Meine Leidenschaft für Politik

oder

Wie es kommt, dass ich mich manchmal
wie ein kleines Arschloch fühle

images Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass man an Politik nicht interessiert sein kann. Bei mir begann dieses Interesse, als ich ein kleiner Junge war. Lag das an besonderen Einflüsterungen meiner Familie? Oder an der Zeit, in die ich hineingeboren wurde?

imagesAls ich klein war, protestierten fast überall in Europa die Studenten auf den Straßen, und in Vietnam führten die Amerikaner Krieg. Meine Eltern diskutierten bei jeder Gelegenheit über diese Themen, es waren aufregende Zeiten, zu aufregend für einen Neunjährigen, wie sie fanden. Sie erlaubten nicht, dass ich Zeitung las; ein Fernseher wurde gar nicht erst angeschafft.

Das machte das Weltgeschehen für mich natürlich noch interessanter, als es ohnehin schon war. Und ich fand einen Weg, fast jeden Tag Zeitung zu lesen, schon als Drittklässler.

Mein Vater kaufte, als wir in Rimini lebten, ein Blatt namens Il resto del carlino. (Der Name stammt aus einer anderen Zeit: Der carlino war einst eine Münze, die niemand mehr kennt, il resto war der Rest dieser Münze. Das Blatt kostete also ursprünglich offenbar nicht mehr als das Wechselgeld.) Das Mietshaus, in dem wir damals wohnten, war das letzte an einer längeren Straße, die direkt zum Strand führte. Der Blick von meinem Zimmer im vierten Stock war unverbaut, ich lag oft viele Stunden am Tag oben auf einem Etagenbett und schaute aufs Meer, ein Blick, der mich zugleich beruhigte und langweilte.

Zum Zeitungsladen waren es vielleicht zweihundert Meter stadteinwärts, und mein Trick, doch irgendwie zum Zeitunglesen zu kommen, bestand darin, dem Vater anzubieten, ihm morgens den Resto del carlino vom Kiosk zu holen, wie das in Italien üblich ist: Jeder kauft sich dort seine Zeitung am Kiosk, weil die Post oder jedes andere Zustellverfahren viel zu unzuverlässig wären.

Manchmal, wenn der Wind das zuließ und es nicht zu heiß war, setzte ich mich zur Lektüre gleich auf das Mäuerchen an der Strandpromenade. Meistens jedoch las ich im Wohnzimmer, während mein Vater im Bad mit der Rasur und schier endlosen morgendlichen Waschungen beschäftigt war. Trat er dann aus dem Bad, legte ich die Zeitung rasch sorgfältig wieder zusammen. Er sollte ja das Gefühl haben, ein noch ungelesenes Blatt zur Hand zu nehmen.

Meine große Sorge als kleiner Junge war, dass die Amerikaner in Vietnam verlieren könnten. Ich hielt zu den Amerikanern, wie man zu einer Fußballmannschaft hält, und zählte Tag für Tag aufgrund der Angaben im Resto del carlino die Opfer beider Seiten zusammen, was mir zunächst das Gefühl gab, dass Südvietnamesen und Amerikaner die Oberhand behielten. Ein trügerisches Gefühl, wie sich herausstellen sollte.

imagesDer erste Politiker, den ich kennenlernte, war mein Großvater, der in einem Dorf in der Nähe von Braunschweig lebte. Er war Handelsvertreter von Beruf, später besaß er ein Möbelgeschäft. Weil er viel unterwegs sein musste, hatte er schon sehr früh ein Auto. Eines Tages hatte er mit diesem Auto einen Unfall, bei dem er sich das Knie schwer verletzte. Seitdem ging er am Stock.

Nach dem Krieg baute mein Großvater ein Haus, in dem ich während meiner ersten Lebensjahre zusammen mit meinen Eltern lebte. Viele Jahre lang war er dann Bürgermeister dieses Dorfes, als Sozialdemokrat, weshalb für mich, da auch mein Vater nie etwas anderes als SPD wählte, als Kind keine andere Partei als die SPD akzeptabel erschien.

Nachmittags spazierte mein Großvater mit einem Dackel namens Waldmann an der Leine durch den Ort. Er war eine Erscheinung von großer Autorität: immer in einem grauen Anzug mit Weste, Krawatte und goldener Uhrkette, das Haar straff zurückgekämmt und schlohweiß wie der Schnauzbart, würdevoll wie alle seine Brüder, meine Großonkels. Kaum je sah ich meinen Großonkel Willi, der Schlosser war und Mitglied der IG Metall, meinen Großonkel Otto, der den Krieg als Holzfäller in Finnland überlebt hatte, meinen Großonkel Walter, meinen Großonkel Kurt oder einen anderen aus der unübersehbar großen Großonkelmenge anders als in Anzügen mit Weste und Krawatte.

Wenn ich als kleiner Junge gemeinsam mit dem Sohn des Bäckers und dem des Feuerwehr-Kommandanten das Wasser im Dorfgraben aufstaute, um Schiffchen fahren zu lassen, zeigte der Großvater mit seinem Gehstock auf den Staudamm und sagte, das müssten wir nachher aber wieder wegmachen. Wir gehorchten. Nicht zu tun, was er angeordnet hatte, kam nicht infrage.

Jedenfalls nicht für uns Kinder.

Andere widersetzten sich ihm sehr wohl. Der Großvater besaß einen Kirschbaum, direkt vor seinem Haus. Und in jedem Winter träumte er davon, im Sommer Kirschen von diesem Baum zu essen, er schwärmte von den Früchten dieses Baumes, von frischen Kirschen, von Kirschkuchen mit Schlagsahne und eingelegten Kirschen im Glas.

Und in jedem Sommer, wenn sich die ersten Kirschen am Baum röteten, erschien am Himmel ein Schwarm von Staren, ließ sich auf den Ästen nieder und fraß, was der Baum hergab.

»Die verdammten Stare! Die Stare!«, schrie mein Großvater, rannte ins Haus, holte sein Gewehr und schoss in den Baum, während die Großmutter uns Kinder eilig beiseitezog und die Stare halb höhnisch, halb erschreckt kreischend aufflatterten, den Baum leer und den Großvater in ohnmächtigem Zorn zurücklassend.

Er war ein cholerischer, kraftvoller, energischer, autoritärer Mann, mein Großvater, aber er war mir auch fern, ganz anders als meine Großmutter, die mich behandelte, als sei ich ein spät geborener Ersatz für ihren ältesten Sohn, meinen Onkel, der gegen Ende des Krieges in einem Krankenhaus unserer Heimatstadt gestorben war. Irgendwie muss sie immer Angst gehabt haben, auch ich könnte verschwinden. Deshalb mästete sie mich regelrecht. Jedes Mal, wenn ich sie besuchte, machte die Großmutter mir sofort etwas zu essen, egal, was ich sagte, auch wenn ich gerade vom Essen kam – ich musste essen bei ihr, und ich tat es, ihr zuliebe.

Noch viel mehr als über die Kirschendiebe erregte sich mein Großvater indes über den Oppositionsführer im Gemeinderat, er hieß Schubmann und gehörte der CDU an. Oft hörte ich ihn, wenn er von einer Sitzung zurückkehrte, laut und wütend »dieser Schubmann!« rufen und meiner Großmutter Vorträge halten, welchen Unsinn »dieser Schubmann!« wieder einmal geredet habe.

Eines Tages fiel mein Großvater auf dem Heimweg vom Gemeinderat vor dem Haus tot um. Nicht auszuschließen, dass seine letzten Worte mit Schubmann zu tun hatten.

imagesVielleicht identifizierte ich mich damals mehr mit meinem italienischen Großvater als mit meinem Vater. Der Großvater war Wollfabrikant und ein Patriarch wie aus dem vorvorletzten Jahrhundert: Brillantine im rabenschwarzen Haar, schwarzer Nadelstreifenanzug, schwarz-weiße Schuhe, aufbrausend, aber mit einem Herz so groß wie der Eingang zum Grand Hôtel von Rimini, das in der Nähe seiner kleinen Fabrik lag.

Schon zu Lebzeiten umrankten ihn Mythen, wie die Geschichte vom sagenhaft azurblauen Bugatti, den Großvater bis zum Ausbruch des Krieges fuhr. Es war ein besonders seltenes Modell, von dem es in Italien nur sechs bis zehn Stück gegeben haben soll. Als die von Verbündeten zu Kriegsgegnern gewordenen Deutschen in Richtung Rimini vorrückten, ließ mein Großvater das gute Stück im Haus eines Bauern einmauern. Doch die Deutschen entdeckten das Auto, vielleicht hatte auch jemand gepetzt. Mein Großvater jedenfalls sah den Bugatti nie wieder.

Für ihn gab es nichts Schöneres, als seine Familie und Freunde zum Essen einzuladen. Er ließ es sich selten nehmen, persönlich den Einkauf zu erledigen, und kaufte riesige Mengen an Obst, Fleisch oder Fisch. Die reichten damals, als noch kein Mensch irgendeine Diät kannte, gerade für ein größeres Abendessen. Wenn alles verspeist war, ging mein dicker Opa manchmal noch fröhlich in die Küche und kochte für alle Spaghetti aglio, olio e peperoncino.

Der Großvater hatte eine Sekretärin namens Natalia, die ihm eines Tages aufgewühlt von ihrem Freund erzählte. Ich belauschte das Gespräch vom Verkaufsraum seines Wollgeschäftes aus: Der Freund studierte in Rom und hatte offenbar Ärger bekommen mit dem Rektorat, der Polizei oder der Justiz – oder mit allen dreien. Jedenfalls brachte mein Opa sein Unverständnis gegenüber diesem Protestler zum Ausdruck, während Natalia versuchte, sein Verständnis zu wecken.

Der Protestler war »links«, womöglich Kommunist, mein Opa war Fabrikbesitzer und fühlte sich von ihm bedroht, die Gegner der Amerikaner in Vietnam waren ebenfalls Kommunisten. So verliefen die Fronten, so sah die Welt für mich als Kind aus.

Und für einen Moment geriet diese Welt für mich aus den Fugen. Selbst mein Großvater schien schon in Gefahr zu sein! Ich ging zu meiner Mutter und sagte traurig (die Lage in Vietnam hatte sich nun auch in meiner Wahrnehmung verändert): »Überall gewinnen die Linken.« Doch meine Mutter lachte nur und sagte: »Jeder intelligente Mensch ist doch heute links!«

Vielleicht wirkte Großvaters Gespräch mit seiner Sekretärin auf mich auch deshalb so bedrohlich, weil ich damals schon eine andere Großvatergeschichte kannte, die mein Vater gut zwanzig Jahre vorher erlebt hatte, auch er als Kind.

Es war das Jahr 1948. Das vom Faschismus befreite Italien wählte sein erstes Parlament, und es schien möglich, dass die Volksfront siegen könnte. Mein Vater war damals seinerseits Zeuge eines Gesprächs, nämlich zwischen einer Verkäuferin und einem Fabrikarbeiter meines Großvaters. Er wurde vor Angst ganz starr, denn der Arbeiter sagte: »Wenn wir morgen die Wahlen gewinnen, dann rechnen wir hier mit dem padrone ab.«

Aber es triumphierten die Christdemokraten. Als ihnen nach einer halben Ewigkeit schließlich die Macht entwunden wurde, war Großvater längst gestorben.

Doch ich werde nie den Satz vergessen, den er am Ende jenes Gespräches zu seiner Sekretärin Natalia sagte und der meine zersprungene Welt wieder ein wenig kittete, weil ich eine Ahnung davon bekam, dass es etwas gab, das über der Politik stand und wichtiger war als sie. Der Großvater sagte: »Hören Sie, wenn Sie etwas brauchen«, und es war klar, dass in dieses Angebot auch ihr linker, so bedrohlicher Freund in Rom eingeschlossen war, »dann lassen Sie es mich wissen.«

imagesWenn ich an meinen Vater denke, sehe ich oft sein rechtes Auge vor mir. Es war ein Auge aus Glas. Er hatte sein richtiges Auge im Krieg verloren, seltsamerweise rettete ihm das sein Leben, denn er kam nach dieser Verletzung zu spät aus dem Lazarett, um in den Kessel von Stalingrad noch hineinzugelangen; so starb er dort nicht.

Das Glasauge füllte die rote, offene Höhle, in der sich einmal sein richtiges Auge befunden hatte, es war kaum von einem echten Auge zu unterscheiden. Aber abends, wenn mein Vater schlafen ging, nahm er das Glasauge heraus und legte es im Badezimmer in eine Schale mit Borwasser. Und wenn ich nachts noch einmal ins Bad ging, traf mich der Blick dieses toten Auges, ich konnte ihm nicht entgehen, es war nicht einmal unheimlich.

