Susan M. Schwartz
Die
Struldbrugg-Lösung
Dr. Fledermaus, der Vorstand des Lehrstuhls für Heilkommunikation an der Staatsuniversität Struldbrugg, watschelte aus dem Sitzungszimmer. Er überzeugte sich, daß den Saalwächtern keine Drogenberauschten entgangen waren, und nickte dann.
Er war in den Hüften breiter als in den Schultern und wußte – und das genoß er –, daß er meine Zukunft in seinen plumpen Händen hielt. Falls ich in Struldbrugg nicht fest angestellt wurde, würde das Redundanzamt dafür sorgen, daß ich die Mindestarbeitslosenunterstützung erhielt: Trank, Sterilisierung und Zuteilung zu allen Aushilfsarbeiten, die sie für mich zusammenkratzen konnten. Als ich mich nervös erhob, lächelte er und lutschte geringschätzig an einem gelben Zahn, bevor er die Maske verlogenen Mitgefühls anlegte.
„Ähh, hmm, ähh … Sherry, es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen …“
Bis zu diesem Zeitpunkt, da meine Ohren vor Schreck zu klingen aufgehört hatten, war er schon von den Ausreden zu den Erklärungen weitergestolpert.
Ich hatte mir nicht träumen lassen, daß mir so etwas wirklich zustoßen könnte. Mike hatte die ganze Zeit über recht gehabt.
„Natürlich“, fuhr er fort, „müssen Sie wissen …“
Alles, was ich wußte, war, daß, falls mir nicht bald ein Ausweg einfiel, meine Tage als intelligentes, denkendes Wesen – soweit das an der Staatsuniversität Struldbrugg überhaupt möglich war, wo die Wachen und die Beamten die Studenten zahlenmäßig übertrafen – vorbei waren. Das Redundanzamt läßt einem nur sechs Wochen zur Arbeitssuche, bevor es seine Hypos schickt.
Welch ein Gedanke, daß ich, Idiotin, die ich war, Mike (er gehörte dem Lehrstuhl für Chemie an) bei seinem Plan, die Juniorfakultät mit Hilfe von – wie heißt das Zeug? Azeton? – sicherzumachen, nicht helfen wollte. Der Ausdruck klang nicht richtig. Ich erinnerte mich nur daran, es laienhaft so genannt zu haben, und jetzt stand ich wirklich selbst ohne Beruf da.
„Struldbrugg braucht therapeutisches Englisch und … ähh … Servicevorlesungen wie Stuhlwesens neues Seminar über Sex und Relevanz im amerikanischen Sitcom“, plapperte Fledermaus weiter. „Da Sie in Wirklichkeit Spezialistin fürs 18. Jahrhundert sind, waren einige von uns … ähh … der Meinung, daß Sie vielleicht pädagogische Vorbehalte gegen Vorlesungen auf solchen …“
Hatte ich, verdammt noch mal! Wenn ich Kompanzine mit billigem Whiskey mischte (alles, was ich mir von dem Schandgehalt noch zu leisten vermochte), konnte ich es überleben, solchen Dreck vorzutragen – mit Müh und Not. Was mir aber wirklich lag – Swift und die literarische Tradition des 18. Jahrhunderts –, brauchte die Staatsuniversität Struldbrugg so dringend wie ein Klistier. Nein, Struldbrugg brauchte ein Klistier.
Ich sah Fledermaus in die Augen, und der alte Blutsauger ging ein bißchen auf. „Schließlich“, sagte er, „ist Struldbrugg nicht Harvard, müssen Sie wissen.“
Das hätte ich ihm von dem Augenblick an sagen können, da ich den Ort zum ersten Mal sah. Die Stadt war so klein, daß selbst die Benzinpumpen beim First National Gasohol rostig und die Tankwarte bloße Nullen vom Redundanzamt waren.
