Edward A. Byers
Taktik der
Verzweiflung
Weit drüben im Westen leuchteten die Wolken in der Sonne von Verde orange und karmesinrot auf. Zwanzig Grad nördlich vom Äquator war es am späten Nachmittag windig und warm. Mit einer Vorahnung bevorstehenden Unheils sah ich zu, wie die Pflanzen aus dem Sternentor purzelten und, ein Gewirr von Armen und Beinen, in dem tiefen Gras ausgestreckt hinfielen.
„Das sind alle von ihnen“, sagte Oberst Shagata. Er stand da, stocksteif aufgerichtet, das graue Haar kurzgeschnitten, die Augen kalt funkelnd. Kein angenehmer Patron. Jemand, dem man nicht gerne in einer einsamen Gasse begegnen würde.
Ich hatte die Pflanzen gezählt. Es waren dreißig: der berühmte Panther-Zug. Auf der Wiese unter dem Sternentor stapften sie wie Schlafwandler umher, ihre Bewegungen zeichneten sich durch eine unbeholfene, kindhafte Knochenlosigkeit aus. Energiewaffen, die ausgereicht hätten, eine Stadt in Trümmer zu legen, hingen ihnen nutzlos von der Schulter.
Sie waren, so versicherte mir Shagata, die Creme de la creme, die Elite der Königlichen Marineinfanterie.
Mag sein, vielleicht …
Zwei Farbtupfer zeigten sich beim Zusehen auf Shagatas Wangen. Er öffnete den Mund, dann schloß er ihn knirschend wieder. Schließlich schritt er nach vorn, das Sonnenlicht fing sich auf dem Metall seiner Epauletten, dem spiegelnden Glanz seiner Stiefel. Ein moderner Konquistador, dachte ich düster, ein japanischer Pizarro.
Er ging zum nächsten Soldaten hin, ergriff ihn gewaltsam am Kragen, drehte ihn zu sich herum. Als er ihm ins schlaffe Gesicht schlug, zeigte sich auf seinem eigenen eine schneidende Verachtung.
„Das hilft nichts“, sagte ich zu ihm. „Es dauert mindestens eine halbe Stunde, bis die Wirkung der Medikamente abklingt.“
Er blickte mich voller Abscheu an. „Die Medikamente waren Ihre Idee, nicht wahr?“
Ich erwiderte seinen feindseligen Blick, dann zuckte ich die Achseln. „Natürlich. Es gibt keinen anderen Weg durch das Tor.“
Er ließ den Soldaten los und sah ihm zu, wie er in schlottriger Haltung weiterging, die Muskeln schlaff, ohne Koordination, das Gehirn fast ganz ausgeschaltet. Eine Schande, wenn auch nur eine zeitweilige, für die Uniform, die er trug.
Shagata musterte seine Armee von Idioten und stand noch aufrechter. Plötzlich wurde er weiß im Gesicht – ihm war ein Einfall gekommen. „Um Himmels willen, Kirst“, sagte er. „Habe ich mich auch so aufgeführt wie … dieser da?“ Sein Gesichtsausdruck verriet deutlich seine Gedanken. Er dachte daran, wie er mit glasigen Augen hilflos gestrandet war. Er stellte sich vor, wie ich ihn beobachtete – das vielleicht in erster Linie. Ich hatte ihn in seiner Schwäche gesehen.
Ich blickte ihn an und grinste. „Falls Sie nicht … so gewesen wären, Oberst, wären Sie nicht hier. So einfach ist das. Das ist der Preis, den man für die Benutzung des Sternentores bezahlt.“
„Dann ist der Preis zu hoch!“
„Ich habe Sie nicht hierher eingeladen“, erwiderte ich mit deutlichem Sarkasmus. Dann zuckte ich die Schultern. Er war seit einer Stunde auf Verde, ich seit einem Jahr. Es gab keinen Preis, der zu hoch war; er hatte unrecht, aber jetzt war nicht der richtige Augenblick für eine Diskussion.
Er warf seinen Leuten einen weiteren Blick zu, strafend, dann blickte er mich an. „Ich möchte mit Ihnen sprechen, wenn wir unser Lager aufgeschlagen haben“, meinte er abrupt. Er ging dann zur Rückkehrtafel hinüber und betrachtete sie, „Sie benutzen das oft?“ wollte er wissen.
Das Artefakt aus Stahllegierung reichte Shagata bis zur Brust. An der Basis war es einen Fuß dick und verjüngte sich nach oben hin etwas. Im Sonnenschein glänzte es durchscheinend wie altes Zinn. Wenn man die Oberfläche der Platte in der richtigen Reihenfolge berührte, funktionierte das Sternentor in umgekehrter Richtung – es beförderte einen im Nu dorthin zurück, von wo man gekommen war.
„Ich habe zuweilen davon Gebrauch gemacht“, antwortete ich auf seine Frage. Ich ging zu ihm hinüber und zeigte ihm das Schema. Die Einfachheit selbst. Man lege die Hand hierhin … und hierhin … und hierhin … Man winke zum Abschied … und man hatte eine halbe Sekunde Zeit, um die Geste zu vollenden.
„Für die Rückkehr braucht man keine Medikamente, nicht wahr?“ wollte Shagata wissen.
Ich schüttelte den Kopf. „Beim ersten Ausflug habe ich ein paar mitgebracht, aber ich habe sie nicht benötigt. Anscheinend arbeiten die Sensoren bloß in einer Richtung.“
Er nickte, dann verschränkte er die Arme und blickte sich zu den hochaufragenden Bäumen um, betrachtete die Savannen, die sich bis zum Horizont erstreckten, den gewölbeartigen Himmel und die unzähligen Seen. Das alles ähnelte dem Paradies so sehr wie alles, was er je sehen würde, dachte ich. Ich fragte mich, ob er es auch so betrachtete.
Er blickte noch einen Augenblick zum glühenden Himmel auf und ignorierte ihn dann. Er legte die Hände oben flach auf die Platte und zog die Augenbrauen in die Höhe.
„Wo sind die Verdeaner?“
„Drei bis vier Meilen von hier haben sie ein Dorf“, sagte ich. „Dort lebt auch der Sachem.“
„Ach ja“, sagte Shagata beziehungsvoll, „der Sachem“.
Als überaus vorsichtiger Soldat ließ Shagata das Lager so nahe beim Sternentor errichten, daß dieses im Bedarfsfall verteidigt werden konnte. Die nächste Erhebung war eine baumbestandene Anhöhe in einer Entfernung von einer Meile. Er marschierte mit seinen Leuten dorthin, und eine Stunde lang wurde fieberhaft gearbeitet. Bis zum Anbruch der Dunkelheit war in dem Gebiet ein kleines Meer von Zelten aus dem Boden gewachsen.
Drei von Shagatas Panthern, die sich mit der Leichtfüßigkeit trainierter Athleten bewegten, legten auf der Hügelkuppe im Kreise ein Seil aus.
„Das ist ein Kele-Ring“, sagte Shagata. Er warf mir einen belustigten Blick zu. „Haben Sie davon je gehört?“
„Nein.“
„Das ist in meiner Einheit zur Tradition geworden. Es handelt sich um einen Kampfplatz für Herausforderer und Herausgeforderten. Um den Ring zu verlassen, kann man entweder als Sieger über das Seil hinwegschreiten – oder als Verlierer hinausgetragen werden. Kein Mann von Ehre verläßt den Ring, solange er noch stehen und kämpfen kann.“
Er klatschte plötzlich in die Hände. Zwei mit hölzernen Stöcken bewaffnete Panther schritten über das Seil in den Ring. Mit unbewegten Gesichtern verbeugten sie sich zuerst vor Shagata, dann voreinander.
Shagata klatschte nochmals in die Hände.
Sie sprangen aufeinander los, die Stöcke bewegten sich beinahe zu schnell, als daß man sie hätte verfolgen können.
In weniger als einer Minute war alles vorbei. Einer von ihnen machte eine Drehung und einen Ausfall, der den anderen überraschte, denn er hatte die Bewegung falsch berechnet. Es gab ein lautes Klatschen von Holz auf Knochen. Der Sieger blickte einen Augenblick auf den Mann hinunter, den er überwunden hatte, dann verbeugte er sich neuerlich vor Shagata und schritt über das Seil zurück.
„Sie bleiben natürlich zum Abendessen“, sagte Shagata und wandte sich ab.
Er stellte mir seine Untergebenen vor, einen Hauptmann mit langem Kinn namens Yamada und einen weiblichen Leutnant namens Noriko. Wie alle Panther trugen sie eine Uniform aus einem Stück von der Farbe einer nassen Robbe. Wie alle Panther waren sie sehnig und braun und sahen immens tüchtig aus. Als ich ihnen die Hand schüttelte, drang mir der verlockende Geruch und das Brutzeln von Steaks auf dem Grill in die Nase. Mein letztes Steak hatte ich vor einem Jahr gegessen. Ich hatte vorgehabt, Shagatas Einladung abzulehnen, aber jetzt lächelte ich. Das Wasser lief mir im Mund zusammen. Ich kam zu dem Schluß, daß Erpressung eine Kunst sein konnte.
Wir aßen alle an einem kleinen, in Shagatas Zelt aufgestellten Tisch. Eine der Zeltwände war geöffnet worden, um uns die Aussicht auf Verdes prächtigen Sonnenuntergang zu ermöglichen.
Für einen Augenblick von vielleicht einer Minute, unmittelbar bevor es dunkel wurde, zeigte sich ein goldener Dämmerschein, als das Licht die Wolken erhellte. Der Wind wurde heftiger und umströmte uns seidig. Die Schatten der großen Bäume färbten sich hell wie Jade und Türkis, ehe sie mit dem Hintergrund verschmolzen. Ich hielt den Atem an. Es war Zauberei – doch eine, die sich auf Verde jeden Tag ereignete. Shagata hatte keinen Blick dafür.
Er sprach in den Kommunikator an seinem Kragen, und einen Augenblick später gab es ein wild zischendes Krachen. Die Bäume waren noch immer sichtbar, aber nur noch in Umrissen. Die Geräusche der Nacht waren verschwunden.
Ich blickte ihn über den Tisch hinweg an. „Ist eine Repulsorblase notwendig, Oberst? Was kann Sie hier schon … angreifen?“
Die Repulsorfelder waren im Erdkrieg entwickelt worden. Es handelte sich dabei um ein passives System, das gegen Energiewaffen schützte. Sein größter Nachteil bestand darin, daß es sich nicht bewegen ließ, ohne in seinem Energiefeld Wellen auszulösen. Wenn die Wellen stark genug wurden, verwandelte es sich in eine Bombe. Repulsorfelder waren auch unmäßige Sauerstofffresser, sie verwandelten die Moleküle in unstabile Ozonallotrope und verpesteten die Luft mit den daraus entstehenden Ozoniden. Vierundzwanzig Stunden unter einer Repulsorblase, und man stank buchstäblich.
Shagata zuckte bloß die Achseln und ließ sich nicht beim Essen stören.
„Es ist eine Gewohnheit, Kirst. Ich gehe immer auf Nummer Sicher. Ich kenne diese Welt nicht so gut wie Sie.“
Nein. Jetzt nicht und nicht in einem Jahrhundert.
Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann legte der Hauptmann mit dem langen Kinn die Gabel nieder. Er warf mir einen ernsten Blick zu. „Entschuldigen Sie, Dr. Kirst. Ich habe natürlich ein bißchen was über das Sternentor gelesen … ich verstehe jedoch nicht, warum man uns unter Medikamentenwirkung setzen mußte, bevor wir uns seiner bedienen konnten.“
Ich nickte und erklärte es so kurz wie möglich. Das Tor war ein Artefakt außerirdischer Wesen, seine Erbauer waren noch unbekannt. Die Münze ihres kosmischen Drehkreuzes schien aus einem einzigen Metall zu bestehen: einem kultivierten Geist, der genügend hoch entwickelt war, daß er keine Raubtierinstinkte mehr kannte. Die Menschheit (mit einigen Ausnahmen vielleicht) genügte diesen Kriterien nicht. Daher die Medikamente. Sie dienten dazu, die Triebregungen zu dämpfen. Dadurch wurde es dem Menschen möglich, das Tor zu benutzen, ohne die Sensoren auszulösen, die die Außerirdischen eingebaut hatten.
Hauptmann Yamada dachte darüber nach. Nach einem Augenblick bewegte er sein langes Kinn und lachte. „Sie haben also sozusagen eine kosmische Falschmünze erfunden.“
Ich nickte zustimmend. Das war eine hinreichende Erklärung für einen Satz.
Shagata gestattete sich ein Lächeln und wechselte das Thema.
„Ich weiß, daß Sie gegen diese Expeditionsstreitmacht waren, Kirst. ‚Unerwünscht, unbrauchbar und unnötig‘ nannten Sie sie, wenn ich nicht irre. Haben Sie Ihre Ansicht geändert?“
Ich rutschte im Sessel herum. „Wenn Sie soviel von meinem Bericht gelesen haben, kennen Sie auch alles übrige. Ich habe meine Ansichten nicht geändert.“
Shagata hörte zu essen auf. Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und blies den Rauch in die Luft. Schließlich sagte er langsam: „Der übrige Teil des Berichtes beschrieb die Streitmacht, die Sie im Sinne hatten.“
Yamada und Leutnant Noriko blickten uns verständnislos an, und ich aß zu Ende. Es war ein gutes Steak. Ich hatte keine Ahnung, wann ich wieder eines essen würde.
Shagata blickte auf seine Zigarette hinab und dann zu mir auf. Zarte Rauchketten schwebten durch die Luft.
„Leutnant Noriko“, sagte Shagata schließlich. Er drehte den Kopf ein wenig, um sie zu sehen. „Sie kennen Kirsts Ruf, nicht wahr?“
Sie warf mir einen nervösen Seitenblick zu. „Jawohl, Sir. Dr. Kirst war einer der führenden Theoretiker im Kampf gegen die Erde. Einige Militärwissenschaftler sind der Ansicht, daß wir ohne ihn den Krieg verloren hätten.“
„Das ist übertrieben“, murmelte Shagata, „aber fahren Sie fort.“
„Nun, wir mußten auf der Akademie nach zweien seiner Lehrbücher lernen – Techniken der Strategie und Angriffsarten.“
„Waren sie für Sie aufschlußreich?“
„Jawohl, Sir.“
„Na also“, meinte Shagata, „dann könnten seine Empfehlungen für eine Expeditionsstreitmacht auf Verde für Sie interessant sein.“
Noriko drehte den Kopf zu mir hin, dann zu ihrem vorgesetzten Offizier zurück. „Jawohl, Sir.“
Shagata lehnte sich im Sessel zurück. „Sein Vorschlag, Leutnant, ging dahin, daß alle Expeditionskräfte, die das Sternentor benützten, aus Philosophen oder Dichtern bestehen sollten. Überhaupt kein Militär darunter. Was halten Sie davon?“ Er zog die Augenbrauen hoch und starrte die jüngere Rangniedere nachdenklich an. Ihr unmittelbar zur Linken, holte Yamada eine Zigarre aus einer versteckten Reserve hervor und nützte die Zeit, um sie sorgfältig zu betrachten. Sein längliches Gesicht verriet keinerlei Regung.
Das Mädchen runzelte die Augenbrauen. „Verstehe ich nicht.“
„Die Marine hat es auch nicht verstanden“, bemerkte Shagata trocken. Er schenkte sich einen Becher Tee aus der Flasche ein und nippte daran. Seine Augen, die schwärzesten, die mir je untergekommen waren, starrten mich über den Becherrand an.
Ich zuckte die Achseln. „Meine Ansichten haben sich nicht geändert. Ich sehe noch immer keinen Grund für einen militärischen Stützpunkt hier. Was bewachen Sie?“
Shagata stellte den Becher nieder. „Natürlich das Sternentor – und unsere hiesigen Vertreter.“
„Ich bin der einzige Vertreter hier“, sagte ich. „Und Sie können das Sternentor auf der anderen Seite bewachen.“
Shagata blickte seine Zigarette an, auf der sich ein Zoll grauer Asche gebildet hatte. Dann schenkte er mir ein ironisches Lächeln und füllte seinen Becher neu.
„Das Sternentor war nie als militärische Startbasis vorgesehen“, erklärte ich müde. „Eine militärische Streitmacht hier könnte verheerende Folgen nach sich ziehen. Das habe ich in meinem Bericht deutlich gesagt.“ Ich hielt inne. Ich verschwendete meinen Atem; Shagata hatte nicht die leiseste Absicht, kehrtzumachen und heimzukehren.
„Wir sind nicht hier, um etwas in die Wege zu leiten“, sagte Shagata plötzlich. „Wir sind bloß zum Beobachten da.“
„Wie oft haben Soldaten dergleichen erklärt?“
Er zuckte die Achseln, und wir verstummten alle. Ein paar Augenblicke später löste er die Spannung, indem er die Handflächen aneinanderrieb und die Zigarette auslöschte. Er blickte mich über den Tisch hinweg an.
„Erzählen Sie uns von den Eingeborenen.“
Ich kam seiner Aufforderung nach. Die Verdeaner waren kleine Lebewesen, das größte nicht größer als vier Fuß. Sie hatten längliche Schädel und kleine, ebenmäßige Zähne. Sie waren olivfarbig, und ihre Haut war von einem daunigen Fell bedeckt. Auf Verde gab es rund eine halbe Million von ihnen.
„Sind sie friedfertig?“
„Ja.“
„Und der Sachem?“
Dieselbe Beschreibung, bloß mit dem Faktor zwei multipliziert. Rund acht Fuß groß, mit einem breiteren, flacheren Schädel. Die Zähne waren kleine Säbel. Das Fell hatte die Farbe unreifer Äpfel und bildete einen dichten, enggewachsenen Pelz.
„Dieses große Wesen ist intelligent, nicht wahr?“
Ich starrte Shagata an. An Kreuzverhöre war ich nicht gewöhnt und mußte feststellen, daß sie mir auch nicht gefielen. Ich schloß den Mund und wartete ab, um herauszufinden, ob er seine Frage wiederholen würde.
„Ist er so intelligent wie wir?“ Shagatas Finger beschrieben einen kleinen Kreis.
„Das ist wahrscheinlich“, sagte ich. „Vielleicht sogar intelligenter. Über einem gewissen Niveau gibt es für Intelligenz keinen Maßstab. Es gibt auch keinen für bestimmte Arten von Intelligenz.“
„Ich verstehe“, sagte Shagata. „Argument akzeptiert. Warum gibt es eine halbe Million von den kleinen Verdeanern und nur einen Sachem? Befremdet Sie das nicht?“
„Das ist eines der Rätsel der Spezies, Oberst. Eines von vielen. Es hat immer einen Sachem gegeben – obwohl die Prozedur, die bei seiner Hervorbringung eingehalten wird, noch immer ungeklärt ist. Was seine Funktion betrifft, so besteht sie augenscheinlich darin, daß er sich um die anderen kümmert, sie anleitet. Es gibt hier keine großen Raubtiere, daher kommt er selten in die Lage, sie verteidigen zu müssen.“
„Manche Insektenarten wählen sich aus ihrer Mitte eine Königin aus“, warf Yamada ein. „Vielleicht ist so etwas Ähnliches auch beim Sachem hier auf Verde der Fall.“
„Vielleicht“, sagte ich. Aber ich glaubte es nicht. Zu vieles ließ sich nicht zusammenreimen.
Shagata erhob sich und schritt auf und ab, das Gesicht verschlossen, die Bewegungen kurz und abgehackt. Nach einer Weile hielt er inne und wandte sich mir zu.
„Kirst, ich möchte, daß Leutnant Noriko Sie begleitet, wenn Sie zum Dorf der Verdeaner zurückkehren. Sie wird als Verbindungsoffizier zwischen Ihnen und dieser Einheit fungieren. Sie kann Ihre Buchhaltung übernehmen oder welche Pflichten auch immer Sie ihr zuweisen. Sie werden feststellen, daß sie eine sehr intelligente Frau ist. Sie ist auch außergewöhnlich gründlich.“
„Das bezweifle ich nicht“, sagte ich trocken. Ich hielt meinen Teebecher fest umklammert und blickte ihn an. Dann brach ein tief aus meinem Inneren kommender Zorn in mir durch. „Haben Sie eine Ahnung, wie arrogant Sie sind, Oberst? Sind das Befehle oder bloße Vorschläge?“
Seine Mundlinie verhärtete sich. Er tat zwei Schritte und starrte geistesabwesend durch die Repulsorblase. Ein unbeugsamer Mann, dachte ich. Brüchig wie Eisen, hart wie Eisen. Er würde eher brechen als sich beugen.
„Fassen Sie es als Vorschlag auf“, sagte er, ohne sich umzudrehen.
„In dem Fall, nein, danke. Meine Entschuldigung der Dame, aber ich brauche keinen Spion in meinem Lager.“
„Und wenn es ein Befehl gewesen wäre?“ Er wandte den Kopf und zog eine Augenbraue hoch.
„Hätte ich mich über ihn hinweggesetzt. Ich hoffe, es ist Ihnen klar, Oberst, daß ich Ihrem Befehl nicht unterstehe. Ich werde Ihren Befehlen nicht nachkommen.“
Shagata setzte sich wieder. Er holte eine frische Zigarette hervor und betrachtete sie kritisch.
„Das ist Ihr gutes Recht. Natürlich hat Ihre Verweigerung der Zusammenarbeit zu bedeuten, daß ich mein eigenes Verbindungsteam aufstellen werde. Höchstwahrscheinlich eine Gruppe von Marineinfanteristen unter einem Feldwebel. Das könnte sich als unglückselig erweisen. Es würde ihnen wahrscheinlich Ihr … Feingefühl abgehen. Sie haben die Wahl, Kirst.“
Er warf mir ein höfliches Lächeln zu.
Erpressung kann auch als Keule kommen.
Ich ging im Geiste die mir offenstehenden Möglichkeiten durch. Korrektur. Es war die Einzahl. Möglichkeit. Ich starrte Shagata intensiv an. Er war kein Feind – bis jetzt zumindest noch nicht. Er war jedoch ein Gegenspieler, und es wäre ein Irrtum, ihn zu unterschätzen. Nach kurzer Überlegung zuckte ich die Schultern und nickte ihm zu.
