Michael
McCollum
Das
Leichentuch
Die auf dem nassen Asphalt kreischenden Reifen rüttelten John Frakes wach. Das einundzwanzig Jahre alte Flugzeug landete auf dem Aeroporto di Torino. Er seufzte und richtete sich in seinem Sitz auf. Das kurze Nickerchen während des vierzigminütigen Fluges von Rom war für ihn seit dreißig Stunden die erste Ruhepause. Seitdem die Gültigkeit der abschließenden Laborresultate als bewiesen angesehen werden konnte, störten gleiche, immer wiederkehrende Alpträume seinen Schlaf. Sofort, wenn er eingenickt war, tauchte aus den Tiefen seines Unterbewußtseins der finstere Blick seines Vaters auf und zerrte ihn mit Gewalt zurück in die Realität.
Reverend Lester Frakes war Zeit seines Lebens ein kämpferischer Geistlicher der Episkopalkirche gewesen. Selbst fünf Jahre nach dem Tod des alten Mannes wachte Frakes manchmal mitten in der Nacht schweißgebadet auf. Seine Hände zitterten dann in einem Anfall von kindlichen Schuldgefühlen. Sein Vater hatte ihm niemals vergeben, daß er während seiner frühen Collegejahre sein Hauptfach, das Studium der Religion, zugunsten eines Chemiestudiums aufgegeben hatte.
„Da habe ich mir wohl einen verdammten Atheisten großgezogen, oder?“ schrie ihn Reverend Frakes an jenem verhängnisvollen Weihnachtsabend an, an dem er mit den Neuigkeiten herausrückte.
„Nein, mein Herr, einen Agnostiker.“
„Ich werde für dich beten, mein Sohn“, hatte Lester Frakes darauf geantwortet und seine Augen himmelwärts gerichtet. „Vielleicht wird der Herr den Schleier der Dummheit von deinen Augen eines Tages zerreißen, damit du den Pfad der Rechtschaffenheit wieder betrittst.“
Aber als sein Vater damals wieder mit einer seiner Moralpredigten loslegte, mußte Frakes innerlich lachen. Früher wirkten die Worte noch auf ihn, und er hatte sich stets dem Willen des alten Mannes gebeugt.
Nur dieses Mal hatte er sich geweigert nachzugeben. Am Ende brachte dies Reverend Frakes um, so sicher wie ein Messer.
„Wenn du wüßtest, was ich weiß – was würdest du heute sagen, Vater?“ Obwohl er die Frage stellte, wußte er bereits die Antwort. Wenn sein Sohn, was selten genug war, kam, um einer Predigt von ihm beizuwohnen, hörte er immer wieder den gleichen abschließenden Spruch.
„Laßt euren Verstand niemals stärker werden als euren Glauben, meine Schafe! Ohne Glaube erginge es uns nicht viel besser als den armen Meerschweinchen, die diese Möchtegern-Propheten aufschneiden, um ihre teuflischen Experimente durchzuführen …“
„Sie können jetzt Ihren Gurt abschnallen, Signore.“
Frakes blickte erschrocken nach oben. Vor ihm stand die hübsche, schwarzhaarige, dunkeläugige Stewardeß, die ihm in Rom ein „Willkommen an Bord“ entboten hatte. Er schaute sich um und war erstaunt zu sehen, daß die letzten der Passagiere bereits dem Ausgang im Bug der Maschine zustrebten.
„Entschuldigung“, sagte er und tastete nach der Gurtschnalle. „Ich muß wohl in den Tag hineingeträumt haben.“
„Geht es Ihnen gut?“
„Oh, mi sento molto bene, grazie. Nur ein bißchen müde, das ist alles.“
„Für einen Amerikaner sprechen Sie sehr gut Italiano, Signore. Vermutlich ist das nicht Ihr erster Besuch?“
„Letzten Sommer war ich für zwei Monate hier. Damals habe ich ein paar nützliche Redeweisen aufgeschnappt.“
„Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“
Frakes zwängte sich aus seinem Sitz und zog die Aktentasche mit ihrem wertvollen Inhalt unter dem Sitz vor ihm hervor. Er war dankbar, seine Beine nach dieser langen Flugreise wieder ausstrecken zu dürfen.
Nach dem organisierten Chaos, das er im Stadtstaat Rom angetroffen hatte, ging es im sardischen Zoll fast friedlich zu. Hier standen keine der Soldaten und Carabinieris, die in Rom zu Hunderten im Einsatz waren. Die Stadtväter schienen sie für nötig zu halten. Natürlich, die Sarden mußten sich im Moment auch nicht gegen Agenten der Republik Neapel schützen.
Nach einer halben Stunde hatte er bereits den Flughafen verlassen und fuhr in einem Taxi nach Norden, dem grauen Schmutzfleck am Horizont zu. Dort lag Torino.
