich erzähle, ist in einer deutschen Großstadt zu finden. Es wird besonders gern vom örtlichen linken Establishment besucht. Die Gäste sind nett und freundlich zum Personal und kritisch, was das Essen angeht. Warum aber fallen ihnen die beiden Kellnerinnen nicht auf? Nun ja, auffallen tun sie ihnen eigentlich schon, weil sie besonders fürsorglich und hilfsbereit sind. Und schön anzuschauen sind sie auch. Aber niemand scheint sich für ihre Geschichte zu interessieren, obwohl die Kellnerinnen seit Jahren für den italienischen Wirt arbeiten.

Die beiden sind Schwestern. Kaum volljährig geworden, kamen sie aus Sofia in die deutsche Großstadt, zunächst als Touristinnen, aber sie wollten in Deutschland arbeiten. Bulgarien war damals noch kein EU-Land, deshalb führten die jungen Frauen zunächst ein Leben als Illegale. Sie hatten keinen Arbeitsvertrag, keine Krankenversicherung und keinen Rückweg in ihre Heimat, ständig fürchteten sie, von einer Polizeistreife aufgegriffen zu werden. Als ihr Vater schwer erkrankte, trauten sie sich aus Angst, nicht wieder nach Deutschland zurückkehren zu können, nicht nach Hause. Das brach ihnen fast das Herz. Und als der nette Italiener sich einmal vor einer behördlichen Kontrolle fürchtete, bat er eine der Schwestern, doch eine Zeit lang lieber nicht zur Arbeit zu kommen, er werde sie trotzdem bezahlen. Sie hat das Geld nie bekommen.

Schließlich fanden die beiden doch noch einen Weg, zu einer Aufenthaltsgenehmigung zu kommen: Sie gingen Scheinehen mit Deutschen ein. Ihre kargen Erzählungen lassen einen Abgrund der Bitterkeit und Demütigung erahnen: Das sauer verdiente Geld für die Hochzeit, die Erpressungen durch den falschen Ehemann, wohl auch die Abwehr sexueller Nötigungen. Erst die Aufnahme Bulgariens in die EU brachte den Schwestern eine Verbesserung. Mögen die beiden dieses Land, in dem sie einen so hohen Preis bezahlen mussten? Die Jüngere sagt: »Ich kenne es kaum.« Inzwischen ist auch der ältere Bruder aus Sofia in die deutsche Stadt gekommen. Die jüngere Schwester verfolgt unbeirrt ein Ziel: Eines Tages will sie ihr eigenes Restaurant aufmachen, »alles ganz legal«.

imagesIm Mai 2009 trat ein Abkommen zwischen Italien und Libyen in Kraft. Es besagt, dass afrikanische Flüchtlinge, die vor den Küsten Italiens aufgegriffen werden, von der italienischen Polizei, später auch von italienisch-libyschen Patrouillen, ohne Prüfung jeglichen Asylbegehrens abgewiesen und in Gaddafis Libyen abgeschoben werden können, nicht einmal eine oberflächliche medizinische Prüfung ist mehr vorgesehen. Ein italienischer Polizist hat versucht, gegenüber der Zeitung la Repubblica sein Gewissen zu erleichtern: Nie zuvor in seinem Leben habe er eine so grausame Aufgabe erfüllen müssen, nie werde er den Mut aufbringen, seinen Kindern davon zu berichten, dazu schäme er sich zu sehr. Männer und Frauen aus Nigeria, Somalia oder Äthiopien, von der Reise komplett entkräftet, hätten ihn und die anderen Polizisten angefleht und um Gnade gebettelt: »Helft uns, Brüder!« oder: »Italiener sind doch gute Menschen!« Aber die Polizisten halfen ihnen nicht.

Fabrizio Gatti, ein Meister der investigativen Recherche, der für das Magazin L’Espresso schreibt, hat dokumentiert, was den abgeschobenen Flüchtlingen in ihrer Heimat blüht: Sie werden in Libyen in Lager gesteckt, die sich jeder internationalen Kontrolle entziehen und in denen Misshandlungen, Folter und Vergewaltigungen offenbar an der Tagesordnung sind. Es spricht auch einiges dafür, dass Flüchtlinge in der Wüste ausgesetzt werden, wo sie qualvoll verenden. Gatti hat ebenfalls dokumentiert, was mit jenen passiert, die es tatsächlich schaffen, im gelobten Land zu bleiben: Erst haben sie die erniedrigende Erfahrung des Auffanglagers auf Lampedusa zu überstehen, in das Gatti sich einmal, als Flüchtling verkleidet, eingeschleust hat. Und auch danach tut Italien alles, um diesem zeitweilig großen Ansturm zu widerstehen. Man könne, da würden wahrscheinlich alle anderen westeuropäischen Staaten ähnlich argumentieren, keine Masseneinwanderung von Illegalen verkraften.

Dafür gibt es mit Blick auf den inneren Frieden der jeweiligen Länder auch gute Gründe. Das Verlogene aber ist: Diese illegalen Einwanderer halten die italienische Wirtschaft in Gang. Für Hungerlöhne, rechtlos und in ständiger Angst, helfen sie im Süden bei der Tomatenernte, schuften in den kleinen und mittleren Betrieben des Nordens, putzen Büros und spülen – auch in Deutschland oft zu besichtigen – in Restaurants die Teller. Man kann sagen: Wenn afrikanische Migranten ganz großes Glück haben, die Überfahrt überleben und das Auffanglager überstehen, dann blühen ihnen lange Jahre als Arbeitssklaven.

Gegen diese Doppelmoral, gegen diese Ausbeutung müssten wir eigentlich jede Woche eine Lichterkette organisieren, und zwar hier in Deutschland, denn es ist auch unsere, die europäische Grenze zu Afrika, an der diese Dinge geschehen. Es kümmern sich aber nur ein paar Unentwegte wie Fabrizio Gatti oder Human Rights Watch.

Wir wollen zu oft nicht wirklich wissen, worauf unser schönes, sattes Leben basiert. Wir wollen gut sein, aber in Wahrheit geht es oft nur darum, uns gut zu fühlen. Wir regen uns über den diskriminierenden Unterton des Wortes »Ausländer« auf – und bestellen bei der netten Rumänin, die sich beim Italiener um die Ecke verdingt hat, Rucola mit Pinienkernen und Parmesan, Fettuccine mit Scampi und Kirschtomaten.