Wohin aber konnte ich mich nach fünf Jahren an einem solchen Ort wenden, wenn mein Arbeitsvertrag nur widerwillig und aufgrund von Schlupflöchern erneuert worden war, die die Gewerkschaft für mich gefunden hatte? Struldbrugg hätte mir zu der Zeit verhelfen sollen, um mein Buch über Gullivers Reisen fertigzustellen, das als Sprungbrett für einen Forschungsauftrag als Staatsstipendiat dienen konnte, was für jeden Gelehrten die einzige Hoffnung war, zu regelmäßigen Mahlzeiten zu kommen. Das Sprungbrett war mir unter den Füßen weggerutscht und das Ding darunter hatte mich gestochen.
Vielleicht würde Mike meine Entschuldigung akzeptieren. Ich würde alles mögliche tun, um nicht zu einer dieser Nullen mit Mindestarbeitslosenunterstützung zu werden! Wirklich alles.
Fledermaus fuhr zufrieden fort. „Ach … Sie wissen natürlich, daß Ihnen alle Dienstleistungen der Lehrkanzel zur Verfügung stehen. Hmm, es wär vielleicht besser … begnügen wir uns mit der Bemerkung, daß der Dekan angedeutet hat, es wäre ihm lieber, wenn jene Fakultätsmitglieder, deren Vertrag abläuft, die Nachrichtenverbindungen nicht benutzten. Der Stenobot jedoch – benutzen Sie ihn nach Belieben, natürlich innerhalb vernünftiger Grenzen. Vielleicht würden Sie die freien Stunden oder die Wochenenden lieber für Bewerbungsschreiben verwenden, sobald die nächsten Ausdrucke des Stellenanzeigers erschienen sind.“
„Danke“, sagte ich. Im letzten Jahr erschien der Anzeiger des Arbeitsamtes mit sechs Monaten Verspätung; wenn ich mich an Fledermaus’ Ratschlag hielt, wurde ich garantiert zur grinsenden Null. Fledermaus schaute mich prüfend an, als erwarte er, ich würde „Herr Professor“ zu ihm sagen. Ich sollte ein größerer Feigling sein als ich es schon war, wenn ich ihn noch einmal „herrprofessorierte“; all diese „Herr Professor“ zu Dr. F. hatten mir nur einen auslaufenden Vertrag eingebracht.
Wenn ich vielleicht Mike erklärte, ich hätte meine Meinung geändert, weil ich sie behalten wollte …
„Ich würde jedoch meine Pflichten vernachlässigen“, fuhr Fledermaus fort, und seine Zunge umspielte seine Zähne, „erweckte ich den Anschein, ich hielte Sie für eine geeignete Stellenbewerberin, solange Sie ihr Buch nicht endlich abgeschlossen haben. Natürlich soll das kein Werturteil sein, he, he, he …“
Du kannst dich selbst, he he he.
„… ich vermute jedoch, daß Sie – sicherlich nur ein ganz kleen wenig – Ihre wissenschaftliche Tätigkeit vernachlässigt haben, um Ihre Lehrtätigkeit zu perfektionieren.“
Eine Lehrverpflichtung von 24 Wochenstunden. Sprechstunden, Wachdienst und nie enden wollende Fakultätssitzungen: das konnte man schon Vernachlässigung der wissenschaftlichen Tätigkeit nennen. Zumindest die fest angestellten Professoren taten es. So sehr ich sie haßte, ihr Vorgehen haßte, eine elende Zukunft bei Katzenfutter (wozu ihre Pension gerade noch langte) durch Unterrichten solange hinauszuschieben, bis sie an Altersschwäche umsanken (längst nachdem ihre kritischen Fähigkeiten verrottet waren), beneidete ich sie jetzt auch. Ihre winzigen Gehirne mußten sie sich bewahren.
Feldermaus nickte wohlwollend.
„Ich bin so frei, Ihnen einen Vorschlag zu machen. Vielleicht könnten Sie bis Jahresende zu Teilzeitarbeit übergehen, natürlich mit einer entsprechenden Gehaltsverminderung, dann wären Sie vielleicht imstande, Ihr Buch fertigzuschreiben. Natürlich …“
Das plötzliche Aufschießen von Furcht, Hoffnung und unterwürfiger Dankbarkeit ließ einen Haß auf mich selbst in mir aufsteigen. War das nicht genau das, was Mike vorhergesagt hatte? ‚Sherry, du wirst ihnen für einen verschimmelten Knochen die Stiefel lecken!‘ Er hatte recht gehabt, der Teufel hole ihn. Und mich hole der Teufel noch mehr, weil ich nicht gleich auf ihn gehört habe.