„Sind Sie geschäftlich nach Sardinien gekommen?“ fragte der Taxifahrer über seine Schulter hinweg, als er sich elegant zwischen einem entgegenkommenden Fiat und einem Kühllaster, der die halbe Straße blockierte, hindurchschlängelte.
„Ja“, sagte Frakes und starrte geistesabwesend auf die glitzernde Nässe auf der Schnellstraße. Das elektrostatische Knistern der Regenrepulsoren an der Windschutzscheibe und das tiefe Summen der Turbine schläferten ihn ein.
„Ingegnere … Ingenieur?“
Frakes schüttelte seinen Kopf. „Scienziato.“
„Ach, Sie wollen wohl unsere Plastikfabrik besuchen, ja?“
„Nein, die Kathedrale.“
„Sind Sie gekommen, um das Heilige Leichentuch zu besichtigen?“
Frakes nickte.
„Signore, Sie haben heute ihren Glückstag! Mein Bruder ist Touristenführer. Er wäre glücklich, Sie persönlich führen zu dürfen. Wenn Sie es wünschen, wird er vielleicht für Sie eine private Führung arrangieren, Signore. Das kostet nicht viel. Nicht mehr als eine Million Neue Lire. Er wird ein gutes Wort mit den Wächtern wechseln, und vielleicht läßt man Sie dann sogar die Reliquie berühren.“
Obwohl er seine Augen kaum aufhalten konnte, mußte Frakes lächeln. „Die Zahlung hat natürlich im voraus zu erfolgen; und zwar an Sie, nicht etwa an Ihren Bruder.“
Durch den Rückspiegel schauten ihn die braunen Augen des Fahrers ausdrucksvoll an. Seine Achseln hoben sich fast bis über die Ohren. „Heute wird das so in Sardinien gemacht, Signore.“
„Sie würden doch nicht im gleichen Moment, wo ich Ihnen das Geld gebe, damit verschwinden, oder?“
„Signore, Sie verletzen mich!“
„Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzähle, daß das Leichentuch in den letzten achthundert Jahren nicht öfter als fünfzigmal für die Öffentlichkeit ausgestellt wurde?“
Der Taxifahrer grinste. Ihm schien es überhaupt nichts auszumachen, bei seinen Gaunereien ertappt worden zu sein. „Wie ich feststelle, fahre ich einen Kenner der Materie.“
Frakes lachte. „Da haben Sie nicht ganz unrecht. Ich habe die letzten beiden Jahre damit verbracht, das Leichentuch zu studieren. Ich weiß viel mehr darüber als mir lieb ist.“ Frakes spürte plötzlich ein Gefühl der Schuld, das ihn schmerzte, als ihm gewahr wurde, daß seine Aussage mehr Wahrheit enthielt als beabsichtigt.
„… mehr als mir lieb ist.“
Das Leichentuch von Turin ist ein Stück Leinen, dessen Ursprung auf das erste Jahrhundert n. Chr. zurückführt. Es mißt 4,3 Meter in der Länge und 1,4 Meter in der Breite. Die bloße Tatsache seines hohen Alters ist jedoch nicht der Grund dafür, daß das Leichentuch verehrt wird.
Auf der Oberfläche des Leichentuchs, für das bloße Auge erkennbar, ist der Abdruck der Gestalt eines Mannes wie durch ein Wunder erhalten geblieben. Tatsächlich sind es zwei Abdrücke, eine Vorderseite und eine Rückseite. Sie gehen am Kopf ineinander über, woraus man schließen kann, daß das Tuch der Länge nach um einen Leichnam gewickelt und entfernt wurde, bevor die Verwesung einsetzte.
Die Abbilder sind so genau, daß es möglich ist, einige Details über den Mann auszusagen, der einmal in diesem Tuch gelegen haben mußte. Er war 172 Zentimeter groß, hatte ein hübsches Gesicht, einen Bart und lange, herabfallende Locken. Er lag nackt und mit weit ausgestreckten Beinen da. Der linke Arm war über den rechten gekreuzt, sie waren offensichtlich aneinander gefesselt, um der Leichenstarre entgegenzuwirken.
Interessanter als seine äußerliche Erscheinung ist die Art seines Todes.
Auf der Oberfläche des Leichentuchs sind eine Anzahl von Blutflecken in bedeutungsvoller Weise angeordnet. An den Händen sind Merkmale von Wunden sichtbar, die wohl nur so zustande gekommen sein konnten, daß Nägel durch jedes Handgelenk geschlagen wurden. Ähnliche Merkmale zeigen sich an den Füßen. Nur wurden diese mit einem einzigen Stift zusammengenagelt. Ohne Zweifel war dieser Mann das Opfer einer Hinrichtung am Kreuz.
