Ian Stewart
 

Das verschwundene Paradies
 

„Bin in etwa drei Stunden wieder zurück, Belphoebe“, sagte Billy der Hiag zu seiner Haustür. Genauer gesagt bestand die Tür aus einem Modulationsschirm, und er richtete seine Worte an den Heimcomputer der neuen Villa, die er aus den Profiten der NOSE-Holding-Company erstanden hatte. Vor kurzem war er auf ein Buch von Spencer mit dem Titel Faerie Queene gestoßen, von dem er inzwischen, gelinde gesagt, besessen war.

Mit einem fröhlichen Pfeifen auf den Lippen ging er am Graben eines kultivierten Sumpfes entlang, als ihm plötzlich das unverkennbare Geräusch eines sich nähernden Toves gewahr wurde: ein knatterndes Glucksen wie von einem Moorgeier, der unter Blähungen leidet. Eine Mischung aus Blubbern und Zischen in hohen Frequenzen verriet seinem geschulten Ohr, daß sich das Fahrzeug mit äußerster Geschwindigkeit auf ihn zubewegte. Er blieb stehen und unterdrückte den Impuls, in die entgegengesetzte Richtung davonzulaufen. Statt dessen schlenderte er dem Rand der Mole entgegen. Er erreichte gerade den Anlegeplatz, als das Tove eintrudelte. Ein elegant uniformierter SpaDe-Beamter warf lässig das Anlegeseil über das, was er für einen besudelten Poller hielt. Dieser Poller entpuppte sich jedoch als eine dösende Sumpfente, die ein aufgeschrecktes Quaken von sich gab, von der Mole sprang und in den Schlamm platschte. Der Beamte blickte trübselig auf seine bis vor kurzem so adrette Uniform.

Wortlos legte der Hiag die Schlinge über den richtigen Poller. Ein Grynth-Beamter, voll drapiert mit SpaDe-Amtsinsignien, sprang geschickt an Land. Jetzt erkannte ihn der Hiag und grüßte:

„Wie, Archimago, Unglücklicher,

Was muß ich sehen? Welch’s Ungeschick ist’s,

Das euch brachte hierher …“

Der Offizielle blickte ihn gequält an. „Mr. Jarneyvore, schlichte Prosa reicht vollkommen aus.“

Palgandra, dachte der Hiag, hat wohl heute seinen Humor zu Hause gelassen, obwohl man Experte sein muß, um dies zu bemerken. Da liegt was in der Luft. Und nachträglich stellte er den Wert einiger Fortschritte in Frage, die er, mit elektronischer Hilfe, während der letztwöchigen Videosendung „Der Beitrag des Staatssicherheitsdienstes zu den Beziehungen innerhalb der Quaternities“ ausprobieren wollte. Vielleicht hätte er sich zuvor von der Videogesellschaft beraten lassen sollen. Aber vielleicht war es gut so, daß er es nicht tat. Seine ferngesteuerte Digital-Edierer-Vorrichtung hatte einwandfrei funktioniert, obwohl, unter diesen Umständen …

Palgandra ging vorsichtig über die mit einer dünnen Schleimschicht bedeckten Mole. Sie war immer noch feucht, und auf Grovers Welt wußte man instinktiv, daß man bei feuchtem Dreck vorsichtig zu sein hatte. Billy versuchte es diesmal mit einem etwas respektvollerem Ton.

„Mr. Palgandra. Ich bin hoch erfreut, daß Sie mich mit Ihrer Gegenwart beehren. Führt Sie eine private Angelegenheit zu mir, oder handelt es sich um eine dringliche Amtsangelegenheit …?“

„Ich würde es vorziehen“, sagte Palgandra, „wenn wir das in Ihrer Villa besprechen könnten.“

Zögernd ging Billy voraus. Er hatte eine kurze, aber heftige Auseinandersetzung mit Belphoebe, denn er mußte erklären, daß er seine Pläne geändert hatte und vorzeitig zurückgekehrt war. Verdammt, konnte das verrückte Ding seine Stimme nicht erkennen, wie es sollte, und ihn hereinlassen? Es reagierte dann endlich nach ein paar seltsam anmutenden Stimmproben. Er machte seinem Ärger über diese Stimmkodierer mit leisen Flüchen Luft und führte seinen Besuch in den Empfangsraum.

„Mr. Jarneyvore“, sagte Palgandra, „waren Sie jemals auf Bahamba Bright?“

Erleichtert nahm er zur Kenntnis, daß es sich nicht um den Staatssicherheits-Sender handelte, der den Grynth an seine Tür schickte. Billy spitzte seine Lippen.

„Die Erholungswelt? Im Pirelli Sektor?“ Der Grynth nickte bestätigend mit seinem Kopf. Billy war amüsiert. „Ich muß zugeben, daß sich meine finanzielle Lage seit meinem Mitwirken in der NOSE Holding Company gebessert hat – aber man braucht eine private Raumyacht, um überhaupt in die Nähe dieser Gegend zu kommen.“

Der Grynth stieß ein Schnauben durch die Doppelöffnungen hinter seinen Ohrläppchen, um gleichzeitig Zustimmung und Entrüstung zum Ausdruck zu bringen. Er griff in seinen Mantel und zog ein kleines metallisches Kästchen hervor, das an seinem unteren Rand mit einer Reihe von Drucktasten versehen war. Er drückte eine davon, und eine leuchtende dreidimensionale Darstellung eines Planeten erschien in dem Luftraum oberhalb des Kästchens.

Es war eine wäßrige Welt. Kleine grüne Inseln lagen in lose zusammenhängenden Archipels wild verstreut in dem türkisfarbenen Ozean, der sich über den gesamten Globus erstreckte. Darüber zogen flauschige Wolkenfetzen in lachsroten und zitronengelben Farbtönen durch den strahlenden Himmel. Eine einzige Idylle.

„Auf Bahamba Bright gibt es über siebzigtausend Inseln“, bemerkte Palgandra. „Sie werden an wohlhabende Besucher vermietet, die sich dort entspannen, Urlaub machen und so weiter. Die exakte Anzahl belief sich auf zweiundsiebzigtausendeinhundertundsieben.“

Billy stutzte aufgrund der Vergangenheitsform. „Was?“

„Der letzten Zählung zufolge gibt es nur noch zweiundsiebzigtausendeinhundertundsechs Inseln.“

„Man hat dort eine Insel verloren?“

„Eine kleine, ja“, sagte Palgandra hastig. „Ein halber Kilometer in der Länge.“

Wie? Durch ein Erdbeben?“

Palgandra atmete diesmal mit einem Schnauben ein, was wohl soviel wie Widerspruch bedeutete. „Mit Sicherheit nicht. Bahamba Bright hat einen tektonischen Stabilitätsindex von 97. Das ist ein Grund für seine Beliebtheit. Nein: Alles deutet darauf hin, daß die Insel mit Gewalt entfernt worden ist. Entführt.“

„Ich möchte fast meinen“, sagte der Hiag, „dies ist ein recht ungewöhnlicher Vorfall.“ Der Grynth versuchte gleichzeitig in beide Richtungen zu schnauben, wobei er fast erstickte. Wieder genesen, drückte Palgandra weitere Tasten. Vor ihnen entfaltete sich eine Reliefkarte.

„Das ist ein Teil des Riffs Archipel“, erklärte der Grynth. „Die vier Inseln, die Sie hier erkennen, sind Vnagar, Jaisalm, Strophny und Trixydix.“ Er deutete jeweils mit dem Finger auf die entsprechende Stelle. „Dieses Holo wurde vor zwei Jahren von einem Satelliten aus aufgenommen. Und nun …“ – er drückte eine Taste – „… das wurde gestern aufgenommen.“

Der Hiag zählte in dem Ausschnitt lediglich drei Inseln. „Trixydix fehlt“, sagte er.

„Richtig“, erwiderte Palgandra. „Die Insel ist spurlos verschwunden.“

Der Hiag dachte kurz nach. „Gibt es bereits irgendwelche Spuren?“

„Örtlichen Berichten zufolge wurden ein Donnerschlag und ein etwas auffrischender Wind wahrgenommen. Die Seismologen der Marine beobachteten kleinere Flutwellen, die ihren Ausgangspunkt in den Trixydix-Koordinaten hatten. Keiner konnte eine direkte Beobachtung machen: Es war nämlich dunkel. Das ist alles.“

„Großartig“, sagte der Hiag. „Jemand brauchte nur eine Zauberformel zu sprechen, und das Inselparadies Trixydix verschwand mit einem Donnerschlag für immer unter den wogenden Wellen des Ozeans.“

„Nicht nur die Insel“, berichtigte Palgandra. „Mit ihr die Ferienbewohner.“ Er zählte sie an den Fingern seiner ledrigen Hand ab. „Der Mensch Turpine Carleson, ein Industrieller. Der Barasshanti Jerz ap-Browan, ein Wolkenbildner. Luinda Rompstack, menschlicher Videostar. Llizllyllinzyll Jyrijjeer, ein Femmish und Philologe. Mykal Sarpent, Grynth, ist Botschafter des Minor Drimp Clusters. Porgas Jurket, Mensch, er handelt mit Münzen. Darüber hinaus wird noch eine ganze Gefolgschaft von Robotern vermißt.

Die Polizei von Bahamba Bright erhielt etwa eine Stunde nach dem Verschwinden einen Erpesserbrief. Pro Person wurden eine Milliarde Kroon verlangt. Es hieß, vor Zahlung der sechs Lösegeldsummen werde keiner freigelassen.“

„Doch all sein Trachten auf den schmutz’gen Mammon ziehlt“, deklamierte der Hiag,

„Um nur zu horten, was allein gehört dem Teufel,

Indem er andre prellt, sich selbst dabei zerstört …“

Er riß sich von seiner Träumerei los. „Das ist aber ein nettes Sümmchen.“

„In der Tat. Es liegt für alle gerade noch im Bereich des möglicherweise Zahlbaren, außer vielleicht für Porgas Jurket …“

„Rompstack wird sicherlich auch nicht soviel Kleingeld besitzen!“

„Dafür hat Carleson genug für zwei“, meinte Palgandra trocken. „Aber die Forderungen bleiben illusorisch. Was Mykal Sarpent betrifft, so wird ein Grynth niemals in eine solche Erpressung einwilligen.“

„Warum nicht? Man kann schließlich nicht sagen, daß der diplomatische Dienst der Grynths am Hungertuch zu nagen hat.“

„Es ist eine Sache des Prinzips. Die Agneth würde herabgesetzt.“

Der Hiag konnte sich ein Grunzen nicht verkneifen. Die Grynth waren bekannt als flexible Pragmatiker, außer wenn es um sehr abstrakte Qualitäten ging. Agneth bedeutete soviel wie „Ehre“ oder vielleicht „Gesicht“, aber weder die eine noch die andere Übersetzung traf den eigentlichen Sinn des Wortes. Wenn es um die Agneth ging, war ein Grynth so unbeweglich wie ein Schwarzes Loch.

Palgandra hatte sein Räuspern überhört. „Wir stecken also in einer sehr unerfreulichen Klemme. Die Kidnapper müssen so schnell wie möglich dingfest gemacht und die Opfer befreit werden, ohne Lösegeld zu zahlen.“

„Warum sind Sie mit der Sache beauftragt? Wo ist die Verbindung?“

Der Grynth seufzte. „Der Botschafter stattete Grovers Welt einen kurzen Höflichkeitsbesuch ab, bevor er nach Bahamba Bright weiterreiste. Wegen eines kleinen Mißverständnisses auf Aphelix wurde die Verantwortung für seine Sicherheit nicht weitergeleitet, als er losfuhr.“

„Aha. Man hat also nicht schnell genug den schwarzen Peter loswerden können.“

„Ich bedaure, nein.“

Jetzt wollt ihr, daß ich für euch die diplomatische heiße Kartoffel aus dem Feuer hole, dachte Billy. Oh, nein. Wyllam, der Hiag, wird euch einen Korb geben und weiter in seiner Faerie Queene schmökern. Egal, wie hoch das Honorar sein wird. Er schaute Palgandra an. Palgandra lächelte und zeigte dabei viele Zähne.

„Das ist natürlich der Punkt, wo Sie auf die Bühne treten.“

„Interessant“, sagte der Hiag. „Muß ich nicht erst überredet werden?“

Joze Palgandra winkte heftig mit seiner Hand ab. „Warum Mr. Jarneyvore? Es ist doch allgemein bekannt, daß eine Ihrer meist geschätzten Eigenschaften das brennende Verlangen ist, anderen Menschen in selbstaufopfernder Weise zu helfen. Heute morgen noch sagte ich zu Chefinspektor Pigge, wie sehr dieser Charakterzug doch einen erfrischenden Gegensatz zu bestimmten anderen Bewohnern dieses Planeten bildet. Warum? Erst letzte Woche war ich Zeuge eines absolut widerwärtigen Exempels asozialen Verhaltens.

