oder
Warum ich früher in die Kirche ging
und heute auf den Wertstoffhof
Als ich klein war, schauten wir bei unseren Spaziergängen an der »Zonengrenze« oft hinüber in die DDR, ein zugleich sehr nahes und weit entferntes Land, wir sahen die Soldaten, den Zaun, die Patrouillen. Wenn ich meine Großmutter besuchte, betrachtete ich auf ihrer Anrichte das Foto ihres ältesten Sohnes, meines Onkels, der Bruder meines Vaters. Sie erzählte mir von ihm. Er war Bäckergeselle gewesen und am Ende des Kriegs »gefallen«, wie das immer hieß. Wir spielten im Wald, wo es seltsam-kreisrunde Teiche gab, mit Wasser gefüllte Bombentrichter, die britische Flugzeuge nach ihren Angriffen auf Braunschweig verursacht hatten, indem sie jene Bomben, die sie über der Stadt nicht abwerfen konnten, in die Wälder fallen ließen. Wir hörten am Samstagmittag die Sirenentests und lernten den Unterschied zwischen »Fliegeralarm« und »Entwarnung«. Und wir sahen, wenn wir in die Stadt fuhren, noch viele Jahre lang die Ruinen der Häuser, die im Krieg zerstört worden waren.
Ich bin Anfang 1956 geboren, nicht mal elf Jahre nach Hitlers Tod.
Mein eigener Vater hatte nur ein Auge und eine Wunde am Bein, die sein Leben lang nie heilte. Die Haut dort sah aus wie die Fäule eines Apfels, braun, und manchmal entzündete sie sich, dann war sie rot. Der Vater fluchte und umwickelte die Stelle mit einer fleischfarbenen Elastikbinde. Läuse hatten im Krieg an einer Schusswunde gefressen, das heilte nie, und Vater trug deshalb den Rest seines Lebens den Krieg als offene Wunde mit sich herum, die mal schmerzte, mal nicht.
1968, ich war zwölf Jahre alt, verbrachten wir den Sommer an der Ostsee, und weil meine Eltern kein Auto hatten, kam mein Onkel mit seinem Volkswagen, um uns abzuholen.
Kaum saßen wir im Auto, sagte der Onkel: »Habt ihr schon gehört?«
»Was?«
»Der Russe ist in der Tschechei einmarschiert.«
Nie werde ich die Stille vergessen, die entstand, und die Frage meiner Mutter in diese Stille hinein: »Gibt es jetzt Krieg?«
Und das erneute Schweigen.
Die Antwort meines Vaters: »Tja …«
Einmal, bei der Bundeswehr, das muss 1975 gewesen sein, wurden wir nachts mit Alarm-Rufen aus dem Schlaf gescheucht. Wir schlüpften in unsere Kampfanzüge, rannten auf den dunklen, kalten Kasernenhof und traten in Reih und Glied an.
Ein Oberfeldwebel baute sich vor uns auf. Seine Zunge war ein wenig schwer, aber das bemerkte ich nicht gleich, und wenn ich es bemerkt hätte … Warum hätte sie auch nicht schwer sein sollen? Es war ja mitten in der Nacht.
Der Oberfeldwebel schrie.
»Männer!«, schrie er, »der Russe« sei vor zwei Stunden wieder, wie schon 1968, »in die Tschechei« einmarschiert. Wir hätten Befehl, unsere Panzer gefechtsbereit zu machen. Und wir würden nun, bevor wir abmarschierten, scharfe Munition aufnehmen, dann unsere Verfügungsräume beziehen.
Der Ernstfall sei da.
Ungefähr eine halbe Stunde lang hatte ich Angst, dass nun auch ich einen Krieg erleben würde, einen Weltkrieg, so wie mein Großvater und mein Vater Weltkriege erlebt hatten. Ich zitterte und wusste nicht, wie ich dieser Angst Herr werden sollte, mitten in der Nacht, mit dem Panzer in irgendeinen Wald zu fahren, die Bunker voller Munition, die wir würden verschießen müssen, irgendwann auf irgendwen, und ich konnte nicht mal meine Eltern noch anrufen vorher.
Nach dieser halben Stunde mussten wir wieder in Reih und Glied antreten. Der Oberfeldwebel trat vor uns hin und schrie: »Alarm-Ende!« Und nun erst fiel mir auf, wie schwer ihm das »Allllarm« von der Zunge kam. Die Unteroffiziere hatten getrunken. Dann hatten sie sich einen Spaß gemacht.
Im Jahr 1984 war ich zum ersten Mal auf einer Lesereise, ich hatte ein Buch über einen jungen Rechtsterroristen geschrieben. In den großen Städten, in Wien und München zum Beispiel, war das Echo noch ganz erfreulich, in der deutschen Provinz aber machte ich eine niederschmetternde Erfahrung: Kaum jemand wollte mir zuhören. In Pforzheim saßen nur acht Leute vor mir, die Buchhandlung verlegte die Veranstaltung in einen kleineren Nebenraum, und noch bevor ich zu lesen begann, stellte sich heraus, dass sich eigentlich bloß sieben Pforzheimer für mein Buch interessierten. Der Achte war nur gekommen, weil er sich im Kalender vertan hatte: Er erwartete Heiteres aus einem Kochbuch.
Besonders bedrückend war der Abend aber auch noch aus einem ganz anderen Grund. Als wir nach der Lesung eine Weile bei Wein und einem Imbiss beisammensaßen, erzählte eine Frau, die sich als Erzieherin vorgestellt hatte, wie sehr es ihr Lebensgefühl und das der ihr anvertrauten Kinder trübe, dass am Ende des Jahrzehnts in Deutschland kein einziger gesunder Baum mehr stehen werde, aller Wald werde dann gestorben sein, das sei gewiss.
Niemand widersprach dieser Einschätzung, alle schienen sich bereits in ihr Schicksal ergeben zu haben, und für mich war die Prognose noch bestürzender als die Aussicht, noch einmal in einer wie ausgestorbenen Buchhandlung auftreten zu müssen.
Umso erstaunter war ich, als ich nur wenige Monate später einen bayerischen Adligen kennenlernte, der etwas ganz anderes behauptete. Seine Familie hatte südlich von München über Generationen ein Schloss, ein ganzes Dorf und Hunderte Hektar Wald und Wiesen besessen. Schloss und Dorf waren im Laufe der Geschichte verloren gegangen, aber die Ländereien waren weiter in unveränderter Pracht in ihrem Besitz. Dieser Aristokrat, der Biologie studiert hatte, erzählte, als ich mit dem Thema »Waldsterben« anfing, dass bereits sein Großvater und sein Vater von gravierenden Waldschäden berichtet hätten. Zwar könne kein vernünftiger Mensch bestreiten, dass in der Nähe von Industrieanlagen mit hohem Giftausstoß Wälder leiden würden – aber was er in seinen Wäldern feststelle, seien normale, zyklisch auftretende Beschädigungen.
Ich aber hielt damals die Alarmmeldung der Erzieherin aus Pforzheim für glaubwürdiger als die Beobachtungen des Waldbesitzers. Wir waren ja von apokalyptischen Nachrichten dieser Art geradezu angefixt.
Der Höhepunkt all dieser Untergangsfantasien: Das Reaktorunglück von Tschernobyl am 26. April 1986. Ich war in der Redaktion der Süddeutschen Zeitung, als die ersten Meldungen dazu eintrafen und sich das Gerücht einer größeren Katastrophe langsam (es gab ja noch kein Internet) verbreitete. Zuerst stand, am 29. April, nur eine kleine Meldung im Blatt, wonach in Skandinavien erhöhte nukleare Strahlung festgestellt worden war; unklar bloß, woher die kam. Erst im Laufe des Abends gab es Nachrichten, dass es in einem sowjetischen Reaktor einen Unfall gegeben hatte.