Einige Merkmale an der Frontseite des Abdrucks weisen darauf hin, daß er, bevor er ans Kreuz genagelt wurde, von zwei Männern ausgepeitscht worden war. Ein großer Blutfleck am Unterleib beweist, daß ein kurzer Speer in seine rechte Seite gestoßen wurde, wahrscheinlich als coup de grâce nach seinem Tod. Am aufschlußreichsten sind die kleinen Blutflecken an seinem Kopf. Die Anordnung dieser Flecken weist auf eine Dornenkrone hin, die wie eine Kappe getragen und als äußerste Folter mit einem Kinnband fest an den Kopf gepreßt wurde.
Laut Überlieferung ist dies das Leichentuch von Jesus Christus, das Simon Petrus nach der Wiederauferstehung zur Aufbewahrung gegeben wurde. Leider schweigt die christliche Lehre darüber, was mit dem Tuch in den anschließenden Jahren passiert sein mochte.
Den ersten unabhängigen, geschichtlichen Hinweis auf das Leichentuch von Christus gibt uns Sankt Nino im dritten Jahrhundert. Im Jahre 570 berichtet ein unbekannter Pilger von Piancenza, daß es in der Höhle eines Klosters am Jordan aufbewahrt worden sei. Im siebten Jahrhundert erzählte ein französischer Bischof namens Arculf, daß er das Tuch in Jerusalem gesehen habe.
Über sechshundert Jahre hindurch gab es keine verläßlichen Berichte mehr über die heilige Reliquie, bis 1204 ein Chronist des vierten Kreuzzuges, Robert de Clari, erklärte, daß sie sich in Konstantinopel befände. Nachdem die Kreuzfahrer jedoch diese große Stadt geplündert hatten, „wußte keiner, weder Grieche noch Franzose, was mit diesem Tuch geschehen war“.
1356 tauchte es wieder in Lirey, Frankreich, auf. Am 4. Dezember 1532 wurde das Leichentuch während eines Brandes in der Sakristei der Sainte Chapelle von Chambery in Mitleidenschaft gezogen. Das silberne Kästchen, in dem es aufbewahrt wurde, schmolz, und Tropfen des geschmolzenen Metalls fielen auf das zusammengefaltete Tuch und brannten tiefe, schwarze Narben in seine Oberfläche. Glücklicherweise wurden die Abdrücke nicht beschädigt.
Auf Befehl des Herzogs von Savoy wurde es 1578 vom Chambery nach Turin gebracht. Hier lag es während der nächsten fünfhundert Jahre.
Nach 1356 hielt man das Leichentuch in der Regel für eine Fälschung, für eine gekonnte Zeichnung eines unbekannten Michelangelo zur höheren Ehre Gottes. Erst im neunzehnten – später im zwanzigsten – Jahrhundert wurde die wahre Natur dieses Tuches dank der Erfindung besserer fotografischer Methoden bewiesen.
Das Leichentuch war schlicht und ergreifend genau das, für das man es gehalten hatte, nämlich das Leichentuch eines Märtyrers aus dem ersten Jahrhundert. Selbst eine flüchtige Untersuchung der anatomischen Details des Abdruckes mußte zu dem Ergebnis gelangen, daß kein auch noch so genialer Künstler des Mittelalters so genau hätte zeichnen können.
Mit der Entwicklung hochkomplizierter wissenschaftlicher Instrumente, die die „Authentizität“ des Leichentuches bestätigen sollten, wurde die Frage, ob das Abbild auf dem Leinentuch wirklich von Jesus Christus stammt, immer bedeutsamer. Wie im Falle der meisten religiösen Fragen waren die Meinungen unterschiedlicher Art – und wurden heftig vertreten.
Der Johannes dem Täufer geweihten Kathedrale war kaum anzusehen, daß sie fast tausend Jahre lang Zeuge einer turbulenten Vergangenheit war. Die großen Flügel des Portals standen weit offen, als wolle sie alle willkommen heißen, um im gedämpften Licht des Inneren Zuflucht zu suchen. Hier und dort an der prachtvollen Fassade der Kathedrale waren Einschüsse von Maschinengewehren zu sehen. Einige gingen zurück auf die Zeit des zweiten Weltkrieges. Andere Einschüsse von kleineren Kalibern waren weniger als dreißig Jahre alt. Sie sind Zeugen des Aufruhrs, der die Zweite Reformation begleitete.