Haben Sie das Programm über die Beiträge des Staatssicherheitsdienstes zu den Beziehungen innerhalb des Quaternities gesehen?“

„Ich kann mich nicht erinnern“, sagte der Hiag vorsichtig.

„Ich freue mich, dies zu hören, Mr. Jarneyvore. Es hätte mit Sicherheit Ihrer sensiblen Natur einen Schock versetzt. Irgendeinem verantwortungslosen Rowdy gelang es, einen ferngesteuerten Digital-Edierer in den Sender zu schalten. Er machte Mitschnitte bei anderen Sendern und vermengte diese mit dem Originalprogramm. Einige dieser Mitschnitte konnten wir mit großer Mühe identifizieren. Einer, soweit ich mich erinnere, handelte von den Nordischen Sklavinnen der Asteroidenminen. Ein anderer war Vom Fellboot zum Raumschiff; ein dritter handelte vom Sportfischen in versumpften Gewässern … und etliches mehr. Ich bin sicher, Sie erkennen die Absicht, die dahintersteckt.

Chefinspektor Pigge war darüber nicht sonderlich amüsiert. Er drohte damit, die dafür verantwortliche Person in die cyberischen Steinbrüche zu schicken. Die Höchststrafe, so sagte er mir, sei zehn Jahre.

Er erhielt ein Gutachten über die verwandten technischen Vorrichtungen. Es zeigte sich, daß diese äußerst kompliziert und hochentwickelt sein müssen. Nur wenige Spezialisten können die Fähigkeit aufbringen, um diese Vorrichtung zu bauen und die Sicherheitsvorkehrungen der Gesellschaft zu umgehen. Es erfordert Fachkenntnisse auf verschiedenen Gebieten. Er vermutete, daß es sich entweder um die Arbeit einer organisierten Bande oder eines Hiags handelt.

Nun, dabei wurde ich natürlich an Ihre untadelige Person erinnert. Ich überzeugte Pigge, daß es wesentlich wichtiger sei, den Trixydix-Fall zu lösen, als asozialen Jugendlichen auf die Schliche zu kommen. Unter der Mithilfe eines Hiag steigen natürlich die Chancen, den Fall zu klären. Es bedurfte einiger Überredungskünste, aber schließlich stimmte er mir doch zu. Jedoch machte er zur Bedingung, nur den besten Hiag dieses Sektors zu beauftragen; anderenfalls würde er seine kostbare Zeit für diesen Fall nicht zur Verfügung stellen. Falls diese Bedingung nicht erfüllt werden könnte, sähe er sich genötigt, die Angelegenheit einer höheren Entscheidungsebene der Quaternity zu übertragen, um sich wieder irdischeren Problemen wie zum Beispiel die Aufklärung dieser schrecklichen Sendergeschichte widmen zu können.

Ich informierte Pigge darüber, daß der beste Hiag in diesem Sektor Wyllam Jarneyvore sei. Er meinte, seine Bedingung bliebe dennoch bestehen. Nachdem ich die Unterlagen über Ihre Vergangenheit studiert hatte, erklärte ich Pigge, daß Sie mit Sicherheit Ihre Hilfe zur Verfügung stellen würden.“

Der Hiag gab sich den Anschein konzentrierten Nachdenkens. Schließlich sagte er: „Das ist ein schwieriger Fall, Mr. Palgandra. Er erfordert erhebliche Geldmittel, und für auswärtige Arbeit muß ich alle Auslagen sowie ein höheres Honorar als gewöhnlich in Rechnung stellen.“

„Das ist kein Problem.“

Der Hiag streckte seine Hand aus. „Mr. Palgandra, Sie haben ja so recht. Mein staatsbürgerliches Pflichtbewußtsein gebietet es mir, dem bewunderungswürdigen Chefinspektor Pigge bei der Lösung des schrecklichen Verbrechens zu helfen.“

 

Der Traveller näherte sich Bahamba Bright auf einer der sechzehn Raumbahnen, die spiralförmig in einem Neigungswinkel von zwanzig Grad auf die Äquatorialkurve zusteuern. Von diesem Winkel aus scheint Bahamba Bright eine beringte Welt zu sein wie etwa die Levanninna 6 oder der alte Saturn. Nur ist sein Ring keine natürliche Formation. Er besteht aus Raumyachten, die auf einem Parkorbit gehalten werden. Durchschnittlich parken dort dreihunderttausend Maschinen. Für einen Planeten, der keine Regierungs- und Verwaltungswelt ist, bedeutet dies eine außergewöhnlich hohe Verkehrsdichte. Alle An- und Abflüge werden von Traffic Control dirigiert, einem hochentwickelten, leistungsfähigen Prozessoren, der von den Femmish hergestellt wird. Innerhalb der Umlaufbahn des kleinen Mondes von Bahamba Bright sind Phasensprünge untersagt: Der Traveller darf nur mit Hilfsantrieb an den Raumbahnen entlanggleiten. Der Planet verfügt über keine ausgedehnten Landflächen. Der einzige Raumhafen, Arcady, ist für einen Pendeldienst reserviert, der die Besucher schnell und effizient auf die Oberfläche des Planeten befördert.

Wyllam Jarneyvore und Otis Pigge verließen die kreisende Shrimpton und fuhren per Fähre zum Port Arcady.

Das Klima von Bahamba Bright war fast unübertroffen. Außer in den Polargegenden herrschten hier dank der leuchtend weißen Sonne subtropische Temperaturen. Die Luftfeuchtigkeit war nicht zu hoch; es regnete nur nachts. Von Insel zu Insel wehte stets eine frische Brise. Eine peinlich sauber gepflegte Kutsche mit offenem Verdeck, gezogen von zwei Skeggas, brachte Pigge und Jarneyvore in das Hotel zur Leuchtenden Lagune am Rande der blauen Hügelkette. Die Leuchtende Lagune wurde nur von denen besucht, die geschäftlich am Port Arcady zu tun hatten. Neben diesem gab es nur noch eine Handvoll anderer Hotels auf Bahamba Bright. Die meisten Besucher wurden in individuellen Inselvillen untergebracht, die über einen eigenen Badestrand, der von Luftkissentaxis angelaufen werden konnte, verfügten. Diese Taxis schafften eine Verbindung zu einem Verkehrsnetz, in dem geräuschlose, schnelle Flieger eingesetzt waren. Die ständig dort lebenden Bewohner hatten die Aufgabe, die Wünsche der wohlhabenden Touristen zu erfüllen. Sie waren hauptsächlich Angestellte der Agenzia Bahambin, dem Besitzer der Inseln, Luftkissentaxis, Fliegern und des Raumhafens Arcady.

Die Kundschaft von Bahamba Bright suchte nicht nur Ruhe und Einsamkeit, sondern auch Abwechslung und Amusement, je nachdem. Auf jeder Inselgruppe gab es, zentral gelegen, ein Gemeinschaftsgebiet, auch Vergnügungsviertel genannt, bestehend aus Parks, Bogengängen, Erfrischungsräumen, Spielhallen, Musik, Tanz und anderen Unterhaltungsmöglichkeiten.

Pigge und Jarneyvore nahmen Kontakt auf mit der örtlichen Polizei, genauer: mit dem Polizeipräsidenten Lurkin Mole. Mole hatte bereits eine große Akte über die gestohlene Trixydix und ihre gekidnappten Bewohnern angelegt. Die Quantität der Unterlagen war allerdings wesentlich überzeugender als die Qualität.

Allem Anschein nach war Trixydix von der Oberfläche von Bahamba Bright verschwunden. Es gab keinen Hinweis auf die Methode, die ein solches Meisterstück gelingen ließ. Laut Traffic Control hatte sich vor dem Vorfall kein unautorisiertes Raumschiff weiter als bis zum Parkorbit dem Planeten genähert. Die seismographischen Aufzeichnungen ließen keine Anzeichen erkennen, die auf eine Explosion hingewiesen hätten, obwohl die Insel wie vom Erdboden abgesägt erschien. Die Bewohner der benachbarten Inseln berichteten von einem lauten Knall wie einem Donnerschlag und mittleren Flutwellen, die gegen die Strände brandeten.

„Ich vermute, die Lösegeldforderung und die Auszahlungsmodalitäten führen uns auch nicht auf die geeignete Spur“, sagte Pigge.

Mole bestätigte, daß man die Nomes beauftragt hatte, die Transaktion vorzunehmen. Schon in den frühen Tagen von Quaternity erwies es sich als sinnvoll, einen unabhängigen Vermittler zwischen Individuen und Organisationen, besonders den eher halbseidenen, zu haben. Die umherziehenden Nome-Gemeinschaften hatten diese Funktion stets zu aller Zufriedenheit wahrgenommen. Sie hatten während der folgenden Jahrhunderte ihre Aktivitäten derart spezialisiert, daß sie dem QuatCent zunehmend ein Dorn im Auge wurden. Denn immer wieder erwies es sich als unmöglich, die Nome-Gemeinschaften zu infiltrieren oder von ihren Aktivitäten nützliche Informationen zu beziehen.

Es stellte sich heraus, daß Mole noch keine detaillierte Inspektion des Tatortes vorgenommen hatte. Pigge und Jarneyvore bedauerten beide Moles mangelnde Initiative und forderten ihn auf, für den nächsten Morgen ein Unterwasserboot zur Tatortinspektion bereitzustellen.

Darauf nahmen sie Kopien der Akte mit in ihr Hotel und zogen sich auf ihre Zimmer zurück, um sie studieren zu können.

 

Jerz ap-Browan. Barasshanti, Nachfahre von Browan ap-Nisp. Geboren im Phariteel IV, 280 QC … Professioneller Wolkenbildner. (Diese traditionelle Barasshantitätigkeit macht sich zur Aufgabe, mit Hilfe chemikalischer Wirkstoffe von einem Flieger aus die natürlichen Formen der Wolken zu modifizieren. Die Wolkenbildner wetteifern darin – die Konkurrenz ist groß –, die ästhetisch schönsten Formen zu produzieren, bewundert von Millionen …)

 

Turpine Toomyvar Carleson. Mensch, Sohn von Toomyvar Pester Carleson, Gründer der Fastenspeise-Kette Pink Toad … Nach dem Tod des Vaters (Schlangenbiß) Ausbau des Geschäftes in Frachtkontor, Herstellung von Handgelenkscomputern und Verkauf von exotischen Schmuckstücken. Geboren in Neu Delphi, 296 QC …

 

Porgas Kshatrin Subhad Jurket. Mensch, Tochter von Mil’cent Subhad Kshatra … Geboren in Lamnai Dreft, 270 QC … handelt mit seltenen Münzen … Verurteilt wegen zu schnellen Fliegens in einer geschwindigkeitsbegrenzten Zone, Blyssom Gaswolkengegend, 292 QC …

 

Llizllyllinzyll Jyrijjeer. Femmish, geboren auf Palamagantra-Tish, c. 252 QC … Herkunft unbekannt … Philologe, spezialisiert auf Rechtschaffenheit und Feinheit des Benehmens …

 

Luinda Rompstack. Mensch, geborene Lettice Enid Rollop, Tochter von Sydney Martin Rollop, geboren in Broncastra VIII b, 302 QC … Bis zum zweiundzwanzigsten Lebensjahr als Sekretärin bei der Pink Toad Inc. Wemburg, Broncastra VI beschäftigt … Als Rompstack begann sie ihre Videokarriere als Sängerin von Schlagerliedern und Tänzerin …

 

Mykal Sarpent. Grynth, Sohn von Morvay Shimp und Jucille Sarpent, Mitglieder des diplomatischen Korps … Geboren auf dem dritten Satelliten, Gamma Lambardella II, 264 QC … Ernannter Botschafter im Minor Drimp Cluster, Winchwood Sektor, 324 QC … begeisterter Lichtsegelsportler, qualifiziert für den Fomalhaut Wettbewerb, 322 QC …

 

Nach zwanzig Minuten hatte Billy, der Hiag, die Akte von der ersten bis zur letzten Seite auswendig gelernt. Außer der auffälligen Verbindung zwischen Carleson und Rompstack gab sie nicht viel her. Falls die Wahl der Insel zufällig war, was sehr wahrscheinlich war, konnten die Informationen über die Opfer nicht viel weiterhelfen.

Das Motiv war natürlich sonnenklar. Geld – und somit waren praktisch alle Bürger des Quaternitys gleich verdächtig. Die einzige Person, die der Hiag zu diesem Zeitpunkt guten Gewissens von der Liste der Verdächtigen streichen konnte, war er selbst; und das hatte nichts mit dem Motiv zu tun.

Der vielversprechendste Ansatz war der modus operandi: genauer, das Niveau und die Art der Technologie, die bei dem Coup eingesetzt wurde. Aber das war auch nicht besonders ermutigend, denn diese Technologie gab es, zumindest bisher, noch nicht …

Bevor er in dieser Sache weiterkommen konnte, mußte er zunächst einmal alles an Ort und Stelle in Augenschein genommen haben.