Für unsere Fantasie, was daraus werden könnte, gab es keine Grenzen. In Anwesenheit eines den Kopf wiegenden und immer wieder schwer aufseufzenden Wissenschaftsredakteurs malten wir uns aus, wie es wäre, wenn es zum Durchschmelzen des Reaktors auf die andere Seite der Erde käme. Nicht einmal den Untergang des Gesamtglobus schlossen wir in diesen Stunden komplett aus. In düsterster Stimmung standen wir auf dem Redaktionsflur, ich war gerade aus einer kleinen Konferenz mit dem erwähnten Wissenschaftsexperten gekommen, als sich ein anderer Kollege näherte, der nach dem Stand der Dinge fragte. Ich schilderte ihm, was ich gehört hatte – und er, ein lebensfroher (und kinderloser) Single von damals etwa 35 Jahren, sagte: »Ja, nun, wenn es so kommt, dann kommt es eben so. Ich habe mein Leben gelebt.«
Vier Wochen zuvor war mein ältester Sohn zur Welt gekommen. Wir wohnten damals auf dem Land, in einem alten Bauernhaus, es war ein herrlicher Frühling, die Tage waren warm, der Himmel oft blau, die Sonne schien, die Natur explodierte geradezu. Aber wir gingen mit den Kindern nicht mehr vor die Tür. Wir verboten der anderthalb Jahre alten Tochter, in der Sandkiste vor der Tür zu spielen. Und die Großeltern, die gerade eingetroffen waren, um den neuesten Enkel in Augenschein zu nehmen, wurden angewiesen, sich wie alle anderen die Schuhe draußen vor der Tür auszuzuziehen, damit die schrecklichen Cäsium-Atome aus der Ukraine wenigstens nicht ins Haus gelangten (wo die Kinder auf dem Boden spielten), eine Instruktion, an die sich mein Vater – ohne jedes Verständnis für unsere Panik – praktisch nie hielt, weil er einfach nicht verstand, wieso wir uns wegen unsichtbarer Teilchen in der Luft dermaßen aufführten. Aber wir dachten nur noch daran, wie sich das nur sehr langsam zerfallende Cäsium-137 im menschlichen Körper festsetzt, wir dachten an Leukämie, wir kauften H-Milch, die noch vor dem Unfall produziert worden war, wir sahen im Fernsehen den bayerischen Umweltminister Dick, der größere Mengen Molkepulver in sich hineinlöffelte und das mit dem Satz »Des tut mir nix« kommentierte, um zu beweisen, dass jenes Pulver nicht atomar verseucht sei, wie wir alle glaubten. (In der Tat überlebte Dick die Aktion um fast neunzehn Jahre.)
Und wenn wir das herrlich-leuchtende Frühlingswetter draußen sahen, dachten wir nur: Strahlung, Strahlung, Strahlung …
Ich erinnere mich an die Krisensitzungen meiner Redaktion beim Bayerischen Fernsehen, für das ich damals eine Jugendsendung moderierte. Wir bereiteten eine Livesendung vor. Der Autor, der das Material dafür recherchierte, brachte uns mit der Nachricht auf die richtige Betriebstemperatur, er habe am Vortag seine Freundin auf eine spanische Insel ausfliegen lassen; es hieß, dass die radioaktive Strahlung sich dort nicht ganz so verheerend auswirken würde.
Der Clou der Sendung war ein Geigerzähler, mit dem wir immer wieder um die Halle liefen, in der unser Studio lag. So wollten wir den Zuschauern die Bedrohung veranschaulichen. Das Gerät klackerte hysterisch über jedem Grasbüschel, und selbst wenn an diesem Abend auch kundige und beruhigende Wissenschaftler zu Wort kamen, so ist mir in der Erinnerung doch nur dieser Zähler haften geblieben, der wie eine Wünschelrute war.
Vielleicht ist unsere Generation die glücklichste, die je in Mitteleuropa gelebt hat: im beginnenden Wohlstand der Nachkriegszeit geboren, Bürger der ersten stabilen Demokratie in Deutschland, nie einen Krieg erlebt, nie Hunger gelitten, keine Seuchen gekannt …
Aber auf eine seltsame Art sind wir mit der Apokalypse im Nacken aufgewachsen. Immer war und ist da, als Schatten hinter dem täglichen Leben, etwas zutiefst Bedrohliches gegenwärtig, das nie Wirklichkeit wurde. Immer drohte und droht irgendetwas: der Dritte Weltkrieg, das Waldsterben, Ozonloch, Nuklearraketen, Atomkraftwerke, Aids, SARS, BSE, Vogel- oder Schweinegrippe, der Zusammenbruch des Euro, Inflation, von kleineren Desastern ganz zu schweigen, irgendwelchen Killerbienen oder Nematoden im Frischfisch.
Tausend Gefahren, tausend Debatten, immer wieder neu geführt, und tausendmal ist nichts passiert.
Na ja: nichts? Tschernobyl war eine gigantische Katastrophe. Aber das Weltende, das wir uns ausfantasierten, war es nicht.
Woran liegt es, dass wir immer wieder so große Angst haben, ja, dass statt realer Seuchen regelrechte Angst-Epidemien übers Land gehen? Kommt das daher, dass unsere Eltern die reale Apokalypse schon miterlebt hatten, dass sie von ihrer Generation verursacht wurde, dass uns also quasi in den Genen steckt: Es gibt die Möglichkeit, dass jederzeit wieder alles zerstört wird – und wir wären dann schuld?
Oder ist es vielleicht so, dass diese Angst nützlich ist? Hat nicht zum Beispiel der Katalysator den sauren Regen reduziert und so dem deutschen Wald geholfen? Hat nicht die Entdeckung des Ozonlochs zur weltweiten Einschränkung von FCKW geführt und so das weitere Wachsen des Lochs verhindert? Hat also der Alarmismus nicht auch dazu beigetragen, dass keine der gruseligen Befürchtungen wahr geworden ist? Weil er zu größtmöglicher Wachsamkeit, zu einer Sensibilisierung für die Gefahren geführt hat – und am Ende alles Menschenmögliche getan worden ist, um zu verhindern, dass aus diesen Gefahren Realität wurde? Ist es also nicht sogar ein bisschen billig, sich über die permanente Aufgeregtheit lustig zu machen, einfach weil man nur mit permanenter Anspannung der vielen Gefahren Herr werden kann?
Diese Geschichte mutet vielleicht zu witzig an für ein Kapitel, das sich mit dem Untergang der Menschheit befasst. Und doch gehört sie unbedingt dazu. Sie hilft nämlich, eine Frage zu beantworten, die ich mir selbst immer wieder stelle: Sind Bedürfnisse und Begehrlichkeiten in unserer Gesellschaft genau steuerbar? Und wenn ja, können dann auch unsere Ängste genauso von außen beeinflusst werden? Den Hauptdarsteller habe ich anonymisiert, aber jedes Wort ist wahr, auch wenn es gelegentlich so klingt, als habe ein Verschwörungstheoretiker seiner Fantasie freien Lauf gelassen. Wichtig ist mir anzumerken, dass der Mann, den ich beschreibe, ein ausgeprägtes soziales Gewissen besitzt und gesellschaftliche Prozesse bisweilen weit kritischer begleitet, als man es heute vielen Managern unterstellt.
Es war schon spät am Abend, als dieser Mann, einer der herausragenden und auch fähigsten Wirtschaftsführer in Deutschland, sich an die erste größere unternehmerische Leistung seines Lebens erinnerte. Im Salon seines Hauses prasselte das Kaminfeuer, ein schwerer Rotwein begleitete die Erzählung.