Er war mir ganz selbstverständlich, dieser Blick aus der Borwasserschale, meine ganze Kindheit lang.

Auch konnte mein Vater das Lid über dem Glasauge nicht schließen. Oft, wenn es Sonntag war, schlief er nachmittags im Wohnzimmersessel ein. Er schloss dann das gesunde Auge, aber das Glasauge blieb offen, es starrte mich aus dem schlafenden Vatergesicht heraus an, wenn ich das Wohnzimmer betrat, und obwohl ich das so viele Jahre lang immer wieder sah, war es, als würde mich der Vater, selbst wenn er schlief, nicht aus dem Auge lassen. Und als träfe mich, mitten aus dem Gesicht meines Vaters heraus, ein Blick aus einer fremden, kalten, toten Welt.

imagesIch kannte meinen Vater als einen, der bisweilen über seine physischen Verletzungen klagte, der aber über sein Inneres nie redete.

Immer wieder, wenn seine Freunde zu Besuch kamen, wenn jene da waren, die ihn vor dem Krieg gekannt hatten, wenn sich die Wohnzimmertür für uns Kinder schloss und dann bis in die Nacht hinein überbordendes Gelächter nach außen drang, bekam ich eine Ahnung davon, dass mein Vater ein Mensch war, den ich nie wirklich kennen würde.

imagesIch wuchs damals in einer Straße auf, in der die meisten Männer in irgendeiner Weise kriegsverletzt waren. Allein drei Blinde lebten hier, einer wurde morgens von seinem Sohn zum Bus geführt und zur Arbeit gebracht. Ein anderer Mann hatte eine tiefe Beule im kahlen Schädel, ein weiterer besaß nur einen Arm, einem Dritten fehlte das Bein, meinem Vater eben ein Auge.

Aber diese physischen Verletzungen waren, so seltsam das klingen mag, nicht einmal das Schlimmste, jedenfalls nicht für uns, die Kinder. Furchtbarer war das ewige Schweigen vieler dieser Männer, das sich am absurdesten bei jenem Vater äußerte, der in seinem Haus ein Zimmer mit einer Funkstation einrichtete, von dem aus er mit Hobbyfunkern auf dem ganzen Globus in Verbindung trat – nur mit seiner eigenen Familie wechselte er an manchen Tagen kaum ein Wort. Stattdessen kaufte er bisweilen säckeweise Reis, weil er den nächsten Krieg und eine damit verbundene Hungersnot fürchtete.

Erst spät verstand ich, dass diese Männer nicht nur äußerlich krank, ja, innerlich oft nahezu tot waren nach sieben Jahren Krieg. Liest man nicht heute, dass Soldaten, die in Afghanistan waren, sich traumatisiert in die Behandlung geschulter Psychologen begeben müssen? Wer hätte je dringender einer solchen Behandlung bedurft als unsere Väter?

Ich provozierte, seit ich etwa fünfzehn geworden war, meinen Vater Tag für Tag. Ich trug die Haare lang, ich stand spät auf, ich wurde von einem Jahr aufs andere vom Klassenbesten zu einem Versetzungsgefährdeten – und ich tat das alles nicht, weil ich ihn hasste, sondern weil ich irgendeine Reaktion von ihm verlangte. Weil ich wollte, dass er mich sah.

Und weil ich nicht wollte, dass er schwieg.

imagesAber es gab ein Thema, bei dem mein Vater stets quicklebendig wurde: die Politik. Er interessierte sich sehr dafür, las jeden Tag gründlich die Zeitung, dazu wöchentlich ausführlich die Zeit und den Spiegel, und nachdem wir endlich nach vielen Jahren einen Fernseher gekauft hatten, saß er jeden Sonntagmorgen um zwölf vor dem Apparat, um den Internationalen Frühschoppen zu sehen, eine Sendung, in der ein Moderator namens Werner Höfer mit fünf Gästen, Journalisten aus verschiedenen Ländern, Weltprobleme aller Art debattierte. Selten habe ich meinen Vater leidenschaftlicher begeistert gesehen als bei dieser Sendung, in der stets heftig gestritten wurde, sei es über das Palästina-Problem, sei es über die Ostverträge. Noch beim Mittagessen berichtete er uns mäßig interessierten Kindern und seiner diesen Fragen nur am Rande zugänglichen Frau, worum es in der Sendung gegangen war und wer welche Positionen in welcher Art vertreten hatte.

Warum war er so? Warum erreichte auch die Cholerik des Großvaters ihren Höhepunkt, wenn es um Politik ging? Warum war überhaupt in jenen Jahren mein Bild von der Politik bestimmt von laut streitenden, schreienden Männern, die Wehner hießen oder Strauß?

War ihre Leidenschaft in dieser Hinsicht der einerseits hilflose, andererseits notwendige Versuch, nach der deutschen Katastrophe etwas durch und durch Gutes aufzubauen? Und war mein Vater nicht genau das, was in unserem Staat heute oft zu fehlen scheint: ein mündiger, interessierter, informierter Bürger?

Oder war die Politik nur das Ausweichfeld, auf dem sich diese Männer überhaupt Gefühle gestatten konnten, eine Welt wirklich großer Emotionen, wie es sie (für die meisten Männer damals) ansonsten nur noch auf dem Fußballplatz gab? Wie oft habe ich erlebt, dass meine Mutter abends, wenn es schon dunkel war, weinend aus dem Haus lief, nachdem sie gerufen hatte, sie ertrage dieses Schweigen des Mannes, den sie liebte, nicht mehr, diese Berührungslosigkeit? Wie oft habe ich oben auf dem Treppenabsatz gesessen und auf ihre Rückkehr gewartet?

imagesIch hielt weiter zu den Fabrikbesitzern, bis ich während der Sommerferien einmal nach Deutschland fuhr, um meine Großmutter zu besuchen, auch meinen Onkel Stefan, der damals Mitte zwanzig war, Student an der Werkkunstschule in Hannover und ein sehr feinsinniger, in seiner Sensibilität auch gefährdeter Mann. Das muss Ende der 60er-Jahre gewesen sein, jedenfalls gab mein Onkel in Großmutters Wohnung eine Party, von der ich allerdings nur die Vorbereitungen mitbekam. Als es richtig losging, wurde ich ins Bett geschickt.

Durch die Schiebetür des Gästezimmers hörte ich Onkel Stefan und seine Künstlerfreunde feiern.

Welch eine Verheißung das war! Die Musik, die rote Glühbirne, die jemand eingeschraubt hatte, der Rauch, die Gespräche, die sich auch um Politik drehten – all das ließ in mir die schöne Illusion wachsen, dass alles, was im Leben aufregend ist, irgendwie links ist. Denn natürlich hielt ich Onkel Stefan für einen Linken, der damals hauptsächlich damit beschäftigt war, politische Happenings mit seinen Kommilitonen zu veranstalten.

Aber er war nicht links, nicht im Geringsten.

Er habe, erzählte er mir sehr viel später, ein so schlechtes Verhältnis zu seinem Vater gehabt, einem recht bekannten Sozialdemokraten, dass er von Politik nichts, aber auch wirklich nichts wissen wollte. Nur waren damals eben »links« und emotionale Rebellion kaum auseinanderzuhalten.

Onkel Stefan für sein Teil war jedenfalls ganz und gar unpolitisch.

Was mir von jenem Abend blieb, war die Ahnung, dass es noch eine andere Welt gab als die meiner Eltern und Großeltern, eine Welt, die viel aufregender und eben auch jünger war. Ich wünschte mir einen Freund wie Onkel Stefan. Und vielleicht spürte ich damals auch die Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Ich hatte unter Gleichaltrigen wenig Vertraute, was vor allem daran lag, dass meine Eltern die komische Angewohnheit hatten, alle paar Jahre das Land, die Stadt oder das Wohnviertel zu wechseln. Jahre später hätte ich das, was ich empfand, als ich hinter der Schiebetür stand und die Party meines Onkels belauschte, womöglich als eine geheimnisvolle Macht aus Rebellion, Liebe und Ausbruch beschreiben können. Aber so weit war ich noch lange nicht. Das Disco-Licht, das durch den Türspalt strömte, kam mir nur vor wie das Morgenrot.

imagesSpäter, am Gymnasium, sahen wir uns nicht selten teils lächerlichen, teils dummen, teils unbelehrbaren Figuren gegenüber, einer Spezies von Paukern, die (vielleicht schon zermürbt von etlichen aufmüpfigen Schülerjahrgängen) in jedem Schüler mit längerem Haar, der im Unterricht provokante Fragen stellte, einen kleinen Staatsfeind sahen – obwohl mangelhafte Haarpflege und Sticheleien doch meistens nur ein Schrei nach Aufmerksamkeit oder einfach Spaß an der Freude waren.

Jener Griechischlehrer, der in der Klasse »Lange Haare, kurzer Verstand« verkündete.

Der Oberstudienrat, der tönte: »Einen Panzer lassen sie mich nicht mehr fahren, aber eine Panzerfaust könnte ich immer noch halten.« Sein Sohn, der sanftmütig war und halblange Haare trug, war dann später mein Mathe-Nachhilfelehrer.

Der Oberstudiendirektor, der verlangte, dass man aufstand, wenn er den Klassenraum betrat, und der meiner Mutter einmal eröffnete, ich hätte alle Anlagen für eine kriminelle Karriere. Als Beweis dienten ihm einige Einträge ins Klassenbuch, die ich wegen kleinerer disziplinarischer Vergehen bekommen hatte.

imagesBei uns gab es den Direktor, der im Krieg ein Auge verloren hatte, den Spitznamen »Geier« trug und eine Eiseskälte verströmte, dass ich schauderte, wenn ich ihn nur auf einem Gang irgendwo vorbeigehen sah.

Andererseits denke ich auch an den Deutschlehrer, mit dem wir über Böll und Grass diskutierten, oder den Studienrat in, wie es damals hieß, »Gemeinschaftskunde«, der sich geduldig in jeder Stunde meine scharfe Kritik an seinem Unterricht anhörte und dessen Wortgefechte mit mir dem ganzen Rest der Klasse zur Unterhaltung dienten.

Ich fand so meine Rolle unter den Mitschülern: als jener allseits respektierte, andererseits auch belächelte Politfreak, der schon mit 15 den Spiegel las und die Zeit, in den rororo-Bänden das Grundsatzprogramm der Jungsozialisten studierte und sich mit dem Buch Sprache und soziale Herkunft des Soziolinguisten Ulrich Oevermann herumschlug – während die anderen Jungs in der Klasse sich keinen Deut darum scherten und lieber ihren Spaß mit den Mädchen hatten.

imagesVerführerisch war für uns natürlich die neue Generation von Lehrern, deren Vorboten die Referendare waren. Sie sahen aus wie wir, nur dass sie etwas älter waren, sie luden uns zu den »Feten« ein, die sie bei sich zu Hause veranstalteten, entpuppten sich aber doch ziemlich schnell als Enttäuschung. Denn von einem Lehrer, der einem so sehr ähnelt, kann man eben nicht besonders viel für sein eigenes Leben lernen. Sie hatten etwas anbiedernd Unerwachsenes. Es war furchtbar, den Gemeinschaftskunde-Referendar dabei zu beobachten, wie er sich in unserer Gegenwart eine Selbstgedrehte ansteckte, in der – auch für Nichtraucher schnell zu begreifen – Gras war. Noch verheerender war der Studienrat, der mit dem schönsten Mädchen meiner Jahrgangsstufe knutschte.