„Es ist natürlich möglich, daß einige Lehrstuhlangehörige Einwände haben, aber natürlich werde ich mich für Ihre Bewerbung einsetzen.“
„Danke“, intonierte ich pflichtgemäß. „Ich weiß Ihr Angebot einer möglichen Teilzeitbeschäftigung zu schätzen.“ Am selben Nachmittag noch würde ich eine Einwilligungserklärung an Fledermaus senden (mit einem Durchschlag für die Gewerkschaft, für den Fall, daß Fledermaus seine Zusage nicht einhalten wollte).
Teilzeitbeschäftigung hieß volle Arbeit bei Teilbezahlung. Genau wie es Mike vorausgesagt hatte, hatte Struldbrugg den üblichen Trick angewandt und ohne Gegenleistung etwas erhalten. Aber was blieb mir schon anderes übrig?
Vielleicht hatte ich Mike für seinen Plan, die ganze Seniorfakultät von Struldbrugg zum Lehren oder Vortragen unfähig zu machen, nur einen unstandesgemäß denkenden Wahnsinnigen und nicht einen Kriminellen genannt.
Die Unkündbarkeit glitzerte in Fledermaus’ Augäpfeln, als er mich, vom eigenen Mitgefühl gerührt, anstrahlte. Es war offenkundig, daß er sich einbildete, er hätte gerade eine weitere dankbare Speichelleckerin gewonnen; Struldbrugg war voll von Leuten, die ihre feste Stellung verloren hatten, aber sich dennoch an Fetzen von Beschäftigung klammerten, um der Arbeitslosenunterstützung zu entgehen. Es handelt sich nicht gerade um Lobotomie, aber den Nullen bleibt wirklich nicht viel Gehirn übrig.
Die übrigen Mitglieder des Lehrstuhls kamen aus dem Konklave gestolpert. Ihre Augen hefteten sich gierig lächelnd auf mich. Zungen huschten über dünne, trockene Lippen, als sie den Anblick genossen.
„Also keine bösen Gefühle, nicht wahr?“ beharrte Fledermaus.
Wenn ich mir die Verärgerung anmerken ließ, würde ich selbst meine Chancen auf Teilzeitunterrichten zunichte machen, daher verzog ich keine Miene und zwang meinen Mund in eine Muskelstarre, die annähernd einem Lächeln glich. Nein, Herr Professor! Keine bösen Gefühle nachtragen! Die Gesichter der Kollegen entspannten sich.
Heil! Wir, die wir zum Hungern bestimmt sind, grüßen dich!
Ein Anfall von Panikgefühl trieb mir das Wasser in die Augen, und mein Magen zog sich zusammen, als ob ich verfaulte Soja gegessen hätte, aber ich machte gute Miene, um die Kollegen nicht merken zu lassen, wie hart es mich traf. Ich wollte auf sie losgehen – körperlich und geistig.
Das würde mir nur die Bu-Psych auf den Hals hetzen, und psychologische Reintegration war noch schlimmer als Mindest-Alos.
Halb verbeugte ich mich, halb krümmte ich mich und ging durch den Saal davon. Dabei erinnerte ich mich an die Zukunft, von der ich einst geträumt hatte – ein Büro mit echter Holztäfelung, Perserteppiche, wie sie mein Dissertationsvater besessen hatte, glitzernde Weinkelche …
„Träume noch einmal und besser“, hatte Twain in Der geheimnisvolle Fremde geschrieben. Mork, ich wünschte mir, ich könnte es.