Er war Anfang zwanzig und bereitete sich auf seine Promotion vor, als ein Professor, der nebenbei ein florierendes Marktforschungsinstitut betrieb, versuchte, ihn für einen Job zu gewinnen. Der junge Mann war zunächst skeptisch. Er fürchtete, sich in der Wirtschaft furchtbar zu langweilen. Der Professor aber versprach, ihm diese Angst schnell nehmen zu können.
Bald darauf trafen sie sich mit ihrem ersten Kunden, einem großen Tierfutterhersteller, der ein kleines Problem hatte, wie ein aufgeplusterter PR-Mensch mit französischem Akzent den beiden erläuterte: Das Unternehmen hielt 80 Prozent Marktanteil, wollte aber seinen Absatz deutlich erhöhen.
Nun ist ein solch hoher Marktanteil in der Regel nicht mehr zu steigern; der junge Mann war also ratlos. Sein Professor aber zeigte auf ihn und sagte dem PR-Menschen: »Der Herr hier wird Ihnen ein Proposal ausarbeiten.«
Der junge Wissenschaftler lernte schnell. Er versuchte, die Aufgabe »logisch« anzugehen. Das ging so: Ein so großes, marktbeherrschendes Unternehmen wie der Tierfutterhersteller kann seinen Umsatz nur erhöhen, wenn es entweder die Preise anhebt – oder wenn der Markt selbst wächst, die Nachfrage nach Hundefutter also steigt. Diese Nachfrage wiederum steigt nur, wenn sich mehr Menschen für die Anschaffung eines Hundes entscheiden, und zwar am besten eines großen Hundes, weil der besonders viel frisst. Die Bundesrepublik hatte damals, zu Beginn der Achtzigerjahre, eine der geringsten Hunde-Dichten in ganz Westeuropa.
»Damit«, sagte der Manager, »war der Logikbaum für mich komplett.«
»Was haben Sie getan?«
»Ganz einfach: Ich machte mich auf die Suche nach wissenschaftlichen Studien, die die Vorzüge der Hundehaltung unter Beweis stellten.«
Er verschwand für längere Zeit in den Bibliotheken von Göttingen und Münster und stellte fest, dass es viel brauchbares Material gab: Die therapeutische Wirkung von Hunden auf kranke Kinder zum Beispiel war eindeutig belegt. Ebenso positiv war ihr Einfluss auf Rentner und Menschen mit Herz- und Kreislauferkrankungen; die Angehörigen beider Gruppen fühlten sich merklich gesünder, wenn sie einen Hund hatten, schon allein deswegen, weil sie zu mehr und regelmäßiger Bewegung gezwungen wurden. Auch Patienten mit hohem Blutdruck ging es besser, wenn sie regelmäßig einen Hund streichelten – vorausgesetzt natürlich, dass es kein Pitbull war.
Der junge Mann fasste die Erkenntnisse akribisch zusammen, und bald darauf erschien, allerdings unter dem Namen seines Professors, erst eine Studie, dann ein Buch. Dieses Buch hatte unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten nur einen kleinen Makel: Es betonte auffallend oft die heilsame Wirkung von großen Hunden, ein Befund, den die Quellen so nicht ganz hergaben.
Der PR-Mensch des Tierfutterherstellers war begeistert. Anderthalb Jahre fütterte er Journalisten mit den Informationen aus dem Buch. Manche Tageszeitungen druckten ganze Serien zum Thema, Kliniken initiierten Pilotprojekte mit Patienten. Das Ergebnis der Kampagne war messbar. Zwar nahm der Marktanteil des Auftraggebers, wie erwartet, nicht weiter zu, wohl aber der Umsatz. Denn die Deutschen kauften plötzlich mehr Hunde, vor allem große und sehr große Hunde.
»Das klingt wie aus einer Filmkomödie von Helmut Dietl!«
»So etwas passiert in der Wirtschaft täglich, da könnte ich Ihnen noch ganz andere Geschichten erzählen!«
Sein Professor hatte zuvor schon großes Aufsehen mit zwei Studien erregt, geschrieben natürlich im Auftrag großer Unternehmen. In der einen ging es um die Körperhygiene der Deutschen, in der anderen um die psychologische Wirkung von Brillen.
Eine Geschichte erzählte er noch. Sie spielt zu einer späteren Zeit, als der Manager für einen großen Medikamentenhersteller arbeitete. Ein Vorgesetzter gab ihm den Auftrag, ein ganz neues Mittel zu entwickeln, vielleicht für eine Krankheit, von der noch niemand wisse, dass es sie überhaupt gibt. Der Manager verstand zunächst nicht, was man von ihm wollte. »Denken Sie doch mal nach«, sagte der Vorgesetzte zu ihm. »Kennen Sie nicht auch Menschen, die in geschlossenen Räumen oder in engen Fahrstühlen plötzlich so ein mulmiges Gefühl bekommen? Na, fällt Ihnen dazu gar nichts ein? Man könnte das doch, sagen wir mal, ›Panikattacken‹ nennen.« So wurde kurzerhand eine neue Krankheit erfunden, und als die Menschheit über sie informiert wurde, hatte das Pharmaunternehmen zufälligerweise gerade das passende Medikament auf den Markt gebracht. Im Prinzip hätten 99 Prozent der Menschen schon mal ein solches Gefühl der Enge gehabt, erklärte mir der Manager, das sei auch gar nicht so schlimm. Nun aber gab es einen Namen für ein Krankheitsbild, das die Ärzte vorher gar nicht orten konnten – und sie verschrieben das neue Medikament.
Wenn aber in unserer hochnervösen, jederzeit hysterisierbaren Gesellschaft Bedürfnisse und Ängste steuerbar und für wirtschaftliche Interessen benutzbar sind, dann ist für den Einzelnen Wahrheit oft kaum noch erkennbar. Vermeintliche und wahre Bedrohungen sind schwer zu unterscheiden. Wir sind auf Rat angewiesen. Aber wem von denen, die uns raten, können wir trauen?
Man hat bisweilen das Gefühl, eine frei vagabundierende Angst in unserem Inneren suche sich immer neue Objekte. Es ist, als könnten wir ohne diese Angst gar nicht mehr leben, weil sie uns ein Gefühl für uns selbst verschafft. Gleichzeitig versuchen wir, sie aber auch immer wieder abzuschütteln, indem wir eine bisweilen absurde Sicherheitsgesellschaft geschaffen haben, eine »Kultur der Angst«, wie der britische Soziologe Frank Furedi das in einem Buchtitel genannt hat: Culture Of Fear.
Woher kommt diese tief sitzende Verunsicherung des Einzelnen, die fast jeder von uns täglich spürt? Furedi zufolge ist ihre Ursache ein Verlust von Kontrolle über das eigene Leben, zusammen mit dem Schwinden traditioneller, Sicherheit gebender Sozialstrukturen, Werte, Verhaltensnormen. Dafür suchen wir ständig Ersatz: Ratgeber, Therapeuten, Coaches. Der Einzelne traut dem eigenen Empfinden nicht, weil er kein eigenes Empfinden mehr hat. Die Angst, so Furedis Kernthese, habe in unserer Gesellschaft »ihr Verhältnis zur Erfahrung verloren«.
Die Folgen: ständige Delegation von Verantwortung, permanente Irritation, dauerhafte Überforderung. Furedi schreibt, dass in unserer fragmentierten Gesellschaft verschiedenster Lebensstile, ohne allgemein anerkannte moralische Grundwerte, ohne alte soziale Bindungen und auch ohne einen Konsens darüber, wohin sich unsere Gesellschaft entwickeln soll, die letzten verbindenden Elemente eben Angst, Pessimismus und Scheu vor riskanten Entscheidungen sind.