Er ging hinunter in den Empfangsraum des Hotels. Da gab es doch nun wirklich auf Bahamba Bright bessere Beschäftigungen, als das eigene Gehirn zu martern. Zwei Mädchen in Sonnenkostümen schlenderten am Eingang vorbei. Billy ging gemächlich die Stufen zur Straße hinunter.

Otis Pigge, der ihn besorgt durch das Blattwerk einer Topfpflanze beobachtet hatte, schlich sich durch einen Nebenausgang hinaus und schlug die gleiche Richtung ein.

Für ein paar Stunden begutachtete der Hiag das Vergnügungsangebot von Arcady: den oberflächlichen Frohsinn der hell beleuchteten Bogengänge, die schweißtreibende Aufregung in den Spielhallen, das Stimmengewirr der Kneipen oder die Urlauber, die von einem glitzernden Spektakel zum nächsten rannten. Für die Agenzia Bahambin floß das Geld in Strömen, daran bestand kein Zweifel. Der Hiag nahm sich vor, die Eigentumsverhältnisse von Agenzia Bahambin einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

Spät am Abend machte er eine etwas ruhigere Vergnügungsecke ausfindig: ein grasbewachsener Hügel, von dem man den Ambergray Park überschauen konnte. Er wollte gerade aufstehen und zurück zur Leuchtenden Lagune wandern, als er Schritte hinter sich hörte.

Es war ein Mädchen, das sich näherte. Ein umwerfend hübsches Mädchen in einem hauchdünnen roten Kleid. „Hallo“, sagte sie. „Ich heiße Lindilu.“

Der Hiag sprach aus, was ihm zuerst einfiel.

„Er hatte eine feenhafte Wegbegleitung,

Anmutig war sie und in Scharlachrot gewandet,

Mit Gold und Perlen reich bestickt

Und …“

„Das ist schön. Was ist das?“

„Es stammt aus einem alten Gedicht, Faerie Queene“, antwortete der Hiag.

„Sie sind süß. Wer sind Sie?“

„Wyllam Jarneyvore. Bekannt bin ich jedoch unter dem Namen Billy, der Hiag.“

Sie fragte ihn, was ein Hiag sei. Billy erklärte ihr, daß dieser Name eine Abkürzung des Begriffs „Hansdampf in allen Gassen“ ist und daß darunter die eigentümliche Kombination von Fähigkeiten zu verstehen sei, die ein Hiag besitzen muß. Auch sie erzählte ihm ein wenig über sich: Lindilu Glynde, Tochter eines Händlers von Kühlaggregaten, die ihren Urlaub auf Bahamba Bright verbrachte. Billy erzählte ihr von Grovers Welt mit ihren endlosen Sumpfmeeren und der riesigen orangefarbenen Sonne. Lindilu beschrieb ihm ihren Heimatplaneten Hosperlan, wo die Fünf Grünen Sterne den Abendhimmel überstrahlten und die Schwärme der Webervögel und Honighühner im Jahreszeitenwechsel über die Sarsheen Marsch glitten. Gemeinsam betrachteten sie den Untergang der glühenden Sonne von Bahamba, die zwischen den hochwipfelnden Calyptus-Bäumen hindurchleuchtete. Und als sie den Park verließen, war es nur natürlich, daß sie ihn gemeinsam verließen …

Otis Pigge verbrachte einen weniger erfolgreichen Abend. Wie der Hiag hatte auch er bald die Nase voll von der Trixydix-Akte. Aber im Gegensatz zu dem Hiag hatte er nur wenig darin gelesen, obwohl er genauso lange in ihr geschmökert hatte. Immerhin kam er zu dem gleichen Urteil, was ihren Wert anbelangte. Er hoffte, den Hiag durch die Behauptung zu beeindrucken, er habe den ganzen Abend arbeitend im Hotel zugebracht. Aus diesem Grund vermied er es, gesehen zu werden.

Aber der eigentliche Grund für Pigge, das Hotel zu verlassen, war sein Wunsch, ein Souvenir zu erstehen. Etwas Einfaches, Elegantes, aber typisch Bahambianesisches. Etwas, das er zu Hause auf Grovers Welt auf seinen Schreibtisch stellen konnte. Etwas, das den Neid seiner Untergebenen wecken würde. Es kostete ihn mehrere Stunden, bis ihm klar wurde, daß er nichts Passendes innerhalb seiner Preisvorstellungen finden konnte. Er war sauer auf sich selbst, sowohl wegen der erfolglosen Suche als auch aus Ärger, der Versuchung nachgegeben zu haben. Er fragte sich, ob er nicht vielleicht einen Kauf auf die Spesenrechnung setzen könnte. Er sann immer noch darüber nach, als er um eine Ecke bog und beinahe über Billy, den Hiag, gestolpert wäre.

Pigge suchte hastig Deckung und spähte vorsichtig um die Ecke. Der Hiag hatte ihm den Rücken zugedreht und ihn gar nicht bemerkt. Er war in Begleitung der jungen Frau (Pigge registrierte murrend Billys guten Geschmack), die versuchte, sich zu dem Kauf einer Miniatur-Skegga, aus dunkelmasrigem Calyptusholz, handgeschnitzt und poliert, durchzuringen. Sie hielt das Stück in ihrer Hand und prüfte es sorgfältig. Es schien, daß es nicht ihrem Geschmack entsprach, denn sie legte es zurück auf die Verkaufsmatte. Das Paar schlenderte weiter.

Pigge schossen mehrere Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Zunächst war da die professionelle Neugier, was die Begleitung des Hiags anging, aber da war noch ein anderer Gedanke … Pigge schlich zu den Straßenverkäufern hinüber. Er zeigte auf die Skegga. „Wieviel?“ nach kurzem Feilschen zahlte Pigge die Summe von zweitausend Kroon. Er bestand darauf, die Schnitzerei selbst einzupacken. Er tat dies mit ungewöhnlicher Sorgfalt und vermied dabei, die glänzende Oberfläche zu berühren. Darauf kehrte er zur Leuchtenden Lagune zurück. Auf der Skegga waren mehrere wunderschöne, deutliche Fingerabdrücke, die er per Freiwellentransmission der erkennungsdienstlichen Zentrale von Aphelix übermittelte. Pigge machte einen Eintrag über zweitausend Kroon in seinem Auslagennachweis, die er als Beschattungskosten rechtfertigte, und stellte die Skegga auf den Tisch, wo sie sich gut machte. Er klopfte an Billys Tür, erhielt jedoch keine Antwort und ging zu Bett. Er erwachte früh und rief gleich wieder nach Billy. Immer noch keine Antwort.

Pigge fragte sich, was den Hiag wohl bewogen hatte, anderswo zu übernachten. Er brauchte nicht dreimal zu raten, stieß einen satten Fluch aus und marschierte in den Speisesaal.

 

Das klare Wasser der Meerenge von Mermynthine glitt mit einem zarten Zischlaut am Rumpf des Aufklärers Caliban entlang. Farbenprächtige tropische Fische wimmelten im Wasser. Mit blitzschnellen Flossenschlägen flohen sie vor dem Unterseeboot. Jarneyvore und Pigge beobachteten das Schauspiel durch die transparenten Rumpfwände des Bootes. Der schweigsame Pilot konzentrierte sich auf seine Armaturen.

Die Caliban steuerte quer durch die Meerenge dem Riff Archipel entgegen. Der Hiag studierte die Karten. Vor ihnen und linkerhand lag die Insel Jaisalm, zehn Kilometer lang und mit vier hervorspringenden Sandbänken versehen, die ihr das Aussehen eines leicht verfremdeten Dudelsacks verliehen. Auf der rechten Seite lag das Vnagar Atoll mit seiner kreisrunden Lagune. Das Boot tauchte unter, blieb aber auf seinem Kurs mitten durch den Kanal, der die beiden Inseln voneinander trennte. Nun ließen sich schwach die Umrisse der Insel Strophny erkennen. Der Pilot korrigierte den Kurs, um das westliche Vorgebirge zu umgehen. Laut Karte mußte dahinter Trixydix liegen.

Es war das erste Mal auf dieser Fahrt, daß der Pilot sprach. „Jeden Augenblick werden Sie beobachten können, daß der Untergrund ansteigt.“

Der Inspektor und der Hiag blickten gebannt nach vorne und nach unten. Der geriffelte Sandboden des Meeres zeigte sich mehr und mehr mit Felsen durchsetzt. Zunächst sahen sie nur kleinere Erhebungen, aber dann auch größere. Und dann begann ein steiler Aufstieg. Weiter oben war …

Nichts.

Es war, als hätte man die Insel horizontal mit einem Messer abgeschnitten. Ungefähr zehn Meter unterhalb der Wasseroberfläche brachen die Fels- und Korallenwände abrupt ab: Darüber war nur das glitzernde Schaukeln der Wellen.

Die Caliban stieg auf bis zur Ebene des Bruchs und verlangsamte ihr Tempo.

„Bemerkenswert flach“, sagte Billy. „Ein absolut ebener, sauberer Schnitt. Das ist kaum zu glauben. Pilot, können Sie bitte langsam über dieser Fläche hin und her kreuzen?“

Das künstliche Plateau unter ihnen war mit einer dünnen Schicht aus Sand und Meeresablagerungen bedeckt. Der Hiag bat den Piloten anzuhalten und begann, Maske und Atemtanks überzuziehen.

 

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„Ich muß mir das einmal näher angucken. In zehn Minuten bin ich wieder zurück.“

Er schlüpfte durch die Luftschleuse, schwamm ein wenig in seitliche Richtung und sank dann geradewegs auf den Boden. Der Sand wirbelte unter seinen Füßen auf, als er den Fels berührte. Er kniete sich auf die flache Oberfläche. Vorsichtig wischte er mit einer Hand den Schutt ab und ging mit den Augen ganz nah heran.

Knapp unterhalb der Oberfläche bewegte sich etwas.

Es hatte Augen. Es war ein Gesicht.

Sein eigenes.

„Mein Gott“, staunte der Hiag. „Lurkin Mole sagte, die Insel sei flach abgetrennt worden. Aber er sagte nicht optisch flach! Das ist ja ein einwandfreier Spiegel!“

Nun, fast, berichtigte er sich. Die Oberfläche war wie hochpolierter Marmor, aber mit einer sehr viel höheren Reflektivität. So etwas hatte er bei polierten Steinen noch nie gesehen: Sein Abbild war scharf, lediglich etwas dunkel und getönt. Das ganze war von zahlreichen Sprüngen durchzogen, genau wie bei einem Stein, der mit einer Diamantensäge durchschnitten worden war. In eines der Löcher keilte Billy einen Meißel und brach ein Stück heraus, das später analysiert werden konnte.

Nachdem er zum Boot zurückgekehrt war, informierte er Pigge über seine Entdeckung.

„Selbst ein Technik-Ignorant wie ich es bin“, sagte Pigge, „sieht auf den ersten Blick, daß dies ein wichtiger Hinweis ist. Haben Sie schon eine Ahnung, Jarneyvore?“

„Ich weiß nicht“, meinte der Hiag. „Wie kann man bloß einen Viertel Quadratkilometer festen Gesteins ohne Sprengstoffe abtrennen und dazu noch so, daß eine optisch flache Oberfläche entsteht? Selbst mit Sprengstoffen ließe sich die Sache kaum vorstellen … obwohl, ich vermute, eine fokussierte Dynoplax-Explosion könnte dies zumindest teilweise schaffen. Eine ringförmig angeordnete Ladung, die eine horizontale Erschütterungswelle auslöst … Allerdings, so einfach ist das auch nicht.“

„Mole hätte das schon herausgefunden“, sagte Pigge.

„Lurkin Mole fehlt es an Phantasie“, schaltete sich der Pilot zu ihrer Verwunderung ein. Dann gab er wieder Gas. „Wir machen uns am besten wieder auf den Rückweg; die Atemluft wird knapp.“

Während der Fahrt zurück hatte der Hiag kein Auge für die Unterwasserszenerie. Er dachte angestrengt über diese rätselhafte optisch flache Oberfläche nach. Tief in seinem Unterbewußtsein fühlte er eine leise Vermutung aufsteigen. Irgendwo, irgendwann einmal war er bereits auf ein ähnliches Phänomen gestoßen. Aber er grub nicht weiter danach, er kannte die verschlungenen Wege seines Geistes zu gut. Das Samenkorn der Vermutung würde die Geschwindigkeit seines Wachstums selbst bestimmen: Ein bewußtes Erzwingen bewirkte unweigerlich das Gegenteil.