Als ich das letzte Mal etwas über diese Erzählung vorgetragen hatte – das war das letzte Mal gewesen, daß in Struldbrugg „Am. Lit.“ im Vorlesungsverzeichnis aufgetaucht war (ein Ausgeflippter hatte die Abkürzung gesehen und war der Meinung gewesen, es handle sich um Shakespeare in Übersetzung), war die einfühlsamste Reaktion, die mir von meinen Studenten zuteil geworden war, die gewesen, daß es „tief drinnen in meinem Inneren ein gewisses Gefühl auslöst“. In einer schriftlichen Arbeit, um Morks willen. Fragen Sie mich nicht, wie die Meinungen in der Klasse gewesen waren. Der Dekan, ein Grauwal, der erst kürzlich aus der Industrie zu uns gestoßen war, hatte die Übung abgesetzt. Als nicht kostendeckend.
Träume noch einmal und besser. Träumten die Nullen in ihrer Drogeneuphorie auch?
„Sherry?“ fauchte ich. „Ich brauche nichts. Nur meine Privatsphäre.“ Erst in einer Stunde war ich wieder im Dienst. Ich sagte das zu allen Ausgeflippten, die etwas von mir wollten, und sah mich statt dessen einem Juniorkollegen gegenüber. Mork sei Dank! Es war Mike von den Eprouvetten und den altersschwachen Bunsenbrennern.
„Sind Sie gekommen, um das Opfer zu sehen?“ fragte ich.
„So wissen Sie es also jetzt“, erwiderte er. „Kommen Sie. Wir können in meinem Büro privat miteinander reden.“
Wir schlenderten den Gang hinunter, zu angeekelt, als daß wir uns um Drogensüchtige gekümmert hätten. Was besaßen Juniorangehörige der Fakultät schon, das sich zu stehlen gelohnt hätte? Rechts und links waren die Wände abgeschlagen und entblößt. Saubere Rechtecke zeigten an, wo der Dekan die Holos von Baskin verkauft hatte, um die aufgelaufenen Stromrechnungen bezahlen zu können.
„Was haben sie zu dir gesagt?“ fragte Mike voller Mitgefühl.
„Fledermaus schwatzt von Teilzeitarbeit, damit ich mit meinem Manuskript an den Straßenecken hausieren gehen kann. Ich nenne das eine Schweinerei, aber ich nehme an, es ist besser als die Gehirnamputation durch das Redundanzamt.“
„Weißt du“, fing Mike an und verfiel in seinen Dozierstil, „wenn das Pensionsalter auf fünfundsiebzig angehoben ist …“
„Wir können es uns nicht leisten, daß alle diese uralten festangestellten Professoren der Sozialversicherung zur Last fallen, nicht wahr? Die Inflationsrate könnte auf fünfunddreißig Prozent steigen oder dergleichen.“
„Wie ich dir schon gesagt habe, gibt es nur eine Lösung, wenn man unsere Lage objektiv betrachtet. Unser Problem: Es gibt einfach zu viele unkündbare Professoren. Sie sind eingeschlossen, daher sind wir ausgeschlossen. Lösung: Entledigen wir uns der Professoren.“
„Was macht das für einen Unterschied für dich?“ fragte ich. „Schließlich braucht die Regierung Wissenschaftler.“
„Um einen aphrodisischen Kaugummi zu entwickeln, damit die Nullen nicht zu revoltieren anfangen. Nichts für mich, Sherry. In Struldbrugg habe ich zumindest ein Labor, und niemand stellt mir allzu viele Fragen, womit ich mich beschäftige. Wenn ich aber keine feste Anstellung habe, wie kann ich dann der Arbeit für die Regierung entgehen? Daher möchte ich ebenfalls eine unkündbare Stellung erreichen.“
Der Vorstand von Mikes Lehrkanzel ging vorüber. Mike verneigte sich. Mork stehe ihm bei, falls sein Institut je entdeckte, daß er selbstgebrautes Acid gegen gute Noten eintauschte.