Zum Beispiel die Schweinegrippe 2009. Oberster Wert politischen Handelns war jede Risikovermeidung, zum Preis, dass man der Pharmaindustrie ein schönes Geschäftsmodell eröffnete. Das Prinzip ist überall zu finden, auf EU-Ebene führt es sogar dazu, dass im Hygienewahn die Vielfalt von regionalen Lebensmitteln zerstört wird, weil viele kleine Käsereien und Metzgerbetriebe übersteigerten Anforderungen nicht mehr entsprechen können – hier macht sich die Lobby der Lebensmittelindustrie die Angst zunutze, zerstört ihre Konkurrenz und macht gleichzeitig etwas Sinnvolles kaputt: die Produktion gut schmeckender Lebensmittel aus den Regionen.
Es gibt keinen Bereich, der nicht von solchen Ängsten ergriffen wäre, nur die wirklichen Gefahren verdrängen wir lieber. Wie kann es sonst sein, dass Blätter wie Stern, Neon und Zeit wie Kassengift am Kiosk lagen, sobald sie die Klimaveränderungen auf dem Cover hatten?
Komischerweise habe ich eine Angst, die vielleicht als einzige noch gar nicht thematisiert worden ist: dass es eine Gefahr gibt, die wir wirklich existenziell fürchten müssen, die wir aber in diesem Wust aus Ängsten und Warnungen gar nicht mehr wahrnehmen.
Anfang des Jahres 2010 las ich die Berichte über ein Treffen von Elder Statesmen in Berlin, die in ihrer Amtszeit alle die Strategie der atomaren Abschreckung mitgetragen und mitgestaltet hatten. Nun machten sich Henry Kissinger, Helmut Schmidt, der ehemalige amerikanische Außenminister George Shultz, Hans-Dietrich Genscher und andere Ex-Staatenlenker für »Global Zero« stark, eine Welt ohne Atomwaffen. Was treibt sie an? Ein schlechtes Gewissen oder gar das Gefühl, eine Schuld abtragen zu müssen? Oder durchschauen sie die reale Gefahr einfach besser, war sie damals noch viel größer, als wir Atomkraftgegner uns das jemals hätten vorstellen können? Ich wartete die Rückkehr von Helmut Schmidt ab, bat um ein Gespräch und fragte ihn. Schmidt sagte: »Mir war die NATO-Strategie einer atomaren Vergeltung schon Ende der Fünfziger-Jahre unheimlich.«
Wie bitte? War nicht Helmut Schmidt eines der liebsten Feindbilder der Friedensbewegung? Hatte er uns nicht den damals so martialisch anmutenden NATO-Doppelbeschluss eingebrockt, der nach dem Scheitern der Abrüstungsverhandlungen mit dem Warschauer Pakt tatsächlich dazu führte, dass nukleare Mittelstreckenraketen in Europa stationiert wurden?
Schmidt redete von den damaligen Gefahren eines atomaren Anschlags, viel ausführlicher aber noch über die aktuelle Bedrohung, die davon ausgeht, dass bald schon zehn, elf oder zwölf Staaten Atomwaffen besitzen könnten. Er sprach über einen Vortrag des früheren US-Verteidigungsministers Robert McNamara. Demnach bleiben einem Land, das einen Atom-Alarm erlebt, nur vier bis acht Minuten Zeit, um zu reagieren – also auch um zu prüfen, ob es sich um einen realen Angriff oder um einen Fehlalarm handelt. Und dann sagte der alte Herr, der für uns früher ein deutscher Falke war, es erstaune ihn, »dass viele von denen, die früher vor lauter Angst bereit waren, lieber Kommunisten zu werden als zu sterben, heute keine Angst mehr zu haben scheinen«. Und: »Ich habe kein Verständnis dafür, dass die Angst vor Atomwaffen inzwischen auf null gesunken ist.«
Wenn ich eine Liste aufstellen müsste unter dem Titel »Momente, in denen ich mir irgendwie blöd vorkomme«, stünde weit vorn der Augenblick, in dem ich aus alten Joghurtbecherdeckeln gedrehte Kügelchen in den riesigen Altmetall- und Aluminiumcontainer am Spielplatz werfe. Bitte, wenn man Weinflaschen in den Altglasbehälter wirft, das scheppert wenigstens, und man hat ein Gefühl von Volumen, Fülle! Und die alten Zeitungen muss ich in die ohnehin überfüllte blaue Papiertonne im Müllraum stopfen; auch hier verlasse ich die Abfallkammer im Gefühl, wirklich etwas beigetragen zu haben. Aber diese Kugeln in die Leere des Gehäuses … Das kommt einem so sinnlos vor, als versuchte man, das Isarbett mit Steinchen zu füllen, um den Fluss irgendwann mal zu Fuß überqueren zu können.
Ich stelle fest, dass ich in Zeiten, in denen ich mich besonders vor der Zukunft ängstige und in denen ich fürchte, ich würde nicht ausreichend Geld für meine Familie verdienen, dass ich also in solchen Zeiten beginne, den Müll sorgfältiger zu trennen als sonst. Das mag seltsam klingen und ein bisschen albern, aber es ist so: Wenn mir die Zukunft unsicher und unbeherrschbar erscheint, tue ich Dinge, die mir Sicherheit geben und das Gefühl, die Welt ein bisschen in den Griff zu bekommen. Vom Vater geerbte Zwanghaftigkeit kehrt zurück: Der legte Abend für Abend um dieselbe Zeit alle Armbanduhren der Familie neben die große Junghans-Uhr auf dem Wohnzimmerschrank, und wenn der Tagesschau-Gong erklang, justierte er alle diese Uhren und zog sie auf, jeden Abend, Tag für Tag, ein Ritual, das ihm Sicherheit gab und die Teufel in seinem Innern beschwichtigte.
So erscheint mir auch die Mülltrennerei gelegentlich: als Strategie der Selbstberuhigung, Ritual der Beschwichtigung des Furors im Innern, als Verhalten, das einem das Gefühl gibt, in Zeiten, in denen der Globus als solcher bedroht ist, wenigstens meinen Teil beizutragen, dass die Katastrophe ausbleibt – was auch immer die Katastrophe genau sein mag.
Ist nicht der Wertstoffhof in vielen deutschen Gemeinden heute geradezu das eigentliche materielle und spirituelle Zentrum des Ortes? Das, was früher die Kirche war? Der Ort, zu dem man sich einmal in der Woche in ritueller Weise begibt, um seine leer geleckten Joghurtbecher, seine ausgetrunkenen Weinflaschen, seine alten Zeitungen abzugeben – um dann wieder heimzugehen und von vorne zu beginnen. Eine Art Beicht-Ersatz, angeboten von einer weltlichen Kirche, die alles bietet, was die richtige Kirche auch im Sortiment hat, Sünden, Predigten, die drohende Sintflut – nur keine Erlösung.
In den Achtzigerjahren gab es Werbespots für ein Weichspülmittel namens Lenor, in dem sich Menschen darüber beklagten, ihr gerade frisch erworbener, sehr weicher und nun zum ersten Mal gewaschener Pullover sei kratzig geworden. Darauf tauchte neben der zuständigen Hausfrau eine Art Geist auf, die neblige Silhouette dieser Hausfrau, ihr Gestalt gewordenes Gewissen, das ihr zuredete: Warum sie denn irgendein Waschmittel genommen habe? Warum nicht Lenor?