Lurkin Mole hatte einen Bericht vom QuatCent erhalten. Wie einen Blumenstrauß überreichte er ihn Billy. „Hier ist die Antwort ihrer Anfrage über Agenzia Bahambin“, sagte er. „Man mußte verdammt lange herumschnüffeln, um das zusammenzustellen, was Sie wollten: Es handelt sich um eine nicht registrierte Firma, und im Handelsregister gibt es nur leere, weiße Akten über sie. Ich denke, das Resultat wird Sie interessieren.“

Agenzia Bahambin protzte mit nur zehn Anteilen. Vier davon besaß Cutche Combine, drei Imoth-ap-Ost und je einen Anteil hielten Turion Plence, Savannah Holdings und die Shill Corporation. Die Cutche Combine war eine Tochtergesellschaft der Jeeling Astor Corporation. An dieser wiederum war Pink Toad zu sechzig Prozent beteiligt. Imoth ap-Ost war nicht, wie man annehmen konnte, der Name eines einzelnen Barasshanti; es war eine Barasshanti-Scheinfirma. Dahinter steckte Nisp Chemicals. Nisp Chemicals wurde von Jermyn ap-Browan geleitet, einem Bruder von Jerz ap-Browan. Turion Plence war ein Strohmann, auf dessen Namen die Beteiligungen lauteten. Sein Hintermann war unbekannt. Die Miete für seine luxuriöse Unterwasservilla in der Luftblasenstadt Swoir wurde von Gelica Sarpent bezahlt, der Frau von Mykal Sarpent. Savannah Holdings bestand aus einem Netz von kleinen Gesellschaften, die allesamt zu einem Femmish Konzern gehörten, der wiederum in der Einflußsphäre der Jyrijjeer Clans stand. Die Shill Corporation war eine Spezialgesellschaft, deren einziger größerer Kunde die PJ Numismatics Inc. war. Sie wurde geleitet von Porgas Jurket.

„Oh Junge“, stöhnte Pigge. „Es sieht so aus, als hätte jemand das jährliche Generaltreffen von Agenzia Bahambin sabotiert.“

„Das ist äußerst bestürzend“, sagte Lurkin Mole. „Wir hätten über dieses Treffen informiert sein sollen.“

Pigges Augen trafen sich mit denen des Hiags. Keiner sprach aus, was er dachte. Aber beide dachten das gleiche. Es war ohnehin offensichtlich: Agenzia Bahambin scheute Publizität.

 

Lindilu wartete wie verabredet.

„Hallo“, grüßte der Hiag und nahm ihre Hand. Sie lächelte, ein wenig zu blasiert, dachte er. Sie holte tief Luft und rezitierte:

„Seid willkommen nun, mein Herr in Freud und Leid,

Den ich entbehrt für einen Tag, bereits zu lang,

Mißbilligt von Fortunas …“

„Buch I, Lied VIII, Vers 43“, sagte Billy. „Wie ich sehe, bin ich nicht der einzige, der einen Hang zum Literarischen hat.“

„Es hat mich begeistert“, antwortete Lindilu, „also habe ich mir eine Kopie von dem Bücherei-Computer beschafft. Du hast ein phantastisches Gedächtnis.“

„Ich vergesse niemals etwas. Das ist das Schicksal eines Hiags.“

Sie biß sich auf die Unterlippe. „Ja, ich vermute, so wird es sein.“

„Der Fluch meines Berufs“, sagte Billy. „Aber glaube mir, ein paar Dinge sind es wert, daß man sich daran erinnert.“

Der Hiag bestellte etwas zu essen und eine Karaffe Quitone, einem edlen, wohlduftenden Wein, der von einer der Mittelpunkt-Welten importiert wurde. Während sie aßen, nippten sie ab und zu an den großen Gläsern mit spiralförmigen Stielen.

„Gibt’s irgend etwas Neues über die verschwundene Insel, Billy?“ Er hatte ihr vorher ein wenig über seinen Auftrag auf Bahamba Bright erzählt.

„Ich fürchte, nein. Die Insel wurde abgeschnitten, glatt wie ein Spiegel. Es ist ein Spiegel: Die Leute vom Labor sagen, es sei lediglich ein abgescherter, natürlicher Fels.“

Sie schüttelte verwundert ihren Kopf, und ihre Haare tanzten. „Das ist allerdings seltsam. Schon eine Ahnung, wie das zuwege gebracht wurde?“

„Die See, siehst du’s nicht deutlich hier,

Des Land’s beraubt dort unter dir?

Mehr Ahnung als der Dichter habe ich auch nicht.“

Sie leerte ihr Glas. Der Hiag schenkte ihr nach … und erstarrte, als sei er von einer plötzlichen Lähmung befallen worden.

„Billy. Was ist mit dir?“

„Nichts. Ich hatte nur gerade so etwas wie einen Geistesblitz. Also … wie ging das noch weiter … Ein Vers beschreibt, wie die Berge einstürzen. Und dann …

 

Wie kannst denn nie geschaute Dinge du verstehen,

Erwiderte der selbstgerechte Artegall darauf,

Wo du doch selbst nicht kennst, was du kannst sehen?

Was aber nun die See mit ihrer Wellen Lauf

Verschlingt an Erdreich, mit sich stößt,

Ist nicht verloren oder gänzlich gar verschwunden.

Denn was auch immer wird von einem Ort gelöst,

Wird von der Flut an eine andre Stell’ gebunden.

Denn nichts ist ewig fort, was man kann finden,

Wenn man sucht.“

 

„Ich verstehe nicht.“

„Ich auch nicht“, antwortete der Hiag. „Aber ich habe da ein unbestimmtes Gefühl. Mein Unterbewußtes versucht mir etwas mitzuteilen. ,Ist nicht verloren …‘, ,Denn nichts ist ewig fort, was man kann finden, wenn man sucht …‘, ,Wie kannst denn nie geschaute Dinge du verstehen …‘. Und ein optisch flacher Schnitt …

Kannst du dir vorstellen, wie groß die Energie sein muß, die eine ganze Insel aus dem Gravitationsfeld dieses Planeten fortbewegen kann? Sie muß enorm sein. Man sollte annehmen, daß man die Kraftquelle für einen solchen Akt ausfindig machen kann. Dies spricht für die Annahme, daß sich die Insel noch irgendwo hier befindet, in gewissem Sinne … irgendwo … verborgen ist. Aber wie? Worin verborgen? Hinter … nein, unter. Unter! Unter einer Grenzfläche, die so glatt ist, daß sie die Oberfläche reflektiert!“

„Das ist doch albern, Billy. Man kann keine Insel hinter Spiegeln verstecken! Du hast ein bißchen zuviel Quitone getrunken. Laß uns an den Strand gehen und ein wenig frische Luft atmen.“

„Nein. Warte. Mir dämmert langsam etwas. Spaltungsebenen eines Kristallgitters … nein, das ist Quatsch, der Fels besteht nicht aus einem einheitlichen Kristall. Aber so etwas Ähnliches muß es sein. Verschiebungen … räumliche Verschiebungen entlang einer Schnittebene!“

Lindilu griff nach seinem Ellbogen. „Zuviel Wein, wie ich bereits sagte. Vielleicht fällt mir etwas ein, wie ich dich wieder nüchtern machen kann …“

Aber der Hiag hörte gar nicht zu.

„Eine Übertragungsebene“, sagte er. „Irgend jemand hat es geschafft, eine Interphasen-Übertragungsebene zum Funktionieren zu bringen! In allen Lehrbüchern steht, daß dies unmöglich ist, aber die Beweisführung schien mir immer schon etwas schwammig zu sein. Sie setzt nämlich die Gültigkeit der Warhornschen These für Teildimensionen voraus, und die ist nur für algebraische Korrelationen bewiesen …“

Lindilu zuckte zurück. Der Hiag donnerte mit seiner Faust auf den Tisch. „Das muß es sein!“

„Billy, was ist eine Interphasen-Übertragungsebene?“

Der Hiag nahm zwei Eßstäbchen und legte sie Seite an Seite auf das Tischtuch. „Stell dir vor, dies seien zwei Ebenen im Weltraum“, sagte er. „Sie sind nicht unbedingt unbegrenzt, sie haben eine Grenze, wenn du so willst – das müssen sie sogar wegen der begrenzten Energieaufnahme haben. Bei der Interphasen-Übertragung werden nun sozusagen diese Flächen auseinandergeschlitzt und an falscher Stelle wieder zusammengebracht. Die linke Schnittstelle verbindet sich mit der rechten. Man erhält so eine Art Überkreuzeffekt. Alles, was in die eine Ebene hineingeht, taucht in der anderen wieder auf. Dabei verstreicht keine Zeit, es kommt lediglich zu einem Sprung, ungefähr so wie bei einem Phasenhüpfer.“

„Ich glaube, bisher habe ich folgen können.“

„Ich bin nur darauf gekommen, weil in den Handbüchern für Phasensprung einige Standardberechnungen als Übungen beigefügt sind – unser Problem fällt in das gleiche theoretische Gebiet, das die Antriebstechnik für Raumfahrzeuge abdeckt. Nach bisher gültiger Meinung ist eine Interphasen-Übertragung nicht möglich, aber wir wissen bereits, daß, falls sie möglich wäre, absolut exakt flache Ebenen notwendige Voraussetzung sind. Dies ist die schlichte Konsequenz der Symmetrie unterbrochener Lösungen der Pindore-Maxwell-Gleichung …“

„Du wirst wieder zu technisch. Wie erklärt sich der Spiegel?“

„Das ist nicht mehr so schwer. Stell dir vor, du errichtest eine Übertragungsebene, die durch das Felsenfundament von Trixydix verläuft. Diese Ebene ist mit einer anderen irgendwo unter dem Ozean verbunden. Du drückst einen Knopf, und Trixydix springt auf die andere Ebene, und darüber ist nichts als Ozean. Der Schnitt verläuft entlang der Ebene, und die ist optisch flach. Die Fels-Wasser-Schnittstelle wirkt wie ein Spiegel, aber die andere Schnittstelle besteht aus Wasser-Wasser, man sieht nichts mehr.“

„Das klingt alles recht plausibel“, sagte Lindilu. „Aber müßte die obere Hälfte der Insel nicht über der anderen Ebene auf dem Ozean schweben?“

„Kluges Mädchen. Der ganze Aufbau ist natürlich komplizierter und besteht nicht nur aus einer Ebene. Ich vermute, da ist so etwas wie ein Kasten, deren Wände Übertragungsebenen sind. Stell Trixydix in eine Kiste, stell eine andere auf den leeren Fleck im Ozean, mach eine Kreuzverbindung und schwupp! Die Insel ist weg; jedenfalls ist sie nicht mehr da, wo sie sein sollte. Natürlich mußt du aufpassen, daß man sie in der anderen Kiste nicht sehen kann, aber das ist nur ein zweitrangiges Problem.“

„Oh.“

„Da sind allerdings noch zwei Schwierigkeiten“, sagte Billy.

„Nur zwei?“

„Ich will einfach mal das Problem der Einrichtung der Übertragungsebene außer acht lassen“, erklärte der Hiag breit. „Es ist schließlich klar, daß es jemand kann. Nein, mein Problem ist, wie bringt man die Dinge an ihre alte Lage zurück? Erstens weiß ich nicht, wie man Übertragungsebenen ausfindig machen kann: Man kann nur durch die Diskontinuität auf ihre Existenz schließen. Zweitens habe ich keine Ahnung, wie man von außen eine solche Ebene sozusagen stillegt.“ Er schlug wieder auf den Tisch. „Aber es muß doch einen Weg geben, mit dem man diese Probleme löst und die Agenzia Bahambin AGM wieder ins Rollen bringt.“ Ein eigenartiger Ausdruck huschte über Lindilus Gesicht. Aber der Hiag bemerkte es nicht, er suchte nach dem Kellner. „Auf, Lindilu, du hast recht. Ein wenig frische Luft wird meinen Kopf abkühlen!“

 

Billy, der Hiag, verließ Lindilu Glyndes Ferienvilla kurz vor Morgengrauen. Er bestieg ein Luftkissentaxi und ließ sich bis an die Anlegestelle der Leuchtenden Lagune bringen. Zu dieser frühen Stunde war die Anlegestelle menschenleer. Der Hiag drückte einen Knopf, um das Rollband in Gang zu setzen. Durch seinen Kopf spukten Lindilu und die Physik der Übertragungsebene. Er hörte nicht den knirschenden Kiesel hinter sich. Aber der Druck der Mündung einer Laserpistole gegen die Wirbelsäule weckte selbst den verliebtesten und über wissenschaftlichen Fragen grübelnden Hiag. Jedoch erkannte sein abwesender Geist nicht die drohende Gefahr. Statt dessen wirbelte der Hiag herum, um die Störung zu identifizieren. Sein Angreifer hatte mit dieser Reaktion nicht gerechnet: In der Zeit, die er zu dem Entschluß brauchte, den Auslöser zu drücken, war der Hiag wieder hellwach, bemerkte die Waffe und schlug nach dem Handgelenk seines Gegenüber. Die Pistole fiel zu Boden. Bevor er sich danach bücken konnte, trat sie der Hiag ins Wasser und stellte sich mit dem Rücken gegen eine Wand.