Müde und abgespannt stieg John Frakes die Stufen zum Portal der Kathedrale hinauf. Er ging über die Schwelle in den prunkvollen Innenraum und war froh, den Nieselregen, der draußen aus grauen Wolken fiel, hinter sich zu lassen. Als er den geistlichen Ort betrat, wurde ihm plötzlich die Wärme gewahr, die sowohl innerlich wie äußerlich über ihn hinwegspülte. Die äußerliche Wärme wurde von der wohlfunktionierenden Zentralheizung der Kathedrale ausgestrahlt, die von den Ordensbrüdern installiert worden war, als sie während der Zeit der Auseinandersetzungen einen sicheren Aufbewahrungsort für das Leichentuch aus dem soliden Felsen unter dem Fundament der Kirche herausmeißelten. Die innerliche Wärme kam aus dem Wissen, daß ungezählte Generationen von Menschen diesen Ort schon vor ihm betreten hatten. Agnostiker oder nicht, Frakes kam nicht umhin, eine gewisse Ehrfurcht zu empfinden, wenn er an die Leben dachte, die so eng verflochten waren mit diesem Gebäude und seinem heiligen Schatz.
Da war Secondo Pia, der erste Mann, der das Leichentuch fotografierte. Er war es, der 1898 als erster das Gesicht in dem Tuch deutlich machte. Es erschien völlig klar auf einem seiner altmodischen Glasnegative. Später erklärte der Fotograf diesen Vorfall als eine intensive religiöse Erfahrung.
Dann waren da Filippo Lambert und Guglielmo Pussod, die ihr Leben riskierten, um das silberne Kästchen, in dem das Tuch aufbewahrt wurde, vor den Flammen in Chambery zu retten. Und später kniete Prinzessin Klotilde von Italien auf rauhem Steinboden und arbeitete Stich für Stich an einem Stoff, der das Leichentuch geschützt hält. Sie verweigerte jede Hilfe, bis das Werk beendet war.
Frakes stand in der Kathedrale und spürte plötzlich, wie ihm kalte Schauer den Rücken hinunterliefen. Der Schrecken fuhr ihm sichtlich in die Glieder, als er sich daran erinnerte, wo er sich befand und was er in den nächsten Minuten tun mußte.
Davon abgesehen wurden seine Träumereien auch von dem hohlen Klappern von Ledersohlen auf Steinboden unterbrochen. Ein Mann in Messgewand und Nackenkragen kam zwischen zwei riesigen Säulen direkt auf ihn zu.
„Doktor Frakes?“ fragte ihn der Geistliche, als er den wartenden Wissenschaftler erreichte und seine Hand nach ihm ausstreckte.
„Ja“, antwortete Frakes und schüttelte dessen Hand. Der Händedruck des anderen war herzlich und fest.
„Der Primus bedauert, daß er nicht pünktlich hier sein kann. Ich bin sein Assistent, Guiseppe Calle. Er hat mich gebeten, Sie bis zu seinem Eintreffen zu unterhalten.“
„Sie sprechen sehr gut Englisch, Signore Calle, ohne jeglichen Akzent.“
Calle lächelte. „Lassen Sie sich nicht von meinem Namen irreführen, Doktor. Ich komme aus Cleveland.“
„Was ist mit Bartol?“
Der Ordensbruder hob seine Hände. „Er hat sich zu einer religiösen Klausur in die Berge zurückgezogen.“
„Schade, daß ich ihn nicht antreffe. Er war im letzten Sommer für mich unentbehrlich.“
„Ach ja. Die großangelegte Untersuchung. Da wollte ich Sie noch etwas fragen: Welche Bedeutung hatten die ungeheuren Tanks, von denen die Presseleute ständig Fotografien machten?“
„Helium. Euer Primus weigerte sich, die Siegel des Leichentuchkästchens zu brechen, bevor wir nicht den ganzen unterirdischen Tresorraum mit Helium gefüllt hatten. Fast eine Woche lang mußte ich mit Gasmaske arbeiten. Vielleicht haben sie mich in der Zeitung gesehen. Ich war derjenige, der aussah wie ein betrunkener Astronaut auf Heimaturlaub.“
„Ach ja, ich erinnere mich“, antwortete Calle und nickte mit dem Kopf. „Hat man mit Ihnen schon einen Rundgang durch unsere großartige Kathedrale unternommen?“
„Bei meinem letzten Besuch gewährte man mir eine sehr ausführliche Führung.“
„Dann sind Sie vertraut mit der Geschichte und der Arbeit unseres Ordens?“
„Ich fürchte, alles, was ich darüber weiß, stammt lediglich aus der Zeitung. Meine Arbeit, wissen Sie …“
„Ja, wir haben alle unsere Arbeit. Sie erforschen das Universum der Natur und ich das des Geistes. Vielleicht haben wir mehr miteinander gemein, als Sie denken. Darf ich Ihnen eine kleine Führung vorschlagen, solange wir warten müssen?“
„Das wäre sehr nett.“
„Schön, dann zunächst etwas Hintergrundinformation. Sie wissen natürlich, daß unser Orden mit keiner zuvor gegründeten Religion verbunden ist. Wir erheben nicht den Anspruch, neue Einblicke in die Natur Gottes gewonnen zu haben oder einen privaten Draht direkt zu Ihm zu unterhalten. Ein Mann namens Bartolo Vasquez hat diesen Orden im Jahre 2009 gegründet. Er war ein einfacher Laie, dessen einziges Ziel darin bestand, das heilige Leichentuch vor dem in den damaligen Tagen so üblichen Mißbrauch zu schützen. Wir sind eine ökumenische Gemeinschaft. Uns ist es einerlei, ob unsere Mitglieder Methodisten, Katholiken, Anglikaner oder Kopten sind. Wir legen lediglich Wert darauf, daß sie gute Christen sind und daran glauben, daß die Reliquie das Leichentuch unseres Erlösers ist.