Erst recht irritierte diese Verschiebung der Lebensphasen, wenn man sie an den eigenen Eltern beobachten konnte. Mein Vater wäre in den Siebzigerjahren eigentlich ein Grund dafür gewesen, sich sofort mindestens der Schülerunion, besser noch einer schlagenden Verbindung oder einer Organisation katholischer Fundamentalisten anzuschließen. Seine Familie hatte ihn in ihrer wirtschaftlich besten Zeit in ein Schweizer Internat geschickt, als Teenager trug er maßgeschneiderte Hemden mit Initial, und zu Hause in Rimini leistete man sich zeitweilig eine Lehrerin, die mit ihm nur Französisch sprach. In den Siebzigern führte er plötzlich das Leben eines Bohemiens, in dem für Kinder kaum Platz war. Dafür stand in seinem römischen Dachgarten eine groß gewachsene und gut gepflegte Marihuana-Pflanze.

imagesAber als ich kürzlich mit einem Mitabiturienten über unsere Schulzeit sprach, sagte er, im Grunde gebe es nur wenige Schulstunden, die ihm bis heute im Gedächtnis geblieben seien, und das seien jene Stunden gewesen, die drei oder vier junge Referendare über den Spanischen Bürgerkrieg hielten. Sie taten das fächerübergreifend, behandelten das Thema also gleichzeitig in Musik, Kunst, Deutsch und Geschichte, behandelten hier die Lieder von Ernst Busch, da Picassos Guernica, dort Texte von Ernst Kantorowicz oder Ernest Hemingway, schließlich die Rolle der Legion Condor. Und wir waren begeistert von der Begeisterung dieser jungen Leute, die einmal alles anders machten, als wir es kannten. Und die das mit Freude taten, nicht mit der Routine alter Männer.

imagesDen Tipp meines Lebens verdanke ich einem besonders alternativen Lehrer: Er unterrichtete Mathematik, trug einen blonden Zottelbart, fuhr VW-Bus und hatte das Ziel, auf einer griechischen Insel auszusteigen – was er später auch tat. Als wir kurz vor dem Abitur ein zweiwöchiges Berufspraktikum absolvieren mussten und ich mich wieder mal um nichts gekümmert hatte, kam er auf mich zu und sagte: »Es ist noch ein Platz bei der Hannoverschen Neuen Presse frei. Ich glaube, das ist genau das Richtige für dich.«

imagesAnsonsten warteten auf uns in der Schule gut geschulte und organisierte ältere Jahrgänge, die Schülergruppen gegründet hatten. Es war das Strandgut von Achtundsechzig, das an Schulen und in Schülerräten schon Anfang der Siebzigerjahre angeschwemmt wurde: Es gab die SPD-nahen Falken, die Genossen der DKP-Jugendorganisation SDAJ, den Kommunistischen Bund Westdeutschland KBW, die Besucher eines unabhängigen Jugendzentrums in der Nordstadt, gespalten in Anarchisten (schwarze Halstücher) und Anarcho-Syndikalisten (schwarz-rote Halstücher) und viele andere. Sie waren aktiv im Kampf gegen die Fahrpreiserhöhungen der städtischen Verkehrsbetriebe, sogar gegen die Verteuerung der Eintrittsgebühren in den städtischen Schwimmbädern.

Ich machte einige Jahre lang begeistert mit, ja, ich lebte plötzlich in der Welt, die ich bei Onkel Stefan nur hinter dem Türspalt erahnt hatte: Rebellion, Liebe, Ausbruch. Ich mühte mich jedenfalls, Teil davon zu sein, denn meistens scheiterte ich an meiner Angst davor, aus Gefühlen und Überzeugungen Taten werden zu lassen. Mir wurde schon schlecht, wenn ich vor der Schülervollversammlung reden musste, nachdem ich zum Schulsprecher gewählt worden war. Einer meiner Lieblingssongs jener Zeit stammte von Lucio Battisti und hatte die schön wehleidige Zeile: »Aber den Mut zu leben, den habe ich noch nicht.« Deshalb war das Äußere umso wichtiger: Ich trug die Haare so lang und offen wie die Felsgrottenmadonna von Leonardo, dazu hatte ich mir einen schwarz-braun gefleckten Parka zugelegt, von dem ich mich nur im Hochsommer für wenige Tage trennen mochte, so als rechnete ich jeden Moment damit, mich im antikapitalistischen Kampf monatelang im Wald verstecken zu müssen. Der Armeebeutel, den ich mir über die Schulter hängte, war mit Peace-Zeichen und Slogans wie »Viva Allende!« verziert. Hinzu kam ein rotes Halstuch – das Mädchen in meinem Freundeskreis, das die reichsten Eltern hatte, hatte es für mich mit Hammer und Sichel verziert.

Waren das mehr als modische Accessoires, war das mehr als nur ein Aus- und Anprobieren von Haltungen, die wir später wieder ablegten? Schon die Fragen hätten mich damals sehr gekränkt. Uns war es ja furchtbar ernst. Nicht allein, weil hinter den disparaten Weltverbesserungsfantasien bei fast allen, die ich damals kannte, auch viel Idealismus stand. In meinem Fall war da auch die Verzweiflung, in einem Land zu leben, das mir fremd war, mit einer Familie, die kaputtgegangen war, unter Lehrern, von denen ich mich fast nie anerkannt fühlte. Was für eine beglückende Vorstellung, »das System« so verändern zu können, dass man darin endlich glücklich ist! Zugegeben, die umgekehrte Reihenfolge, erst mich zu retten und dann die Welt, wäre bestimmt ökonomischer gewesen. Aber das hätte mir damals erst einer erklären müssen, und dann hätte ich es vielleicht trotzdem nicht verstanden.

imagesÜbrigens hatte ich nie ein romantisches Verhältnis zur Politik wie viele meiner Generation. Politik war in meinem Fall nicht gleichbedeutend mit: Mädchen, Sex, Abenteuer, Aufstand, Musik. Es war einfach nur Politik, es ging um Gerechtigkeit und persönliche Freiheit, um Programme und Papier. Warum ereiferte ich mich damals überhaupt so? Folgte ich nicht, viel eher als dem Aufruf zur Rebellion, den schon verinnerlichten Stimmen meines Großvaters und meines Vaters: Engagiere dich! Sei leidenschaftlich in der Politik! Sei wie wir! War nicht Rebellion in meinem Fall auch ein seltsamer und sehr verquerer Versuch, den Vätern nahe zu sein?

Und was heißt überhaupt »Rebellion«? Ich war nie besonders links und besonders radikal, nur im Rahmen meiner Gegebenheiten. In meiner Schulklasse gab es fast nur sehr konservative Mitschüler, da reichte schon das Gedankengut eines Linksliberalen, um aufzufallen. Ich ging abends zu Versammlungen der Jungsozialisten und der Jungdemokraten, die der FDP nahestanden, die freilich noch eine andere FDP war als die heutige. Sie war, jedenfalls in der Mehrheit, sozialliberal und sehr modern, keineswegs auf Wirtschaftsthemen reduzierbar. Und ich versuchte, mir meine eigenen Gedanken zu machen, las die Parteiprogramme, ging in die Stadthalle, wenn Willy Brandt dort redete, und kam mit einem Willy wählen!-Button wieder heraus. Aber dann wurde ich doch Mitglied der Jungdemokraten, fuhr als Delegierter zur Landeskonferenz und legte als Schatzmeister die paar Hundert Mark Organisationsvermögen auf einem (damals ja noch quasi staatlichen) Postsparbuch an, damit nicht die Großbanken ihren Profit daraus schlugen.

Auf sehr diffuse Weise hatte ich ein Wirtschaftssystem vor Augen, wie es in Jugoslawien bestand (jedenfalls stellte ich mir Jugoslawien so vor): volkseigene Unternehmen, aber in Konkurrenz zueinander, das alles auf dem Boden des Grundgesetzes, in dem es doch hieß, wie ich wusste, dass Eigentum verpflichte und sein Gebrauch zugleich dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen habe. Das war doch was, fand ich, und wenn ich zu Hause bei manchen knochenkonservativen Vätern meiner Klassenkameraden zu Gast war, versuchte ich mich eifrig (ein besseres Wort fällt mir heute nicht dazu ein, ich war wirklich »eifrig«), in den Debatten mit ihnen zu behaupten.

Im Keller fand ich jetzt, nach vierzig Jahren, ein Exemplar der Schülerzeitung, an der ich damals beteiligt war. Sie hieß Purple, warum? Weil der Mitschüler, mit dem ich sie machte, es so wollte. Mir war es egal, und vielleicht war ich auch zu feige, mit ihm darüber zu streiten, ich hatte einfach Angst, er würde mich nicht mehr mitmachen lassen.

Ich schrieb zum Beispiel einen gründlich recherchierten, sehr nüchternen und sachlichen Artikel über den Flächennutzungsplan der Stadt Braunschweig, stellte den Lesern die bei Suhrkamp erschienenen Stilübungen Raymond Queneaus über den Autobus der Linie S vor und erregte mich über die Gründung einer »Initiativgruppe zum Aufbau eines Kommunistischen Oberschülerbundes«, der, wie es im Gründungspamphlet hieß, »die Arbeit unter der Arbeiterklasse im Braunschweiger Raum aufgenommen« habe.

Ich schrieb, in geradezu rührendem Ernst: »Fragt man nach ihren Vorstellungen, wird einem Marx unter die Nase gehalten. Da steht ja alles. Das wird ohne eigenes Denken nachgebetet. So gesehen, stellen sich die Flugblätter dieser Leute als reine Selbstbefriedigung dar. Sie können und wollen nicht begreifen, dass sich diese Gesellschaft auch friedlich verändern lässt, dass Marx sich in manchen Dingen geirrt hat und dass sich seine Theorien nicht so ohne weiteres auf die heutige Zeit übertragen lassen. Trotzdem sollte man solche Gruppen nicht einfach verbieten, man kann sich mit ihnen auch so auseinandersetzen.«

Das war 1972. Ich war 16. Morgens um halb acht standen wir vor Braunschweiger Gymnasien und verteilten unser Blatt.

imagesAuf der einen Seite fand ich die Älteren in der Schule faszinierend: je radikaler, umso besser. Sie strahlten jene Entschlossenheit, Klarheit, Eindeutigkeit aus, nach der ich mich mit fünfzehn, sechzehn Jahren sehnte. Sie wussten, wie man eine Schülerzeitung macht und die Schülermitverwaltung aufrollt, was es mit der Kritik der Politischen Ökonomie von Karl Marx auf sich hat und warum Kapitalismus und Angst notwendig zusammengehören, wie es in einem vulgärmarxistischen Psycho-Werk dieser Zeit hieß.

Auf der anderen Seite fühlte ich mich nie ganz angenommen, wie überhaupt mein stärkstes Gefühl jener Jahre war: nicht dazuzugehören. Ich schrieb mir das immer selbst zu, es löste ein dauerhaftes Schuldgefühl aus. War ich zu bürgerlich, um von den Genossen akzeptiert zu werden?

Als ich aus einem langen Osterurlaub in Italien zurückkam, in dem ich mir die Haare hatte kürzer schneiden lassen und eine Röhrenjeans von Fiorucci angeschafft hatte, wurde ich von meinen Genossen umzingelt und beschimpft: »Geh doch in die CDU!« Und dann hatten sie noch eine schreckliche Schmähung parat: »Bürger! Bürger!«

Zu allem Unglück verliebte ich mich kurz darauf auch noch in ein sehr blondes Mädchen aus dem Parallelkurs, das abends in einer Diskothek jobbte. Da war es um meine Glaubwürdigkeit endgültig geschehen.

Was aus diesen Genossen geworden ist, weiß ich nicht. Nur einen von ihnen habe ich zehn Jahre später wieder getroffen, als ich für die Süddeutsche Zeitung eine Geschichte über Autonome recherchierte, zu denen er sich zählte. Kurz darauf starb er. Es hieß, er habe seit Jahren ein Alkoholproblem gehabt. Ich erinnere mich, dass er der Sensibelste und Intelligenteste von allen war.

Aber was doch am meisten irritierend war: dass ich mich in bizarrer Rollenumkehrung wiederum jener Verbotskultur der deutschen Lehrer und Hausmeister gegenübersah, gegen die wir eigentlich angetreten waren. Wir hassten doch die Pauker, die uns wegen unserer langen Haare immer wieder daran erinnerten, dass es Friseure gab! Wir verachteten die Hauswarte, die uns wegschickten, wenn wir irgendwo auf dem Rasen lagen und Lambrusco aus großen Flaschen tranken. Und nun waren es linke Schüler, die einen hänselten, wenn man zu moderne Klamotten oder zu schicke Frisuren trug. Es waren linke Kritiker, die einem vieles schlechtredeten, was Spaß machte. Und es waren – viel später – oft die profiliert Linken in den Redaktionen, die es am liebsten verhindert hätten, dass man bestimmte Probleme thematisierte, etwa die Kriminalität von Ausländern oder den Missbrauch sozialer Leistungen. Wenn man diese Themen dennoch aufgriff, wurde man gleich in die rechte Ecke gestellt, zumindest aber beschuldigt, das Geschäft der Gegenseite zu betreiben.

Ich kenne auch eine Redaktion in Hamburg, in der es bis vor einigen Jahren unter Frauen noch verpönt war, Schmuck, Schuhe mit hohen Absätzen oder Ausschnitte zur Schau zu stellen.

So kam es, dass mir die Überbleibsel der 68er-Linken in Deutschland oft wie eine spießige Verhinderungsmacht vorkamen.

imagesWenn es ernst wurde, war ich übrigens gleich wieder weg. Es gab mal eine heftige Demonstration gegen eine Eintrittspreiserhöhung in den Braunschweiger Stadtbädern, deren stärkstes Argument war, die ohnehin schon schwer belasteten Arbeitermassen, auch Schüler und Studenten, könnten sich in Zukunft den Besuch der städtischen Schwimmbäder nicht mehr leisten, Baden werde eine exklusive Sache der Kapitalisten.