Der Mann erholte sich schnell wieder von dem Schlag und schlich sich langsam näher. Der Hiag vergeudete keine Zeit mit Hilferufen, denn die Anlegestelle war immer noch menschenleer. Er stellte sich auf die Zehen und bereitete sich auf ein Ausweichmanöver vor: Im Geiste blätterte er durch die Seiten eines Hai-Ganzai-Handbuches, das er sich von der Bücherei ausgeliehen hatte.

Der Mann zog ein Messer. Der Hiag zielte mit einem Shika-Tritt gegen seine Leiste. Der Angreifer schlug mit dem Messer nach Billys Fuß, verfehlte ihn, lenkte aber den Tritt ab: Das Messer blitzte in einem geschickten Bogen abwärts. Der Hiag wehrte mit seinem Arm ab; hörte Stoff zerreißen und fühlte einen stechenden Schmerz, als die Klinge seinen Unterarm aufritzte. Er schlug mit seiner Faust wild um sich, fühlte Knochen knirschen; er schwankte, seine Füße wurden unter ihm weggerissen; er fiel auf die Seite. Das erhobene Messer blitzte auf, senkte sich auf ihn herab …

Ein gleißender Blitz blauen Lichts warf schwarze Schlagschatten und verwandelte die Szenerie in ein scharfes Relief. Ein knackendes Geräusch wie die Entladung elektrischer Spannungsfelder ertönte. Das Messer fiel aus einer leblosen Hand, und der Körper des Angreifers sackte plötzlich zusammen.

Otis Pigge steckte die Laserpistole zurück in seinen Gürtel. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Jarneyvore?“

Der Hiag setzte sich aufrecht hin und lehnte seinen Rücken gegen die Wand. „Ein Schnitt am Arm. Weiß nicht, wie schlimm. Blutet etwas. Zum Teufel.“ Es war inzwischen heller geworden, Pigge konnte sich die Verletzung genauer ansehen. Die Wunde war tief, aber die Klinge hatte keine Arterie getroffen. Geschickt band er den Arm mit einem Streifen, den er von seinem Hemdsärmel riß, ab. „Am besten bringen wir Sie jetzt zu einem Arzt“, sagte Pigge, „und informieren Lurkin Mole darüber, daß er eine Leiche fortschaffen kann.“

Die Rolltreppe setzte sich in Bewegung. Billy wollte wissen, was Pigge an die Anlegestelle geführt hatte.

„Die Sorge um Sie.“

„Warum? Trauen Sie mir nicht?“

„Hängt davon ab, worin ich Ihnen trauen soll. Ein Verbrechen zieht Verbrecher nach sich. Verbrecher sind nicht unbedingt freundlich zu Schnüfflern, besonders nicht in einem Kidnapping-Fall, bei dem es um Multimilliarden Kroon geht. Sie haben ein Interesse daran herauszufinden, wie weit man in ihrer Verfolgung gediehen ist. Als sich also Billy, der Hiag, eine wunderschöne Freundin zulegte …“

„Verdammt, Pigge.“

„… war ich umsichtig genug, ein Auge auf ihn zu werfen. Und als er der Dame erzählte, wie das Verbrechen begangen wurde, hatte ich plötzlich Angst um ihn. Ich vermutete richtig, daß Sie hier vorbeikommen müßten, aber die Anlegestelle schien mir sicher zu sein. Der Kerl hatte mich schon bemerkt. Ich glaube, er hatte sich hinter dem Kai versteckt. Er zischte ab wie eine Wasserschlange. Daraufhin habe ich ihn nicht mehr gesehen, bis er über sie herfiel. Ein Glück, daß ich ihn sauber ins Visier bekam. Einen Augenblick lang dachte ich schon, die Gelegenheit nicht mehr zu bekommen.“

„Jedenfalls vielen Dank. Aber ich bin nicht total verrückt. Ich habe mich über Lindilu bereits selbst bei der Einwandererbehörde informiert. Hatte die gleiche Vermutung wie Sie. Aber sie ist sauber. Warum sind Sie so sicher, daß sie mir an den Kragen wollte?“

„Sicher bin ich nicht … noch nicht.“

„Aber …“

„Aber da liegt eine Leiche auf dem Kai, und die sollte eigentlich Ihre sein. Eine Einwandererbehörde weiß nur das, was man ihr erzählt. Der wirkliche Name ihrer jungen Dame ist Alaya de Flore Strooghn.“

„Das will gar nichts heißen“, meinte der Hiag.

„Viele reiche Leute reisen incognito.“

„Der Strooghn-Familie gehörte früher einmal dieser Planet hier. Es kursieren Gerüchte darüber, daß ihr Urgroßvater ihn während eines Privatkrieges verloren hat.“

Der Hiag lachte bitter auf.

 

„Wohl keine Wunde, die im kriegerischen Zorn

Durch Schwertes Schärfe zugefügt, die jemals brennt

Wie des entehrenden Verrufes gift’ger Dorn,

Der steckt im Namen jenes Mannes, den man nobel nennt:

Denn keine Reinigung noch ärztlich Kunst, die kennt,

Wie sich die kranke Ehr’ läßt neu gesunden,

Noch all sein heldenhaft Vermögen, das jetzt getrennt,

Doch einst durch seinen Mut unsterblich ward verbunden,

Vermag zu lindern diesen Schmerz, den Schmerz aus nie verheilten Wunden.“

 

Pigge schaute ihn an und sagte taktvoll: „Schön, daß Sie es so gelassen aufnehmen, Jarneyvore.“

„Scheiße“, antwortete der Hiag. „Ich habe in meinem ganzen Leben nie etwas so wenig gelassen aufgenommen.“

„Diese Hypothese ist einfach kaum zu glauben, Mr. Jarneyvore“, sagte der technische Berater von SpaDe. „Besonders dann nicht, wenn man nicht zu Ihrer Gilde gehört. Sie vermuten eine technische Installation, von der die Fachbücher aussagen, sie sei unmöglich. Auch Sie geben zu, daß man sie, falls sie in Aktion ist, nicht ausfindig machen kann.“

Der Arm des Hiag war mit einem resorbierenden Bioklebstoff behandelt worden. Er schmerzte zwar noch, aber er konnte ihn wieder bewegen. Billy stützte das Kinn auf die Hand. „Ich kann mir gut vorstellen, daß die Fachbücher das Verschwindenlassen einer Insel für unmöglich halten, Dr. Kmarsk.“

„Das will ich meinen.“

„Obwohl ich nicht mit sogenannten Qualifikationen, sprich akademischen Titel, aufwarten kann, möchte ich Ihnen versichern, daß ich kompetent genug bin, sowohl die Pindore-Maxwell-Gleichungen anzuwenden als auch allgemeine Mißverständnisse bezüglich ihrer Lösungen zu hinterfragen. Außerdem habe ich es nicht mehr nötig, die einschlägigen Werke durchzubüffeln, denn sie sind bereits alle in meinem Kopf gespeichert.“

Kmarsk konterte: „Es ist nicht lediglich eine Sache des Gedächtnisses, Mr. Jarneyvore.“

„Sie haben verdammt recht! Aber es ist so, daß ich nicht nur die Fakten besser als die meisten Spezialisten kenne – ich weiß auch, worauf sie sich beziehen können.“

„Wie zum Beispiel die Warhornsche These.“

Es schien dem Hiag, als habe Kmarsk bereits den wissenschaftlichen Streit kampflos aufgegeben. Er schnitt von selbst das beste Argument des Hiags an.

„Das gehört dazu, ja.“

„Ich gebe zu“, erwiderte Kmarsk, „mir ist nie bewußt geworden, daß die Standardanalysen falsche Folgerungen aus dieser These geschlossen haben. Ich habe den halben gestrigen Tag mit rauchendem Kopf in der Bibliothek zugebracht, bevor ich mich vollständig überzeugen konnte. Und ich muß auch zugeben, daß ich sehr beeindruckt war. Es kommt nicht oft vor, daß mir ein Amateur Neues über die Phasensprungtheorie beibringt.“

Der Hiag verkniff sich die passende Antwort.

„Ihre Theorie also ist“, sagte Kmarsk lebhaft, „daß die These falsch, die Beweisführung fehlerhaft ist. Irgend jemand hat die Möglichkeit gefunden, eine Übertragungsebene einzurichten.“

„Sie setzen selbst jetzt noch zuviel Vertrauen in Ihre Gleichungen. Die Insel ist verschwunden. Die Übertragungsebene ist für mich die einzig mögliche Erklärung für die spiegelglatte Oberfläche des Felsens. Sie ist die einzige Erklärung für das Fehlen jeglicher nachweisbarer Störungen. Sie paßt einfach in den Zusammenhang. Unter uns, selbst wenn die Beweisführung stimmig gewesen wäre, hätte ich auf eine Übertragungsebene getippt. Die Pindore-Maxwell-Gleichung wäre dann einfach falsch.“

Der technische Berater ließ den Kopf hängen. „Ich vermute, Sie haben recht. Nicht alle Spezialisten jedoch sind so phantasielos, wie Sie glauben. Jedenfalls hoffe ich, daß es die besten nicht sind. Wir wollen annehmen, daß Ihre Theorie stimmt, und dabei das Problem der Aufspürbarkeit außer acht lassen. Haben Sie irgendeine Ahnung, wie man die Wirkung dieser Einrichtung abstellen könnte?“

„Letzte Nacht hatte ich noch keinen blassen Schimmer“, sagte der Hiag. „Aber unterdessen habe ich ein paar Berechnungen angestellt und eine offensichtliche Lösung gefunden. Für die Übertragung von Materie oder Strahlen entlang der Schnittflächen ist Energie nötig. Falls wir genug Energie hinterherschicken könnten, müßten wir dadurch eine Überladung bewirken.“

„Sie wollen, daß ich eine Bombardierung durch das Militär empfehle?“

Der Hiag nickte.

„Wir sollen also ein Kriegsschiff in das Gebiet bringen. Auf Verdacht sozusagen.“

„Ja“, antwortete Billy.

„Nein.“

„Es ist ein guter Verdacht. Dafür wird ein Hiag bezahlt.“

Kmarsk stimmte im Prinzip mit dem Hiag überein. Die Erklärung war schlüssig. Falls man die Prämissen akzeptierte. Aber gerade dies war schwer für einen Wissenschaftler, der bisher stets erfolgreich und mit greifbaren Resultaten diese Prämissen verworfen hatte, besonders dann, wenn von deren Ergebnis seine Karriere abhing. Die Offiziere von SpaDe hatten es nicht gern, wenn man Munition vergeudete.

„Geben Sie mir nur einen unumstößlichen Beweis“, sagte Kmarsk. „Nur einen, der den Aufwand rechtfertigt, und ich halte dafür meinen Kopf hin. Aber nicht auf puren Verdacht hin.“

Der Hiag versuchte nachzudenken. „Gut, gehen wir noch einmal die ganze Geschichte durch. Man installiert rund um die Insel einen Kasten, dann einen weiteren irgendwo im Ozean. Daraufhin werden beide miteinander vertauscht.“

„Schön“, sagte Kmarsk. „Wie versteckt man die Insel, wenn sie fortbewegt worden ist?“

„Indem man die Wände durch eine weitere Querverbindung austrickst, das zweite Loch sozusagen auffüllt.“

Kmarsk sprang auf. „Aber würde das nicht eine Störung der örtlichen Metrik nach sich ziehen?“

„Das vermute ich.“

„Was Gravitationsabnormalitäten hervorrufen müßte.“

„Ja.“

„Auf, wir wollen einen planetarischen Gravitationstest vornehmen.“

Um den Gravitationstest durchführen zu können, mußten sie Zugang zu dem Meßsatelliten haben, und dies wiederum ging nur mit der Erlaubnis von Traffic Control. Aber es lag in der Macht von Kmarsk, dies zu arrangieren. Nach einem ausgedehnten Studium der Betriebsvorschriften fütterten sie das Testprogramm in den Satelliten. Während sie noch die Resultate der Vorchecks, die die Betriebstüchtigkeit überprüften, abwarteten, blätterte der Hiag gelassen durch die Seiten des Handbuches von Traffic Control. Es war dies die erste und möglicherweise auch die letzte Chance für ihn, einmal zu sehen, wie ein solches System funktionierte. Die angeborene Neugier ist für einen Hiag so grundlegend wichtig wie das Rechenbrett für einen Mikroprozessoren.

Der Hiag las alle Seiten durch. Er war nicht sonderlich beeindruckt. Den Programmen mangelte es an originellen Einfällen.

Otis Pigge kam vorbei. Die Leiche des Mannes, der Billy angegriffen hatte, war identifiziert worden als die eines gewissen Hymeth Ibral Fasmet, ein Bewohner von Poor Yorick, einem Planetoiden im Shemplery System. Man hatte die Ferienwohnung von Fasmet bereits durchsucht und dabei ein kleines Waffenarsenal entdeckt, jedoch keinerlei schriftliche Unterlagen. Die mikroskopische Analyse des Staubs in seinen Kleidern erbrachte den Befund von einigen ungewöhnlichen Pollenkörnern, die man nur auf einer Inselgruppe von Bahamba Bright finden konnte. Die Greifer von Lurkin Mole kontrollierten bei dieser Gelegenheit noch weitere Villen in der Umgebung und fanden heraus, daß eine von ihnen offensichtlich überstürzt verlassen worden war. Diese Villa war vermietet an Lindilu Glynde.