Darüber hinaus erwarten wir, daß sie sich darum bemühen, gute Werke zu vollbringen.“
Frakes nickte. „Ich kenne Ihr medizinisches Zentrum in Denver. Eine wirklich phantastische Einrichtung.“
„Und dann gibt es unsere Missionen, die den Armen und Hungernden dieser Welt Nahrung geben“, fuhr Calle fort. „Letztes Jahr haben wir für Wohlfahrtszwecke über zehn Milliarden Decadollars ausgegeben. Aber was bedeutet schon Geld, wenn damit anderen nicht geholfen wird?“
„Ihr Orden ist während der letzten Jahrzehnte erstaunlich schnell gewachsen“, warf Frakes ein.
„Wissen Sie, warum?“ fragte Calle.
„Wegen des Leichentuchs.“
„Ja, natürlich. Im Gegensatz zu den anderen christlichen Religionen hat unser Orden den absolut unumstößlichen Beweis, daß unser Erlöser für unsere Sünden gestorben ist. Die anderen haben lediglich ihren Glauben, einen Glauben, den wir teilen, sollte ich hinzufügen. Aber wir haben den absoluten Beweis! Ist es da noch ein Wunder, daß wir jährlich so viele Bittsteller anziehen?“
„Der gute Doktor glaubt allerdings nicht, daß unser Beweis triftig ist, Calle. Nicht wahr, Doktor?“ Die neue Stimme hallte durch den Aufenthaltsraum, in den Calle Frakes geführt hatte, während sie miteinander sprachen. Frakes wandte der Stimme sein Gesicht zu.
Hinter ihnen stand der Primus der „Hüter des Turiner Leichentuches“ – nach dem Papst der mächtigste Mann des gesamten Christentums.
Der Primus war ein großer, faltiger Mann. Sein tief gefurchtes Gesicht strahlte eine große innere Ruhe aus, aber in diesem Moment verzog er es zu einem leicht verschrobenen Grinsen.
„.Absolut kein Beweis, daß dieses Leichentuch von Jesus ist.’ War es nicht das, was Sie mir bei unserem ersten Treffen gesagt haben, Doktor Frakes?“
„Ich fürchte, Sie zitieren mich nicht im richtigen Zusammenhang, Hochwürden. Was ich sagte, war, daß absolute Beweise unmöglich sind. Wir wissen, daß die Reliquie ein Leichentuch ist, aber meine Meinung im letzten Sommer war die, daß die Identität des Mannes, dessen Abbild erhalten blieb, niemals mit vollständiger Gewißheit zu bestimmen sei.“
„Kann ich aus Ihrer seltsamen Formulierung der Antwort schließen, daß Sie Ihre Ansicht geändert haben und eine absolute Beweisführung nun doch möglich ist?“ fragte Calle. Seine Stimme klang plötzlich aufgeregt.
„Tja, ich …“
Der Primus hob seine Hand. „Einen Augenblick, Doktor. Vielleicht sollten wir uns über eines Klarheit verschaffen. Wissen Sie, warum ich im letzten Jahr Ihrer Bitte stattgegeben und Ihnen erlaubt habe, das Leichentuch mit Ihren sonderbaren Maschinen zu untersuchen?“
„Wenn ich ehrlich sein soll, Hochwürden, ich weiß es wirklich nicht. Ich war sowohl überrascht als auch erfreut, als ich Ihren Brief erhielt.“
Der Primus nickte. „Das verstehe ich. Sie haben von einigen anderen eine Absage erhalten.“
„Ja, Hochwürden. Sie wissen, daß ich kein religiöser Mensch bin. Mein Vater war ein Mann der Geistlichkeit und hoffte, daß ich in seine Fußstapfen treten würde. So ist es jedoch nicht gekommen. Statt dessen beschäftigte ich mich während meiner beruflichen Laufbahn damit, die genetische Struktur des menschlichen Blutes und wie diese sich im Laufe der Jahrhunderte verändert beziehungsweise nicht verändert hat zu untersuchen.