„Es bleibt bei Leutnant Noriko“, erwiderte ich.
„Fein.“ Er zündete sich die neue Zigarette an und steckte das Feuerzeug ein. „Sie kann in einer Stunde fertig sein. Ist Ihnen das recht?“
„Durchaus“, erwiderte ich. Ich schaute das Mädchen an. „Ich hoffe, die einheimische Küche sagt Ihnen zu, Leutnant.“
Das Dorf war kaum groß genug, um den Namen zu verdienen. Es bestand aus einem Dutzend laubgedeckter Hütten und einem grasbestandenen Dorfplatz. Es war von hohen Vorgebirgen und hochaufragenden, dickstämmigen Bäumen umgeben. Da das einzige Licht von Verdes Mond kam, der eine niedrige Albedo hatte, lag alles im Schatten. Für jemanden, der mit dem Gelände nicht vertraut war, wäre das Dorf unsichtbar gewesen.
Ich faßte Noriko an der Schulter und hielt sie vor einer der dunkleren Erhebungen zurück. „Das ist meine Hütte“, sagte ich zu ihr. Ich schaltete eine tragbare Lampe ein und zeigte ihr, wo sie ihr Zeug hinlegen konnte.
Die Hütte war hinlänglich groß, rund dreieinhalb mal vier Meter, aber beinahe der ganze Innenraum wurde von der Ausrüstung eingenommen, die ich durch das Sternentor mitgebracht hatte. Noriko betrachtete die Stöße von Büchern und Tonkassetten, den Tisch, der von Gesteinsproben überquoll, den Forschungscomputer in seinem Schrein aus Duroplastik. An einer Wand befanden sich die einzigen Zugeständnisse an die Häuslichkeit, ein zerdrücktes Feldbett und eine zerschrammte Kiste. Sie schloß ihre Musterung ab und lächelte mir verschmitzt zu.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Dr. Kirst, schlafe ich im Freien. Ich bin daran gewöhnt.“
Neben dem Feldtisch befand sich ein einziger Sessel. Ich schwenkte ihn herum, ließ mich in ihn fallen und schenkte ihr dann meine volle Aufmerksamkeit. Sie war nicht nett – dazu war sie unter Straßenbanden hart geworden und ein anderer Menschenschlag als ihr Kommandant. Stahlfedern anstatt kaltes Eisen. Sie würde nicht brechen, sondern sich wie eine Reitgerte biegen. Sie hatte ein schmales, ovales Gesicht, das ständig einen ironischen Ausdruck trug. Klug, dachte ich, nicht bloß intelligent.
„Brandy, Leutnant?“ Ich öffnete die Kiste und holte eine halbleere Flasche mit zwei Gläser hervor.
„Nein, danke, Doktor.“ Sie sah leicht entschuldigend drein. „Ich trinke nicht.“
„Da wir einige Zeit zusammen sein werden, nennen Sie mich besser Pan“, sagte ich. Ich stellte eines der Gläser zurück und füllte das zweite. Dann nahm ich einen Schluck und blickte zu ihr auf.
„Was hat Ihnen Shagata über mich erzählt? Daß ich gegen das Militär bin? Gegen die Marine?“
Sie starrte mich unbehaglich an. „Ich würde es vorziehen, nicht davon zu sprechen, was Oberst Shagata gesagt oder nicht gesagt hat. Er hat eine Lagebesprechung abgehalten, aber sie war vertraulich.“
„Da Sie nicht darüber sprechen wollen, kann es nichts Schmeichelhaftes gewesen sein“, sagte ich. Ich warf ihr einen finsteren Blick zu. „Er hätte jedoch recht gehabt. Ich bin gegen das Militär.“
Sie bewegte den Fuß etwas, starrte die Hände an. Dann steckte sie sie in die Taschen.
„Ich hätte geglaubt …“ setzte sie an, stockte dann aber.
„Was hätten Sie geglaubt?“
„Nun, daß Sie, wenn überhaupt, für das Militär wären. Schließlich waren Sie Taktiker. Sie und ein bis zwei andere haben buchstäblich den Krieg gegen die Erde geführt.“
Ich hielt die Augen auf ihr Gesicht gerichtet. Im Inneren spürte ich, wie sich der alte Zorn regte. Ich trank den Brandy aus und bemühte mich, mir den Zorn nicht an den Augen anmerken zu lassen. Ich war Taktiker, das stimmt. Ich habe die Flotten gegen die Erde geführt – und an ihrem Weg lagen die Trümmer dieses Einsatzes. Die Erde selbst war von der Pest überzogen, und diejenigen, die überlebten, hatten ihr Überleben gewiß nicht mir zu verdanken, ganz im Gegenteil.
Pan Kirst – Todbringer?
Sobald der Krieg vorüber war und ich sicher war, daß wir gewonnen hatten, war ich dumm genug, mir einzubilden, ich könnte alles vergessen, mich in der Forschung vergraben, in der Arbeit aufgehen.
Es war natürlich nicht so einfach. Das ist es nie. Der Krieg verfolgte mich, drückte mir seinen Stempel auf. Es gab einige, eine Handvoll, die mich meiner Handlungen wegen für schuldig hielten, für schuldig an den Millionen Toten – den Träumen, die nie in Erfüllung gehen würden.
Leider – für meinen Seelenfrieden – gehörte ich zu dieser Handvoll.
„Erzählen Sie mir von Shagata“, sagte ich, schärfer als beabsichtigt. „Ist er wirklich aus Stein, oder wirkt er bloß auf mich so?“
Sie lachte. „Haben Sie von den Panthern gehört?“
„Ja, Geschichten.“
Sie nickte. „Sie sind wahr, zumindest die meisten von ihnen. Oberst Shagata hat den Kehricht, die leeren Hülsen, den menschlichen Abfall, der von den anderen Waffengattungen des Neuen Nippon ausgestoßen wurde, zusammengesammelt – und formte aus ihnen eine der berühmtesten Kampfeinheiten in den Außenwelten.“
„Und Shagata geht ihnen mit seinem Beispiel voran?“
„Das stimmt. Er ist ein Meister der martialischen Künste. Sind Ihnen die Samurais ein Begriff, Dr. Kirst?“
„Ja.“
„Oberst Shagata hält sich für eine moderne Ausgabe dieses uralten Kriegers. Er glaubt an Bushido, den Ehrenkodex der Samurai.“
„Warum hat er eine so große Abneigung gegen mich? Man müßte blind sein, es nicht zu bemerken.“
Sie nickte wiederum. „Sie haben Männer in den Tod geschickt, aber nicht selbst gekämpft. In seinen Augen mangelt es Ihnen an Ehrenhaftigkeit.“
„Und die Panther“, sagte ich, „was ist mit ihnen?“
Sie lächelte. „Sie sind seine verlängerten Arme. Sie würden buchstäblich alles für ihn tun.“
„Ich verstehe. Und wie steht es mit Ihnen, Leutnant? Würden Sie für Oberst Shagata alles tun?“
Sie warf mir einen herausfordernden Blick zu. „Ich bin Marineoffizier, Dr. Kirst. Das in erster Linie. Und in Zweiter … bin ich ein Panther.“
Und das, dachte ich düster, sagte alles.
In der kühlen Helligkeit des Morgens sah alles ein bißchen freundlicher aus. Draußen vor der Hütte fiel leichter Regen. Tropfen glitzerten auf den Blättern der Bäume. Vögel zwitscherten. Der Morgennebel war verschwunden.
Ich wandte mich um und schenkte meine Aufmerksamkeit Morge, der mich mit einer mürrischen Abart von Geduld betrachtete.
Verdeaner waren keine Menschen, obwohl es gewisse oberflächliche Ähnlichkeiten gab. Sie waren zweifüßig und hatten entgegengestellte Daumen (wenn auch nur drei Finger). Ihre knochigen Köpfe drehten sich wie die von Vögeln auf langen, dünnen Hälsen. Horizontal über ihren Nasen verlief ein dunkler Streifen chitinösen Materials – ihr Sehorgan.
Morges Finger bewegten sich mit geübter Geschwindigkeit, er redete mit mir in der Pidgin-Zeichensprache.
„Ihre Freundin bleibt nicht bei Ihnen?“
„Sie hat es vorgezogen, draußen zu schlafen“, sagte ich. „Ich hoffe, sie ist nicht naß geworden.“ Zwar konnten sie nicht Englisch sprechen, aber die Verdeaner hatten ein ausgezeichnetes Gehör, und einige von ihnen hatten sich Brocken der Sprache angeeignet. Morges Vokabular umfaßte mehr als dreihundert Worte.
„Sie ist nicht naß geworden“, teilte er mir durch Zeichen mit. „Sie hat unter einem Tobukbaum geschlafen.“
Ich nickte und ging zum Eingang. „Besuchen wir den Sachem“, sagte ich.
Wir fanden ihn vor der größten Hütte, er kauerte vor der gemeinschaftlichen Nahrungsmittelschüssel. Bei ihm befand sich, an die Stütze der Hütte gelehnt, Noriko.
„Guten Morgen, Sir … äh … Pan.“
Sie blickte gerade lange genug auf, um mir ein Lächeln zuzuwerfen, dann lenkte sie ihren Blick auf den Sachem zurück. „In nahezu einer Stunde hat er sich kein einziges Mal bewegt“, sagte sie. Die Ehrfurcht in ihrer Stimme war unverkennbar.
Ich zuckte die Achseln und ließ mich mit gekreuzten Beinen unmittelbar links vor den ausgestreckten Füßen des Sachem nieder.
„Ich habe gesehen, daß er tagelang die Lage nicht gewechselt hat“, sagte ich. Ich studierte den lebenden Berg vor mir und verspürte ebenso eine ununterdrückbare Ehrfurcht.
Sein verdeanischer Name war Cirlos, was „Er, der lehrt“ zu bedeuten hatte. In seinem breiten Schatten vor ihm sitzend, kam ich mir wie ein Pygmäe vor, der eine Sequoia aufsucht. Der Sachem war riesig. Darüber hinaus war er gelassen, monumental, ein lebendes Wesen, das irgendwie den Stempel des Göttlichen trug.
Wir warteten. Cirlos atmete ein und aus, flach, aber regelmäßig. Von Zeit zu Zeit strömte, regelmäßig wie ein Metronom, Luft ruhig durch seine Nasenlöcher.
„Cirlos weg“, signalisierte Morge. Rechts von Noriko hatte er seine geduldige Wartehaltung eingenommen.
„Ja“, erwiderte ich.
Noriko verfolgte den Austausch, konnte die Gesten jedoch nicht lesen. Sie hockte sich neben der Stange nieder und hob eine Handvoll Staub auf, ließ ihn durch die Finger rieseln.
„Weiß er, daß wir da sind?“
„Er weiß es.“
Hinter uns tauchten, wie aus dem Boden gewachsen, mehrere andere Verdeaner auf. Sie begannen eine lebhafte Unterhaltung, die Frequenz war jedoch für menschliche Ohren viel zu hoch.
Eine weitere Stunde kroch dahin. Cirlos zeigte außer dem Atem keine andere Bewegung. Nach weiteren fünfzehn Minuten wurde das Mädchen unruhig.