„Daher werde ich alles tun, was nötig ist, um fest angestellt zu werden, Sherry. Du hast mich fälschlicherweise eines Verbrechens beschuldigt. Für die Psych-Leute wäre es ein Kinderspiel, einen Wissenschaftler mit einem solchen Motiv festzunageln. Wenn wir anfangen, Kollegen umzubringen, setzt man uns so unter Drogen, daß wir zu kichernden Idioten werden, und irgendein verdammter graduierter Student wird an unserer Stelle verpflichtet – und fest angestellt. Daher bringe ich niemanden um. Ich möchte bloß das Gleichgewicht der Natur, den natürlichen Verlauf der Dinge, etwas beschleunigen und meine eigene Zukunft sichern.“
„Wie?“ fragte ich. Dieses Gerede vom Gleichgewicht der Natur klang in meinen Ohren nach einer Ausrede, und so etwas macht mich immer nervös. Bis jetzt hatte er mir gegenüber immer nur von „Druckausübung“ gesprochen, und ich wollte selbst mit einer so milden Sache nichts zu tun haben. Ich war mir sicher gewesen, daß mich die Kollegen nach Verdienst beurteilen würden. Das war ein Irrtum, den ich nie wieder begehen würde.
„Betrachten wir die Festanstellung realistisch, Sherry. Was könnte Struldbrugg veranlassen, einen festangestellten Fakultätsangehörigen zu entlassen?“
„Eine Mordanklage. Bei der Vergewaltigung eines Studenten mehr als einmal erwischt zu werden. Altersschwachsinn ungeheuerlichen Ausmaßes.“ Ich zählte die Gründe an den Fingern auf. „Allerdings haben die Älteren – und daher angeblich Besseren – einfach nicht den Mumm, um einen Mord zu begehen. Und was Vergewaltigung angeht, so bezweifle ich ebenfalls, daß sie das nötige Werkzeug dazu haben. Und senil sind sie bereits.“
„Das ist es, Sherry, Senilität!“ Mikes Augen leuchteten in seinem bleichen Gesicht auf, und ich dachte im stillen, er sähe wie Gollum aus. Er fischte in seinen Taschen nach den Schlüsseln, sperrte sein Labor auf, und wir traten ein. Die grüne Tafel war mit Benzolringen und Diagrammen von bekömmlichen Kohlehydraten wie Botulismus, Kurare, Maskarin und Atropin vollgekritzelt.
„Ich hatte geglaubt, du hättest versichert, du würdest niemandem weh tun!“
„Nur ruhig, Sherry.“ Mike las in meinem Gesicht und lachte. „Ich denke nicht daran, die Biervorräte mit Botulismus zu vergiften.“ Er ging zu seinem Schreibtisch hinüber und griff nach den Süßigkeiten, dann bot er mir die Schachtel an. Gewöhnlicher Würfelzucker. Ich schüttelte den Kopf. Bei einem Assistentengehalt lernt man, Dinge zu meiden, die einem kostspielige Zahnarztbesuche eintragen.
„Es sieht ganz so aus“, meinte ich zu ihm und bemerkte, wie er rot im Gesicht wurde. Er konnte sich also nur schwer beherrschen, nicht wahr? Ich mußte aufpassen, ihn nicht gegen mich aufzubringen. „Wenn du nicht vorhast, jemanden zu vergiften, was sollen dann all diese Zeichnungen dort droben?“
„Sie haben etwas anderes gemein. Sie lähmen, weil sie eine Verbindung, ein Enzym namens Azetylcholin, zerstören.“
Wußte ich doch, daß es wie Azeton geklungen hatte.