Das Problem, das sich für meine Forschungen stellt, ist natürlich die Beschaffung von sehr alten menschlichen Blutproben, die ich für meine Tests benötige.“
„Was Sie zu uns geführt hat“, ergänzte der Primus.
„Ja. Die beiden Quellen, von denen ich Material für meine Experimente beziehen konnte, waren die Mumien der ägyptischen Pharaonen und natürlich die Blutflecken auf dem Leichentuch. Meine Tests verursachen keinerlei Beschädigungen an den Proben, und so hoffte ich, daß sich meinen Vorhaben keine Hindernisse in den Weg stellen würden.“
„Die Ägypter haben Ihnen jedoch eine Absage erteilt, während wir zustimmten“, sagte der Primus.
„So war es, Hochwürden.“
„Aber warum waren Sie so überrascht?“
„Ich erzählte Ihnen bereits, daß ich kein gläubiger Mensch bin.“
„In diesem Falle, Doktor, wirkte sich dieser Faktor zu Ihren Gunsten aus.“
„Ich verstehe nicht.“
„Wissen Sie, was die Achillesferse der Christenheit war, bevor die Authentizität des Leichentuchs nachgewiesen wurde, Doktor?“
Frakes schüttelte seinen Kopf.
„Der Mangel an Gültigkeitsanerkennung seitens der Nichtgläubigen natürlich. Sie sind sich ja dessen bewußt, daß es außer denen in der Bibel keine Augenzeugen für Jesus gab, nicht wahr?“ Frakes öffnete seinen Mund, um zu widersprechen, aber der Primus ließ ihn durch eine ungeduldige Geste gar nicht erst zu Wort kommen. „Nein, es ist wahr. Oh, keiner zweifelt daran, daß er gelebt hat. Es gibt aus dem ersten Jahrhundert geschichtliche Zeugnisse für seine Existenz, Kommentare von Männern, die kurze Zeit nach ihm gelebt haben und die Tatsache seiner Existenz nicht bestreiten.
Aber bedenken sie, Doktor: Wieviel besser würde es sein, nur einen ganz kleinen Beweis zu besitzen, der nicht rein christlichen Ursprungs ist. Wäre es nicht großartig, den Bericht eines Heiden von der Bergpredigt in den Händen zu haben? Oder vielleicht den Brief eines römischen Soldaten, der nach Hause schreibt und von der Kreuzigung eines weiteren hebräischen Unruhestifters erzählt? Einige sozusagen unumstößliche Zeugnisse aus anderen Quellen als aus unseren eigenen heiligsten Büchern?“
„Ich vermute, von der Seite habe ich es noch gar nicht betrachtet, Hochwürden.“
„Seit zweitausend Jahren gründete die Christenheit dieser Welt ihre Religion einzig und allein auf ihren Glauben. Nun, der Glaube ist etwas Wundervolles, aber ist es nicht besser, von Beweisen sprechen zu können? Dies jedenfalls ist der Eckstein, auf den unser Orden gründet. Dies ist, so fürchte ich, die Hauptursache für die Auseinandersetzungen zwischen uns und den etablierten Kirchen. Viele von ihnen sind immer noch der Meinung, daß der Glaube allein ausreichen sollte.
Welchen Standpunkt Sie auch immer in dieser Angelegenheit vertreten werden, es ist und bleibt eine Tatsache, daß eine Anzahl von komplizierten Untersuchungen an dem Leichentuch – die weitreichenden Analysen der achtziger und neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts – nicht nachweisen konnten, daß es sich hierbei um einen Schwindel handelt. Wir vom Orden gingen weiter als dieses negativ formulierte Ergebnis der abschließenden Testberichte. Wir sahen darin den Beweis und fanden das Ergebnis ausreichend, unsere Sache über jeden Zweifel erhaben zu wissen. Aufgrund dieses Ergebnisses errichtete unser geliebter Bartolo diesen Orden.“
John Frakes fuhr mit seiner Zunge über die trockenen Lippen und wunderte sich, warum es in dem Aufenthaltszimmer plötzlich so kalt geworden war. Er wählte seine nächsten Worte vorsichtig und hoffte, daß das Summen in seinen Ohren lange genug abklingen würde, um sich auf seine Sache ausreichend konzentrieren zu können.