Ich verließ die Demonstration, als die Polizei kurioserweise ausgerechnet mit Wasserwerfern gegen die Badepreiskämpfer vorging – und ich sah, während ich ging, in vorderster Linie einen älteren Freund kämpfen, Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns, der in seinem Leben nur selten ein öffentliches Schwimmbad betreten haben dürfte. Nun wurde er vom Polizeiwasser geduscht.

Warum war ich gekommen?

Ich wollte, mit 16, dort sein, wo etwas los war. Aber hier war mir auf einmal zu viel los. Ich hatte keine Lust auf Ärger mit der Polizei, ich wollte nicht nass werden, ich wollte mir nicht wehtun lassen und niemanden verletzen, ich hatte Angst. Das alles war mir unheimlich.

Eine Weile sah ich mir das Ganze unschlüssig aus der Entfernung an. Dann ging ich heim.

imagesAm besten gefällt mir, von heute aus gesehen, jener ältere Mitschüler, der die fantasievolle, ja, subversiv-spaßige Seite des Aufbegehrens repräsentierte. Er hatte beinahe so lange Haare wie ich (meine reichten bis zur Hüfte), schnitt diese aber eines Tages komplett ab, ließ sich eine Glatze scheren und stand dann so auf dem Kohlmarkt, mit einem um den Hals hängenden Schild: »Einmal drüberstreichen 50 Pfennig«.

imagesDas also waren die Zeiten, von denen es heute heißt, sie hätten Menschen hervorgebracht, die viel politischer seien als nachfolgende Generationen. Das stimmt.

Aber wie viel Absonderliches, wie viel Dummes eben auch! Die linken Schülergruppen machten auch an unserer Schule gegen die Rivalen von der Schüler-Union mit dem feinsinnigen Slogan Front: »SU, SA, SS!« Eine Freundin meines Bruders bestand darauf, auch bei uns zu Hause grundsätzlich die Tür offen zu lassen, wenn sie die Toilette benutzte; sie könne auf mögliche Verklemmungen meiner armen Mutter leider keine Rücksicht nehmen.

Die im Nachhinein stärkste und düsterste Erfahrung dieser Jahre ist, wie abgrundtief sich selbst besonders kluge Köpfe einer Generation verirren können in Sektierertum, Verehrung von Massenmördern und eine emotionale Härte, die sie gelegentlich ihren schlimmsten Gegnern ebenbürtig machen. Wer unserer Generation heute eine pragmatische Herangehensweise an Probleme, auch eine ins Beliebige abdriftende Bereitschaft zur Differenzierung vorhält, der verkennt eben diesen Eindruck, wie sehr und wie schnell man zum Opfer politischer Moden werden kann.

imagesIn einer Welt, in der wir uns von Feinden umzingelt fühlten, gab es ein Land, in dem all unsere Träume wahr zu werden schienen – Italien. In den Siebzigerjahren war die Kommunistische Partei zeitweilig zweitstärkste Partei geworden, und links von ihr gab es radikale Gruppen, von denen jede einzelne stärker wirkte als die gesamte linksextreme Szene in Deutschland. Es gab ganze Regionen, in denen die Linke regierte. Dort, so kam es uns vor, war endlich die gute Hälfte der Menschheit zum Zuge gekommen; es gab augenscheinlich mustergültige Verwaltungen, von Arbeitern und Bauern gegründete Kooperativen und Kulturinitiativen aller Art. Und dann gab es diese ausgelassenen, mehr folkloristisch als politisch wirkenden Volksfeste der KPI-Parteizeitung L’Unità: Da stemmten robuste Hausfrauen noch große Töpfe voller Tomatensauce für die hausgemachten Bandnudeln, und Maurer aus der römischen Vorstadt Centocelle grillten Salsicce auf riesigen Rosten.

Es gab aber auch eine andere Seite, die schwer zu übersehen war – eine Orgie politisch begründeter Gewalt. Es dauerte ziemlich lange, bis ich das nicht mehr als bedauerliche Randerscheinung einordnete. Einige meiner italienischen Bekannten kommentierten sogar terroristische Anschläge noch als Taten, die von »irrenden Genossen« begangen worden seien. Es gab damals Plätze und Straßen, in denen sich ein Rechter besser nicht blicken ließ, und umgekehrt. Faschisten und Kommunisten ließen sich leicht anhand modischer Merkmale unterscheiden: Linke hatten natürlich lange Haare, Rechte trugen gern verspiegelte Sonnenbrillen und spitze Schuhe. Aus der Ferne betrachtet fand ich das eine Zeit lang aufregend – die Fortsetzung früherer Kinder-Bandenkriege mit theoretischem Überbau.

Bis mich das Donnergrollen sogar im Urlaub auf Elba erreichte. An einem Sommertag wurde ich in der Strandbar von zwei kurzhaarigen Jungen fixiert, die ein paar Jahre älter waren als ich. Sie trugen verspiegelte Sonnenbrillen. Einer winkte mich zu sich. Ich ahnte noch nichts Böses, ging herüber und fragte ihn, was er wolle. Er antwortete in gönnerhaftem Ton: »Ich glaube nicht, dass du ein Linker bist, dazu hängst du viel zu sehr an deinem Leben.« Er sagte das zwei- oder dreimal, bis ich verstanden hatte, was es sein sollte: Eine sehr ernst gemeinte Drohung – und eine Reviermarkierung. Ich habe die Bar am Strand von Marina di Campo nie wieder betreten.

imagesMit 17 hatte ich eine Freundin in Rom. Sie war ein ganzes Stück älter als ich und in früheren Jahren ziemlich militant gewesen. Stolz erzählte sie, wie sie bei Demonstrationen als Ordnerin für die kommunistische Gruppe Il Manifesto im Einsatz gewesen war. Zwei Dinge hatte sie damals immer dabei: ein rotes Halstuch, das sie sich ins Gesicht zog, sobald Polizisten oder Fotografen in der Nähe waren, und etwas Zitronensaft. Der half angeblich gegen Tränengas.

Ich stellte mir das Bild vor: wie man dann nur noch ihre leuchtenden Augen unter einer wilden Lockenpracht sah. Für mich wirkte sie dann noch anziehender, als sie es ohnehin war.

Wenn ich besser hingeschaut hätte, hätte ich vielleicht gemerkt, dass Barbara weniger aus Überzeugung mitgemacht hatte, sondern weil es irgendwie dazugehörte. Inzwischen studierte sie und arbeitete als Restauratorin in Rom; andere Interessen, andere Leidenschaften beschäftigten sie mehr. Wenn mir das auffiel, wirkte es für mich wie Verrat an den Idealen, die ich mit ihr zu teilen glaubte. Aber in einem Punkt wirkte sie sehr glaubhaft – wenn sie von der Angst sprach, die sie bei den letzten Demonstrationen gespürt hatte, als es zu besonders heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen war. Sie sagte: »Ich dachte, ich muss sterben.«

Ich glaube, es war im März 1977, als ich auf einer Demo in Rom direkt hinter einem Block von Vermummten marschierte, aus dem einzelne Demonstranten Revolver in die Höhe streckten. Nach einiger Zeit fielen in der Nähe des Tibers Schüsse, ich weiß nicht mehr, wer sie abgab, ob ein faschistischer Provokateur, ein Polizist in Zivil oder einer aus der nach einer Knarre benannten Fanatikergruppe P 38, die vor mir im Demonstrationszug gewesen war.Ich erinnere mich aber noch genau, welche Panik mich im allgemeinen Durcheinander befiel.

Das war die letzte Demonstration, an der ich mich beteiligte, und von diesem Tag an nahmen auch die Kontakte zu den Genossen, die ich kannte, rapide ab. Nun nahm ich zunehmend Erschrecken und auch Entsetzen bei mir wahr.

imagesIm Jahr 1978 organisierte ein besonders engagierter Lehrer unserer Schule eine Reise nach Sizilien. Dort hatte ein Mann namens Danilo Dolci weltweit Aufsehen erregt, weil er gewaltlos für die Landarbeiter und gegen die Mafia eingetreten war. Man nannte ihn den Gandhi des Südens. Dolci war bereits gestorben, aber sein Sohn und einige seiner Jünger hatten eine Art Friedenscamp gegründet, das wir nun aufsuchten. Die Reise von Hannover nach Sizilien dauerte zwei Tage. Es gab in diesen Zeiten nur ein Thema, und das war die Entführung des christdemokratischen Politikers Aldo Moro durch die Roten Brigaden. Die Terroristen hatten dabei fünf seiner Begleiter kaltblütig erschossen, mitten in Rom. Man nahm das alles im Camp eher staunend zur Kenntnis; vereinzelt kursierten Witze über Aldo Moro und seine Kidnapper.

Fast jede Erinnerung an Dolci ist inzwischen verblasst, doch die Bilder einer gemeinsamen Busfahrt mit einer Gruppe junger Dänen, die zeitgleich mit uns das Friedenscamp bevölkerten, habe ich noch deutlich vor mir. Wir diskutierten über den Terrorakt und die Ermordung der Leibwächter, als einer der Dänen rief: »Was soll das Geheule über fünf Schergen? Lasst uns damit in Ruhe!«

Und dann erzählte der ältere Bruder meines Vaters, Giorgio, bei einem Familientreffen in Rimini eine grauenerregende Geschichte. Er arbeitete zu jener Zeit erfolgreich als Manager bei dem Büromaschinen- und Computerhersteller Olivetti, was ihn keinesfalls davon abhielt, die Kommunisten zu wählen. Onkel Giorgio hatte sich mit einem Unternehmensberater namens Mario Miraglia angefreundet, der politisch viel weiter links stand als er selbst. Die kommunistische Gewerkschaft CGIL hatte ihn Ende der 70er-Jahre gebeten, ihren Mitgliedern Grundkenntnisse der Betriebswirtschaft beizubringen, um sie zum Beispiel für Verhandlungen mit Arbeitgebern zu schulen. Dieses Engagement wurde ihm zum Verhängnis.

Eines Sonntags, Miraglia war gerade im Bad und rasierte sich, klingelte es an seiner Wohnungstür. Sein ältester Sohn öffnete. Draußen stand ein junges Pärchen, das die Kirchenzeitung Famiglia cristiana in den Händen hielt. Der Junge schaffte es gerade noch zu sagen, dass er daran nicht interessiert sei, da spürte er schon den Lauf einer Pistole an seinem Bauch. Mit erhobenen Händen wankte er zurück in die Wohnung. Inzwischen hatte der Vater den Überfall bemerkt und auch begriffen, mit wem er es tatsächlich zu tun hatte: Die Eindringlinge warfen ihm vor, »ein Kollaborateur des Kapitals gegen die Gewerkschaft« zu sein. In seiner Angst bemühte sich Miraglia zu argumentieren. Er zeigte auf die kommunistischen Zeitungen Il manifesto und L’Unità auf seinem Schreibtisch, er verwies auf sein großes soziales Engagement. Es half nichts: Die beiden fesselten erst den Sohn und die ebenfalls herbeigeeilte Ehefrau im Flur, dann Miraglia, den sie dazu noch knebelten und auf ein Bett zwangen. Als er da lag, schossen sie ihm mitten ins Bein. Ein Verbrechen, wie von faschistischen Sadisten begangen. Aber es waren Mitglieder einer linken Terrorgruppe, die sich Prima Linea nannte.

imagesEinen der Radikalsten meines Gymnasiums sah ich bei der Bundeswehr wieder. Er wollte sie unterwandern, den Dienst an der Waffe lernen, um bei der kommenden Revolution damit umgehen zu können.

Für mich war der Gang zur Bundeswehr die wichtigste und für mein eigenes Leben vielleicht sogar folgenreichste Wert-Entscheidung, die ich je zu treffen hatte. Damals musste jeder, der den Wehrdienst verweigern wollte, seine Gründe vor obskuren staatlichen Kommissionen darlegen und begründen. Wer sich dort als Pazifist bekannte, sah sich in der Regel der Frage gegenüber, was er denn tun wolle, wenn er mit seiner Freundin im Wald spazieren gehe und jemand wolle das Mädchen mit vorgehaltener Waffe vergewaltigen – ob er dann auch noch gewaltlos bleibe?

Pazifismus kam für mich aber ohnehin nicht infrage. Wir lebten nicht weit von der Zonengrenze entfernt, und zu meinen eindringlichsten Kindheitserinnerungen gehören die sonntäglichen Spaziergänge an dieser Grenze, irgendwo in der Nähe von Hornburg, Jerxheim, Schöningen oder Helmstadt, bei denen ich immer darüber nachgrübelte, wie das um Himmels willen wohl sein müsste: da drüben zu leben und nicht hierher zu können, überhaupt nicht einfach irgendwohin reisen zu können – sondern eingesperrt zu sein.

