Ein Vorwort
Wir kennen uns seit 25 Jahren. In dieser Zeit haben wir einiges geteilt und vieles besprochen: Trennungen, Erfolge, Ängste, Fluchten, Kinderwünsche, Leidenschaften, Todesfälle in der Familie. Einmal haben wir uns gemeinsam in einer Bürgerinitiative gegen Rechtsextremismus engagiert. Nur ein einziges Thema haben wir immer sorgsam ausgespart, vielleicht müsste man eher sagen: nie in Worte gefasst, denn es ist aus allen anderen Lebenserfahrungen kaum herauszuhalten. Wir haben nie darüber gesprochen, an welche Werte wir glauben und für welche Werte wir einstehen würden.
Das ist seltsam, nicht wahr? Aber woran liegt das?
Es trifft vielleicht zu, dass Bekennermut nicht die Stärke der heute Vierzig- oder Fünfzigjährigen ist, unserer Generation. Doch es gibt da noch ein Problem. Jeder klangvolle Begriff (und gehört das Wort »Werte« denn nicht zu den klangvollsten?) ist so oft benutzt und missbraucht worden, dass einem schon das Aussprechen gleichzeitig pathetisch und leer vorkommt. Auf unseren Klassenfeten wurden noch die Platten einer Berliner Anarcho-Band gespielt, die in eines ihrer Booklets den schönen Satz geschrieben hatte:
»Wie kann ich dir sagen, dass ich dich liebe?
Nachdem ich gehört hab: ›Autos lieben Shell‹?«
Aber diese Begründungen sind, wenn überhaupt, nur ein Teil der Wahrheit. Am schlimmsten an der Vorstellung, sich auf Werte festzulegen, sie gar zu propagieren, ist die drohende Aussicht, als Tugendbold Hohn und Spott ausgesetzt zu sein oder ein Leben lang daran gemessen zu werden, was man selbst einst eingefordert hatte. Es gibt nur sehr wenige, die dem standhalten könnten. Wir gehören mit Sicherheit nicht zu ihnen.
Seit einigen Jahren sind jüngere Menschen dabei, die Schlüsselstellen in unserem Staat zu besetzen. Bezeichnend ist, dass ihnen allen – von Philipp Rösler, dem Gesundheitsminister in der schwarz-gelben Regierung, über Sigmar Gabriel, dem vorerst letzten Hoffnungsträger der SPD, bis hin zu Reinhold Beckmann, dem Fernsehjournalisten der ARD – etwas attestiert wird, was sogleich als Schwäche erscheint: sie seien pragmatisch und dabei so flexibel, dass sie ihre Haltungen immer wieder justierten, je nachdem, was gerade opportun ist, also kollektiv unfähig, auf die Frage zu antworten: Wofür stehst Du eigentlich?
Die Frage provoziert Abwehr, und das ist verständlich: Sie ist voller Vorwurf, sie dient manchmal, wenn sie von Älteren gestellt wird, auch zur Überhöhung der eigenen Generation. Und sie ist leider auch nur von einigen Helden und Heldinnen oder von etwas tumben Menschen immer eindeutig zu beantworten. Die großen Themen unserer Zeit – Klimawandel, Überbevölkerung oder Gerechtigkeit – sind nicht nur gewaltig groß, sie sind auch unfassbar kompliziert. Die Vielschichtigkeit der Probleme und ihre monströsen Ausmaße machen offenbar ohnmächtig oder etwas feige oder beides zugleich.
Es gibt in Deutschland einen massenhaften Rückzug aus gesellschaftlicher Verantwortung, was allein schon daran sichtbar wird, wie wenig Auswahl es bei der Besetzung der meisten politischen Ämter gibt, von den Kommunen bis in die Parlamente. Und daran, wie viele Menschen selbst noch den kleinsten Schritt der Teilhabe am Ganzen scheuen: den Gang an die Wahlurne, alle paar Jahre. Ja, selbst Politiker in höchsten Ämtern scheinen bisweilen die Last der politischen Verantwortung abschütteln zu wollen, wie im Jahr 2010 die Fälle Koch, Köhler und von Beust zeigten.
Was hilft dagegen?