„Sind Sie sicher, daß er weiß, daß wir da sind?“
Morge signalisierte eine Antwort, und ich übersetzte sie ihr.
„Sir, Cirlos weiß es. Er sieht. Er hört. Er schenkt Ihnen kurze Aufmerksamkeit. Wie den Blumen. Wie dem Gras, wie mir … wie Bof hier.“ Er brach ab und berührte einen anderen Verdeaner.
„Lieber Gott!“ stieß Noriko hervor. Sie warf mir mit ihrem Harte-Burschen-Gesicht schnell einen Blick zu, hob eine weitere Handvoll Staub auf, ließ ihn fallen und rieb die Hände aneinander. „Sagen Sie mir nochmals, wie sie sehen“, sagte sie. „Daß ich ihnen nicht in die Augen sehen kann, macht mich nervös.“
Es hatte auch mich nervös gemacht, als es mir zum ersten Mal begegnet war. Unsere Augen vermitteln soviel an menschlichem Ausdruck, daß ihr Fehlen beunruhigend wirkt.
Die Verdeaner nahmen die Wellenlänge des sichtbaren Lichts nicht wahr. Die chitinösen Streifen, die ihnen als Augen dienten, fokussierten eine gänzlich andere Art von Energie – Lebensquanten. Ihr Gesichtssinn war eine heftige Wahrnehmung der sie umgebenden Lebensformen.
Verdes Biosphäre wimmelte von lebenden Organismen, einer dicken Lebenssuppe. Die Verdeaner nahmen die Mikroorganismen als Hintergrund wahr, vor dem sich die größeren Tiere (einschließlich der Menschen) als hell brennende Formen abhoben.
Es war eine interessante evolutionäre Anpassung. Die Verdeaner konnten durch gewöhnliches Fensterglas nicht hindurchsehen, aber sie konnten sich in pechschwarzer Dunkelheit so mühelos wie bei Tageslicht bewegen.
Es gab eine plötzliche Bewegung. Cirlos stellte die Schultern auf und drehte den Kopf ein wenig, so daß er auf mich hinunterschaute. Finger von Bananengröße bewegten sich mit sicherer Gewandtheit.
„Was sagt er?“ fragte Noriko. Sie entfernte sich von der Stütze und ließ sich neben mir nieder.
„Er begrüßt uns einfach“, erwiderte ich. „,Hallo – guten Morgen’ oder dergleichen.“
„Er ähnelt einem Buddha“, flüsterte sie. Sie starrte auf die massige grüne Gestalt.
„Das stimmt“, erklärte ich. Ich fragte mich kurz, ob ihr Kommunikator eingeschaltet war. Hörte Shagata zu? Ich zuckte die Achseln und wandte mich dem Sachem zu. Wir fingen unsere übliche Diskussion an. Beim Sprechen übersetzte ich seine Handbewegungen, damit das Mädchen die Diskussion verfolgen konnte. Wie immer hatte unsere Konversation viele Annäherungslinien – und genauso viele Rückzugspfade. Wir schritten leicht, vorsichtig und mit dem Gefühl gegenseitigen Respekts aus. Es gab kein Gefühl der Eile.
Für beide von uns handelte es sich um ein unerforschtes und äußerst heikles Territorium.
Ich war mir nicht sicher, was Cirlos von mir wollte, aber ich wußte ganz genau, was ich von ihm wollte. Bündig gesagt, hatte er ein Geheimnis zu verbergen, und ich hatte vor, es ihm zu entreißen.
Ich hatte bereits eine Ahnung.
Die Verdeaner standen mit Geistern in Verbindung.
Es hatte eine Zeit gegeben, da der Mann seine Höhle und seine Frau mit Hilfe des Feuers – und allen Arten von Werkzeugen – gegen seine Feinde verteidigte. Daraus entwickelte sich die Fähigkeit, logisch zu denken. Er wurde raffiniert. Er entwickelte immer nützlichere Werkzeuge. Schließlich haben Raumschiffe und Jagdspeere gemeinsame Vorläufer.
Die Verdeaner hatten einen anderen Pfad gewählt, aber einen, der sich als ebenso wirkungsvoll erwiesen hatte. Sie bildeten ein Bündnis mit einer Art Energiewesen, genauso wie Mensch und Hund ein frühes Bündnis gebildet hatten. Der Unterschied bestand darin, daß die Hunde keine unsichtbaren, quasi-intelligenten fliegenden Energiewolken sind.
Natürlich waren sie für die Verdeaner nicht unsichtbar. Weil sie Lebensquanten hatten, die sich im eigentümlichen Gesichtsfeld der Verdeaner zeigten. Ihnen mußten die Symbionten wie Riesenvögel erschienen sein, die durch die Biosphäre hin und her flitzten.
Ich nannte sie Symbionten, weil es sonst nichts gab, wie man sie hätte nennen können. Zahlenmäßig gering, war ihre Größe von beträchtlichem Unterschied. Einige waren riesig wie Schlachtschiffe, große pulsierende Massen wirbelnder Energie. Andere waren im Vergleich dazu winzig, vielleicht dreißig bis sechzig Zentimeter im Durchmesser.
Es war nicht das erste Mal (auch nicht das zweite oder dritte), daß ich mich fragte, welche Art von Zähnen sie hatten und wie sich ihr Biß anfühlen würde.
In den folgenden Tagen erlernte Noriko die Zeichensprache. Sie baute sich am Marktplatz eine Hütte und verbrachte ihre freie Zeit damit, mir bei der Analyse der Gesteinsproben zu helfen.
Ich hatte nicht versucht, mein Interesse an den Symbionten zu verbergen, und mein diensthabender Leutnant nahm den Ball auf und rannte mit ihm weiter. Man hatte mir nicht gesagt, daß sie eine elektronische Zauberin war. Sie bastelte einen Energieschirm, der von der Energiequelle des Computers gespeist wurde und die Biosphäre nach Symbionten absuchte. Sie fand keine, aber sie gab es trotzdem nicht auf.
Wie sehr sie fasziniert war, fand ich erst später heraus.
Rund eine Woche später wurde ich von Morge ziemlich grob aufgeweckt. Als ich mich betäubt aufsetzte und mein Gehirn in funktionsfähigen Zustand zu bringen trachtete, redete er mit den Händen auf mich ein. Brüllte, wenn so etwas möglich war.
„Sir, die Lady braucht Hilfe!“
„Was ist schiefgegangen?“ Ich griff nach Hose und Schuhen und verlor dabei Morges Finger nicht aus den Augen.
„Schnell, bitte! Sie kämpft mit dem Sachem!“
„O Bruder!“
Kämpfen war nicht der richtige Ausdruck für das, was los war. Ich hatte einmal einen Tiergarten besucht und einem Gorilla (einem fünfhundert Pfund Gorilla) zugesehen, wie er sein unfolgsames Kind über den Kopf hielt und es zur Strafe für irgendein echtes oder eingebildetes Vergehen schüttelte. Genau das spielte sich jetzt ab.
Ich hörte zu laufen auf und blickte nach oben. Leutnant Noriko schwebte annähernd vier Meter über dem Boden, eingezwängt im festen Griff von Cirlos’ Baumstammarmen. Er wirkte zornig, aufgeregt. Beide wirkten so. Norikos Gesicht hatte eine merkwürdige Farbe, die rasch ins Braunrote überging.
„Was ist passiert?“
„Spielt keine Rolle – holen Sie mich erst herunter!“
Sie glotzte mich an, dann richtete sich ihr Zorn wieder auf Cirlos. Sie versuchte ihn zu treten. Scheinbar mühelos hob sie der große Verdeaner höher und schüttelte sie noch heftiger. Ich konnte das Klappern ihrer Zähne hören.
Ich holte sie schließlich, wild spuckend, herunter. Cirlos ignorierte uns beide, ließ sich in meditativer Stellung nieder und war weg. In jeder Hinsicht existierten wir nicht mehr für ihn.
„Was war los?“ fragte ich.
Sie starrte den Sachem an und schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich redete bloß mit ihm, fragte ihn etwas über die Symbionten.“
„Das habe ich mir auch gedacht“, gab ich zurück. Ich blickte sie an. Sie hatte keinen Schaden erlitten; lediglich ihre Würde war etwas ramponiert. „Die Symbionten sind ein tabuisiertes Thema.“
„Was meinen Sie mit Tabu? Sie reden über sie.“
Ich zuckte die Achseln. „Cirlos und ich haben uns über die Grundregeln geeinigt. Wenn eine Frage zu sehr ins Mark geht, ziehen wir uns zurück und versuchen einen anderen Weg.“
Sie strich sich ungeduldig das Haar glatt. „Was macht die Syms tabu?“
„Keine Ahnung.“ Ich warf ihr einen lauernden Blick zu. „Was macht gewisse Themen für uns tabu?“
„Ich wußte nicht, daß wir welche haben. Nennen Sie eines.“
Ich nannte eines.
Eines Spätnachmittags stellte Noriko den versteinerten Koprolith nieder, den ich ihr gegeben hatte, hörte auf, dem Forschungscomputer Daten einzugeben und schenkte mir einen langen, nachdenklichen Blick.
„Pan, wir haben immer den Sinn des Lebens in Frage gestellt …“ Sie hielt inne, dann fuhr sie zögernd fort. „Ich frage mich, was Cirlos davon hält.“
Ich hatte über dasselbe Problem schon vor langem nachgedacht. „Sie können sicher sein, daß es für Cirlos – für alle Verdeaner – eine Bedeutung hat, die es für uns nicht hat“, sagte ich zu ihr. Wenn man die reichhaltige Brühe um uns entfernte, wären sie blind. Sie würden nie, dachte ich mit unbestimmtem Bedauern, in den Weltraum fahren können. Noch würden sie je die Sterne sehen. Sie befanden sich in einem Käfig, auf ewig in den Grenzen dieser einen Welt festgehalten.
Gefangen.
Im Paradies.
Natürlich verläuft keine Straße bloß in einer Richtung. Was mochten die Verdeaner sehen, das wir nicht sehen konnten?
Gelegentlich ging Noriko auf die Jagd, ihre einzigen Waffen waren ein Satz von fünf ziselierten Messern. Kleinwild war reichlich vorhanden, ihre Geschicklichkeit grenzte ans Magische. Wir aßen gut.
„Haben Sie je Luade-Messer verwendet?“ Ihre nahezu mandelförmigen Augen blickten mich fragend an.
„Nein.“
„Sie sind wunderbar ausbalanciert.“ Sie reichte mir eine Handvoll glänzenden scharfen Stahls und zeigte auf einen fünf Meter entfernten Holzklotz. „Man braucht sie nicht heftig zu werfen; eine einfache Bewegung aus dem Handgelenk genügt.“
Ich versuchte es, traf nicht, versuchte es wieder, traf. Ich nahm das nächste in die Hand und bewunderte die Stahlarbeit.
„Alle Panther tragen Luade-Messer“, sagte Noriko ernst. „Das ist eine Tradition.“
„Oberst Shagata scheint sehr an der Tradition zu hängen“, erwiderte ich.
„Mag sein.“ Sie holte sich die zwei geworfenen Messer wieder, reichte sie mir.
„Sie gehören Ihnen, Pan. Mein Geschenk an Sie. Das ist auch eine Tradition.“ Sie blickte mich an und lachte.