„Ich widerspreche nicht gern einem so gelehrten Mann, wie Sie es sind, Hochwürden. Aber alles, was diese früheren Tests bewiesen, ist, daß es sich bei der Reliquie um das Leichentuch eines Mannes handelt, der gekreuzigt wurde. Es wurde in keiner Weise bewiesen, daß dies der Sohn Gottes war.“
Der Primus lächelte. „Dies führt uns zu dem Punkt, warum Sie hier sind, Doktor. Wir sind ein Orden, der sich nicht vor der Wissenschaft fürchtet. Wie ich bereits erklärt habe, läßt sich unsere Gründung direkt auf die früheren Testresultate zurückführen. Ich habe herausgehoben, daß diese Entdeckungen trotz sehr beschränkter Mittel gemacht wurden. Die früheren Untersuchungen hatten nichts als das bloße Auge zur Verfügung. Die späteren Techniken konnten bereits auf Kameras, Mikroskope, die Carbon-14-Methode und den Gebrauch von Computern zurückgreifen. Diese Studien brachten viele wertvolle Ergebnisse zutage, waren aber stets durch die Tatsache begrenzt, daß sie den Gegenstand nicht beschädigen durften – abgesehen von Tests im Jahre 1973, bei dem einige kleine Proben von dem Leichentuch entfernt wurden. Die frühen Hüter des Tuches waren sehr korrekt und ließen es nicht zu, daß weitere Stücke aus der heiligen Reliquie herausgeschnitten wurden. Wenn jedem Wissenschaftler Proben zugebilligt worden wären, hätten wir heute nur noch ein Stück von Taschentuchgröße übrigbehalten.“
„Deshalb gaben Sie meiner Bitte, das Leichentuch zu untersuchen, statt, da meine Untersuchungsmethoden völlig schadlos sind?“ fragte Frakes.
„Das ist ein Grund unter anderen“, erwiderte der Primus. „Dennoch hatte ich eine schlaflose Nacht, bevor ich mich zu der Entscheidung durchringen konnte, Ihren Antrag zu gewähren. Wenn Sie einer von uns gewesen wären, wenn Sie daran geglaubt hätten, daß dies das Leichentuch unseres Erlösers ist, hätte ich Ihnen wahrscheinlich abgesagt.“
„Ich verstehe immer noch nicht, Hochwürden.“
„Es ist ganz einfach, Doktor Frakes. Sie werden mein Heide bei der Bergpredigt sein, mein römischer Soldat, der seiner Familie von der Kreuzigung schreibt. Sie stehen in keiner Verbindung zu unserem Orden und haben einen weltweiten Ruf als redlicher und gelehrter Wissenschaftler. Ich habe Sie lediglich deshalb gewählt, weil Sie keinerlei Interesse am Leichentuch als einer religiösen Reliquie haben. Für Sie ist das Tuch einfach ein Mittel, um weitere Daten für Ihr Spezialgebiet sammeln zu können. Mit anderen Worten, Sie haben keinen Grund zu lügen.
Und so werden Sie Ihre Resultate veröffentlichen. Sie haben unsere heilige Reliquie für Ihre Zwecke gebraucht, also werde ich Ihre Ergebnisse für meine Zwecke gebrauchen. Ihr Wissenschaftler glaubt, daß der Zufall in eurer Arbeit eine große Rolle spielt, nicht wahr? Wir vom Orden neigen eher dazu, an etwas Persönlicheres zu glauben als an die blinden Auswirkungen einer Zufallsgesetzmäßigkeit. Ich fühle, daß es die Hand des Allmächtigen war, die Sie zu uns geführt hat, und ich will Ihre Entdeckungen benutzen zur höheren Ehre dessen, der Sie zu uns brachte. Nun, mein Herr, entschuldigen Sie meine Aufregung. Aber ich habe den größten Teil meines Erwachsenenlebens auf diesen Moment gewartet. Was können Sie uns über unsere heilige Reliquie sagen?“
Frakes schluckte und wandte seine Augen ab. Ihm war schmerzlich bewußt, daß nun für ihn die Stunde der Wahrheit gekommen war. Er spürte das warnende Kneifen in seinem Magen, das er als sicheres Zeichen für das Schlimmerwerden seines Ulkus kannte, als er hartnäckig versuchte, die Erinnerung an diesen strengen, alten Prediger zu unterdrücken, dessen Herz er vor so vielen Jahren gebrochen hatte. „Wirst du mir jemals verzeihen Vater? Du warst es doch, der mir die Ehrlichkeit hineingeprügelt hat. Wenn du den Gürtel nicht so fest geschwungen hättest, könnte ich dem guten Mann vielleicht jetzt ins Gesicht schauen und lügen.“
„Schießen Sie los, Doktor. Heraus damit. Was haben sie entdeckt?“
„Wie wir es zuvor besprochen haben, Hochwürden, habe ich mich zunächst mit meinen Instrumenten auf das Abbild und nicht auf die Blutflecken konzentriert. Es war über Jahrhunderte hin ein Geheimnis, wie dieses Abbild in das Leichentuch gelangen konnte. Nun, das Geheimnis ist nicht mehr so geheimnisvoll. Der Abdruck ist das Ergebnis einer komplizierten, aber völlig nachvollziehbaren chemischen Reaktion. Ich habe in meiner Aktentasche einen Bericht darüber, den Sie sich in Mußestunden zu Gemüte führen können.“
„Weiter.“
„Unser nächstes Ziel war es, die Chromosomenstruktur des Individuums zu bestimmen, dessen Blut auf dem Leichentuch ist. Dies nahm ungefähr vier Monate in Anspruch. Sie müssen verstehen, Hochwürden, daß es noch viel gibt, was wir im Hinblick auf die Chromosomenstruktur nicht wissen. Wir haben noch ein langes Studium vor uns, bis wir endlich die zugrunde liegenden Prinzipien zu verstehen beginnen. Aber mit unseren vorläufigen, groben Methoden konnten wir doch schon einige grundlegende Aspekte des Musters erkennen.