Als der Gravitationstest auch noch keine Abnormalitäten feststellen konnte, war die Laune des Hiags auf dem absoluten Nullpunkt angelangt. Aber seine natürliche Reaktion auf emotionalen Streß war eine noch härtere Konzentration auf Oberflächenvorkommnisse. Sie lenkte ihn ab von den schmerzvollen Themen. Nach einer etwa halbstündigen erfolglosen Diskussion überkam ihn ein Geistesblitz.

„Augenblick mal“, sagte der Hiag. „Ich hatte angenommen, der zweite Kasten befinde sich auf dem Planeten wegen der Notwendigkeit eines passenden Energiepotentialverhältnisses entlang der Schnittflächen. Aber es gibt noch andere Möglichkeiten, die Gravitationsfelder in eine enge Übereinstimmung zu bekommen. Vielleicht befindet sich der zweite Kasten außerhalb des Planeten.“

„Aber“, warf Kmarsk ein, „theoretisch liegt die Reichweite einer Übertragungsebene bei ungefähr einem Drittel Lichtjahr. Wo sonst wäre schon das entsprechende Energiepotential zu finden? Alle anderen Körper in diesem System haben eine geringere Oberflächengravitation als Bahamba Bright.“

„Nein, das stimmt nicht“, antwortete Billy.

„Ach ja, die Sonne.“

„Haargenau. Kmarsk, Sie sind ein Genie. Ja, ich sehe jetzt vollkommen klar.“

„Behalten Sie es nicht für sich“, sagte Kmarsk.

„Der ganze Aufbau besteht aus drei Stufen. Man braucht zwei Kästen. Einen um Trixydix, einen in der Nähe der Sonne bei gleichem Energiepotential. Man installiert die gegenüberliegende Innenseite des Kastens um Trixydix. Somit ist die Insel ein eigenes Universum, nach außen hin abgeschlossen. Versucht man, durch die eine Wand nach draußen zu gelangen, so kommt man zur gegenüberliegenden Seite wieder herein. Es ist also in der Tat ein flacher Torus. Nichts geht hinaus.

Dann wird das Innere des sonnennahen Kastens an die Stelle geheftet, an der das Innere des Trixydixkastens war. Bei dieser Vorgehensweise entstehen keine gravitationellen Anomalitäten auf Bahamba Bright.

Aber da bleibt noch ein Loch im Raum bei der Sonne, denn das Innere des Sonnenkastens ist verlorengegangen. Der einfachste Weg, dieses Problem zu lösen, ist, gegenüberliegende Fronten von außerhalb zu identifizieren. Also macht man einfach einen Sprung zur Seite. Das bewirkt natürlich auch Anomalitäten, aber nur dort, wo sie keiner erwartet.“

Kmarsk unterbrach ihn. „Ich komme nicht mehr mit.“

„Oh, tut mir leid. Ich lasse mal die technischen Einzelheiten außer acht. Man bewegt Trixydix und steckt die Insel in ein abgeschlossenes Universum, schließt das entstandene Loch, damit es keiner merkt, mit etwas sonnennahem Vakuum und schließt dann das neu entstandene Loch, indem man seine Kanten zusammenklebt. Trixydix verschwindet, und der Rest sieht so wie immer aus.“

„Was ist mit dem Vakuum?“ fragte Kmarsk.

„Tja“, antwortete der Hiag, „unmittelbar nach der Vertauschaktion erhält man einen leeren Kasten hier unten auf Bahamba Bright. Aber dann fließen Wasser und Luft nach, um dieses Loch aufzufüllen.“

„Das würde bedeuten“, sagte Kmarsk, „daß man eine atmosphärische und hydrodynamische Oszillation hervorruft.“

„Donnerschläge und Flutwellen.“

„Jetzt kann ich Ihnen Ihre Geschichte abkaufen“, sagte Kmarsk.

 

Ein SpaDe-Kreuzer stieg am frühen Nachmittag des folgenden Tages zur Bucht von Mermynthine herab.

Das Ziel war, einen größtmöglichen Energieschub zu erzeugen, und zwar entlang der vermuteten Grenzen des Kastens der Übertragungsebene. Das Sperrfeuer einer Laserkanone würde dies wunderbar erledigen können, aber es war auch gut möglich, daß man die See rundum zum Kochen bringen würde. Der Kommandant des Schiffes schlug deshalb vor, einfache Mantikorium-Projektile zu verwenden: Das waren im wesentlichen massive Klumpen aus hochverdichtetem Metall. Falls Trixydix wieder auftauchte, würden noch einige Sekunden nach Abschalten der Projektoren die durch die Projektile entwickelten Feuerspuren bestehen bleiben.

Da man nicht wollte, daß die Insel in der Dunkelheit zurückkam, wurde mit der Bombardierung im Morgengrauen begonnen: eine alte militärische Tradition, ganz nach dem Geschmack des Kommandanten Macintyre. Über eine Stunde lang zischten die Projektile durch die Luft, begleitet von einem ohrenbetäubenden Explosionslärm. Zwei Stunden. Drei.

Kmarsk drückte die Hoffnung aus, daß Jarneyvores Verdacht auch diese Feuerprobe überstehen möge. Der Hiag verstärkte ihn in seinem Vertrauen: Die Hersteller der Übertragungsebene hätten wohl bei ihrer Arbeit eine übergroße Energieladung eingesetzt. Aber als fast fünf Stunden verstrichen waren, begann selbst er zu zweifeln. Der Kreuzer hatte bereits eine verschwenderische Menge der teuren Mantikorium-Projektile verpulvert, aber die Ebenen hielten immer noch – falls es welche gab …

Da kam es zu einer fast unmerklichen Unterbrechung; die Bombardierung wurde eingestellt.

Trixydix war zurückgekehrt.

Dieses Mal waren keine Flutwellen oder Donnerschläge festzustellen: Die verschiedenen Wasserspiegel und Luftdrucke paßten fast genau zusammen, obwohl sich vermutlich nun ein Teil der Bucht von Mermynthine in der Sonnenumlaufbahn befand. Kmarsk schüttelte Jarneyvores Hand.

Lindilu Glynde, alias Alaya de Flore Strooghn, war am Raumhafen Arcady bei dem Versuch, eine Raumfähre zu betreten, festgenommen worden. In ihrer Handtasche fand man eine erstaunliche Apparatur, vermutlich der Übertragungsebenen-Generator. Sie wurde verhaftet und dem Polizeikommissariat übergeben. Otis Pigge informierte den Hiag. Den Apparat brachte man in das SpaDe-Laboratorium, das dem Raumhafen Arcady angeschlossen war. Dort wurde es von einem Team unter Leitung von Kmarsk untersucht. Man verlangte, daß der Hiag dabei zugegen sein sollte.

Lindilu verhaftet. Der Hiag erwartete, eine gewisse hämische Befriedigung, die Rache des Verratenen, zu verspüren. Aber das war nicht der Fall. Er fühlte gar nichts.

„Damit wäre der Fall wohl abgeschlossen“, sagte der Hiag fade.

„Da bin ich mir nicht sicher“, antwortete Pigge.

„Sie sind sich nicht sicher? Aber die Sache liegt doch klar auf der Hand!“

„Wissen Sie“, begann Pigge nachdenklich, „ich bin schon fast mein halbes Leben lang Polizist. Ich habe ganz unten angefangen, und es war nicht immer leicht. Ich habe auf diesem Weg eine Menge von Dingen gelernt, die ich nicht genau erklären kann. Intuition könnte man sagen, obwohl ich persönlich nicht viel von dieser Vokabel halte. Ich möchte eher sagen, es ist ein Gefühl für Zusammenhänge. Also, es ist sicher wahr, daß Ihre junge Dame …“

„Sie ist verdammt nicht ,meine junge Dame‘!“

„Aber Sie wünschen sich immer noch, daß sie es wäre. Halten Sie den Mund und lassen Sie mich ausreden. Diese junge Dame, Miss Strooghn, ist mit Sicherheit in recht dunkle Geschäfte verwickelt. Wir haben keinen Grund zu zweifeln, daß sie, Fasmet und einige Unbekannte den Übertragungsebenen-Generator eingesetzt haben, um Trixydix zu entführen und die Führungsspitze von Agenzia Bahambin zu kidnappen.

Aber da bleiben noch ein paar offene Fragen. Und gemäß meiner Erfahrung sollten offene Fragen beantwortet werden, damit kein mögliches Unrecht geschieht. Ein großes Fragezeichen steht hinter Agenzia Bahambin selbst. Warum diese Geheimniskrämereien und Ausflüchte? Warum versuchte man die Tatsache zu vertuschen, daß alle gekidnappten Männer Topleute von Agenzia Bahambin sind?

Und ein anderes Fragezeichen: Was war das Motiv von Miss Strooghn? Ich glaube nicht einen Augenblick daran, daß es Geld war. Sie stammt aus einer sehr wohlhabenden Familie von Hosperlan. Sie braucht kein Geld. Da steckt mehr hinter.

Ich wette jede Summe darauf, daß die ganze Geschichte etwas mit ihrem Urgroßvater zu tun hat. Ich habe einmal in alten Akten des Handelsregisters rumgeschnüffelt.“ Er überreichte dem Hiag einen Stoß Papier. „Hier sind die Kopien. Bahamba Bright wurde von einem Kolonisten namens Durgash Strooghn entdeckt. Alayas Vorfahren. Er verkaufte diesen Planeten für einen Hosenknopf an Agenzia Bahambin, und das finde ich reichlich seltsam: Er ist ein zu wertvoller Besitz.“

Der Hiag mußte diese Information erst einmal verdauen. „Und was gedenken Sie in dieser Angelegenheit zu unternehmen?“

Pigge preßte seine Fingerspitzen aneinander. „Es scheint mir, daß ich das meiste, was ich in der Sache tun kann, schon getan habe. Was ich vorhabe ist, mich an den Stränden unter der Sonne von Bahamban auszustrecken und mir eine gesunde Bräune zu holen. Je länger der Fall unabgeschlossen bleibt, desto glücklicher bin ich.

Was Sie dagegen unternehmen, hängt von Ihnen ab. Aber wäre ich an Ihrer Stelle, so würde ich mir überlegen, wie ich die Absichten von Miss Strooghn herausbekommen könnte.“

„Sie sind verrückt! Sie hat versucht, mich umzubringen! Ich lasse sie lieber da verrotten, wo sie steckt!“

„Sie informierte Fasmet über den Stand ihrer Nachforschungen. Fasmet hat versucht, sie umzubringen. Vielleicht hatte er diese Idee ganz allein. Sie haben keinen Beweis dafür, daß Miss Strooghn ihn dazu beauftragt hat.“

„Auf jeden Fall“, sagte Pigge, „wenn Sie wirklich wollen, daß sie dort verrottet, wo sie steckt – vielleicht interessiert es Sie, daß sie im Husan-Gefängnis, hier auf Arcady, in Zelle 23, Korridor 12, Ebene 5, steckt. Hier ist eine Karte.“ Er steckte sie in die Tasche des Hiags.

 

Die SpaDe-Laboratorien befanden sich in einem kaum zugänglichen Winkel des Raumhafengebietes. Die Wachtposten waren verstärkt worden. Kmarsk arbeitete gerade an dem Übertragungsebenen-Generator mit einem Neutrino-Spektographen, als der Hiag endlich seine Eintrittserlaubnis erhielt. Während der nächsten paar Stunden wandten der Hiag und der wissenschaftliche Berater alle Tests an, die ihnen einfielen.

Am Ende konnten beide die Maschine perfekt bedienen, aber sie waren im Grunde nicht schlauer als zuvor. Die Randkomponenten waren ihnen verständlich: Positionslokalisatoren, Stabilisierungsschaltkreise, Energieabflüsse. Aber das Herz des Mechanismus war eine kleine, verschlossene Einheit mit einem Durchmesser von knapp einem Zentimeter. Exotische Wellenformen strömten aus dieser Einheit, aber ihre interne Struktur war weder mit Röntgenstrahlen noch mit der Quarz-Diffraktometrie zu durchleuchten.

Kmarsk war so versessen darauf, die Apparatur zu analysieren, daß er fast blind gegen alles andere war. Während er einige Feineinstellungen an einem Thom-Transverter vornahm, zog der Hiag mit seinen geschickten Fingern Kmarsks Personal-Magnetkarte aus der Tasche seines Overalls. Diese führte Billy durch einen kleinen Magnet-Abtastdetektor, den er am vorherigen Abend zusammengebaut hatte und, als Taschenrechner getarnt, am Wachpersonal vorbeischleusen konnte. Danach steckte er die Karte wieder dem ahnungslosen Besitzer zu.