Sie brachten den sterbenden Verdeaner in der Dämmerung herein, trugen ihn sorgsam, so daß seine Arme nicht schleiften. Als sie den Sachem erreichten, legten sie die Gestalt sanft zu Boden, glätteten das Fell und schienen untereinander zu beraten. Verdeaner erschienen scheinbar aus dem Nichts, und sie alle, Erwachsene wie Kinder, drängten sich auf dem Platz.
Unter den Bäumen war es dunkel und ruhig. Zu dunkel, um deutlich zu sehen. Ein Feuer brannte und warf Schatten, die unheimlich über der versammelten Menge flackerten.
Noriko berührte mich an der Schulter und flüsterte: „Was ist los?“
„Sehen Sie zu“, sagte ich. Ich hatte ein ähnliches Ereignis im zweiten Monat meines Aufenthaltes auf Verde schon einmal gesehen. Damals wie jetzt hatte Cirlos die Sterbesakramente gespendet.
Er legte beide Handflächen neben der kleinen zuckenden Gestalt auf den Boden. Dann hob er sie und begann den Boden zu schlagen, wobei jeder Schlag stärker war als der vorhergehende. Der sterbende Verdeaner zuckte und wurde starr, und das Geräusch des Klopfens dröhnte durch die Luft.
Unvermittelt hörte Cirlos auf. Er hob den Kopf und starrte angestrengt in die Leere vor sich. Dann erhob er sich, und seine Arme strebten vor Anstrengung nach oben. Der Feuerschein umflackerte ihn und verwandelte ihn für kurze Zeit in eine Statue aus Vertiefungen und Punkten, in einen Dämon jetzt, keinen Halbgott.
Dann war alles, so rasch, wie es begonnen hatte, vorbei. Ein leises Rascheln war zu hören, als sich die Verdeaner abwandten und unter den Bäumen verschwanden. Der Körper wurde rasch weggetragen. Die Nacht brach voll herein, schwärzte die Schatten und verwandelte den Himmel in eine kaum wahrnehmbare Schüssel, der Mond war kaum aufgegangen.
„Was hatte das alles zu bedeuten?“ fragte Noriko. Sie wandte sich mir zu, und ich konnte gerade noch das Oval ihres Gesichtes ausmachen.
„Wohin verschwindet das Licht, wenn man den Schalter abdreht?“ fragte ich. „Wohin verschwinden die Lebensquanten, wenn ein Verdeaner stirbt?“
„Bitte erzählen Sie mir von Stürmen“, sagte Cirlos. Er saß an seinem Lieblingsplatz am Ende des Marktes. Seine Finger bewegten sich ausdrucksvoll, und sein massiger Kopf drehte sich mir zu und starrte auf mich herunter. Er wirkte unruhig, beinahe aufgeregt.
Ich betrachtete ihn einen Augenblick lang, bevor ich antwortete. Wochen- und monatelang hatte ich versucht, aus dem Apfelgrün seines Gesichts klug zu werden. Ich glaubte jetzt, etwas zu entdecken. Was jedoch? Traurigkeit? Schicksalsergebenheit?
Ich gab es auf. Ich beschrieb ihm ein Gewitter, aber das war es nicht, was er wissen wollte. Seine Finger beschrieben ein neues Muster.
„Gibt es andere Stürme?“
Ich nickte (er würde wahrnehmen, daß sich meine Lebensquanten ihm zuneigten) und erzählte ihm von Hurrikanen und Zyklonen, erweiterte meinen Vortrag dann um Taifune und Tornados. Tornados schienen ihn kurz zu interessieren, dann verwarf er auch sie.
Gegen Ende unserer Diskussion tat er etwas, was er schon zuvor getan hatte, wenn auch selten. Er streckte eine Hand aus und legte sie auf meinen Kopf, so daß die grünen spatelförmigen Finger einen Becher formten. Hätte er sie geschlossen, hätte er meinen Schädel wie eine Eischale zerdrücken können.
„Energie bildet sich … Energie löst sich … in diesen Stürmen“, sagte er mit der freien Hand. Den Kopf hielt er still und ein bißchen zur Seite geneigt. Er kam uns vor wie ein neugieriger Grislybär.
„Ja.“
„Wie geschieht das?“
Ich erklärte so gut ich konnte, wie sich elektrische Ladungen aufbauen und entladen, immer dem kürzesten Weg zwischen Wolke und Boden folgend. Ich berichtete ihm von Blitzableitern.
Lange Zeit war er ruhig, seine Hand umfaßte meinen Kopf wie eine Melone. Dann nahm er sie fort und holte Atem.
„Ich glaube … Sie müssen … ein Blitzableiter sein“, teilte er mir mit. Er hob dabei den Kopf und starrte auf etwas Unsichtbares in der Luft. Er blickte mich wieder an. „Eine solche Energie, wie Sie sie beschreiben, baut sich um Sie herum auf, Freund Pan. Baut sich auf und vergeht … und baut sich erneut auf.“ Er bewegte seine Finger in einer langsamen methodischen Manier, die Traurigkeit ausdrückte.
Verdammt! Was sahen die Verdeaner?
An diesem Abend kam Noriko in ernster Stimmung in meine Hütte. Sie warf sich auf das Feldbett und blickte verzweifelt zur Decke auf.
„Ich habe gerade mit Oberst Shagata gesprochen“, sagte sie unvermittelt.
Ich blickte zu ihr hin und zuckte die Achseln, dann beugte ich mich wieder nieder, um die Plättchen eines Fossils zu untersuchen. Probleme der Königlichen Marine, nicht meine. Ich wußte natürlich, daß sie per Kommunikator Shagata täglich Bericht erstattete, aber es interessierte mich nicht genügend, daß ich versucht hätte, den Inhalt ihrer Berichte zu erfahren. Ganz einfach ausgedrückt, wollte ich mit der Königlichen Marine, mit Shagata und seiner Einheit nichts zu tun haben. So lange nicht, wie er mich und mein Werk in Frieden ließ.
Sie schwang die Füße über den Rand des Bettes und setzte sich auf. „Er möchte, daß wir ins Hauptquartier der Einheit zurückkehren“, sagte sie.
„Gehen Sie“, sagte ich kurz angebunden. „Sie sind seine Untergebene, ich nicht.“
Sie blickte sich um, als versuche sie etwas zu finden, was sie verlegt hatte. Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
„Er möchte, daß ich den Sachem mitbringe.“
Ich stellte das Fossil beiseite und starrte sie an. „Ist das Ihr Ernst? Oder besser, ist das sein Ernst?“
Noriko nickte.
„Er wird nicht mitkommen, müssen Sie wissen.“
Sie nickte neuerlich und blickte auf ihre Hände. „Ich weiß, aber ich muß ihn trotzdem fragen. So lauten meine Befehle.“ Sie warf mir einen bittenden Blick zu. „Kommen Sie auch, wenn er mitgeht?“
Ich dachte darüber nach. Die Verdeaner waren keine neugierigen Geschöpfe, wenn sie es jedoch waren, befriedigten sie ihre Neugierde auf andere Weise als der Mensch. In dem Jahr, das ich auf Verde verbracht hatte, hatte der Sachem sein Dorf nie verlassen. Ich fühlte mich hinreichend sicher.
„In Ordnung“, sagte ich und griff wieder nach dem Fossil. „Wenn Cirlos gehen will, schließe ich mich an.“
Was etwas bewies. Nämlich, daß es so etwas wie eine todsichere Sache nicht gibt.
Cirlos war einverstanden mitzukommen.
Shagatas Lager war völlig verwandelt. Er hatte die Bäume mit den großen Samenkapseln fällen lassen und aus ihnen Gebäude errichtet. Die Hänge waren vom Deckung gebenden Buschwerk gesäubert worden, und wenn es auch geradewegs aus dem Handbuch stammte, war es doch hinlänglich wirkungsvoll; er hatte sich ein hervorragendes Schußfeld geschaffen.
Er schien recht beeindruckt zu sein, als wir näher kamen, wiewohl ihm Noriko mitgeteilt haben mußte, was ihn erwartete. Worauf er nicht vorbereitet gewesen sein konnte, waren die Hunderte kleiner Verdeaner, die sich von allen Seiten herandrängten.
Das störte ihn jedoch nicht. Er näherte sich unserer wimmelnden Linie, salutierte, blickte mit erstarrtem Gesicht auf Cirlos’ Riesenhaftigkeit und führte uns dann zu einem kleinen Pavillon, der auf dem nackten Hang hingesetzt worden war.
„Ich habe Geschenke für Sie und Ihr Volk“, sagte Shagata zu Cirlos. Er wies auf einen Haufen Schachteln auf dem Tisch.
Ich beobachtete ihn aufmerksam. Wenn er nicht log, so sagte er zumindest nicht die völlige Wahrheit. Traditionell wären Geschenke zum Dorf des Sachem gebracht worden, nicht umgekehrt. Nein, Shagata war ein Mann, der von einer Position der Stärke ausging; er verstand den Nutzen der Macht. Nun, dachte ich düster, ich auch. Es war klar, daß er uns aus anderen Gründen als der Verteilung von Geschenken hier haben wollte.
Hauptmann Yamada stand bei dem Tisch, sein langes Gesicht unbeweglich. Er betrachtete den Sachem mit weit aufgerissenen Augen. Dann bemerkte er, daß ich ihn beobachtete, und nickte mir freundlich zu.
„Es heißt, daß Verdeaner gerne Tee aus Tobukwurzeln trinken“, sagte Shagata plötzlich. „Wir haben etwas Tee vorbereitet. Hauptmann Yamada, kümmern Sie sich bitte darum, daß er ausgeschenkt wird?“
Während Yamada die Verteilung des Tees überwachte, wandte sich Shagata um, lächelte und wies auf ein halbes Dutzend Sessel unter einem Baldachin. „Bitte setzen Sie sich“, sagte er. Cirlos ignorierte die Sessel und setzte sich statt dessen auf den Boden außerhalb des Pavillondaches. Von den Umständen gezwungen, fügte sich Shagata ins Unausweichliche und setzte sich ihm gegenüber nieder, kreuzte die Beine und saß mit stocksteifem Rücken da. Innerlich grinsend, gesellte ich mich zu ihnen. Leutnant Noriko war die letzte, die sich setzte, sie ließ sich vertraut zwischen mir und den großen Füßen des Cirlos nieder.
Geschenke wurden hereingebracht und in angemessener Form übergeben. Überraschenderweise waren sie gut getroffen. Da die Verdeaner im menschlichen Sinne nicht sahen, wäre es nutzlos gewesen, ihnen grell gefärbte Stoffe oder Spiegel oder irgendwelchen üblichen Tauschkram zu geben. Er hatte vielmehr Spieluhren, Parfüms und Gläser mit Gewürzen ausgesucht.
Ich nippte an meinem Tee und blickte Shagata an. Er war kein besonders subtiler Mann. Wenn das dicke Ende kam, dachte ich, würde man es schon merken.