Ich war von der Wichtigkeit der Bundeswehr überzeugt. Ich verpflichtete mich sogar freiwillig für eine Dienstzeit von fast zwei Jahren, weil ich dachte, dass man für seine Überzeugungen Opfer bringen müsste und dass man, wenn man schon ein solches Opfer brachte, doch auch ein wenig mehr Geld dafür bekommen sollte als ein einfacher Wehrpflichtiger erhielt.

Dann war ich tief erschüttert, als ich zum ersten Mal eine Maschinenpistole in der Hand hielt. Wochenlang beschäftigte mich die Frage, ob ich damit wirklich würde auf Menschen schießen können. Ich beschloss, dass ich es können würde, wenn es sein müsste.

Die Jahre als Soldat wurden die schlimmsten meines Lebens. Ich hasste alles. Das frühe Aufstehen, die idiotische Strammsteherei, den Spieß, der freitags die Länge der Haare prüfte und einem, wenn man nicht rechtzeitig beim Friseur gewesen war, das freie Wochenende strich, und vor allem den Suff, den abendlichen Ordonnanzdienst im Kasino, wenn volltrunkene Feldwebel in den Mülleimer unter der Getränketheke pissten und sich beim Absingen dämlicher Panzersoldatenlieder in den Armen lagen.

Ich stand einmal nach einem solchen Abend – da war ich 19 – sehr spät immer noch fassungslos zu Hause in der Küche. Mein Vater sagte hilflos, im Krieg passierten viel schlimmere Dinge. Meine Mutter weinte.

Ich dachte sehr ernsthaft, ich müsste dazu beitragen, mein Land und sein Grundgesetz zu verteidigen. Aber das hier hasste ich jeden einzelnen Tag.

images1984 saß ich in einem Pariser Hotelzimmer und wartete auf einen Anruf, der für halb vier am Nachmittag angekündigt war.

Eine junge Frau meldete sich, pünktlich auf die Minute. Eine Viertelstunde später holte sie mich und einen Reporterkollegen ab. Wir nahmen ein Taxi, das uns kreuz und quer durch die Stadt kutschierte, mussten dann in die Untergrundbahn umsteigen, fuhren ein paar Stationen – und waren wieder in der Nähe unseres Hotels. Von dort ging es zu Fuß weiter, wir hetzten durch das Verkehrsgewühl und steuerten auf einen Mittelklassewagen zu, der an einer Ecke mit laufendem Motor wartete. Am Steuer saß ein schweigsamer Mann, der uns nach längerer Fahrt in der Tiefgarage eines Hochhauses absetzte. Der Aufzug brachte uns in eines der oberen Stockwerke, wir betraten einen engen Flur mit vier Türen. Unsere Begleiterin schloss eine davon auf.

Vor uns stand Toni Negri.

»Entschuldigen Sie das Versteckspiel«, sagte er lachend. »Aber es muss leider sein.«

Ich war unsicher, ob er das Ganze nicht nur zu Showzwecken veranstaltete. Vielleicht hatte er das Gefühl, etwas bieten zu müssen für die 5000 Mark, die er vom Stern (in dessen Auftrag wir unterwegs waren) als Informationshonorar verlangt hatte. Ein Vierteljahr zuvor jedenfalls hatte ich ihn schon einmal interviewen können – ganz ohne Versteckspiel. Damals kam ich allerdings allein und hatte auch nur 2000 Mark dabei.

Toni Negri, ein Politikprofessor aus Padua, hatte in den Siebzigerjahren die Zeitung Classe Operaia gegründet und galt als oberster Agitator einer linksextremistischen Gruppe namens Autonomia Operaia, die auch eine gewisse Anziehungskraft auf Genossen in Frankreich und Deutschland hatte, besonders in Frankfurt. Bis heute finden seine Theorien in linken Kreisen Beachtung: Die Empire-Trilogie, die er gemeinsam mit dem amerikanischen Literaturprofessor Michael Hardt verfasst hat, ist zur Bibel der Globalisierungsgegner geworden, und auch Oskar Lafontaine hat sich jüngst als Leser Negris bekannt. Negri war in meinen Augen damals kein Unschuldsengel, zugleich aber Opfer einer der abstrusesten Affären der italienischen Justizgeschichte: Er war unter anderem beschuldigt worden, Gründer und Chef der Brigate Rosse zu sein und die Ermordung des Christdemokraten Aldo Moro geplant zu haben. Diese Anklagen brachen nacheinander in sich zusammen. Aber Negri saß vier Jahre lang in Untersuchungshaft.

In Italien bildete sich eine breite Solidaritätsbewegung, unermüdlich am Leben gehalten von seiner damaligen Ehefrau. Die Partito Radicale setzte ihn 1983 auf ihre Kandidatenliste für die Parlamentswahlen, Negri wurde gewählt – und war deshalb vorübergehend wieder ein freier Mann, geschützt durch die Immunität des Parlamentariers. Die Mehrheit des italienischen Parlaments beschloss schließlich deren Aufhebung. Kurz bevor er erneut verhaftet werden konnte, floh Negri nach Frankreich. Zurück blieben Dutzende tief enttäuschter Gefährten: einmal die Mitglieder der Partito Radicale, vor allem aber jene Intellektuellen, die ebenfalls angeklagt waren und sich mehrmals pro Woche in einem zum Bunker umfunktionierten Gerichtssaal am Foro Italico in Rom verantworten mussten, inzwischen nahezu vergessen von der italienischen Öffentlichkeit.

Ich hatte den Prozess monatelang an jedem Verhandlungstag verfolgt.

Kaum hatten wir mit dem Interview begonnen, stellte Negri mir seine italienische Geliebte in Frankreich vor, die Tochter eines Fabrikanten. Ich sprach ihn auf seine Frau an. Er sagte, dass er ihren »hysterischen Einsatz« für ihn bewundere.

Nun konfrontierte ich Negri mit der Wut seiner Genossen. Er reagierte auf die Vorhalte mal schreiend, mal mit nervös-meckerndem Lachen. Immerhin sagte er den Satz: »Wir alle haben damals gewisse Diskussionen geführt und auch Fehler gemacht.« Ansonsten war von ihm kein Wort der Selbstkritik zu hören. Stattdessen betonte er, wie gut es ihm jetzt in Paris gehe. Und begründete seine Flucht mit dialektischer Spitzfindigkeit: »Ich bin nicht geflohen, ich habe die Freiheit gewählt, was etwas völlig anderes ist als die Flucht.«

Ich sprach ihn auf einen als Mörder verurteilten Terroristen an, der vor Gericht beschrieben hatte, wie Negri ihn einst gefeiert hatte, weil er als 16-Jähriger Autos von Lehrern angezündet hatte. Negri sagte nur: »Aber ich habe ihn doch nicht losgeschickt, die Autos anzuzünden!«

Ich war Mitte zwanzig und kam ernüchtert wie nie von dieser Reportage zurück. Man darf wahrscheinlich nicht einmal von Revolutionären verlangen, dass sie alles vorleben, was sie propagieren, zum Beispiel die Solidarität mit anderen Menschen. Aber man kann doch wenigstens erwarten, dass sie nicht das genaue Gegenteil von dem machen, wofür sie mit ihrem Beispiel stehen.

imagesHeute frage ich mich, warum bei mir, der ich in so politischen Zeiten aufgewachsen bin, das politische Interesse seit Langem abgenommen hat. Bin ich nicht geradezu der Prototyp einer ganzen Schicht von Bürgern, die eigentlich nur noch am Rande »Staatsbürger« sind?

Ich bin heute kein Mensch, der ausgeprägte Meinungen hätte. Manchmal fühle ich mich wie Leonard Zelig, Woody Allens Figur, der sich seinem jeweiligen Gesprächspartner so anpasst, dass er von ihm kaum noch zu unterscheiden ist. Ich habe nach einem abendlichen Gespräch mit einem Gewerkschafter größtes Verständnis für dessen Positionen und kann mich am nächsten Tag in einen Neoliberalen einfühlen.

Bin ich vielleicht einfach zu feige, Position zu beziehen? Zu faul? Oder liegt es nicht vielmehr daran, dass ich mich – als Jugendlicher zum Beispiel – politisch so sehr geirrt habe, dass ich mir nun jederzeit vorstellen kann, mich auch in allen anderen Fragen zu irren? Hielten wir nicht zum Beispiel den ZDF-Journalisten Gerhard Löwenthal und seine Sendungen über die DDR seinerzeit für übelste Demagogie? Und müssen wir nicht heute zugeben, dass er mit vielem, was er berichtete, einfach recht hatte? Jedenfalls stelle ich heute fest, dass ich, je länger ich mich mit einem Problem beschäftige, desto unentschiedener in meiner Meinung dazu werde.

imagesGenau dieses Abwägen könnte übrigens die Erklärung dafür sein, dass sich so dauerhaft der Eindruck hält, unsere Generation habe keine Haltung. Die Kämpfe, die wir heute austragen, sind eben nicht so einfach auf den Begriff zu bringen. Aber deswegen nehmen wir sie nicht weniger ernst, und mit Unentschlossenheit und Untätigkeit ist unser Abwägen auch nicht zu verwechseln. Es geht heute nicht mehr so schwungvoll wie früher mit »Mehr Demokratie wagen!« oder »Nie wieder Faschismus!«. Unsere Einstellungen sind komplex, aber das ist mir lieber als die von jeder Wirklichkeit abgetrennte Gewissheit. Die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel hat das sehr schön auf den Punkt gebracht: »Zur Demokratie gehört, Ambivalenz zu ertragen und sie als besonderen Wert des demokratischen Systems zu betrachten.« Ich fürchte, das bleibt auch unser Leitmotiv: Statt Lotta continua heißt es bei uns »Das Abwägen geht weiter!«.

imagesAllerdings habe ich neben Meinungen ja auch Interessen, wie jeder andere. Und je älter ich werde, desto stärker tendiere ich dazu, bei einer Wahl nach meinen persönlichen Interessen zu wählen, denen eines relativ gut verdienenden Familienvaters. Niemals hätte ich das früher getan, und ich fühle mich auch heute nicht wohl dabei. Ich gehöre nicht zu denen, die nur nach ihrem persönlichen Vorteil wählen wollen. Aber ich finde andererseits, dass zunächst einmal jeder für sein eigenes Leben verantwortlich ist, dass Selbstverantwortung, Selbstbestimmtheit und Selbstsorge, wie es der Soziologe Heinz Bude genannt hat, »Lebensführungsideale« sind, denen man entsprechen sollte. Und dass erst, wenn jemand diesen Idealen nicht nachkommen kann, ihm geholfen werden muss.

Und dann ist da noch der Grundverdruss, was alles Politische angeht.

Es gibt leider wirklich kaum Politiker, die mich überzeugen, und ich frage mich, woran das liegt.

Auch gibt es so etwas wie eine vergebliche Suche nach einem politischen Programm, das zu meinem Leben passt. Unter Willy Brandt, der sozialliberalen Koalition: Das war in vielem der perfekte Ausdruck dessen, was ich wollte. Mit weniger möchte ich mich nicht zufriedengeben, aber ich sehe keine Partei, in der das, wofür ich politisch eintreten würde, programmatisch und personell verwirklicht ist.

Da ist auch die seltsame Erfahrung, dass sich nichts ändert: Seit ich Schüler bin, fordern wir zum Beispiel Chancengleichheit, ein gerechteres, besseres Bildungssystem. Wenig hat sich auf diesem Sektor getan, im Gegenteil. Viele Probleme scheinen sowieso mittlerweile unlösbar. Die Gesundheitsreform kommt einem in Deutschland geradezu wie ein Staatszweck vor, den man im Grundgesetz verankern könnte: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Staat, der sein Gesundheitswesen zu reformieren versucht.«

Wobei, je älter man wird, einem das Gesundheitswesen persönlich mehr am Herzen liegt: Bloß empfinde ich eben, wenn ich in der Zeitung etwas über dieses Gesundheitswesen lese, so bohrende Langeweile, dass ich sofort weiterblättere. Ich fühle mich, je älter ich werde, bei den meisten politischen Themen immer weniger kompetent.

Schließlich: das tägliche Bombardement mit Debatten, mit Gerede, mit Talkshows, die nur noch Fetzen aus der Diskussion transportieren – und von dem einem am Ende nichts bleibt als das Gefühl: Hier klappt doch sowieso nichts. Hier stehen Eitelkeit und persönliche Interessen über der Sache, um die es geht.

images Wie ich das hasse: dieses ewige Herumhacken auf allem und jedem, was Politik ausmacht! Und das ausgerechnet in Deutschland, das doch ein Schlaraffenland ist!