Wir haben das Tuch untersucht und ausreichend Daten er mittelt, die es uns ermöglichen, die Chromosomenstruktur des Toten mit einer fünfundneunzigprozentigen Wahrscheinlichkeit zu bestimmen. Wir analysierten dann das Muster in ausführlicher Weise. Mit fast vollständiger Gewißheit können wir sagen, daß der Mann, dessen Leichentuch in Ihrem unterirdischen Tresorraum liegt, ein Semit war. Mit einer Ausnahme nur korreliert das Chromosomenmuster positiv mit dem von heute lebenden Menschen semitischer Herkunft.“
„Ausnahme?“ fragte der Primus in einer plötzlich sehr angespannten Verfassung. „Haben Sie einen Beweis dafür, daß es sich nicht um einen sterblichen Menschen gehandelt haben könnte?“
„Nicht direkt, Hochwürden.“
„Rücken Sie heraus damit, Mann! War es unser Herr oder nicht?“
„Nein, Hochwürden, er konnte es kaum sein. Nur die bloße Idee wäre grotesk, undenkbar.“
„Lassen Sie nur meine Sorge sein, was denkbar und nicht denkbar ist, Doktor. Was haben sie entdeckt?“
„Das Chromosomenmuster, Hochwürden: In einigen seiner Peptidketten konnten Deformationen festgestellt werden. Es hat uns viel Zeit gekostet, sie zu identifizieren; noch länger hat dann die Überprüfung unserer Schlußfolgerungen gedauert. Die Auswirkungen auf Ihren Orden sind allerdings so weitreichend, daß ich die gesamten Untersuchungen sechsmal in voneinander getrennten Durchgängen vorgenommen habe. Ein Fehler ist nunmehr ausgeschlossen.
Der Mann, der in dem Leichentuch gelegen hat, litt unter einem genetischen Fehler. Er hatte eine Krankheit, die wir unter dem Namen Kurusoku-Syndrom kennen.“
„Wir sind keine Mediziner, Doktor Frakes“, sagte der Primus. Seine Stimme wurde gereizt. „Was heißt das auf Englisch?“
„Das Kurusoku-Syndrom wurde erstmals Ende des letzten Jahrhunderts identifiziert. Es ist eine genetische Krankheit, die charakterisiert ist durch eine fortschreitende Verminderung der geistigen Fähigkeiten der von ihr befallenen Person durch eine wachsende Orientierungslosigkeit im Hinblick auf die Wirklichkeit. Falls man die Krankheit unbehandelt läßt, kann sie zum Wahn größten Ausmaßes führen. Wäre es bewiesen, daß die Reliquie tatsächlich das Leichentuch von Jesus Christus …
… nun, ich denke, Sie stimmen mit mir darin überein, daß die Konsequenzen für die Christenheit katastrophal sein würden.“
Zwanzig Minuten nachdem Alarm ausgelöst wurde, erschien der erste Ambulanzwagen vor der Kathedrale. Fast eine Stunde lang behandelten die Ärzte den Primus, bevor sie es wagten, ihn in die Herzabteilung des Hospitals „Unserer lieben Frau Fatima“ am Stadtrand von Turin zu fahren. Seine Chance, die kommende Nacht zu überleben, lag bei fünfzig Prozent. Als John Frakes die Treppen der Kathedrale zum wartenden Taxi hinunterschritt, zitterte er in dem kalten Nieselregen. Völlig benommen saß er im Inneren des Fahrzeuges. Die Augen des alten Mannes kurz vor seinem Herzanfall waren alles, woran er sich erinnern konnte. Dieser Blick, der ihn des Verrats bezichtigte, würde ihn bis an sein Lebensende verfolgen.
Es war der gleiche Blick, der an jenem verhängnisvollen Weihnachtsabend vor so vielen Jahren auf dem Gesicht seines Vaters gefror. Es war der Blick, der ihn nun in seinen Träumen quälte.
Er wußte, daß er noch über eine lange Zeit durch seine Träume spuken würde.
THE SHROUD
by Michael McCollum
Copyright © 1981 by Davis Publications Inc.
aus ANALOG, March 2, 1981.
Übersetzung: Michael Windgassen