Dann sprach er leise in seinen Kommunikator, und der Panther-Zug marschierte stramm auf den Hang hinaus. Das Sonnenlicht glänzte auf dem polierten Metall, dunkle Schatten waren unter den Schalen ihrer Helme ausgeschnitten. Sie führten mehrere Manöver mit der Präzision gutgedrillter Truppen aus. Jeder Feldwebel wäre bei einer Parade auf sie stolz gewesen. Schließlich hielten sie an, salutierten und verharrten in Ruhestellung. Es war alles sehr schön, aber ich war mir sicher, daß Shagata etwas anderes vorhatte.
Er sprach neuerlich in den Kommunikator. Dann blickte er den großen Verdeaner prüfend an. Sein letztes eisernes Starren galt mir.
„Wir errichten ein neues Hauptquartier, Kirst. Ein ständiges Marinehauptquartier. Es kam mir der Gedanke, daß die Verdeaner vielleicht gerne sehen würden, wie wir das angehen.“ Er holte eine Zigarette aus der Jackentasche, steckte sie zwischen die Zähne und grinste mich an.
Ich starrte zu ihm zurück. „Ach? Und wie machen Sie das, Oberst?“
Er zündete sich die Zigarette an und streckte die Schultern. Selbst beim Lächeln wirkte er bedrohlich. „Wir führen gerade den Aushub durch“, sagte er. „Ein Atomsprengsatz von der erforderlichen Größe befindet sich bereits an Ort und Stelle. Sehen Sie.“ Mit einer Hand machte er eine abrupte Bewegung, und die Marinesoldaten vollführten eine Kehrtwendung. Sie blickten zu einer kleinen Anhöhe hin, die auf halber Strecke zum Sternentor lag.
Ich folgte seinem Blick. Das also, dachte ich, ist das dicke Ende. Und es war ein verdammt dickes Ende! Wenn Shagata darauf aus war, die Einheimischen zu beeindrucken, würde es ihm höchstwahrscheinlich gelingen. Als Demonstration roher Gewalt ist eine Fusionsbombe schon eine Wucht – selbst ein Westentaschensprengsatz wie der, den er benutzte.
Dann dachte ich einen Augenblick länger darüber nach und spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Ich griff nach Shagatas Arm.
„Um Himmels willen – widerrufen Sie den Befehl! Sie wissen nicht, was Sie tun!“
Er schüttelte meine Hand ab. „Im Gegenteil, Kirst. Ich weiß genau, was ich tue. Ich zeige den Verdeanern, wie die Marine ein Loch gräbt.“ Er lächelte kalt und wandte sich um, sein Gesicht war selbst im Profil kalt.
Ich wollte etwas sagen – irgend etwas –, aber es war bereits zu spät. Der Hügel verschwand in einem plötzlichen Ausbruch nach oben schießenden Plasmas. Eine Feuersäule aus Gas brannte sich den Weg in den Himmel. Wir spürten die Schockwelle, ein bißchen Hitze und dann die Nachwirkungen einer schockierenden Stille. Kein Niederschlag, minimale Strahlung. Sie machen heutzutage sehr kleine, sehr saubere Bomben.
Die Wirkung auf die Verdeaner kam beinahe einer Paralyse gleich. Sie sahen mit wachsendem Grauen zu, das ihre Gliedmaßen erstarren ließ. Dann wandten sie sich wie ein Mann um und rannten davon, stolperten geradewegs in die Linie von Shagatas Marineinfanteristen. Zwei von den Panthern wurden umgerissen, einer von ihnen bemühte sich, seine Waffe festzuhalten.
Für menschliche Augen war die Explosion spektakulär genug. Für verdeanische Augen mußte es ausgesehen haben, als ginge die Welt unter. Ein schwarzes gähnendes Loch mußte sich plötzlich vor ihnen aufgetan haben. Ein Spalt im Himmel. Die Feuersäule (der Feuersturm!) mußte einen Teil der Biosphäre weggerissen haben und ließ eine Leere, eine Lücke zurück – die erste, die die Verdeaner je gesehen hatten!
Der gestürzte Panther griff nach seinem Gewehr und bemühte sich, aufzustehen. Ein Verdeaner landete auf seiner Brust und prallte ab. Zornig geworden, schwang der Soldat seine Waffe in einem kurzen Bogen und traf den Außerirdischen am Hals. Dieser fiel hin, seine kleine Gestalt wurde rasch unter den Füßen seiner davonlaufenden Gefährten begraben.
Im selben Augenblick richtete sich Cirlos gerade auf, jeder Muskel war unter seinem grünen Pelz zu sehen. Sein Mund öffnete sich voller Schmerz in schweigender Zurückweisung. Er machte vier Schritte und warf eine Handvoll von Shagatas Marinesoldaten um. Dann langte er hinunter und suchte nach der kleinen, stillen Gestalt.
Stille. Das war das schlimmste. Das Geräusch ihres Grauens war eine stumme, lautlose Resonanz; eine Stille, die den Hang einhüllte und das Bewußtsein nicht losließ.
Shagata war auf den Füßen und bewegte sich auf den Sachem zu. Er bellte Befehle in den Kommunikator, das Gesicht steinhart, aber man merkte ihm an, daß er noch geschockt war.
„Yamada! Noriko! Sorgen Sie dafür, daß die Männer ins Lager zurückmarschieren!“
„Jawohl, Sir!“ rief Noriko. Sie wich dem Durcheinander aus und lief auf ein Häufchen versprengter Panther zu. Zu ihrer Linken griff sich Hauptmann Yamada einen Mann und schob ihn den Hang hinauf auf das Marinelager zu.
Ein Marineinfanterist, den Cirlos niedergetreten hatte, erhob sich auf einem Knie. Er schwang sein Gewehr in einem Halbkreis, so daß die Mündung auf die breite Brust des Verdeaners gerichtet war. Cirlos war hart mit ihm zusammengestoßen, er hatte den Helm verloren und mit ihm den Kommunikatorempfänger. Er konnte Shagatas gebrüllte Befehle nicht hören. Er senkte die Waffe leicht, und ein heller Feuerblitz brannte ein Loch in die prometheische Schulter des Sachem, trennte seinen linken Arm beinahe ab.
Der Sachem stand einen Augenblick da und blickte mit leerem Gesicht auf die schnell verschwindenden Verdeaner. Sein Gesicht machte den Eindruck von Traurigkeit, eines nicht körperlichen Schmerzes. Plötzlich wandte er sich um, ging, fiel.
„Shagata!“ Meine Kehle brannte vom Schreien. Ich holte ihn ein und schlug ihn auf die Schulter. Ich zeigte. „Faßt die Beine! Wir müssen ihn zu einem Arzt bringen!“
Zwei Panther halfen mir, den Kopf und die verbrannten Schultern hochzuheben. Noriko schloß sich Shagata an, sie hob ein Bein auf, als wäre es ein halber Baumstamm.
„Behutsam“, sagte ich warnend. Ich lief rutschend bergauf und hoffte, mein Griff um die blutige Schulter würde nicht abgleiten, bis wir den Sachem in der Sanitätsstelle hatten. Selbst für fünf Personen war das Gewicht des Sachem sehr schwer, und die Rücksichtnahme auf den verletzten Arm machte die Sache noch schwieriger.
Mit den Panthern, die noch hinter uns waren, passierte etwas, aber ich konnte mir den Luxus, mich umzusehen, nicht leisten. Shagata tat es, und sein Gesicht verfärbte sich schiefergrau. Dann murmelte er etwas in seinen Kommunikator, und der Himmel verdunkelte sich plötzlich. Ich erkannte, daß wir im Lager waren. Shagata hatte den Repulsorvorhang heruntergelassen.
Der Sachem war am Leben, wenn auch mit knapper Not. Sein Puls war kaum zu spüren, ein Signal, das über den Schirm des Medgerätes wanderte wie eine Elritze, die stromaufwärts zieht. Es blieb nichts übrig als zu warten. Ich wandte mich um und heftete den Blick auf Shagata.
„Was haben Sie dort draußen gesehen?“
Shagata war in den paar Minuten, die der Zwischenfall gedauert hatte, alt geworden. Seine Auge hatten den glasigen Blick eines Stiers in einem Schlachthaus.
„Die Panthereinheit ist tot“, erklärte er dumpf.
„Was meinen Sie mit tot?“
Er machte eine Handbewegung und ließ sich müde in einem Sessel nieder. „Nur wir fünf und drei bis vier andere schafften es, sich ins Lager zu retten. Die übrigen sind … dort draußen.“ Er deutete mit dem Daumen auf den Hang.
„Yamada?“
Er schüttelte den Kopf.
Ich wandte mich Noriko zu. Sie schenkte mir ein blasses Spottbild ihres alten Grinsens.
„Haben Sie es gesehen?“ fragte ich sie.
Sie nickte kurz und sagte dann überlegt: „Haben Sie je gesehen, wie jemand in einem Kraftwerk in die Stromschiene geraten ist? Ich schon. Das da war schlimmer. Viel schlimmer.“ Sie starrte auf den Boden zwischen ihren Füßen hinunter. Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, sah sie verletzlich aus.
Shagata erholte sich. Er blickte mich mit gequälten Augen an.
„Was ist passiert, Kirst? Wissen Sie es?“
„Ich kann es mir denken“, sagte ich. „Als Cirlos angegriffen wurde, ließ er die Symbionten auf uns los.“
Sie dachten darüber nach, dann sagte Noriko: „Vielleicht hat sie der Atomsprengsatz aufgescheucht.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nichts geschah, solange Cirlos nicht getroffen wurde. Denken Sie zurück.“
Shagata wollte sprechen, dann flackerte sein Blick an mir vorbei und kam auf einer kleinen koboldartigen Gestalt zu ruhen, die vergeblich an Cirlos’ gesundem Arm zerrte.
„Wie ist er hereingekommen?“ Seine Stimme zitterte vor Zorn. Er sprang vom Sessel auf und machte einen langen Schritt nach vorn.
Bei seiner Annäherung kauerte sich der kleine Verdeaner zusammen, verließ aber den Sachem nicht.
„Oberst!“ Ich machte einen Schritt und trat dazwischen.
„Er behauptet, er möchte helfen“, sagte Noriko aus ihrem Sessel. Ihre Augen folgten den kleinen grünen Fingern. „Er möchte hierbleiben. Bei Cirlos.“
„Wie ist er hereingekommen?“ wollte Shagata neuerlich wissen. Seine Brauen sanken schwer über die Augen herab.
„Er kam durch die Blase“, sagte Noriko kurz. „Er heißt Morge. Ich kenne ihn, Oberst. Er versteht englisch.“
„Dann fragen Sie ihn, was mit meinen Männern, meiner Einheit passiert ist.“
Finger blitzten. „Symbionten“, übersetzte Noriko im Nu.
Wie ein Blitz flackerte Zorn über Shagatas Gesicht.
„Cirlos! Der Gauner verdient, was ihm zugestoßen ist!“
Ich hielt eine Hand empor. Auch ich hatte die Signale des Verdeaners gesehen, und ich hatte … etwas … gesehen, das Noriko entgangen war.
„Morge.“
Der Verdeaner wandte den Kopf. Er stand gebrochen bei der Schulter des Sachem. An der Art, wie seine Backen einfielen und sich wieder aufbliesen, vermutete ich, daß er trauerte, obgleich ich mir dessen nicht sicher sein konnte.