Wem hier Unrecht geschieht, der kann sich vor Gericht wehren, auch dann, wenn er mittellos ist – und das Verfahren dauert Monate, nicht Jahre wie in anderen Ländern. Wer krank ist, wird gut versorgt, auch wenn er immer nur in der AOK pflichtversichert war. Wer in finanzielle Not gerät, dem wird geholfen, manchmal mit Beihilfen, die höher sind als der Lohn, den er für eine Arbeit erhalten würde. Es gibt freie und kritische Medien in Hülle und Fülle, die noch Verlegern gehören und nicht Industriekonsortien, die ihre Blätter für wirtschaftliche Interessen instrumentalisieren. Und wenn Politiker über die Stränge schlagen, dann wird ihnen gnadenlos Rechenschaft abverlangt, in der Öffentlichkeit und vor Untersuchungsausschüssen.

Ganz wichtig noch (und das ist eigentlich für mich die Voraussetzung, um hier leben zu können): Das Land hat sich glaubhafter und tiefer mit den Verbrechen seiner Geschichte auseinandergesetzt als jedes andere, das ich kenne. Und gottlob widersteht immer noch eine Mehrheit dem Ruf jener, die einen »Schlussstrich ziehen«, den Nationalsozialismus endlich »bewältigt« haben wollen (die Fürsprecher ähneln übrigens oft auffällig jenen, die jetzt die Auseinandersetzung mit den Untaten der DDR am liebsten sofort beenden würden).

Was wirklich irritierend ist, wenn auch menschlich nachvollziehbar: die Selbstverständlichkeit, mit der wir unser Gemeinwesen sehen. Es ist aber nicht selbstverständlich, ganz und gar nicht. Es ist etwas, das immer neu erarbeitet werden muss – und immer wieder gefährdet ist. Wobei übrigens Demokratie-Treue in Jahrzehnten bei uns auch erkauft wurde: mit der Aussicht auf immer neue Wohltaten. Jetzt aber gibt es zum ersten Mal seit dem Krieg kein Versprechen auf Zuwachs mehr. Umso wichtiger wäre es eigentlich, sich bewusst zu machen, was wir haben, was es uns bedeutet und was wir dafür zu tun bereit sind.

Vielleicht muss man als Fremder nach Deutschland kommen, um das überhaupt würdigen zu können. Hier musste zum Beispiel vor vielen Jahren ein Bundesminister zurücktreten, weil er auf amtlichem Briefpapier für eine »pfiffige Idee« seines angeheirateten Vetters geworben hatte. In Italien hätte ein Minister eher zurücktreten müssen, wenn er einen solchen Werbebrief nicht geschrieben hätte. Manchmal driftet diese Kontrollwut ins Inquisitorische, Selbstgerechte, Verlogene und geradezu Lächerliche ab: Es gab auch schon Politiker, die ihren Posten verlassen mussten, weil sie im Amt erworbene Bonusmeilen privat verflogen hatten.

Kann es nicht sein, dass die Deutschen ihren Politikern vorwerfen, was sie an sich selbst nicht leiden können: die Gier selbst im Kleinen, die Rabattmarkenmentalität, die Geiz-Geilheit?

Kein Wunder, dass sich nur noch ganz wenige bereitfinden, diesen Beruf zu ergreifen.

images Aber eben diese wenigen sind nun mal das Problem, das lässt sich doch nicht wegreden, oder?

Als ich anfing, mich für Politik zu interessieren, Zeitung zu lesen, Debatten zu verfolgen, da war Willy Brandt Bundeskanzler. Klaus Harpprecht, der Fernseh-Korrespondent in Washington gewesen war und den S. Fischer Verlag geleitet hatte, schrieb Reden für ihn. Der Soziologe Ralf Dahrendorf, der als einer von wenigen deutschen Professoren öffentlich mit Rudi Dutschke diskutierte, war Landtags- und Bundestagsabgeordneter, Staatssekretär und EG-Kommissar. Günter Gaus, berühmt für seine Fernsehinterview-Reihe Zur Person und Chefredakteur des Spiegel: Auch er wurde Staatssekretär. Der Rechtswissenschaftler Werner Maihofer war Innenminister, der Staatsrechtslehrer Horst Ehmke Chef des Bundeskanzleramtes, später Minister. Unabhängige Leute wie Hans Leussink, Ingenieur, Professor und parteilos, oder Hildegard Hamm-Brücher wurden ebenfalls Minister.

Man hatte das Gefühl, dass Intellektualität und Macht sich nicht gegenseitig ausschließen. Es gab eine Leidenschaft für Politik, es herrschte Euphorie.

imagesSoll man dieser Zeit aber wirklich nachweinen? Selbst wenn man die großen Redner, die charismatischen Persönlichkeiten, den politischen Mut jener Jahre vermisst, was ich manchmal selber auch tue? In jenen Jahren war zum Beispiel Franz Josef Strauß einer der Großen, der wegen seiner rhetorischen Potenz und seines politischen Instinkts zu Recht gepriesen wurde, aber höchstpersönlich Konten eröffnete, auf die Spenden eingezahlt wurden, wobei es jedoch ganz allein seine Entscheidung war, ob er das Geld an seine Partei weiterreichte oder für sich behielt. So wurde er in seinem Beruf reich. Der lange Arm der bayerischen Staatspartei reichte damals so weit, dass eine Gymnasiastin in Regensburg von der Schule verwiesen wurde, nur weil sie eine Stoppt-Strauß-Plakette auf ihrem Parka haften hatte. Erwachsene Menschen, die beim Bayerischen Fernsehen arbeiteten, mussten zittern, wenn eine Sendung in den Augen der CSU zu kritisch geraten war; manchmal fiel sie dann einfach aus dem Programm. Und auf dem Höhepunkt der Gewerkschaftsmacht in Deutschland betrieben Manager des Gewerkschaftskonzerns Neue Heimat über Strohmänner Privatfirmen, um sich zu bereichern.

Ich sehne mich übrigens auch nicht zurück nach den großen Leitwölfen in Industrie und Medien. Sie haben Großes geleistet, sich oft aber auch ein Maß an Willkür und Selbstgerechtigkeit herausgenommen, das heute kein Jüngerer mehr ertragen würde. Sie waren zwar in der Lage, jede noch so vertrackte politische Auseinandersetzung zu beurteilen, den Regierenden ihren Rat aufzudrängen. Aber wenn sie selbst an einem Konflikt beteiligt waren, kam ihnen ums Verrecken nicht die Frage in den Sinn: Welchen Anteil habe ich an diesem Konflikt?

Ich empfinde es also nicht als Verlust, wenn ich es nicht mehr mit Verlegern oder Chefredakteuren zu tun habe, die eine Kultur der Angst pflegten, bei denen man von einem Tag auf den anderen in Ungnade fallen konnte, und sei es auch nur, weil man sich eines Tages in die falsche Frau verliebt hatte oder weil es dem Chef bei seinen Machtspielchen einfach so gefiel. Allem Gerede zum Trotz: Auch die politischen Spitzenkräfte sind heute noch zum Teil hochintelligente, besonders fähige Menschen, und zwar quer durch alle Parteien, und wer sie gering schätzt, der sollte wenigstens nicht verlogen sein: Wenn man nicht selbst den Mut oder die Kraft aufbringt, in die Politik zu gehen, darf man sich auch nicht immer nur beklagen.

Ich habe als Schüler und Student, später dann in jener Bürgerinitiative, die unter dem Motto »München – eine Stadt sagt Nein« eine Lichterkette gegen Ausländerhass und Rechtsradikalismus veranstaltete, fantastische politische Talente kennengelernt, von denen einige auch in den Jugendorganisationen der Parteien aktiv waren. Kein Einziger von ihnen ist später in die Politik gegangen. Die meisten haben auch ganz ehrlich den Grund genannt: Das ist mir zu mühsam, zu undankbar, für das bisschen Geld lasse ich mich nicht bei der erstbesten Gelegenheit von den Medien an den Pranger stellen und von jedem, der gerade mag, als Watschenmann behandeln – das auch noch bei Sechstagewochen und Tagen, an denen es kaum eine Stunde Freizeit gibt.

Politik ist eine entsetzliche Mühle, und wer rausfällt, stürzt oft abgrundtief. Theo Waigel, der früher mächtige CSU-Politiker und ehemalige Finanzminister, hat mir mal erzählt: »Was meinen Sie, wie das ist, wenn Sie das Amt los sind und zu einer Veranstaltung gehen: Der Einzige, der noch freiwillig zu Ihnen kommt, ist der Ober – um Ihnen die Rechnung zu bringen.«

imagesSoll ich Mitleid haben? Das kann nicht unsere Haltung gegenüber Politikern sein.

imagesUm Mitleid geht es mir gar nicht. Aber doch um einen gewissen grundlegenden Respekt davor, dass sich Leute der Politik aussetzen.

imagesDabei fällt mir ein: Mich interessieren Menschen, denen es in ihrem Leben um Macht geht (und das sind ja nun, unter anderem, die Politiker), in der Regel nicht besonders. Machtstreben hat etwas Ausschließliches, etwas, dem der Mensch alles andere in seinem Leben unterordnen muss. Machtstreben nimmt den nach Macht Strebenden komplett in Beschlag, und das gibt, wie ich finde, ihm etwas Eindimensionales, Uninteressantes.

imagesAber wer kein bisschen an Macht interessiert ist, der wird auch nie etwas verändern. Es kann so jemanden auch gar nicht geben – so wenig wie einen Kreativen, der ganz und gar uneitel ist.

Im Übrigen hängt das Machtstreben ganz stark mit dem Bedürfnis nach sozialer Revanche zusammen. Was für fantastische Geschichten es doch sind, die Gerhard Schröder oder Joschka Fischer verkörpern! Da wird ein Mann durch eigene Anstrengung, Intelligenz und eben Willen zur Macht Bundeskanzler, dessen Mutter Putzfrau und dessen Vater Kirmesarbeiter war. Da wird einer Außenminister (der schillerndste, den wir je hatten) und braucht dazu nicht einmal das Abitur. Ein wunderbares Land, in dem das möglich ist! In der Wirtschaft sind Klaus Kleinfeld und René Obermann aus kleinen Verhältnissen ganz nach oben geklettert; Kleinfeld war zehn, als sein Vater starb, Obermann wuchs bei seinen Großeltern auf. Der eine war zweieinhalb Jahre Vorstandsvorsitzender von Siemens, der andere ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom und führt den Konzern ohne jedes Imponiergehabe.

imagesAber man hatte doch früher das Gefühl, Politiker folgten noch ihren Überzeugungen, sie stünden wirklich ein für das, was sie wollten. Heute managen sie nur noch Stimmungen, sie dienen sich dem Volk an, sie laufen ihm hinterher, statt ihm Führung anzubieten. Heute gibt es bloß die Verwaltung von Notlagen, das Abwenden von Katastrophen und Politiker, die geradezu Furchtsamkeit ausstrahlen. Der Journalist Dirk Kurbjuweit hat das im Spiegel sehr schön beschrieben: »Die Politiker von heute haben vor allem eine Fähigkeit: Sie können sich in eine vermutete Volksstimmung hineinschmiegen. Sie können die eigenen Überzeugungen, soweit vorhanden, zwischen Designersätzen verschwinden lassen. Viele bringen erst gar keine Überzeugung mit, sind nur noch Experten für eine Verschwommenheit, die auf dem Bildschirm gut rüberkommt. Sie sind Ängstliche, erstarrt vor der Volksschlange.«

imagesBitte: Zitier doch keine Journalisten! Nie gab es in Deutschland mehr Medien als heute, nie waren sie freier. Und doch haben sie einen fatalen Hang, sich an die Spitze der Nörgler und Herumhacker zu stellen, weil sie sich davon noch am ehesten das Interesse ihrer Leser und Zuschauer für Politik versprechen, die ansonsten der Parteipolitik müde sind. Lass uns nicht über Selbstverständliches reden, nämlich darüber, dass Journalisten in erster Linie dazu da sind, kritisch über alles zu berichten – von den Nöten der Milchbauern im Chiemgau bis zum Versuch der Vertuschung eines Massakers an afghanischen Zivilisten bei Kundus. Aber sie sind doch auch Mittler, und in diesem Prozess dafür verantwortlich, dass die Leute verstehen, warum viele Entscheidungen lange dauern und wahnsinnig kompliziert sind. Außerdem frönen sie einer paradoxen Leidenschaft zum Gleichklang: Gerade Journalisten neigen dazu, zu jedem Trend gleich den Gegentrend auszurufen, zu jeder These gleich die Antithese. Das, was gestern als richtig galt, soll heute plötzlich falsch sein.