Jedenfalls kein Kanon neuer Werte – die altbekannten wie Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit oder Bewahrung der Schöpfung sind fordernd genug. Und bitte auch kein Handbuch der Alltagsmoral! Wer von diesem Buch einen Leitfaden, Anweisungen und Tipps für das eigene Leben erwartet, vielleicht sogar ein vollständiges Kompendium von Werten für alle Lebenslagen – der legt es am besten jetzt aus der Hand!
Von uns kommt erst einmal das Eingeständnis einer Schwäche, nämlich das Bekenntnis der eigenen Ambivalenz. Aus kaum einer Krise oder Konfrontation, sei sie beruflich, privat oder politisch, kommt man mit nur einer einzigen Erkenntnis heraus, oft aber mit vielen Widersprüchen. Aber das zu akzeptieren, ist am Ende keine Schwäche, sondern eine Stärke.
Beim Versuch, zu beschreiben, was uns wichtig ist im Leben und was uns fehlt, haben wir uns an unsere eigene Erfahrungswelt gehalten. Es war unvermeidlich, dass wir dabei viel von uns preisgeben mussten, mehr als wir uns am Anfang vorgestellt hatten – und oft mehr als uns lieb war. Anders aber scheint uns ein Buch wie dieses nicht glaubwürdig zu sein. Es ist deshalb auch eine Inventur geworden: Was haben wir erlebt? Was regt uns noch auf? Wo haben wir uns davongestohlen? Wann belügen wir uns?
Überall in der Gesellschaft ist eine große Sehnsucht nach Klarheit, nach Führung und Eindeutigkeit zu spüren. Wir kennen das von uns selbst. Dieses Bedürfnis ist indes kaum zu erfüllen: Es führt in die Irre, wenn man nur dem Leben ständig mit Moral entgegentritt, es muss ja auch die Moral dem Leben standhalten.
Viele Menschen fühlen sich deswegen orientierungslos. Einige suchen Halt in Heilslehren, weitaus mehr (was in jedem Fall ungefährlicher ist) in Ratgebern. Andere flüchten sich in Zynismus. Und wir? Relativieren wir mit unserem Bekenntnis zur Ambivalenz Werte und entwerten sie damit?
Nein, denn wir wissen sehr wohl, dass man auch heute noch in vielen Situationen sehr klar zwischen Gut und Böse unterscheiden kann – und muss. Wir haben nur versucht, ehrlich zu bleiben: Es reicht nicht, die richtigen Maßstäbe im Leben zu finden. Man muss sie auch vermitteln können, sie mit sich und anderen immer wieder ausmachen.
Wir sind aber auch getrieben von dem Wunsch, der durch Erklärungsversuche aller Art vertuschten Gleichgültigkeit vieler Menschen gegenüber anderen, der Gesellschaft und dem Staat etwas entgegenzusetzen.
Die meisten von uns leben in einem Umfeld, das von ihnen fast nie tief greifende Wert-Entscheidungen verlangt. Wer von uns muss je sein Leben, seinen Wohlstand, die Sicherheit seiner Familie aufs Spiel setzen, indem er für etwas Gerechtes eintritt: einen Menschen vor der Verfolgung durch die Polizei einer Diktatur verstecken oder sich gegen Schläger stellen, die andere bedrohen, oder an einer Demonstration teilnehmen, deren Teilnehmer damit rechnen müssen, im Gefängnis zu landen? Wie viele von uns verzichten auf etwas Wichtiges, weil ihnen ein moralischer Aspekt noch wichtiger ist?
Aber gerade weil wir so wenig riskieren, darf man von uns etwas erwarten: dass wir uns jeden Tag erinnern, wofür wir stehen möchten, ein bewusstes Leben führen, uns der Momente entsinnen, an denen wir den eigenen Werten nicht gewachsen waren und von uns selbst verlangen, es beim nächsten Mal besser zu machen. Dieses Buch versucht das in Texten unterschiedlicher Art, Erinnerungen, Anmerkungen, kurzen Essays, vor allem aber in Geschichten, die wir abwechselnd erzählen. Sie sollen, so verschieden sie auch ausgefallen sind, ein Plädoyer sein gegen die Gleichgültigkeit.
Unsere Texte unterscheiden sich, wie man beim Lesen schnell erkennen wird, im Schrifttyp.