So ein Gewissen steht heute fast immer auch neben mir, flüstert und quält mich und lässt nicht locker: Ist es denn nötig, dass du ein so großes Auto fährst? Solltest du diesen Joghurtbecher nicht auswaschen und in den Kunststoffmüll tun, statt ihn achtlos in den Hausmüll zu werfen? Musst du an diesem Wochenende schon wieder Ski fahren gehen, obwohl doch die Umweltfreundlichkeit des Skisports so infrage steht?
Und jedes Mal flüstere ich zurück, meine ganz privaten Rechtfertigungen: Ja, ich fahre ein großes Auto, aber wir sitzen fast immer zu viert darin; und noch nie in meinem Leben habe ich eine Flugreise nach Thailand, auf die Malediven oder in die Dominikanische Republik unternommen, da sehe ich doch mit meinem CO2-Fußabdruck nicht sooo schlecht aus. Außerdem habe ich keinen Hund. Schon ein mittelgroßer Hund, schreiben Robert und Brenda Vale in Time To Eat The Dog?, habe aufgrund seines Fleischverzehrs einen beinahe doppelt so hohen ökologischen Fußabdruck wie ein Toyota Land Cruiser, also bitte, warum diskutiert man immer über SUVs, nie über Hunde? Und wenn ich den Joghurtbecher auswasche, wie viel Wasser verbrauche ich denn da, und ist es da nicht besser, ihn einfach wegzuwerfen, so viel Joghurt esse ich doch sowieso nicht, und außerdem ist es immer Joghurt aus Bayern, der hat es nicht so weit auf meinen Tisch. Soll ich mit den Kindern denn nur in der Wohnung sitzen oder in geheizten Hallen Sport treiben – Kinder müssen doch raus, an die frische Luft, Ski fahren …
So geht das, Tag für Tag, ein immerwährendes Selbstgespräch.
Wobei es oft auch Unterhaltungen mit Nachbarn, Kollegen, Leuten auf der Straße sind. Da wäre die Frau, die mich hasserfüllt anstarrt, während ich mit meinem Auto aus der Garage fahre, und die absichtlich hart am Wegesrand so stehen bleibt, dass ich die Scheibe herunterlasse und frage, ob sie noch ein bisschen mehr zur Seite gehen könne, es werde sonst zu eng – und sie faucht: »Ja, so ein großes Auto, das braucht natürlich Platz …« Oder der Nachbar meiner Freunde, der nahezu jede Woche Beschwerdebriefe in deren Briefkasten wirft, kurze und stets äußerst unfreundliche Aktennotizen von dieser Art: Schon wieder habe er in der Biomülltonne alte Brez’n entdeckt, die dort nicht hingehören – und die Aluminiumschälchen von Teelichtern schon gar nicht.
Übrigens ist das ein in der psychologischen Forschung gut bekanntes Phänomen: Menschen, die sich selbst in bestimmten Bereichen für integer, verantwortungsbewusst und sozial eingestellt halten, neigen zu moralischen Ausrastern auf anderen Gebieten. Das amerikanische Fachmagazin Psychological Science veröffentlichte 2010 eine Studie der Universität Toronto, wonach Käufer von Bio-Lebensmitteln nach dem Einkauf andere Menschen schlechter behandelten als die Käufer konventioneller Nahrungsmittel – ein Ergebnis, das nicht gegen Bio-Food spricht, aber sehr schön zeigt, wie Menschen eben sind: kaum jemals durchgehend gut.
Frank, der Racheengel, treibt mich bisweilen zu fast pubertären Sabotageakten. Eines Tages fuhr ich mit meiner Frau vierzehn Kilometer weit in ein schönes Restaurant mit Blick über die Elbe – nicht mit dem Bus, nicht per Anhalter, sondern mit dem eigenen Auto. Im Amuse-Gueule waren Krabben, und ich dachte darüber nach, dass die armen Dinger vermutlich von Büsum nach Marokko transportiert, dort gepult und wieder nach Deutschland zurückgeschickt worden waren. Aber da hatte ich auch schon einen neuseeländischen Cabernet Sauvignon bestellt, der ganz sicher noch viel länger unterwegs gewesen war. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als stünde er vor mir: Frank, jener Kollege, der tags zuvor in der Konferenz dafür plädiert hatte, genau diesen energieverschwenderischen Unsinn zu unterlassen. Und alle anderen hatten zustimmend genickt. Frank lebt in einem Ökohaus und fährt sogar bei sehr nassem und windigem Hamburger Wetter mit dem Rad in die Redaktion. Auf diesen Schreck nahm ich erst mal einen kräftigen Schluck.
Verbirgt sich hinter all den Gewissensqualen und der Aufforderung, das private Leben radikal zu ändern, nicht auch ein unreflektiertes Allmachtsdenken? Ich bin es, der die Welt retten kann mit seinem Verhalten. Treten da nicht bisweilen Eigenschaften zutage, die mir noch mehr zuwider sind als jeder Klimawandel? Die moralisch korrekte Version des Neides, zum Beispiel. Besserwisserei. Blockwartverhalten. Das Fehlen jeglicher Lebensfreude. Dogmatismus. Spießertum, das will, dass alle so leben wie man selbst. Selbstgewissheit. Eine Neigung zum Inquisitorischen.
Wenige Bücher haben mich in den vergangenen Jahren so fasziniert wie Jared Diamonds Kollaps. Über 700 Seiten untersucht der amerikanische Biologe und Geograf den Untergang ganzer Gesellschaften im Verlauf der Geschichte, überall auf der Welt, auf der Osterinsel zum Beispiel oder in Grönland. Er kommt zu dem Ergebnis, dass dies fast immer mit dem totalen Verbrauch der lebensnotwendigen Ressourcen zu tun hatte. Die Menschen auf der Osterinsel besaßen also eines Tages kein Fitzelchen Holz mehr, weil sie den Wald komplett abgeholzt hatten, um ihre riesigen steinernen Statuen transportieren und aufrichten zu können. Die Wikinger verhungerten in Grönland, weil sie nicht mehr genug Heu für ihr Vieh herbeischaffen konnten (während die Inuit bis heute auf einer anderen Ernährungsbasis überlebt haben). Die Maya gingen unter, weil sie, verkürzt gesagt, aus ihrem Land heraus die zu stark gewachsene Bevölkerung nicht mehr ernähren konnten. Alle drei Völker waren offensichtlich nicht in der Lage, ihre Notlage rechtzeitig zu erkennen und die in ihren Gesellschaften gültigen Werte den Realitäten anzupassen. Die Wikinger etwa taten einfach nichts, um eine der Region besser angepasste Form der Landwirtschaft zu entwickeln. Fischen und Jagen – das passte nicht zu ihren Wertvorstellungen und ihrem Selbstbild als Bauern.
Andererseits, so Diamond, gab es Gesellschaften, die genau dies schafften, die Japaner im 18. und 19. Jahrhundert zum Beispiel. Sie fanden eine Lösung, ihren nahezu zerstörten Wald wieder aufzuforsten und nachhaltig zu bewirtschaften – anderenfalls gäbe es das Japan unserer Zeit nicht.
Heute, schreibt Diamond, befinde sich sozusagen die ganze Welt in der Lage jener Gesellschaften. Sie müsse erkennen, dass es so nicht weitergehe.