Am Nachmittag verabschiedete sich der Hiag unter dem Vorwand, essen zu gehen. Auf dem Blue Mull Markt erstand er ein Bahamban-Souvenir: Eine tragbare, elektronische Zuffoletta, eine Art Flöte in einem Kästchen aus Calyptusholz. Er brachte sie in sein Zimmer in der Leuchtenden Lagune und ging zurück ins Laboratorium, um den Rest des Tages dort zu arbeiten.

Am Abend stellte er ungestört in seinem Hotelzimmer ein Duplikat von Kmarsks Magnetkarte her. Mit ihrer Hilfe und nach ein paar geschickt geknackten Schlössern verschaffte er sich kurz nach Mitternacht Zutritt zu dem Laborgelände und stahl den Übertragungsebenen-Generator.

Eine halbe Stunde später versteckte er sich im Unterholz des dichten Waldes, der den Raumhafen umsäumte. Im Lichtkegel seiner Taschenlampe studierte er die Karte, die er von Pigge bekommen hatte, und änderte die Kontrolleinstellung auf der Maschine so, daß sie mit den Koordinaten von Alaya de Flore Strooghns Zelle im Shan-Husan-Gefängnis übereinstimmten.

Alaya-Lindilu schlief: Der Hiag vernahm ihr zartes Schnarchen. Ein eindringliches Flüstern, direkt in ihr Ohr, riß sie aus ihren Träumen. Lindilu! Wach auf! Kein lautes Wort, und bewege dich nicht! Antworte nur flüsternd! Nun wach endlich auf! Er wiederholte seinen hypnotischen Gesang. Sie wachte auf. Seine ins Unterbewußtsein dringenden Worte taten ihre Wirkung. Sie machte kein Geräusch und lag still.

„Wer ist da?“ flüsterte sie schwach.

„Bist du allein?“

„Ja.“

„Ich bin’s, Billy.“

„Ich kann dich nicht sehen!“

„Ich bin auch nicht bei dir. Ich habe lediglich eine kleine Übertragungsebenen-Verbindung aufgestellt, über die ich mit dir rede.

Du wirst mir jetzt schnell deine Geschichte erzählen, ehemals Lindilu Glynde, und ich hoffe, sie ist gut.“

Sie zögerte. „Warum sollte ich mit dir reden?“

„Vielleicht, weil ich mich gerade dazu entschlossen habe, dich da rauszuholen.“

Es war eine recht simple Geschichte.

Vor vier Generationen hatte die Strooghn-Familie Bahamba Bright entdeckt und damit begonnen, den Planeten zu einer Kolonialwelt zu entwickeln. Alayas Urgroßvater, Durgash Strooghn, hatte einen gewissen Dixon Purl als seine rechte Hand eingestellt. Purl hatte Strooghn ermordet, seine Frau und sein Kind konnten jedoch entkommen. In Purls Besitz befindliche Dokumente übertrugen ihm die Strooghn-Familienrechte an dem Planeten gegen eine formale jährliche Gebühr. Die Dokumente waren gefälscht, aber Clementine Strooghn war zu eifrig damit beschäftigt, den von Purl angeheuerten Killern zu entkommen, als daß sie einen gerichtlichen Prozeß angestrengt hätte.

Purl hatte Agenzia Bahambin ins Leben gerufen und aus Bahamba Bright einen Vergnügungsplaneten gemacht.

Clementine Strooghn konnte der Verfolgung entkommen und ließ sich auf Hosperlan nieder. Das Geschlecht der Strooghns konnte sich auch dort behaupten. Die Familie brachte es wieder zu Geld und Landbesitz. Alayas Vater hatte die Übertragungsebene erfunden. Bald nachdem Agenzia Bahambin den Strooghns wieder auf die Spur gekommen war, verschwand Alayas Vater. Alaya floh mit ihrer Sippe nach Poor Yorick. Dort fand sie die Möglichkeit, den Übertragungsebenen-Generator gegen Agenzia Bahambin einzusetzen. Das Kidnapping war nur der erste Schritt: Es sollte den Gegner unter Druck setzen und bot eine zusätzliche Geldquelle. Genügend Druck hätte möglicherweise die Rückgewinnung des Planeten bewirken können.

„Das klingt aber alles recht amateurhaft“, sagte Billy. „Zu plump. Bahamba Bright stellt eine gewaltige Machtkonzentration dar. Bevor du den Planeten zurückgewinnen kannst, mußt du diese ausschalten. Das heißt, nimm ihnen den Planeten weg. Aber wenn du das schaffst … Auf jeden Fall, dein Plan mußte schon aufgrund der Grynth scheitern. Agneth: rassistischer Stolz. Sie hätten niemals gezahlt.“

„Wir haben versucht, was wir konnten“, sagte Alaya entmutigt.

„Und dann tauchten Pigge und ich auf“, flüsterte der Hiag, „und …“

„Und wir haben ein Auge auf euch gehabt.“

„Ein sehr hübsches Auge“, sagte der Hiag bitter. „Das gehörte wohl auch zu dem Plan.“

Nein! Ich wollte nicht … ich hatte nicht die Absicht … verdammt, Billy, ich mochte dich. Sehr sogar!“

„Also hast du Hymeth Fasmet beauftragt, mich umzulegen, als du sahst, daß ich euer Geheimnis gelüftet hatte.“

Er hörte, wie sie heftig nach Luft schnappte.

„Was?“

„Er hat mich mit einem Messer angegriffen. Pigge mußte ihn erschießen.“

Oh, nein. Nein. Billy, das wußte ich nicht! Er sagte, er wollte dich lediglich eine Zeitlang aus dem Verkehr ziehen, von dem Planeten entfernen, bis alles vorüber wäre. Ich hätte ihn niemals zu so einer Sache beauftragt. Wenn ich gewußt hätte … du mußt mir einfach glauben!“

Der Hiag zögerte nur einen Herzschlag lang.

„Du verdammte Stümperin. Er mußte mich töten, bei dem, was ich bereits wußte. Er oder ich.“

„Billy, ich vermute, du wußtest damals schon, daß ich dahinter steckte … warum …“ Sie machte eine Pause. Als sie wieder anfing zu flüstern, konnte er sie kaum noch verstehen. „Was hättest du gegen mich unternommen?“

„Warum sollte ich dir trauen?“ fragte der Hiag und ignorierte ihre Frage.

„Weil ich deine Hilfe schrecklich nötig habe. Und ich habe den Mordversuch an dir nicht auf dem Gewissen, das schwöre ich dir.“ Die Angst in ihrer Stimme klang echt. Vielleicht schauspielerte sie, aber die Geschichte stimmte mit dem überein, was er bereits wußte. Der Hiag mußte an die erste, umwerfende Nacht denken …

„Nun gut“, sagte Billy. „Nehmen wir an, ich glaube dir. Vielleicht bin ich ein verdammter Esel, aber ich habe keine Zeit, darüber ausführlich nachzudenken. Ich verlasse mich auf mein Glück. Aber von jetzt an machst du genau das, was ich dir sage.“

„Ja.“

„Und die Antwort auf deine Frage ist: Ich hätte Lurkin Mole erzählt, daß ich nicht den blassesten Schimmer hätte, wohin und warum die Insel verschwunden ist.“

Größte Eile war geboten.

Billy beendete die Übertragungsverbindung. Er holte den Generator aus seinem Etui und legte ihn in den Kasten, in dem zuvor die Zuffoletta gesteckt hatte. Er errichtete für den Fall einer flüchtigen Inspektion einige Pseudoverbindungen. Dann ging er in Richtung der Abfluggebäude des Arcady-Raumhafens und sammelte sein Gepäck ein, das auf seine Anordnung hin vom Hotel hergebracht wurde. Der Zollbeamte warf einen Blick in die Zuffolettakiste, konnte aber mit ihrem seltsamen Inhalt nichts anfangen. Zehn Minuten später befand sich Billy, der Hiag, in der Parkumlaufbahn. Noch eine Stunde, und er würde aus der Traffic-Control-Zone heraus sein. Die Shrimpton wäre dann bereit zum Phasensprung.

Der erste Sprung brachte ihn hinter die Bahamba Sonne; er umkreiste sie auf einer Bahn, auf der das Gravitationspotential in etwa mit dem der Oberfläche von Bahamba Bright übereinstimmte. Von dort aus hoffte er, eine Übertragungsverbindung zwischen seiner Jachtkabine und Alaya-Lindilus Zelle errichten zu können.

Nach einer Viertel Stunde war er gezwungen, seinen Plan zu ändern. Die Umlaufbewegung des Planeten war zu kompliziert und die Entfernung zu groß, um die Ebene stabil halten zu können.

Er mußte schnell improvisieren. Also hüpfte er zurück an den Rand der Traffic-Control-Zone, in den Schatten des zerklüfteten, verlassenen Mondes von Bahamba Bright. Was er eigentlich vorhatte war, eine Übertragungsebene bis zur Planetenoberfläche zu errichten und dann mit der Shrimpton durch sie hindurchfahren. Aber eine Durchquerung seiner eigenen Übertragungsebene hätte den Generator destabilisiert. Er konnte ihn auch nicht allein in die Umlaufbahn schicken, da er möglicherweise einige Handeinstellungen durchführen mußte.

Statt dessen baute er einen Kasten aus Übertragungsebenen um die Shrimpton herum und verband sie mit einem anderen Kasten in der Nähe der Sonne. Obwohl der Generator inmitten seiner eigenen Box steckte, konnte er nicht die Schnittfläche einer Ebene übertreten. Seine Stabilität wurde nicht mehr beeinflußt.

Es war ein äußerst kompliziertes Unternehmen, aber ein erfahrener Pilot konnte es gerade noch schaffen. Der Hiag senkte die Box mit Hilfe der Zielbedienung des Generators auf die Oberfläche von Bahamba Bright. Die Shrimpton blieb dabei in ihrem Inneren. Gleichzeitig bewegte er die zweite Box in Richtung Sonne, um das Gravitationspotential konstant zu halten. Von außen – insbesondere für Traffic Control – war die Box um die Shrimpton leer und zog keine Aufmerksamkeit auf sich: Die Shrimpton schien sich der Sonne zu nähern. Traffic Control war nicht interessiert an so weit entfernten Bewegungen. Als sich die Box knapp über dem Wald nahe dem Arcady-Raumhafen befand, schaltete der Hiag den Generator aus. Die Shrimpton materialisierte sich plötzlich über den Bäumen. Der Hiag korrigierte seine Position und senkte sich auf eine Lichtung herab. Es war ein komplizierter Versuch, Traffic Control zu umgehen, aber er funktionierte.

In der Dunkelheit, aus dem Versteck zwischen den Bäumen heraus, war es nicht schwer, eine Übertragungsverbindung zu Alayas Zelle aufzunehmen. Sie mußte nur groß genug sein, damit sie dank dieser Verbindung in seine Kabine gelangen konnte.

Daraufhin wiederholte der Hiag seinen Trick mit den Boxen, um den Planeten zu verlassen und in den Schatten des Mondes zu gelangen. Dort schaltete er den Generator aus und sprang mit einem Satz aus dem System, wie eine Sumpfente, die von einem Moorgeier verfolgt wurde.

 

Wenn Alaya erwartet hatte, wie eine von Kummer geplagte Prinzessin, gerettet von einem umherziehenden Ritter, behandelt zu werden, hatte sie sich gründlich getäuscht. Der Hiag nahm sie über drei Stunden lang ins Kreuzverhör, befragte jeden Aspekt ihrer Story: die Vergangenheit der Strooghns, die Klauseln in dem Dokument (von dem Pigge ihm eine Kopie gegeben hatte), das Agenzia Bahambin die Rechte für eine formelle Gebühr übertrug, ihre auf Bahamba Bright unternommenen Schritte …

Am Ende paßte ihre Geschichte immer noch zusammen.

„Na schön, Lindilu. Jetzt glaube ich dir wirklich.“

Alaya-Lindilu lächelte erschöpft. Ihre grobe Gefängniskleidung klebte durchschwitzt an ihrem Körper. Ihr Haar hing dünn und fettig herab. Sie war völlig fertig von der intensiven Befragung des Hiags. „Das solltest du auch verdammt noch mal; so wie du mich durch die Mangel genommen hast.“

„Tut mir leid, Lindilu“, sagte Billy. Er berührte zärtlich ihre Hand. „Hast du etwas dagegen, wenn ich dich weiter so nenne?“

„Nein.“

„Ich mußte sichergehen.“

„Aber du hattest mich doch schon gerettet. Das allein hätte dich schon in die ärgsten Unannehmlichkeiten bringen können.“

Der Hiag winkte ab. „Unsinn. Ich war nicht einmal auf dem Planeten, denk daran.“

Lindilu wechselte das Thema. „Ich will diese schrecklich rauhen Kleider loswerden.“

„Klar“, sagte der Hiag geistesabwesend. „Soweit ich sehen kann, wird unser nächster Schritt … Lindilu, was machst du denn da?“

„Ich ziehe mir diese schrecklichen Gefängnissachen aus. Du hast es mir erlaubt.“

„Ja“, sagte der Hiag, „aber ich dachte, du würdest dir etwas anderes statt dessen anziehen.“

„Spielverderber. Mir macht es nichts aus.“

„Unter normalen Umständen“, sagte der Hiag, „macht es mir auch nichts aus. Aber jetzt … ich denke, wir sollten uns unseren nächsten Schritt überlegen. Hier, du kannst mein Hemd haben.“ Er zog es aus. Sie nahm es aus seiner Hand und begann seinen Gürtel zu öffnen.