„Sherry, hast du außer Literatur etwas anderes an der Universität gelernt?“ fragte Mike. Er lutschte müßig an einem weiteren Zuckerklumpen. „Azetylcholin ist das, was die Nervenimpulse in den Synapsen erregt. Wir wissen, daß es im Muskelgewebe Bewegungen auslöst. Ich habe an dem Beweis gearbeitet, daß es auch Nervenimpulse im Gehirn erregt.“
Mehr als eine Vorlesung brauchte ich nicht. „Was hat das mit uns zu tun?“
„Ohne das Azetylcholin können die Neuronen keine Nervenimpulse weiterleiten, und das Opfer kann sich nicht bewegen. Auf diese Weise wirkt Kurare giftig. Wird das Azetylcholin langsam aus dem Körper entfernt, wird einfach ein Zustand wie myasthenia gravis simuliert. In Wahrheit wird das Azetylcholin jedoch nicht entfernt. Seine Wirkung wird vielmehr mit einem Gegenmittel namens Azetylcholinesterase neutralisiert. Ich habe nicht nur herausgefunden, wie es entsteht, sondern auch eine kleine Menge davon synthetisch hergestellt.“
„Das klingt noch immer so, als würdest du eine Chemikalie in den Körper einführen. Eine giftige Chemikalie.“
„Sherry, der Körper enthält bereits Gifte. Und Azetylcholinesterase ist eine Substanz, die vom Körper auf natürliche Weise erzeugt wird. Ich verändere bloß das Gleichgewicht – weg von der Azetylcholinerzeugung und hin zur Azetylcholinesterase.“
„Wenn du die Fakultät noch weiter abbremst, kommen sie aus dem Nickerchen überhaupt nicht mehr heraus. Oder vielleicht erzeugen sie einfach zum Trotz mehr Azelcholin oder wie das Zeug heißt!“
„Man kann es nicht zum Trotz erzeugen! Wirklich, Sherry, was du alles nicht weißt … nun, macht nichts. Worauf es ankommt ist, daß die Nervenenden nur eine bestimmte Menge bewältigen können. Ich habe auf synthetischem Wege eine Azetylcholinesterase hergestellt, die so wirkungsvoll ist, daß nicht nur alles im Körper vorhandene Azetylcholin neutralisiert wird, sondern daß die Nervenstränge angeregt werden, es weiterhin auszuschalten.“
Einiges davon kam mir schließlich bekannt vor. „Ich lese“, sagte ich zu Mike, „o ja, manchmal lese ich etwas außer Kritiken oder Schularbeiten, daher weiß ich auch, daß es etwas gibt, was Alzheimersche Krankheit genannt wird. Die Regenbogenpresse …“
„Wie kannst du solchen Dreck lesen?“
„Wie kannst du diesen Dreck lutschen?“ Ich deutete auf den Zucker. „Du hast mich zusammengestaucht, weil ich keine Wissenschaftlerin bin. Wenn ich aber die Boulevardblätter nicht lese, woher erfahre ich dann überhaupt etwas von den Naturwissenschaften? In dem Artikel, den ich las, wurde die Behauptung aufgestellt, daß Azetylcholinmangel zu frühzeitiger Senilität führe – im Verlauf von rund zehn Jahren.“
„Meine Lösung führt zu einem Zustand, der der Alzheimerschen Krankheit ähnelt.“
„Mike, weder du noch ich können zehn Jahre warten!“
„Setz dich!“ Er öffnete einen Schrank und holte zwei mit eklig eitriger Flüssigkeit gefüllte Fläschchen hervor.
„Ist das deine Azetylcholinesterase?“ Ich streckte die Hand aus, um eines der Fläschchen anzufassen.
„Nicht!“ schrie er und schlug meine Hand weg. „Wenn du es verschüttest, könntest du etwas durch die Haut absorbieren. Das ist das Enzym selbst. Die andere Flüssigkeit ist eine Lösung, die die Produktion der benötigten Azetylcholinesterase anregt. Der Anwender kann sie sicherer herumtragen, denn sie muß innerlich eingenommen werden, um zu wirken. Anders als das Enzym, das injiziert werden muß oder durch Hautkontakt absorbiert werden kann.“
So ein unscheinbar aussehendes Zeug. Ich starrte die Fläschchen an, als enthielten sie meine Zukunft. Sie enthielten sie ja auch.