Kollaps ist ein düsteres Buch, weil es die Probleme der Erde, ihren Rohstoffverbrauch, den Wassermangel, die Waldzerstörung, die Boden-Erosion und so weiter schonungslos schildert und gleichzeitig alle immer wieder vorgebrachten bequemen Ausflüchte ebenso rücksichtslos zerpflückt: Ja, viele Vorhersagen von Umweltschützern haben sich als falsch erwiesen, aber rechtfertigen nicht die Milliardenschäden, die sich aus Umweltproblemen ergeben, eine gewisse Anzahl von Fehlalarmen (die wir ja auch bei der Feuerwehr akzeptieren)? Ja, gewiss werden sich viele ökologische Probleme erst auswirken, wenn wir heute Erwachsenen tot sind – aber warum ziehen wir dann Kinder groß, wenn sie in einer Welt leben werden, in der es drunter und drüber geht?
Trotzdem, schreibt der Autor selbst, sei er Optimist. Denn die Welt sei ja dabei, ihre Werte den Realitäten anzupassen, sie habe das immer wieder getan und tue es noch, der Zusammenschluss einst verfeindeter Staaten wie Frankreich und Deutschland mit vielen anderen zur Europäischen Union sei nur ein Beispiel. Und sie sei heute, anders als frühere Gesellschaften, dank der Archäologie, des Fernsehen, des Internets in der Lage, aus den Fehlern früherer Zeiten zu lernen.
Und schließlich, so Diamond, habe der Einzelne auch als Verbraucher nicht zu unterschätzenden Einfluss. Zum Beispiel gingen immer mehr internationale Holzkonzerne zu nachhaltiger Forstwirtschaft über, einfach weil die Nachfrage der Verbraucher nach entsprechend zertifiziertem Holz das Angebot bei Weitem übersteige. Das US-Unternehmen Home Depot, der weltgrößte Einzelhändler für Nutzholz, wirkte wie viele andere Unternehmen bei der Gründung des Forest Stewardship Council mit, das sich weltweit für eine nachhaltige Waldbewirtschaftung einsetzt, indem es ein entsprechendes, für den Konsumenten jederzeit erkennbares Zertifikat vergibt.
Wichtig sei, schreibt Diamond, nicht nur internationale Konzerne für ihr Verhalten anzuprangern, sondern konkret in der Lieferkette Einfluss durch Nachfrage und Kritik auszuüben – der Einfluss eines Handelskonzerns sei ungleich größer, wenn es um umweltschädliche Produkte gehe. Es seien »die Hersteller von Fischprodukten wie Unilever oder Whole Foods daran interessiert, dass ihre Produkte gekauft werden; sie und nicht der einzelne Verbraucher sind diejenigen, die Druck auf die Fischereiindustrien ausüben können. Wal-Mart ist der größte Lebensmitteleinzelhändler der Welt; solche Handelskonzerne können den Bauern ihre Methoden vorschreiben; als Verbraucher sind wir dazu nicht in der Lage, aber wir haben Einfluss auf Wal-Mart.«
Also reiße ich mir aus der Abendzeitung die Seite mit der Liste raus, auf der genau beschrieben steht, welche Fischarten von Überfischung bedroht sind und welche nicht. Aber als ich dann abends auf dem Markt stehe, um einzukaufen, habe ich die Liste natürlich im Büro liegen lassen und weiß nicht aus dem Kopf, ob nun der Rote oder der Blauflossen-Thunfisch der durch Fischfangflotten mehr Gefährdete ist. Oder beide.
Dann iss eben keinen Fisch!, würde ein Vegetarier sagen. Aber ich bin kein Vegetarier.
Ich bin manchmal ratlos. Nur will ich es bei der Ratlosigkeit nicht belassen. Deshalb bin ich vor Jahren in einen Schlachthof gegangen und habe beim Töten und Zerlegen der Tiere zugesehen. Ich bin der Meinung, dass man sich das zumuten sollte, wenn man sich von Fleisch und Wurst ernährt, und dass man auch etwas über Tierhaltung wissen sollte. Ich versuche seitdem, kein Fleisch und keine Wurst von Tieren zu essen, die nicht artgerecht leben konnten. Das reduziert den Fleischkonsum automatisch, schon aus Kostengründen, denn dieses Fleisch und diese Wurst sind teurer und nicht überall ganz so bequem erhältlich. Aber deswegen tue ich es nicht, sondern weil ich möglichst wenig zu der im Wortsinn viehischen Art und Weise beitragen möchte, in der Tiere heute gehalten, gemästet und getötet werden.
Übrigens sind, habe ich dann doch noch herausgefunden, Roter und Blauflossen-Thunfisch dasselbe, es sind nur unterschiedliche Namen für einen Fisch, der von Ausrottung bedroht ist. Und den man nicht retten wird, indem wir in Deutschland ihn nicht mehr essen. Denn die weitaus größten Mengen davon werden in Japan verzehrt, aber von europäischen Flotten gefangen. Denen müsste man ihr Geschäft komplett verbieten, bloß tut das keiner, und wenn es doch Verbote gibt, fehlt es an wirksamen Kontrollen. Mit dem Thunfischfang wird viel Geld verdient, jedenfalls solange es den Thunfisch noch gibt (also wohl nicht mehr sehr lange).
Es gibt also Probleme, die auch mit persönlichem Fischverzicht nicht zu lösen sind, sondern nur – mit Politik.
Was dabei sehr hilft: Wer sich informieren will, kann das in Deutschland so umfassend und auch seriös wie in kaum einem anderen Land der Welt tun. Keine Kleinigkeit, eigentlich auch schon ein Wert an sich.
Was die Familien vieler meiner Freunde und Bekannten so wurzellos, ja armselig erscheinen lässt: Die meisten ihrer Geschichten und Erinnerungen enden im Zweiten Weltkrieg, an der Mauer des Schweigens, die da gezogen wurde. Die Angst, hinter dieser Mauer Verstörendes zu finden, ist auf lange Sicht aber bedrückender als die Erschütterung über die Dinge, die man möglicherweise entdecken würde, wenn man nur nach ihnen fahndete. »Das Vergangene ist nicht tot«, so beginnt der Roman Kindheitsmuster von Christa Wolf, die dabei wiederum den amerikanischen Literatur-Nobelpreisträger William Faulkner zitiert, »es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.«
In der Kindheit und Jugend verbrachte ich viel Zeit mit zwei sehr starken, sehr alten Frauen, die meine Großtanten waren. Sie lebten in Florenz und hatten manchmal ein schwieriges Verhältnis zueinander. Die Älteste, Donn’Anna, wurde fast 103 Jahre alt, sie starb in den Siebzigerjahren und galt als ebenso gutmütig wie eigenwillig. Sie mochte die Jagd nicht, weil ihr Vater durch einen Jagdunfall ums Leben gekommen war, als sie gerade mal vier Jahre alt war. Aber ihr Mann, den sie um mehr als 30 Jahre überlebte, war ein passionierter Jäger, der auf der Familiendomäne auch gerne Vögel schoss oder in Netzen fing. Eines Abends tischte Donn’Anna ihrem Mann köstlich gebratenes Geflügel auf. Er wollte sie dafür gerade loben, als ihm bewusst wurde, was er da auf dem Teller hatte – und er vor Entsetzen aufschrie: Meine Tante hatte kurzerhand seine Lockvögel in die Pfanne gehauen. (Bis zuletzt hielt Donn’Anna, die nicht so viel von Psychologie verstand wie später ihre Tochter und ihre Enkelin, die beide Psychoanalytikerinnen wurden, an der Version fest, dass dies ein tragisches Versehen gewesen sei.)