Um die Jahrtausendwende wurde von den meisten Journalisten eine Entschlackung des überbordenden Sozialstaats angemahnt. Als dann aber die Hartz-Gesetze in Kraft traten, wurden sie als unsozial gebrandmarkt. Vor der Bundestagswahl 2005 schwenkten einige Medien schon wieder um und schlugen sich auf die Seite Angela Merkels, die damals noch für einen radikalen Reformkurs stand – was mit Beginn der Großen Koalition auch schon wieder Geschichte war. Nach dem Bankencrash, in einer Phase der Rezession, forderten dann plötzlich viele Kommentatoren, die vorher den deregulierten Markt beschworen hatten, eine »Renaissance des Staates«, der retten, eingreifen und Konjunkturpakete schnüren sollte.

Bei der Wahl 2009 ging es so weiter: Im Bild der Medien hatte erst die Große Koalition angeblich abgewirtschaftet; eine Alternative aus SPD, Grünen und Linken wurde sowieso als regierungsunfähig dargestellt. Die neu gewählte schwarz-gelbe Koalition hatte dann aber nach wenigen Wochen einen »Fehlstart« hingelegt. Und daraufhin galt plötzlich wieder die Arbeit der vorherigen Großen Koalition als gar nicht so übel. Am Ende steht für den Leser allenfalls wieder die Erkenntnis: Politiker sind alle gleich, gleich schlecht.

Ähnlich sind sich aber vor allem die Journalisten, die auch Strauchelnde erschreckend konformistisch abkanzeln. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck war zwei Jahre lang Vorsitzender der SPD. In dieser Zeit hat er weder seine Partei noch die meisten politischen Beobachter besonders überzeugt. Aber warum ihn deshalb über Monate hinweg mit Tiraden voller Hohn und Spott überziehen? Hier eine kleine Sammlung von Invektiven, die innerhalb weniger Wochen in deutschen Tageszeitungen und Magazinen veröffentlicht wurden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aber wörtlich zitiert: »Räuber Hotzenplotz«, »Mainzelmännchen«, »Grauen vom Lande«, »Dickschiff«, »Manta-Fahrer«, »Problembär«, »Meerschweinchen«, »Bauer«, »Prolet«, »Kleinbürger«, »Couch-Potato«.

Natürlich haben sich die meisten Journalisten dann wieder mit Abscheu und Empörung gegen den Vorwurf gewehrt, hier habe so etwas wie eine Hatz oder Rudeljournalismus stattgefunden.

imagesAber das meine ich doch: das Gefühl, dass der politische Betrieb Menschen zerreibt, dass er Menschlichkeit nicht mehr zulässt. Jeder noch so hoffnungsvolle Politiker enttäuscht nach einer Weile, jeder menschlich doch vollkommen verständliche Fehler wird unnachsichtig geahndet.

imagesDiese allgemeine Enttäuschung über Politik ist eine Ausrede. Was macht denn die Enttäuschung aus? Die Erfahrung, dass sich das schönste politische Vorhaben nach kurzer Zeit an der Realität bricht, an Zwängen, Widerständen, menschlichen Unzulänglichkeiten? Das verführt dann zu der allgemeinen Klage, die Politiker seien doch eh alle gleich. Aber im Grunde genommen handelt es sich um eine anthropologische Konstante: Egal, was wir anpacken, nach kürzester Zeit wird es im Konkreten mühsam, und wir hadern nicht nur mit den Strukturen, sondern auch mit unseren eigenen Schwächen und den ewig gleichen gruppendynamischen Prozessen.

Als wir 1992 die erwähnte Lichterkette organisierten, hätte die Resonanz nicht größer sein können. Trotzdem hatten die vier Initiatoren schon nach wenigen Tagen untereinander Zoff: Der eine war plötzlich eifersüchtig auf die mediale Präsenz des anderen, sodass man ihm später ausgleichshalber alle Preisverleihungen überlassen musste; dem anderen warf man vor, dass er sich in entscheidenden Momenten immer drücke; und ein Dritter musste sich des Verdachts erwehren, er nutze die Lichterkette zur Förderung der eigenen Firma. Ein Glück, dass es bei der Organisation dieser einen Lichterkette blieb. So blieben die Freundschaften bis heute erhalten.

Aber all das nimmt eben dem politischen Engagement nicht seinen Wert. Denn entscheidend ist nicht das allzu Menschliche, sondern dass es immer wieder Männer und Frauen gibt, die auch nach schlechten Erfahrungen einen neuen Anlauf wagen – beladen mit Hoffnungen, die meist viel zu groß, aber wahrscheinlich nötig sind, um dem Aufbruch den richtigen Anschub zu geben.

imagesBloß: Wie geht man mit dem Gefühl um, dass Politik heute offenbar immer weniger bewirkt, dass sie hilflos erscheint bei vielen Problemen, dass unser Steuersystem unreformierbar erscheint und dass zum Beispiel alle Reaktionen auf die bevorstehenden Klimaveränderungen sich nur mit den Worten charakterisieren lassen: zu spät, zu wenig, zu klein? Welche Haltung nimmt man ein angesichts einer weitverbreiteten Gleichgültigkeit, die vielleicht weniger mit Desinteresse als mit Ohnmacht zu tun hat?

imagesIndem man, verdammt noch mal, Maß nimmt und anerkennt, dass einige Probleme zwar jetzt unlösbar erscheinen, andere aber sehr wohl angepackt werden, und seien sie noch so schwer. Und dass unsere Erwartung oft größenwahnsinnig ist, eine Regierung, eine Partei oder gar ein Politiker könne alle Aufgaben alleine meistern. Ich könnte schon meine Steuererklärung nicht einmal unter Androhung von Folter ohne fremde Hilfe bewältigen. Die Klimapolitik ist ein Trauerspiel, ja, aber auch eine Prüfung nie gekannten Ausmaßes. Paradoxerweise verstößt die Aufgabe, unseren Planeten zu retten, auch gegen elementarste Naturgesetze: Einen großen Teil unserer Schaffenskraft schöpfen wir aus dem Bestreben heraus, die Familie, den Heimatort, meinetwegen noch das Land, in dem wir leben, gegen andere Gruppen zu schützen und abzugrenzen. Eine wirksame Klimapolitik aber braucht nicht nur die Verständigung aller wichtigen Staaten der Welt, sie müsste auch die Interessen Einzelner zumindest vorübergehend zurückstellen, denn die richtigen Maßnahmen bedeuteten vielerorts weniger Wachstum, außerdem gäbe es selbst bei einer recht hohen globalen Klimaerwärmung noch Regionen, die Glück im Unglück hätten und von einem milderen Klima profitierten. Und das alles sollen Umweltminister und Regierungschefs in wenigen Jahren überwinden?

Dafür haben unsere Politiker vor Kurzem nahezu ein Wunder vollbracht, in kürzester Zeit und über alle Staatsgrenzen hinweg. Als im Herbst 2008 der internationale Finanzkollaps drohte, gelang ihnen die Rettung der Welt, jedenfalls bis zum heutigen Tage. Bezeichnenderweise kenne ich keine beteiligte Regierung, die bislang in Anerkennung dieses Verdienstes wiedergewählt worden wäre, schon gar nicht die Große Koalition in Deutschland, trotz allem Einsatz von Angela Merkel und Peer Steinbrück.

imagesÜbrigens fühle ich mich nicht unwohl dabei, das alles aus der Distanz zu beobachten, mich nicht mehr wirklich zu interessieren. Es ist eine Haltung, die bequem ist, und manchmal finde ich, dass ich – bei der vielen Arbeit, die ich habe – mir diese Bequemlichkeit auch gönnen könnte. Muss ich mich wirklich interessieren? Muss ich mich mit alledem beschäftigen? Liegt nicht das Großartige eines Staates wie des unseren auch darin, dass er mich in Ruhe lässt? Dass er mir die Freiheit gibt, mich um alles Politische den Deubel zu scheren?

Es gibt da eine seltsame Geschichte: Ich war viele Jahre lang politischer Journalist, immer noch diesem nie ausgesprochenen Vater-Auftrag folgend, dem Gefühl, er werde mir vielleicht einmal so zuhören, wie er den Werner-Höfer-Runden einst im Fernsehen zuhörte, er werde sich für mich so begeistern, wie er sich für die Leute da im Fernsehen begeisterte. Ich fühlte mich, ohne mir dieses Gefühl je wirklich bewusst zu machen, mir selbst fremd, wenn ich Leitartikel und Kommentare schrieb, wenn ich Helmut Kohl nach Polen begleitete und aus Bonn über den Wahlabend berichtete.

Dann starb mein Vater. Und vier Wochen später wurde Helmut Kohl wieder zum Bundeskanzler gewählt, zum letzten Mal. Am Morgen nach der Wahl sollte ich in ein Flugzeug steigen, nach Berlin fliegen und an irgendeinem politischen Thema arbeiten, ich habe vergessen, was es war, nur, dass es mir zuwider war wie noch nie eines, das weiß ich.

Morgens um fünf erwachte ich, schweißgebadet, in den Ohren ein lautes Brummen wie von einer defekten Neonröhre. Ich hatte einen Hörsturz, flog nicht nach Berlin und beendete (nicht sofort, erst nach einiger Zeit, aber hier begann doch der Entschluss) meine Karriere als politischer Autor.

Es gibt, je älter ich werde, eine Reihenfolge von Prioritäten in meinem Leben: In dieser Tabelle stehen an allererster Stelle mein Beruf und meine Familie. Ich bin verantwortlich für meine Kinder, die Beziehung zu meiner Frau, meine Begabungen. Sich dem zu widmen, kostet viel Zeit, auch weil ich von meinen Eltern nicht aufs Beste für ein glückliches Privatleben gerüstet worden bin. Wofür sie nichts konnten, sie hatten Grenzen, die ihnen von ihrer Zeit und den Umständen gesetzt worden waren.

Um nur ein Beispiel zu nennen, einen Punkt, von dem an anderer Stelle schon die Rede war: Mein Vater war sieben Jahre lang Soldat, im Krieg, in einem auch von seiner Generation verursachten, umfassenden, verbrecherischen Krieg – und er hatte über all das, über Schuld, Angst, Tod, Verbrechen nie mit mir oder mit irgendjemand sonst geredet. Meine Mutter war sehr klein gewesen, als ihre Mutter ihren Mann verlassen hatte – und sie sollte diesen ihren Vater als Kind nur einmal flüchtig wiedersehen. Auch diese Geschichte erfuhr ich erst als Erwachsener.

Ich habe das Schweigen über die grundlegenden Dinge in der Familie immer als großes Unglück gesehen und empfinde dieses mir natürlich auch anerzogene Schweigen als einen Fehler, den ich selbst in meinem Leben nicht machen möchte – wie ich überhaupt glaube, das alles Unglück im Leben immer aus dem Schweigen kommt, nie aus dem Reden.

Das sind Gründe, aus denen ich mit den Jahren ein immer mehr und geradezu leidenschaftlich auf mein Privatleben hin orientierter Mensch geworden bin, einer, dem ein Gespräch mit seinen Kindern oder seiner Frau immer wichtiger sein wird als jede Talkshow über Probleme unserer Rentenversicherung.

imagesJe länger ich mich beim Älterwerden beobachte, umso stärker muss ich bekennen: Manchmal fühle ich mich wie ein kleines Arschloch. Diese Prioritätenliste Familie-Karriere-Politik haben doch meistens Menschen, denen es besonders gut geht: Sie können einem erfüllenden Beruf nachgehen und verdienen damit auch noch Geld, manchmal sogar so viel, dass sie ihrer Familie ein viel besseres Leben ermöglichen können als jene, die neben ihrer Arbeit zum Beispiel ein politisches Ehrenamt ausüben. Und selbst wenn sie ganz viel arbeiten, haben sie meistens mehr Zeit für ihre Familie als viele Politiker.

Wenn es etwas gibt, was man von jenen, denen es gut geht in Deutschland, verbindlich verlangen müsste, könnte, sollte – dann ist es nicht die Last von mehr Abgaben, sondern die Bereitschaft, dem Land oder der Stadt oder auch nur einer bestimmten Gruppe von Menschen, denen man sich nahe fühlt, etwas zurückzugeben von all dem, das man selber erfahren hat. Natürlich nimmt die Fähigkeit zur Empörung mit den Jahren ab, sei es, weil man vieles nicht mehr an sich heranlässt, sei es, weil man mit den Jahren gelernt hat, bestimmte Ereignisse zu relativieren, um sie besser verarbeiten zu können.

Dafür aber nimmt die Gelassenheit zu und die Fähigkeit, sich mit Problemen auseinanderzusetzen. Der 55-jährige Manager, der sich für eine Kita in einem Außenbezirk mit besonders hohem Migranten-Anteil engagiert, ist vermutlich mindestens genauso effizient wie die junge Sozialarbeiterin im Jugendzentrum ein paar Straßen weiter. Man kann viel Gutes tun, auch wenn man in keiner Partei aktiv ist oder in den nächsten Stadtrat einziehen will oder kann. Und man hat doch zumindest die simple Pflicht, sich als informierter, reflektierender Staatsbürger zu verhalten – und sich selbst den Rückzug in bequeme Gleichgültigkeit zu verbieten.