„In beiden Lösungen gibt es eine mächtige Dosis von Hormonen, vornehmlich Thyroiden. Das ist auch der Grund, warum wir uns über den Zeitfaktor nicht den Kopf zu zerbrechen brauchen. Während die Azetylcholinesterase in den Neuronen die Enzymproduktion lahmlegt, lösen die Thyroide einen anderen Zustand aus – Cockaynes Syndrom. Das ist etwas ganz Tragisches. Wer mit Cockaynes Syndrom geboren wird, hat eine Lebenserwartung von vielleicht sechs Jahren. Man stirbt an Altersschwäche. Meine Lösung ahmt Cockaynes Syndrom lediglich nach. Wie bereits gesagt, habe ich kein Interesse daran, jemandem das Leben zu rauben.“
„Wenn ich der Fakultät dieses Zeug eingebe“, sagte ich langsam, „vertrotteln sie in … wie langer Zeit?“
„Längstens in einigen Monaten. Und wir wären sicher.“
Er wischte die Tafel ab und kaute am Zucker, während ich mich bemühte, ihm Glauben zu schenken.
„Warum willst du, daß ich mitmache?“
„Du bist mein Alibi. Wer würde denn schon eine Literaturkritikerin verdächtigen, Neuralenzyme zu vernichten?“
Der bloße Gedanke war so lachhaft, daß wir beide in Kichern ausbrachen.
„Ich bin also dein Alibi. Und mein Büro liegt näher bei den meisten Fakultätsmitgliedern als deines. Niemand zeigt sich überrascht, wenn ich den ganzen Tag aus und ein gehe. Du willst, daß ich ihnen das Mittel eingebe, nicht wahr?“
Falls ich erwischt wurde, brauchte Mike nur zu leugnen, etwas von meinem Vorhaben zu wissen. Ich wäre bloß eine weitere Psychotikerin, die mit Chemikalien um sich schleuderte. Es konnte mir psychologische Reintegration drohen, aber Arbeitslosigkeit war nicht besser.
„Sherry, machst du mit?“
Ich nickte, und er grinste. Mork, wie froh mußte er sein, mit jemandem über seine Arbeit sprechen zu können, auch wenn es keine Naturwissenschaftlerin war. Er schenkte Drinks ein (mich schüttelte es schon beim Anblick des Etiketts auf der Flasche), und die Spannung wich etwas. Beinahe hätte ich hysterisch zu lachen angefangen. Ich meine, ich hatte das alles nicht ernstlich vor, nicht wahr?
Nein, keineswegs. Nicht ernstlich. Ich würde während des ganzen Weges zum sicheren Arbeitsplatz lachen.
„Was soll ich zuerst tun?“ fragte ich.
„Schau“, sagte Mike. „Ich bin die Herstellung, du der Vertrieb. Ich möchte nicht einmal wissen, wie du die Eingabe anstellst. Ich gehe jedoch davon aus, daß du das Stimulans verwenden willst, nicht das Enzym selbst, um das Risiko für dich selbst möglichst klein zu halten. Das andere Mittel würde ich dir sowieso nicht anvertrauen. Mach es, wie du willst; hältst du mich für Doktor Sabin, der mit seinem Zeug von Schule zu Schule hausieren geht?“
„Du hast mit dem Zucker genug zu tun“, sagte ich. „Das ist möglicherweise auch der Grund, warum so viele Ausgeflippte in der Gegend schlechte Zähne haben.“
Etwas in Mikes Gesicht führte dazu, daß mir der billige Fusel im Magen aufstieß. Wenn er sich gegen seine Lehrkanzel wandte, konnte er sich auch gegen mich wenden. Ich schluckte den Rest des entsetzlichen Gesöffs hinunter und ging fort, einen Vorrat an Lösung in der Handtasche versteckt.
„Soll ich Kaffee machen?“ fragte ich die Sekretärin des Dekans.
„Die Heilige Samariterin Sherry“, kicherte der letzte überlebende Religionsprofessor der Universität. Die Neuigkeit, daß mir die Festanstellung verweigert worden war und ich jetzt bei Teilzeitbeschäftigung einen Kampf um die Anstellung durchzuschwitzen hatte, mußte sich an der Universität bereits herumgesprochen haben.