Donn’Anna war eine Gräfin; sie heiratete standesgemäß einen Grafen, dessen Familie in einem jahrhundertealten Palazzo direkt am Hauptplatz eines größeren Dorfes in den Marken residierte. Dort verbrachte sie die Sommermonate, und dort spielte ich als Kind oft mit meinen Cousins. Am aufregendsten war es für uns im ehemaligen Ballsaal, an dessen Wänden zwei Dutzend Bilder von Ahnen hingen, die alle mit der gleichen spitzen Nase porträtiert worden waren, was wir bestaunten wie einen Comicstrip. Auf dem Marmorboden des Saales fuhren wir Gokart, und bei Familienfeiern schlichen wir uns gerne an betagte Aristokratinnen heran und schlürften, ohne dass sie es bemerkten, ihre Aperitifs aus, die sie, sitzend in Konversation vertieft, auf idealer Kindeshöhe vor sich herhielten; die Wirkung, so berichteten es die Erwachsenen noch Jahrzehnte später, sei verheerend gewesen.
Fast alles, was im Leben der Donn’Anna schön und wichtig war, hatte sich noch im vorvergangenen Jahrhundert abgespielt, vor allem ihre Hochzeit und die Geburt ihrer Tochter, meiner Tante Giulia. Ihr Großvater, an den sie sich noch gut erinnerte, war um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zur Welt gekommen, als Napoleon gerade gegen den römischen Kirchenstaat zu Felde zog. Als Zeitzeuge hatte er die Abdankung des französischen Kaisers, dessen Verbannung nach Elba und St. Helena erlebt und davon erzählt. Mir ist das erst später klar geworden: Ich bin noch einer Tante begegnet, die sich an die Erzählungen ihres Großvaters über Napoleon Bonaparte erinnern konnte. Diese Zeitspanne umfasst inzwischen mehr als zwei Jahrhunderte überlieferter Familiengeschichte. Sie ist ein Teil von uns geworden, auch wenn sie mir nur selten bewusst wird.
Donn’Anna hatte auch Furchtbares erlebt: Krankheiten und Epidemien, gegen die es kein Mittel gab, zwei Kriege, den Tod ihres Ehemannes. Der war in der Nähe seines Palazzo von einem Artilleriegeschütz getroffen worden – dem einzigen, das während des Zweiten Weltkrieges auf sein beschauliches Dorf abgefeuert worden war. Er starb, weil er sich vor einen anderen Mann warf, um ihn zu retten.
Bestimmt hat also auch ihre Generation, wie jede andere zuvor, Gründe gehabt, den Untergang der Menschheit zu befürchten. Aber mir kommt es heute noch so vor, als ob Donn’Anna sich auch auf ein paar Gewissheiten verlassen konnte. Sie sagte: »Das Leben ist so. Es gibt dir etwas, und es nimmt dir wieder etwas weg.«
Allerdings schaute Donn’Anna mit Sorge auf ihre Tochter Giulia. Auch sie wurde steinalt, erlebte fast das gesamte vergangene Jahrhundert. Aber ihr Leben ist auch ein Spiegel der Moderne, ihrer Chancen, ihrer Freiheiten und ihrer Rastlosigkeit. Giulia hatte als Erste in ihrer Familie studiert, sie hatte unehelich meine Tante Silvia geboren, sie hatte bis zu ihrer Pensionierung als Direktorin der Abteilung für Grafiken und Zeichnungen der Uffizien gearbeitet. Als sie schon die sechzig überschritten hatte, begann sie eine Ausbildung zur Psychoanalytikerin, unter ihren Lehrern war Marie-Louise von Franz, eine Lieblingsschülerin C.G. Jungs. Als sie neunzig wurde, hatte sie noch Patienten. Für uns Jüngere war sie deshalb schon zu Lebzeiten ein Mythos geworden. Aber die Schicksalsschläge ihres Lebens und der große Schmerz, darüber klagte ihre Mutter Donn’Anna, die fraßen sich über Jahre hinweg durch ihre Seele und ihren Körper und quälten sie wie ewige Geißeln.
Einmal hörte ich Donn’Anna zu meinem Vater sagen: »Manchmal verstehe ich meine eigene Tochter nicht. Ich habe die schwersten Schicksalsschläge innerhalb von drei Tagen überwunden; es ging doch immer irgendwie weiter!«
Wenn ich heute an Donn’Anna denke, dann kommt noch ein anderer, ein kurioser Gedanke in mir hoch, der dazu führt, dass ich mich selbst sehr alt fühle. Ich habe noch eine Zeit erlebt, in der es Telefonzellen gab. Ich habe sie nicht nur gelegentlich benutzt, ich war eine ganze Weile auf sie angewiesen. Als ich mit 18 zu Hause auszog, hatte ich in meiner Wohnung zunächst keinen Fernsprechanschluss. Wenn ich telefonieren wollte, suchte ich mir eine ganze Batterie Groschen zusammen, schnappte mir eine Liste mit den Nummern der Menschen, die ich erreichen wollte, und ging in die gelbe Zelle, die meinem Haus schräg gegenüberlag. Meistens war sie belegt, sodass ich warten musste. Und wenn ich dann an der Reihe war, unterbrach ich meine Anrufe des Öfteren, weil es mich nervös machte, wenn von draußen jemand böse in die Kabine starrte. Auf diese Weise war ich an manchen Tagen mehrere Stunden beschäftigt.
In meiner Kindheit waren die modernsten Kommunikationsmittel in unserem Haus ein großes schwarzes Telefon mit einer Wählscheibe (vor dessen Benutzung wir die Eltern fragen mussten, aus Kostengründen) und ein Radio mit einem grünen Auge, das langsam zu leuchten begann, wenn man den Apparat anschaltete. In den Stationszeilen las ich: Hilversum, Caltanissetta, Budapest, Wien … Das Radio war ein Wunder für mich. Wenn aus ihm Musik ertönte, dachte ich anfangs, das Orchester müsse sich im Apparat befinden. Später ging ich zum Glauben über, dieses Orchester beginne just in dem Moment zu spielen, in dem ich das Radio andrehte, nur für mich. Von Schallplatten wusste ich nichts, ich lernte sie erst später bei einer Großtante kennen, die uns Kindern auf unseren Wunsch wieder und wieder Gus Backus’ Schlager vom Mann im Mond vorspielte. An dessen Beginn war ein Raketenstart zu hören, später der Refrain:
»Der Mann im Mond,
der hat es schwer,’
denn man verschont
ihn heut’ nicht mehr.
Er schaut uns bang’
von oben zu
und fragt: Wie lang’
hab’ ich noch Ruh?«
In der Schule und an der Universität tippten wir unsere Flugblätter auf Spiritus-Matrizen und hektografierten sie dann mithilfe einer Walze auf Papier. Als ich in der Zeitung zu arbeiten begann, schrieben wir unsere Texte mit klappernden Schreibmaschinen auf gelbes Papier, steckten sie in eine Rohrpost und schickten sie in die Setzerei, wo ein Mann an einer drei Meter hohen Maschine sie erneut abtippte. Glühend heiße Bleizeilen sammelten sich, ein Metteur mit blauer Schürze baute sie nach dem Erkalten zu Artikel und Seiten zusammen, von denen dann eine Vorform für eine Druckvorlage genommen wurde. Saß ich im Stadion, um über ein Fußballspiel zu berichten, musste ich schon während der Begegnung einem Stenografen meinen Bericht am Telefon diktieren, der ihn seinerseits wieder abtippte, um ihn dann einem Redakteur zu schicken, der ihn einem Setzer schickte, der …
Und alles, was diese Männer in vielen Stunden taten, erledigen heute Computer in Sekunden.
Vielleicht kaufe ich mir ein iPad, einen kleinen, flachen, rechteckigen Computer. Wenn ich will, kann ich dann so ziemlich jeden Film, den ich gerne sehen möchte, auf diesem Apparat innerhalb von ein paar Minuten ansehen; ich muss dazu nur ein paar Mal mit dem Finger auf dem Gerät herumwischen – schon passiert’s. Auch hätte ich fast jedes Buch, das mir gerade einfällt, im gleichen Zeitraum zur Hand, und wenn sich mir eine Frage stellen würde, so stellte ich sie meinerseits dem Gerät, das aus den Weiten des Internets eine Antwort herbeischaffte.