„Morge, wie leitet der Sachem die Symbionten?“
Die Finger bewegten sich. „Pan, ich kann das Vertrauen meines Sachem nicht enttäuschen und das verraten.“ Das kleine Gesicht drückte eine Bitte aus.
„Ich weiß“, sagte ich. „Und es tut mir leid, daß ich fragen muß. Aber es ist die einzige Chance, die wir haben. Und es ist auch die einzige Chance, die der Sachem hat.“
Er dachte darüber einige Sekunden nach. Dann bewegten sich seine Finger neuerlich, und ich hörte hinter mir Noriko plötzlich nach Luft schnappen.
Shagata blickte von einem von uns zum anderen, und seine Augen blitzten vor Wut.
„Nun, was ist?“
„Ich habe mich in bezug auf die Symbionten geirrt“, erklärte ich sauer. „Total geirrt. Ich dachte, sie wären domestiziert, Partner der Verdeaner. Das kam der Sache nicht einmal nahe.“
„Sie meinen, sie sind keine Partner?“
Ich schüttelte den Kopf. „Sie sind Haie oder so etwas Ähnliches. Sie folgen den Verdeanern ständig und lauern ihnen auf.“
Shagata sah verwirrt drein.
„Sie fürchten sich vor dem Sachem“, sagte ich zu ihm, und in meinem Mund war der bittere Geschmack einer Anklage. Shagata spürte es und erwiderte nichts.
„Sperren Sie einen Delphin mit einem Hai in einem Tank zusammen, und er wird in Minutenschnelle getötet“, sagte ich. „Die Symbionten wagten es nicht anzugreifen, solange Cirlos in der Nähe war.“
Noriko erhob sich und blickte auf die Anzeigen. Cirlos hielt durch, aber nur mit Mühe und Not.
Shagata kämpfte damit. „Und als er dort draußen … zusammenfiel?“
„Freßgier“, warf Noriko ernst ein. Sie setzte sich in ihrem Sessel zurück.
Wir drei starrten über die rund drei Meter, die uns trennten, hinweg, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ich vermutete, daß Shagata gerade die Folgen seiner Handlungen zu erkennen anfing. Nicht nur war seine Einheit dezimiert, sondern außerhalb der Repulsorblase waren die Syms auf der Jagd, und ich vermutete, daß sie reiche Beute machten.
Zwölf Stunden später stand ich draußen und untersuchte das Repulsorfeld. Dabei beobachtete ich durch den Schirm hindurch das trübgraue Licht des Sonnenaufgangs. Ich hatte nicht gut geschlafen, und der Ozongestank verursachte mir Kopfschmerzen.
Cirlos hatte es überlebt, obwohl ihn die Anstrengung sehr geschwächt hatte und er im Koma lag. Seine Physiologie war dem Medgerät fremd, und es hatte darauf übertrieben mit der Amputation seines Armes reagiert.
Er war vier Stunden später aus dem Koma erwacht, dann verfiel er zurück in einen tiefen, aber normalen Schlaf. Er würde leben – was er nicht seinen menschlichen Gastgebern zu verdanken hatte. Ich trank aus einer Brandyflasche, die ich aus dem Dorf mitgebracht hatte, und dachte an Verde. Auch hier hatte ich den Tod gebracht. Zuerst der Erde mit ihren hoch aufragenden Städten und blauen Ozeanen – und jetzt dem Paradies. Was hatte der Sachem gesagt? Ich würde einem Blitzableiter gleichen, der zerstörerische Energien anzog. Ich lachte grimmig und trank den Brandy aus. Es hatte den Anschein, als sei meine Sense ungeheuer groß. Sie reichte bis zu den Sternen.
Ich hörte den Kies hinter mir knirschen und wandte mich um. Noriko blickte mich ernst an und starrte dann über meine Schulter hinweg auf die Blase.
„Sie hatten doch recht“, sagte sie, „nicht wahr? Das war ein Ort für Dichter, nicht für Soldaten.“ Sie legte verständnisvoll ihre Hand auf meine.
Als ich nichts darauf sagte, wandte sie sich um und blickte mich direkt an. „Sie geben Oberst Shagata die Schuld, aber Sie sollten ihn nicht zu hart verurteilen. Trotz allem, was Sie glauben, ist er ein Ehrenmann, ein Samurai. Außer Kämpfen kann er nichts.“
Ich lachte heiser. „Wie wahr“, sagte ich und lächelte dann trotz alledem. Wen traf die größere Schuld, den Blitz oder den Blitzableiter? Ich wandte mich ab und musterte neuerlich das bleiche Licht des Sonnenaufgangs.
„Ich glaube nicht, daß es eine große Rolle spielt“, sagte ich. „Nicht mehr. Ich war bei Cirlos, als er an diesem Morgen aus dem Koma erwachte. Wir redeten eine Zeitlang miteinander. Er glaubt, daß jetzt nur ein neuer Sachem die Symbionten aufhalten kann. Sie haben den Griff gebrochen, den er über sie gehabt haben mochte.“
„Wie lange dauert es, bis ein neuer Sachem gefunden ist?“
„Wochen, Monate, Jahre“, ich zuckte die Achseln. „Verflixt zu lange.“
Sie stand still und studierte mein Gesicht; was ihr Gesicht an Helligkeit zeigte, erstarb ein wenig. Nach einem Augenblick lächelte sie, das alte ironische Harte-Burschen-Lächeln, das für sie charakteristisch war.
„Und bis dahin – was geschieht mit uns?“
„Und bis dahin“, sagte ich brüsk, „können wir dasitzen und warten – bis uns der Sauerstoff ausgeht –, oder wir können hinausgehen und die Syms bekämpfen.“
Der Durchgang durch ein Repulsorfeld unterscheidet sich nicht sehr vom Vorwärtsstapfen durch weichen Asphalt. Es ist nur möglich, weil der Zweck des Feldes darin besteht, hohe Energien abzuhalten, nicht einen Körper, dessen Vorwärtsbewegung sich auf Dezimeter pro Minute beläuft. Man lehnt sich nicht an – man fällt hindurch.
Sechsunddreißig Stunden später war Cirlos nicht nur wieder auf den Beinen – was Wunder genug gewesen wäre –, sondern ging auch herum. Die linke Körperseite war in synthetische Haut und antibiotisches Gelee gehüllt.
Neben seiner großen Gestalt wirkte Morge bloß wie ein Kind. Zusammen, die Hand des Sachem fest auf der Schulter des Verdeaners, gingen sie durch das Feld.
„Halten Sie uns die Daumen“, sagte Noriko rechter Hand. Sie schenkte mir ein mattes Lächeln. Wenn der kleine Verdeaner am Leben blieb, so hatte das zu bedeuten, daß Cirlos seine Macht behalten hatte. Es bedeutete für die in der Blase das Leben. Wenn nicht …
Einen Meter links von mir stand Shagata, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Er sagte kein Wort. Was von seiner Einheit übrig war, stand in einem lockeren Halbkreis hinter ihm. Fünf gewöhnliche Soldaten und ein Feldwebel. Sie wirkten sehnig, diszipliniert, auf der Hut. Zum Teufel, vielleicht waren sie die Elite.
Ich schaute nach vorn. Die zwei Verdeaner hielten einen Augenblick außerhalb der Blase inne, dann schritten sie ein paar Meter auf den Hang hinaus. Sie wandten sich um und blieben stehen. So weit weg vom Feld waren sie verschwommen und nur in Umrissen zu sehen, und es hatte den Anschein, als handele es sich mehr um eine einzige Gestalt als um zwei.
„Pan!“
„Ich sehe es.“ Ich ließ die Luft hinaus. Es war nur eine einzelne Gestalt. Cirlos. Er stand lange allein auf dem Hang, regungslos, eine Statue, der es an Masse fehlte. Dann ließ er sich zu Boden sinken und begann mit seiner einzigen Hand auf den Boden zu trommeln.
„Die Sterbesakramente“, murmelte Noriko leise. Ihr Gesicht war gespannt, die Muskeln waren gestrafft.
Nach einigen Minuten erhob sich Cirlos plötzlich, wandte der Blase den Rücken zu und war verschwunden, von der Entfernung und dem verschwimmenden Feld verschluckt.
„Der Sachem – wohin geht er?“ fragte Shagata.
„Zurück zu seinem Dorf.“
„Und was zum Teufel sollen wir tun?“ Die Knöchel stachen weiß aus seinen geballten Fäusten hervor.
„Atmen Sie ruhig“, sagte ich. Ich wandte mich ab und betrat eines der Blockhäuser. Mochte ihm Noriko die Geschichte erzählen. Ich hatte die Nase voll von verbitterten, fanatischen Menschen.
Wenn ich darüber noch lächeln konnte …
Zwei Meter über dem Boden war die Luft beinahe nicht zu atmen. Die herunterbrennende verdeanische Sonne hatte das Innere der Blase in eine übelriechende Sauna verwandelt, hatte die stinkenden Gase auseinandergetrieben, nach unten gezwungen.
Wir hatten uns an den niedrigsten Punkt des Lagers geflüchtet, eine seichte Vertiefung, die sich über die Fläche des Hanges erstreckte. Shagatas Panther verbrachten die Zeit mit dem Reinigen ihrer Waffen und dem Anstarren der Repulsorwand. Sie warteten auf Shagatas Befehle. Der Schweiß bildete schwarze Flecken auf ihren Uniformen.
„Wir gehen hinaus“, sagte Shagata plötzlich. „Solange wir noch kämpfen können. Das ist ehrenhaft. Sie sind tüchtige Soldaten. Sie verdienen es, im Kampf zu sterben.“
Ich ließ ein krächzendes Lachen hören. „Das ist Selbstmord, Oberst. Die Syms werden sie zum Frühstück verspeisen.“
Er blickte mich verächtlich an. „Wir fürchten uns nicht vor dem Sterben. Was ziehen Sie vor? Hierzubleiben, bis Sie mit dem Bauch nach oben zu liegen kommen, wenn die Luft zum Atmen zu schlecht wird?“
Ich schüttelte den Kopf. „Auch das nicht. Es gibt eine letzte Chance. Die Medikamente, die wir benutzten, um durch das Sternentor zu kommen. Ich habe ein paar davon in meiner Kiste. Cirlos bringt sie hierher. Die Syms tun den niederen Tieren nichts zuleide, Oberst.“
„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß das funktioniert?“ fragte er.
Ich zuckte die Achseln. „Hundert zu eins. Vielleicht größer.“
Er dachte darüber nach. Die Idee mit den Medikamenten gefiel ihm nicht. Und selbst wenn sie sich als durchführbar erwies, gefiel ihm der Gedanke nicht, daß uns Cirlos zum Sternentor führte wie verlaufene Rinder. Ihm gefiel der Gedanke nicht, daß wir aus Verde hinausgeworfen wurden.
Ich beobachtete ihn. Ich kannte den Mann, ich wußte, wie seine Antwort ausfallen würde. Ich hatte es schon vor Stunden gewußt, als ich mich zuerst darauf vorbereitete.
„Wir gehen hinaus. Ich ziehe es vor, mit Würde zu sterben, Kirst.“ Er machte mit seiner Hand eine befehlende Geste, und die Panther erhoben sich wie ein Mann.
„Das tun Sie nicht, Oberst.“ Ich zog die Pistole aus der Tasche und richtete sie auf ihn. Es war eine seiner eigenen Waffen, eine sehr wirkungsvolle Nadelpistole.