„He. Das sollst du anziehen. Nicht noch mehr von mir nehmen! Was hast du vor?“

Lindilu lächelte ihn verwegen an.

„Ich unternehme den nächsten Schritt.“

 

„Nun, wollüstiger Hiag: Was wollten Sie mir eben sagen?“ Lindilu hatte sich das Hemd übergezogen. Der Hiag schaute sie glücklich an und rezitierte:

„Fremde Frau in solchen fremden Kleidern …“

„Ich kenne die Stelle“, sagte Lindilu. „Laß mich nur nachdenken … Ach ja.

Tugendhafte Jungfrau du, gebor’n in himmlisch heil’ger Wiege,

Zu retten deiner Eltern leidgeprüftes Leben,

Aus des Tyrannen Wut, der nie versiegten Furcht zu heben,

Bist du gewandert durch die Welt nun, ach so lange …

Recht treffend – ich fürchte nur, ich bin eine kleine Fehlbesetzung.“

„Dein Gedächtnis ist auch nicht von Pappe“, sagte der Hiag.

„Nein. Ich habe unseren ersten Schritt noch nicht vergessen. Wir sollten weitere folgen lassen. Komm.“

„Aber ich denke, wir sollten auch einmal an unsere unerledigte Aufgabe denken. Wie fändest du es, wenn Bahamba Bright wieder den Strooghns gehört? Könntest du den Besitz verwalten?“

„Wenn das ein Witz sein sollte, ist er nicht sonderlich gut gelungen.“

„Das war kein Witz.“

„Ja, das könnten wir. Wir kennen uns jetzt aus mit den rauhen Methoden der Geschäftswelt. Aber du sagtest doch, bevor wir den Planeten übernehmen könnten, müßte er ihnen abgenommen werden. Wie soll das gehen?“

„Tja“, sagte der Hiag, „wir haben die Lieder aus Faerie Queene bereits mehrmals zu Rate gezogen; wir sollten es auch diesmal tun.

mit scharfen Kanten und mit ungebremster Wucht die Felsen roll’n hinab und stürzen in die Schlucht.“

„Aha“, sagte Lindilu. „Du willst wohl Bahamba Bright mit verirrten Meteoriten bombardieren. Eine ausgezeichnete Idee, junger Mann: Dadurch werden nur ein oder zwei Millionen Menschen getötet und die schöne Landschaft verwüstet.“

„Du bist ein helles Mädchen“, antwortete der Hiag. „Du bist ganz nahe dran.“

 

Zwanzig Lichtjahre von Bahamba Bright entfernt liegt der Rand des Sharraby-Bruchs, ein riesiger Riß im Gewebe der Raumzeit, der sich vom Pirelli-Sektor bis zu dem benachbarten Lobacevski-Sektor erstreckt. Zu beiden Enden des Bruchs befindet sich eine desolate Wildnis aus Staubturbulenzen, durchsetzt mit Felsbrocken, die Größen bis zu kleineren Planetoiden aufweisen. Solche Regionen werden wie die Pest gemieden. Aber gerade die Abwesenheit von möglichen Beobachtern kann sich für die als günstig erweisen, die unlautere Absichten hegen.

Mit Phasensprungantrieb und Übertragungsebene drang Billy bis zum Sharraby-Bruch vor und nahm einen Planetoiden ins Schlepptau.

In einem Sprung von einem Drittel Lichtjahr brachte er ihn in das Bahamba System, wobei er hinter ihm herhüpfte wie ein kosmischer Basketballspieler. Es dauerte etwas, bis die letzte Übertragungsebene einjustiert war, denn der Plan erforderte hohe Präzision.

Der Hiag drückte den Knopf.

Der Asteroid rollte sachte voran, traf auf die Übertragungsebene und verschwand.

Er tauchte kurz über Bahamba Bright wieder auf und befand sich nun auf Kollisionskurs mit dem Mond. Die Shrimpton sprang zurück bis über die Ekliptik und beobachtete das Feuerwerk.

Planetoid und Mond prallten in einer lautlosen Explosion, die die Kraft einer Neutrino-Bombe hatte, zusammen. Weißglühende Magma brodelte und spritzte heraus, dehnte sich aus zu einem riesigen, dampfenden, glühenden Ball, der sich wie unter Schmerzen wand. Die brodelnde Masse beschleunigte ihre Geschwindigkeit und änderte unmerklich ihre Umlaufbahn.

„Volltreffer“, sagte Lindilu. „Du hast den Mond in die Luft gesprengt. Werden nun alle mondsüchtigen Liebespaare in Zukunft den Planeten meiden und somit Agenzia Bahambin ruinieren?“

„Oh, du Kleingläubige … Ich gebe dir nur drei Hinweise, und während du darüber nachdenkst, kannst du uns rasch etwas zu essen machen.

Erstens, die Traffic-Control-Zone endet mit der Mondumlaufbahn. Das einzige, was Traffic Control außerhalb dieser Zone wahrnimmt, sind bewegte Körper, deren Bahnen die Zone zu durchkreuzen drohen: Meteore und so weiter. Deshalb habe ich den Planetoiden nicht einfach durch den Schutzring gejagt. Aber, Mängel in der Programmierung von Traffic Control sind von Agenzia Bahambin zu verantworten. Und ich, der ich das Handbuch gelesen habe, bin auf einen Mangel gestoßen.

Zweitens, der alte Vertrag.“ Er hielt ihr eine Kopie, die er von Pigge bekommen hatte, unter die Nase. „Das frühe Quaternity-Gesetz ist wie ein Ziegelsteinschuppen zusammengebaut: Es ist stabil und überlebt den großen Knall. Wenn Agenzia Bahambin ihrer Verpflichtung, der Zahlung der formellen Gebühr, nicht nachkommt, dieser aus höhnischer Redlichkeit festgeschriebenen Scheinmiete, wird der Vertrag ungültig. Auf Grund des Gesetzes vom Erbrechtlichen Besitzanspruch geht der Besitz über an die Nachkommen von Durgash Strooghn.

Drittens, laut Quaternity-Gesetz werden die Vermögenswerte einer bankrotten Gesellschaft eingefroren: Sie kann keine Zahlungen mehr leisten.

Und nun, wertes Fräulein“, sagte der Hiag und gab ihr einen Klaps auf den Po, „habe ich Hunger.“ Entrüstung vortäuschend, rauschte Lindilu aus der Kabine.

Traffic Control machte alle Anflugbahnen dicht und befahl allen Reisenden, die sich auf der Durchfahrt befanden, ihre Jachten zu verlassen und eine Fähre zurück zum Raumhafen Arcady zu besteigen. Dies war eine Routinevorsichtsmaßnahme. Damit hatte der Hiag gerechnet. „Auf diese Weise wird keiner verletzt“, informierte er Lindilu, nachdem er einen Bissen von der gerösteten Yelverente heruntergeschluckt hatte.

„Du bist verrückt. Was wird sie nicht verletzten?“

„Paß nur schön auf.“

Durch den Teleskopschirm sahen sie deutlich die riesige Phalanx der Privat Jachten, die im Orbit parkten. Nach einer Weile bemerkte Lindilu, daß einige Jachten anfingen zu schaukeln. Bald rempelten sie sich gegenseitig an. Zwei prallten heftiger zusammen und explodierten. Die Bruchstücke beschädigten andere. Immer mehr prallten zusammen, weitere Explosionen erfolgten. Billy brachte die Shrimpton mit einem weiten Satz in Sicherheit.

Bahamba Bright war von einem brennenden Ring eingeschlossen.

Lindilu blickte ihn an. „Geht das auf unsere Kappe?“

„Du warst nicht so beeindruckt, als wir den Mond in die Luft gesprengt haben“, sagte der Hiag.

„Ich bin nicht beeindruckt – ich bin entsetzt. Als wir einen Planetoiden mit dem Mond zusammenstoßen ließen, war mir klar, daß dabei etwas explodieren würde. Aber das da ist mir unbegreiflich.“

„Die Masse sowie der Orbit des Mondes haben sich verändert. Dies führt zu anderen Stabilitätseigenschaften von Umlaufbahnen im Ring. Es entstehen Resonanzen, die vorher nicht vorhanden waren. Die Jachten fangen an umherzutanzen, anstatt still dazuliegen. Es ist nicht schwer, ein wenig Wirbel in die scheinstabilen Verhältnisse zu bringen. Damit wären wir bei dem dürftigen Programm der Agenzia Bahambin. Ihr Stabilitätsprogramm hängt ab von den Orbitdaten des Mondes. Ihnen ist noch nicht in den Sinn gekommen, daß sich diese Werte auch einmal verändern könnten. Kurzum, Traffic Control sagt, alles ist hübsch stabil, aber Mutter Natur sagt etwas anderes. Pech für Agenzia Bahambin, die ihr Vertrauen in Traffic Control gesetzt hat, ohne zu verstehen, wie sie funktioniert.

Natürlich sind die Mängel jetzt um so deutlicher geworden.“

Der Hiag sah Lindilu an wie eine Sumpfgeiermutter, die darauf wartet, daß ihr Sprößling seinen ersten Sprung in die Drecksuhle wagt. „Sieht so aus“, sagte sie, „als müßten Hunderttausende von Touristen jetzt ihre zerstörten, teuren Jachten beweinen. Die werden sich rächen wollen.“

„Genau.“

„Dank der Mängel von Traffic Control wird Agenzia Bahambin das Opfer der Rache sein. Man wird Schadenersatz von ihr fordern. Für die Jachten und die Unannehmlichkeiten … Augenblick. Was ist, wenn sie versichert ist?“

Dagegen? Nein, gegen den Gotteszorn kann man sich nicht versichern lassen.“

„Werde nicht größenwahnsinnig. Also, Agenzia Bahambin geht bankrott und verliert ihre Macht, die Quaternity friert ihre Vermögenswerte ein. Sie kann die formelle Gebühr nicht mehr bezahlen. Und wir bekommen unseren Planeten zurück.“

„Stimmt genau. Wir verschwinden besser, bevor SpaDe die Untersuchung einleitet. Ich würde sagen, Poor Yorick ist jetzt der geeignetste Unterschlupf. Es dauert nicht länger als fünf Minuten, um einen Phasensprung einzurichten.“

„Oh.“

Er studierte die Indikatoren. „Verflixt, da stimmt was nicht. Die Phasenrand-Sicherungen sind durchgeknallt.“

Lindilu hielt es für besser, nicht zu erwähnen, daß sie die Sicherungen durch die Abfalluke nach draußen befördert hatte.

„Das ist aber komisch“, sagte der Hiag. „Die Ersatzsicherungen sind auch weg.“

„Zweifellos wirst du mir jetzt als nächstes gestehen, daß wir keinen Treibstoff mehr haben“, sagte Lindilu. „Ihr Männer seid alle gleich.“ Sie hatte die Ersatzsicherungen auch rausgeworfen.

„Wir müssen sehen, welchen nahegelegenen Planeten wir mit Standardantrieb erreichen können“, meinte der Hiag.

„Das wird etwas länger dauern, nicht wahr?“ fragte Lindilu hoffnungsvoll, als Billy den Astrogationscomputer befragte.

„Klar“, sagte er. Er schaute auf die Anzeige. „Ja. Zwei Tage bis Hectors Folly.“

Lindilu sah enttäuscht aus. „Nur zwei Tage?“

„Von wegen“, erwiderte der Hiag. „Dies hier ist ein SpaDe-Raumschiff mit Heimathafen im Lobacevski-Sektor. Es werden also zwei Tage nach apheligischer Zeit sein.“

„Wie lange dauert ein apheligischer Tag, verglichen mit Quaternity-Standard?“ fragte Lindilu.

„Ich bin nicht sicher“, antwortete der Hiag. „Wir werden sehen.“ Er drückte ein paar Knöpfe. „Aha. Hiernach sind es zweiundzwanzig Standardtage.“

„Ich hoffe, du hast noch ein paar Ersatzhemden bei dir“, sagte Lindilu.

 

PARADISE MISPLACED
by Ian Stewart
Copyright © 1981 by Davis Publications Inc.
aus ANALOG, March 2, 1981.
Übersetzung: Michael Windgassen

 

 

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