Ich will jedenfalls kein Jammern und kein Klagen mehr über Deutschland hören. Weder darüber, dass Politiker zu wenig Niveau hätten und zu langsam auf die Probleme reagierten, noch über die vermeintliche Neidgesellschaft, noch darüber, dass die Unterschicht sich selbst überlassen werde.

Es sei denn, dass der Beschwerdeführer den Nachweis eigener tätiger Hilfe vorzeigt.

Wie viel Wahrheit vertragen wir –
eine Stimme aus dem Inneren der Macht

Was würde eigentlich passieren, wenn Politiker von einem Tag auf den anderen damit anfingen, all das auszusprechen, was sie wirklich denken und wissen – völlig unabhängig von dem dann möglicherweise drohenden Echo in der eigenen Partei, in den Medien und vor allem beim Wähler?

Ich hatte mir vorgenommen, diese Frage einer der intelligentesten und einflussreichsten politischen Persönlichkeiten zu stellen, die ich in Deutschland kenne – einem Mann, der hier R. genannt sei.

Wir treffen uns in einem Berliner Restaurant, vor dem während unseres Gesprächs etwa eine Hundertschaft Polizisten und ein Wasserwerfer Aufstellung nehmen. Sie sollen einige luxuriös ausgestattete Geschäfte und das Restaurant absichern gegen eine Demonstration von Globalisierungsgegnern, von denen einige als militant gelten. Auf dem Höhepunkt der durch die drohende Pleite der Griechen ausgelösten Euro-Krise protestieren sie gegen das Maßnahmenpaket der Regierung, der R. angehört. Die Demo geht bei den Gästen im voll besetzten Saal in absoluter Gleichgültigkeit unter.

Sobald R. ungeschützt redet, sagt er kluge, selbstkritische und auch beunruhigende Sätze. Wäre der Sprecher dieser Sätze identifizierbar, wären etliche der Ansichten, die R. an diesem Abend äußert, gut für süffige Schlagzeilen in den Medien. Ganz zu Anfang zum Beispiel empfiehlt R. sich mit dem Satz: »Spitzenpolitiker zu sein ist eine psychische, physische, familiäre und bisweilen auch intellektuelle Zumutung.« Hier will aber nicht jemand den Beruf des Politikers schlechtreden, sondern nur einen Hinweis auf den Preis geben, den auch R. immer wieder dafür zahlt.

Was würde also passieren, wenn R., zum Beispiel bei Pressekonferenzen, immer nur die Wahrheit sagte? Er zögert lange. Bezeichnenderweise zieht er es zunächst vor, die Ursache zu benennen, die Politiker dazu bringen, in gestanzten Sätzen zu sprechen: Es sei die Gefahr, dass Sätze aus dem Zusammenhang gerissen werden, dass sie sich dann verselbstständigen und Tage, wenn nicht Wochen, für Ärger sorgen – in den Medien sowieso, aber auch in der eigenen Koalition, bei der Opposition, und, wenn es terminlich ganz schlimm kommt, beim Wähler. Wenn R. selbst über der Autorisierung eines Interviews brütet, hat er immer auch die Frage vor Augen, wo ein Sprengsatz liegen könnte. Bei schwierigen Themen gehe jede Unbefangenheit verloren.

Die Angst vor einem unvorsichtigen Wort sei aber nur die eine Seite des Problems. Die andere seien die Medien. R. holt gar nicht zu der bei Politikern beliebten Schelte aus, sondern stellt im Gegenteil etwas fest, was dem politischen Betrieb eher nützt: »Journalisten haben ein zu kurzes Gedächtnis. Sie prüfen in der Regel nicht nach, ob einer vor Kurzem nicht das genaue Gegenteil zum selben Thema gesagt oder Sachverhalte ganz falsch dargestellt hat.« Beides, die große Angst der Politiker und die große Vergesslichkeit der Medien, gingen letztlich immer auf Kosten der Wahrheit.

Aber es gibt doch Wahrheiten, die jeder halbwegs kundige Mensch kennt, innerhalb und außerhalb der Politik! Jeder weiß doch zum Beispiel, dass in der unaufhaltsam älter werdenden Gesellschaft die Aufwendungen für Rente und Pflege eines Tages nicht mehr auf dem heutigen Niveau getragen werden können.

Stimmt, sagt R. Man müsste den jungen Berufstätigen sagen: Fangt rechtzeitig an, euern Ruhestand zu organisieren! Bildet, wenn ihr nicht das Glück habt, von euern Kindern unterstützt zu werden, Wohngemeinschaften auch mit anderen Alten, in denen Menschen mit unterschiedlichen Begabungen und unterschiedlichem Grad der Gebrechlichkeit einander helfen können! »Das wird ganz sicher kommen, und es wäre an der Zeit, jetzt schon eine ernsthafte Debatte anzustoßen. Der Staat kann in 20 Jahren den Unterhalt der Alten nicht mehr in dem versprochenen Umfang stemmen. Aber was meinen Sie, was hier los wäre, wenn ein Politiker das öffentlich sagen würde?«

R. weiß natürlich, dass dies zwar ein ganz wichtiges Problem der Zukunft ist, dass die Menschen aber angesichts der Krise noch von ganz anderen Existenzsorgen geplagt werden. Im eigenen Freundes- und Verwandtenkreis hört er immer wieder die Frage: Was machst du mit deinem Ersparten? R. kennt Menschen, die so viel Angst um ihr Vermögen haben, dass sie anfangen, »Gold im Garten zu vergraben«. Seine eigene Mutter erzähle ihm diese Geschichten. R. sagt, dass eine weitere Destabilisierung der Europäischen Union und ihrer Währung die »schlimmste Bedrohung seit Jahrzehnten« wäre.

Was machen Politiker, die in den allermeisten Fällen keine Ökonomen und keine Finanzexperten sind, um uns zu schützen? R. sagt, man hole sich Rat. Man frage die führenden nationalen und internationalen Spezialisten. Er wolle aber nicht leugnen, dass sich die Fachleute gerade in den wichtigsten Fragen häufig widersprächen – die einen sagten, man müsse in der Krise sparen, die anderen behaupteten das genaue Gegenteil. Am Ende müsse eine Entscheidung stehen, die zumindest die größeren Aussichten auf Erfolg und das geringere Risiko bedeute. Aber niemand könne mit Sicherheit vorhersagen, was in der Krise helfe. Das sei auch ein Problem, sagt R. Es gebe in den meisten Fällen nicht nur den einen Weg. »Wenn Sie mich also fragen, ob ich die Wahrheit sage, dann muss ich festhalten, dass es die eine Wahrheit selten gibt. Aber ich muss an den Weg glauben, für den wir uns entscheiden, sonst geht es gar nicht.«

Es fällt auf, dass R. eine große Vorliebe für die systemimmanente Erklärung hat. Wir, die Nicht-Politiker, stellten uns das immer alles so einfach vor: Da gibt es ein Problem, eine Diagnose und eine Medizin. Fast jede Entscheidung aber sei ein so hochkomplexer Vorgang, das könne sich unsereiner nur schwer vorstellen. Und zwar nicht nur, weil hoch entwickelte parlamentarische Demokratien kompliziert seien, sondern auch, weil die Menschen kompliziert seien. Er sagt: »Wenn du einer Pressure-Group nachgibst, das lehrt jede Erfahrung, rufst du ein paar andere auf den Plan. Und wenn du einer Gruppe dann auch noch alles gibst, hast du in der Gesellschaft Mord und Totschlag. Da kann man das Regieren einstellen.« Besonders konfliktreich werde es, wenn eine Oppositionspartei an die Macht komme, die vorher einer gesellschaftlichen Gruppe ganz viel versprochen hat. Man merkt, dass R. ein noch sehr frisches Beispiel vor Augen hat.

Und dann kämen noch die persönlichen Eigenschaften mächtiger Männer und Frauen hinzu, die politische Prozesse noch stärker beeinflussten als die Abwägung von Interessen. »Das war eigentlich die größte Überraschung für mich, als ich das aus größter Nähe erleben konnte.« Es gebe Politikertypen wie Nicolas Sarkozy, die sich nur motivieren könnten, »wenn sie Projekte kurz vor der Weltrettung anpacken«. Auch Guido Westerwelle sei ein bisschen so.

Aber R. sagt auch, dass das Zögerliche und Suchende im politischen Prozess auch einen Vorteil habe. Anders als Außenstehende oft dächten und Systemkritiker agitierten, sei der moderne Staat von großer Stärke. »Er kann sich im Prinzip gegen jeden und alles durchsetzen.« Wenn der Staat sich dann einmal entscheide und in die Freiheit eingreife, habe er leider die Wirkung einer Dampfwalze, »da ist es ganz gut, wenn man möglichst lange zögert«. R. hat selbst einmal beobachtet, wie unter dem Eindruck einiger tragischer Unfälle eine Verordnung gegen Kampfhunde auf den Weg gebracht wurde: Da sei kein Raum mehr für Einzelfallregelungen gewesen, und der Bürger, der eine angeblich gefährliche Hunderasse hielt, obwohl sein Tier zahm wie ein Osterhase war, verstand die Welt nicht mehr.

Wen hat R. vor Augen, wenn er sich selbst für Politik motivieren muss? Wem möchte er etwas Gutes tun? »Ich denke an eine Tante und einen Onkel, die inzwischen gestorben sind. Sie führten mit großer Hingabe ein Geschäft im Westen Deutschlands, dekorierten ihr Schaufenster alle paar Wochen um, besuchten Fortbildungskurse, gaben sich unendlich viel Mühe mit ihren Kunden. Aber was sie auch anstellten: Irgendwann waren sie der Konkurrenz der Supermärkte und Discounter nicht mehr gewachsen, sie mussten aufgeben. Es waren so rechtschaffene Menschen.« R. sagt, immer wieder behaupteten Politiker, eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe habe kaum Fürsprecher. An die vielen Rechtschaffenen im Land, die es selbst schaffen wollten, über die jedoch Veränderungen hinwegbrächen, ohne dass sie eine Chance hätten, sich dagegen zu wehren – an die denke wirklich kein Mensch, schon gar nicht in den Medien.

Das klingt schön und auch einnehmend, aber hat ein Politiker, der ganz nach oben will, nicht in allererster Linie die Macht vor Augen? Und wird er dabei nicht notwendigerweise zynisch? R. sagt, es sei nicht die eigentliche politische Arbeit, die Politiker zu Zynikern mache, es seien die vielen Verletzungen auf dem Weg nach oben: die Enttäuschung, wenn Freunde zu Rivalen werden, oder die Erfahrung der Eitelkeit der anderen. Merkwürdigerweise habe ich Politiker schon oft über Eitelkeit klagen gehört, die eigene haben sie nie vor Augen.

Zwänge, Rücksichten, Egoismen, wahltaktische Spielchen. Je länger man R. zuhört, desto mehr fragt man sich, ob dieser Alltag außerhalb der Politik noch jemandem vermittelbar ist. Vor allem aber, ob diese Kennzeichen nicht dazu führen, dass eine gefährlich große Zahl von Bürgern die parlamentarische Demokratie mit einem im Kern wenig effizienten und deswegen wenig attraktiven Staat in Verbindung bringt. R. findet diesen Eindruck ungerecht, und man kann ihn auch verstehen: Demokratische Prozesse seien nun mal mühsam, aber sie hätten ganz viel mit den Wählern zu tun.

Der stärkste Antrieb zur Veränderung komme nämlich gar nicht von der Politik, sondern von der Gesellschaft: »Diese Gesellschaft wächst immer dann über sich hinaus, wenn sie der Politik ganz deutlich machen kann, was sie will.« R. ist sich sicher, dass man Deutschland schon innerhalb eines Jahrzehnts gründlich verändern könnte. So sei es zum Beispiel möglich, einen ausgeglichenen Haushalt hinzubekommen, man könne sogar vom Leitbild des Wirtschaftswachstums Abschied nehmen. Nur müsse es dann auch einen Konsens im Land geben, ein bisschen weniger materiellen Wohlstand hinzunehmen: weniger Fernreisen, weniger Energieverbrauch, geringere Rentenzahlungen. »Das kann man haben«, sagt R. »Und ich bin sogar sicher: Die Menschen in Deutschland wären nicht unglücklicher.«

Klingt so, als seien nicht wir die Getriebenen der Politik, sondern als würden die Politiker letztlich von uns getrieben. Und selbst wenn R. hier übertreiben sollte, ist doch die Botschaft klar: Wir, die Bürger, haben viel Macht.

Es merkt nur keiner.