Er stieß ein kurzes Lachen aus. „Sie wollen mich … mit dem da … aufhalten?“
„Ich werde es versuchen.“
Er drehte sich so, daß er zu mir blickte, und verzog absichtlich den Mund.
Ich sagte: „Ich werde Sie nicht töten, Oberst. Ich schieße, um zu verletzen, zu verstümmeln. In die Knie, die Knöchel, die Handgelenke. Da wird von Ihrer Würde nichts übrigbleiben.“
Das hielt ihn auf.
„Wenn Sie sich wie ein Mann zum Kampf stellen würden …“ fing er an, stockte dann aber und starrte mich mit unverhülltem Haß an.
Ich lachte ihn aus. „Ist das eine Herausforderung? Fordern Sie einen Taktiker heraus?“
„Wie Sie wollen.“
Wir starrten einander in die Augen, und der Kampf der Willen tobte hin und her, anscheinend ohne Sieger. Schließlich warf ich die Nadelpistole weg und grinste verschmitzt.
„Sie haben gewonnen. Ich nehme Ihre Herausforderung an. Haben Sie Ihre Luade-Messer bei sich, Oberst?“
Er nickte kurz, und seine Spannung lockerte sich etwas.
„Sehr schön. Auf Wiedersehen im Kele-Ring.“ Ich drehte mich auf den Fersen um und ging an ihm vorbei den Hang hinauf. Ich wartete nicht auf ihn, ich gab ihm keine Zeit, es sich zu überlegen. Einen Augenblick später hörte ich seine Schritte hinter mir.
Je höher wir kamen, desto schwieriger wurde das Atmen. Ich schritt stetig aus, erreichte den Kele-Ring und ging zum fernsten Rand hin. Dort wandte ich mich um und zeigte Shagata die fünf Messer, die ich trug.
„Bereit, Oberst?“
Er blieb auf der anderen Seite des Ringes stehen. Sein Gesicht zeigte keinen Ausdruck, aber sein Brustkorb arbeitete. Er holte fünf identische Messer hervor und hielt sie in die Höhe.
„Ich bin bereit, Kirst.“
„Fangen wir also an.“
Er hatte keine Chance, aber ich hatte auch nicht vor, ihm eine zu geben. Sein erstes Messer erwischte mich direkt unter dem Brustknochen und prallte rechts ab. Ich warf ihm ein Lächeln zu und schleuderte eines meiner eigenen Messer. Es verfehlte ihn um einige Zentimeter, prallte von einem Stein ab und schlitterte zehn Meter den Hang hinunter.
Ehrenhaftigkeit ist schön, wenn man sie sich leisten kann. Für einen Taktiker ist Ehrenhaftigkeit eine Waffe, die man entweder verwendet oder verwirft, von Fall zu Fall verschieden. Sein Ehrgefühl hatte Shagata dazu bewogen, mir in den Kele-Ring zu folgen, und raubte seinem Körper jetzt den Sauerstoff.
Er machte es mir jedoch nicht leicht. Sein zweites Messer traf mich über dem Herzen, schlitzte das Hemd auf und durchpflügte den Gefechtspanzer, den ich darunter trug – eine Panzerung, die ich aus seinem eigenen Vorrat gestohlen hatte. Ich grinste weiter, berührte das winzige Ventil an meiner Kehle und steigerte den Sauerstofffluß, der über mein Gesicht strich. Ich hatte die Sache die Nacht zuvor vorbereitet und eines der Notgeräte in der Medizinstation zerlegt.
Ich fehlte auch beim zweiten Wurf und sah, wie Shagata einen Hustenanfall erlitt. Er richtete sich schließlich auf, die Bewegungen bleiern, der Körper in Schweiß gebadet.
„Zum Teufel mit Ihnen, Kirst!“ Er tat einen winzigen Schritt nach vorn, hob den Arm in die Höhe und senkte ihn; das Messer verließ seinen Griff in einer blitzenden Kurve. Es traf mich im Arm im Fleisch, durchtrennte den Muskel, ging links hinaus. Ich grinste weiter, aber es kostete mich Mühe.
Plötzlich bekam er wieder einen Hustenanfall. Diesmal richtete er sich nicht mehr auf. Ich sah zu, wie er fiel, wartete noch zwei Minuten, bemerkte, wie er sich wand. Sobald ich sicher war, daß es sich um keine Finte handelte, ging ich zu ihm hinüber und beugte mich nahe genug zu ihm, daß er ein paar Atemzüge reiner Luft schnappen konnte. Mit der Gewißheit, daß er es überleben würde, warf ich ihn mir über den Rücken und ging den Hang hinunter.
Wir warteten mit brennendem Hals. Die Nachmittagshitze, die selbst durch das Blasenfeld hindurch zunahm, trieb die Gase zu Boden und löste Konvektionsströme aus.
Ich blickte auf meine Uhr. Im besten Fall hatten wir vielleicht noch eine Stunde.
Als ob sie meine Gedanken lesen würde, verließ Noriko den leichten Schutz, den ihr eine Krümmung in dem seichten Graben bot. Sie setzte sich neben mir nieder und warf mir einen langen, forschenden Blick zu.
„Was ist, wenn Cirlos nicht zurückkommt? Was, wenn er nicht zurückkommen kann!“
Ich schnitt eine Grimasse, die als Grinsen gelten konnte. „Ich habe vergessen, ihn um eine Garantie zu bitten.“
Wir warteten, und draußen warteten die Syms ebenfalls. Früher oder später, auf die eine oder andere Art, würden wir hinausgehen und uns ihnen stellen müssen. Es lohnte sich nicht, über die Alternative nachzudenken. Vielleicht hatte Shagata doch recht. Trete mit der Waffe in der Hand hinaus, einen Fluch auf den Lippen. Schweiß tropfte mir in die Augen, und ich wischte ihn mit dem Handrücken weg. Das Atmen tat bereits weh, und jenseits der Gebäude zeigte sich ein Nebel graugefärbter Luft.
„Schau, dort!“ Noriko faßte mich am Arm und zeigte auf die flimmernde Mauer. Ich schaute hin, stand auf und wischte ein Gefühl der Benommenheit weg, das mich ganz zu verschlucken drohte.
Cirlos war zurückgekehrt.
Er ging jetzt gebeugt und entblößte die Zähne vor Schmerz in einem unwillkürlichen Fletschen. Er war an den Grenzen seiner eigenen gargantualischen Fähigkeiten angelangt.
Ich ging zu ihm hin, ließ ihn sich niedersetzen, den Kopf aus dem Nebel heraus, und er atmete die etwas weniger verschmutzte Luft des Grabens.
„Was ist im Dorf passiert?“
Er preßte eine kleine, zugestöpselte Flasche an sich. Um zu sprechen, stellte er sie nieder.
„Fort. Diejenigen, die nicht tot sind … sind in die Berge geflüchtet.“ Seine Finger bewegten sich langsam, lustlos. Da ich seine Schmerzen mitempfinden konnte, streckte ich die Hand aus und legte sie ihm auf die unverletzte Schulter. Ich sagte nichts. Was gab es schon zu sagen?
Etwas später fragte ich: „Wie viele Syms sind da – außerhalb der Blase?“
„Viele, aber einer genügt. Es tut mir leid, Pan.“
„Weißt du, wovon wir heute morgen sprachen? Vom Sternentor und dem Schema darauf?“
„Ich erinnere mich.“
„Hast du die Kraft, es zu tun?“
„Ich habe sie.“
Ich wandte mich ab, griff nach der Flasche. Ich gab zuerst dreien von Shagatas Panthern das Medikament ein und verdoppelte die normale Dosis. Als ich fertig war, betrachtete sie Cirlos genau und achtete auf ihren Quantenspiegel.
„Sie sehen verändert aus“, signalisierte er endlich. „Alle Gipfel scheinen eingeebnet zu sein. Sie sehen alle flach, ungeformt aus.“
„Hoffen wir, daß sie den Syms auch so erscheinen“, sagte ich. Ich warf Shagata einen Blick zu. „Besser kriegen wir es wahrscheinlich nicht hin. Sind Sie bereit, es zu versuchen?“
Er schüttelte den Kopf und holte die Hand aus der Tasche.
Diesmal hatte er die Pistole.
Seine Augen brannten auf mich los. „Vorsichtig, Kirst. Führen Sie mich nicht in Versuchung. Stellen Sie die Flasche nieder, dann treten Sie zurück.“
„Was tun Sie, Oberst? Ist das Ihre Art, sich zu revanchieren?“
„Sozusagen.“ Er warf mir ein kaltes Lächeln zu, das seine Augen nie erreichte, dann machte er eine Bewegung mit der Pistole. Ich stellte die Flasche nieder und trat einige Schritte zurück.
„Fein“, sagte Shagata, als Noriko die Flasche ergriff. „Jetzt behandeln Sie Dr. Kirst.“
Ich hielt stoisch still, während sie die Dosis eingab. Als sie fertig war, blickte ich zunächst sie und dann Cirlos an. Ich wollte mich an dieses apfelgrüne Gesicht erinnern, wollte zumindest diesen Eindruck mit mir heim nehmen.
Es kam mir vor, als hörte ich Shagata „Banzai“ sagen.
Dann schwanden mir die Sinne, und das Universum löste sich auf.
Ich erwachte und wünschte mir auf der Stelle, ich wäre nicht erwacht. Der Wind heulte und versuchte mich in zwei Teile zu brechen. Mein Kopf fühlte sich wie eine Riesentrommel an. Und ich fror.
Ich befand mich nicht mehr auf Verde.
Ich blickte mich um und sah sechs Panther. Rund zehn Meter links von mir lag eine Stoffpuppe, die, wie ich wußte, Noriko sein mußte.
Ich blickte mich nach Shagata um, aber er war nicht zu sehen. Er würde auch nie mehr zu sehen sein.
Auch das Sternentor war verschlossen. Zumindest dasjenige, das nach Verde führte. Geraume Zeit würde es niemand benützen können.
Eines Tages jedoch …
„Er befahl uns, uns hinwegzuscheren“, erklärte Noriko später und widmete sich in der Hütte unter dem Tor einer dampfenden Schale Tee. Sie starrte an mir vorbei in den Raum hinein. „Als ich ihn zum letzten Mal sah, legte er den Kampfanzug an.“
„Die Abschiedsgeste“, sagte ich und nippte am Brandy. „Er ging schließlich hinaus, um sich den Syms zu stellen.“
Sie brachte ein schwaches Lächeln zuwege.
„Er war ein Samurai“, sagte sie. „Ein Mann von Ehre.“
Ich dachte an Cirlos und Shagata und Ehrenhaftigkeit. Ich bemühte mich angestrengt, die Sache zynisch zu sehen, aber irgendwie gelang es mir nicht. War Bushido bloß ein menschlicher Zug? Wie es aussah, war alles eine Sache der Definition.
Lange Zeit dachte ich darüber nach. Dann erhob ich mein Glas und sprach einen Toast auf die Samurai aus.
THE TACTICS OF DESPAIR
by Edward A. Byers
Copyright © 1980 by Davis Publications Inc.
aus ANALOG, September 1980.
Übersetzung: Irene Lansky