Wie weit sind wir noch entfernt von einem Apparat, der nebenbei auch noch Kaffee kocht und Toast auswirft, auf dem stehend ich ins Büro flitzen kann wie auf einem Luftkissen-Skateboard oder den ich mir auf den Bauch legen kann, um meine Magenbeschwerden zu heilen, von der jeden Wunsch sofort erfüllenden Allesmaschine?
Unsere Lust am Weltuntergang hat wahrscheinlich viel mit Beschleunigung zu tun. Mit der unvorstellbar schnellen Entwicklung der Technik und unseres Lebens, mit dem unweigerlich daraus erwachsenden Gefühl, dass keine Leitplanke mehr richtig hält. Kann es sein, dass der Untergang in dieser Situation manchmal wie eine Erlösung erscheint? So wie es mancher Hochstapler als Erleichterung empfindet, wenn er, am Ende einer langen Kette von Täuschungen und Lügen, einen irrationalen Fehler begeht und auffliegt – so als habe ihm eine innere Stimme eingeflüstert, endlich diesen einen, entscheidenden Fehler zu begehen, um dem Irrsinn seines Systems Einhalt zu gebieten?
Aber sind wir nicht an einem Punkt, an dem wir mit den Ängsten in unserem Leben besser umgehen sollten? Wenn keine der apokalyptischen Visionen, mit denen wir uns in mehr als fünfzig Lebensjahren herumgeplagt haben, Realität geworden ist, dann sollten wir neue Untergangs-Szenarien endlich anders als bisherige sehen. Und darauf vertrauen, dass der Mensch extrem anpassungsfähig, äußerst intelligent und sehr zäh sein kann, dass die Menschheit in ihrer Geschichte schon sehr heftige Temperaturschwankungen auf der Erde überstanden hat (dies mit sehr viel geringeren technischen Möglichkeiten als heute) und dass die Zukunft noch nie eine lineare Fortschreibung der Gegenwart gewesen ist.
Aber wahr ist trotzdem auch: Es ist unsere Generation, die ein System schaffen muss, in dem nicht mehr haltlos aus dem Vollen geschöpft wird und in dem Nachhaltigkeit zu den wichtigsten Werten gehört.
Als ich im Sommer 1990 als Reporter nach Bitterfeld reiste, hatte ich natürlich Monika Marons Roman Flugasche im Gepäck, in dem es Sätze gibt wie diese: »Dünste, die als Wegweiser dienen könnten. Bitte gehen Sie geradeaus bis zum Ammoniak, dann links bis zur Salpetersäure. Wenn Sie einen stechenden Schmerz in Hals und Bronchien verspüren, kehren Sie um und rufen den Arzt, das war dann Schwefeldioxyd.« Maron hatte, bevor sie den Roman verfasste, für die Wochenpost in Ost-Berlin eine Reportage über Bitterfeld geschrieben, das Zentrum der DDR-Chemieindustrie.
Nun sah ich selbst, was hier los war, eine bisweilen tatsächlich nahezu apokalyptische Szenerie in der dreckigsten Region Europas: breite Bäche voll brauner, von weißem Schaum überzogener Flüssigkeit, deren Gestank einem den Atem stocken ließ. Der »Silbersee«, dessen Wasser aussah, als könne man in ihm Filme entwickeln, Baum-Leichen standen darin. Im Kindergarten traf ich eine Erzieherin, die erzählte, es habe Tage gegeben, an denen blaue und rote Farbe vom Himmel fiel. Wenig später hätten die Kinder Ekzeme bekommen.
2010 las ich Monika Marons zweites Buch über die Stadt. Bitterfelder Bogen heißt es und ist kein Roman, sondern ein Bericht über die Wiederauferstehung einer toten Region, vor allem über die Gründung und den Erfolg des Solarzellenherstellers Q-Cells, der 2010 in Bitterfeld und Umgebung fast 2000 Menschen beschäftigte, wie viele Unternehmen von den Folgen der Finanzkrise geschüttelt wird und dennoch eine geradezu unglaubliche Geschichte von Fantasie und Fleiß ist, an deren Erzählung Maron die Frage knüpft, warum in zwanzig Jahren immer nur die DDR-Nostalgiker, PDS-Wähler und Rechtsradikalen das Bild von der Bevölkerung in den neuen Ländern geprägt hätten, »als hätte es die Wagemutigen, die Zähen und Erfinderischen nicht gegeben, als wären nicht Hunderttausende klaglos jahrelang nach Bayern und Baden-Württemberg gependelt oder hätten nach jeder Pleite ihres Arbeitgebers unermüdlich nach einem neuen gesucht«.
Wie war es möglich, dass der Ostdeutsche wie eine Standardfigur der Commedia dell’Arte »als geprellter, unselbstständiger, seinen Unmut stammelnder Zeitgenosse« durch die Medien geisterte, dass das Bild eines Volks von »antriebsschwachen, obrigkeitshörigen Sozialfällen« gezeichnet wurde, so lange, bis die Ostdeutschen es selbst glaubten?
Wichtiger aber ist hier das Bild Marons vom heutigen Bitterfeld, über das sie nun in ihrem Buch notierte: »… eine unerwartet schöne Seenlandschaft in einem Naturschutzgebiet von zweiundsechzig Quadratkilometern, mit Rad- und Wanderwegen, Strandbädern und Uferpromenade, mit einer bunt wuchernden Flora, in der sich Hirsche, Biber, Salamander, Fischadler, Kraniche und Kormorane angesiedelt haben, mit einem Hafen, in dem Segelboote ankern und von dem das Motorschiff ›Vineta‹ in See sticht, ins Bitterfelder Meer, wie man in überschäumender Begeisterung den unverhofften Seenreichtum gleich getauft hat.«
Nur wenige Hundert Meter von dem Haus, in dem ich aufwuchs, befand sich die Müllhalde der Stadt. Sie war einer unserer Spielplätze, wir sammelten uns dort, um aus großen alten Pappkartons Häuser, ja, ganze Dörfer zu bauen, in denen wir uns mit anderen Müllgegenständen einrichteten und gemütlich Picknick machten. Überall im Wald neben der Halde lag Müll, die Leute warfen Bauschutt, Matratzen oder alte Maschinen oft einfach in den Straßengraben, ein großes Problem damals. Im Fluss, der die Stadt durchquerte, war es nicht möglich zu baden, man konnte auch nicht auf ihm Boot fahren, denn einerseits war oft zu wenig Wasser darin, andererseits stank dieses Wasser meistens so erbärmlich und war so schmutzig, dass es kaum zu ertragen war. In diesem Wasser gab es keinen einzigen Fisch mehr, weil bei der Silbergewinnung in den Bergwerken im Harz das Gift Vitriol angefallen und in den Fluss geleitet worden war.
Aus der Müllhalde ist aber schon vor langer Zeit ein Park mit einem See geworden, und niemand käme noch auf die Idee, dort seinen Dreck zu entsorgen. Und der Fluss ist die reine Idylle, man kann in ihm baden und auf ihm Boot fahren, es gibt Fischtreppen, Floßfahrten mit Lesungen, Jazzkonzerte am Ufer, ja, man setzt hier im Wasser wieder Jahr für Jahr junge Atlantische Lachse und Meerforellen aus, in der Hoffnung, dass sie eines Tages aus dem Meer wieder in ihre (und meine) Heimat zurückkehren, um dort zu laichen.