„Bei einem Kilopreis von 25 Dollar sollten sich Personen ohne feste Anstellung schleunigst das Kaffeetrinken abgewöhnen oder sich mit Trank begnügen“, bemerkte jemand. „Sie werden sowieso bald ganz beim Trank landen.“ Da ich gerade damit beschäftigt war, Kaffee, Zichorie und Mikes Lösung sorgfältig abzumessen, wandte ich mich nicht um, aber ich erkannte in der Sprecherin eine festangestellte Lesespezialistin, die sich bei ihrer von Struldbrugg benötigten Fähigkeit sicher fühlte und die ihr Sicherheitsgefühl blasiert machte. Ich lächelte still vor mich hin: Sie trank sieben Tassen vom Kaffee des Dekans am Tag.
„Wohl bekomm’s“, wünschte ich allen und entfernte mich.
Dr. Fledermaus hatte gestrahlt, als ich ihn zerknirscht um die Erlaubnis bat, ihm beim Unterricht zusehen zu dürfen. Er bildete sich ein, ich würde mich bei ihm lieb Kind machen wollen – mit einem Auge zweifellos auf der angebotenen Teilzeitbeschäftigung. In Wahrheit wollte ich den Fortschritt unseres Experimentes verfolgen. Sie müssen wissen, daß Fledermaus Unmengen von Kaffee trank.
Seine Vorlesung über „Mythen in den klassischen Stan-Lee-Comics“ verlief so klaglos, wie zu erwarten war. Bloß drei Studenten schnarchten. Ein Mädchen schärfte sich die Metallnägel, zwei weitere lagen mit offenem Mund in der Ecke, vom Trank ins Paradies versetzt, und sie wurden von ihren Kopfhörern noch höher emporgetragen. Fledermaus leierte eintönig weiter. Plötzlich sah er mit unsicheren Augen auf. Er rieb sich einen dunklen Fleck auf der Stirn.
„Wo sind wir denn stehengeblieben?“ fragte er zum zehnten Mal. „Ich wollte von etwas anderem reden. Comics! Pah, Mumpitz für Schwachsinnige! Wenn ihr einen wirklichen Mythos sucht, müßt ihr euch Shakespeare zuwenden, aber leider seid ihr alle, ihr Kinder, noch viel zu jung, um euch an die Lektüre von Shakespeare erinnern zu können. Es gab einst eine Zeit, als ich Student war, da ihn jeder studieren und auswendig lernen mußte. Dieser Tage jedoch – wie viele von euch kennen überhaupt die Nummer ihres nationalen Identitätsausweises?“
„Kennen Sie sie?“ rief ein Student von hinten im Saal herausfordernd.
Wie ein aufs Glatteis gelockter Narr fing Fledermaus an, seine aufzusagen – und begann bei der zweiten Hälfte zu stottern. Er hatte sie vergessen. Und wenn er schon seine Schulzeit aufs Tapet brachte, mußte er schnell in die zweite Kindheit zurückversinken.
„Ich erinnere mich aber an König Lear“, beteuerte er. „Blase, Sturmwind, und knalle mit den Backen …“ Zwei Studenten steckten die Daumen in die Backen, die sich bereits vor Kaugummi wölbten, und erzeugten laut knallende Geräusche, ehe sie ein Gelächter wie gutgenährte Elefantenkälber ausstießen.
„Zorn, blase …“ beharrte der alte Mann. Seine Nachäffer taten es ihm nach, gefolgt von denjenigen unter den anderen Studenten, die noch nicht das Bewußtsein verloren hatten. Immer mehr aus dem Häuschen, versuchte Fledermaus, sie zum Schweigen zu bringen. Seine Hände zitterten, als er sie hochbrachte, um sich die Brille zu richten; statt dessen stieß er sie zu Boden. Dabei zeigte sich mitten auf der Stirn eine große braune Stelle wie ein Leberfleck. Er hatte ihn noch nicht gehabt, als ich seinen Kaffee mit der Struldbrugg-Lösung versetzte. Ich mußte Mike fragen, was es mit dieser Pigmentierung auf sich hatte.
„Husch!“ sang die Klasse und ahmte den Wind nach. Pustend und blasend gingen sie auf Fledermaus zu, der unverständlich brabbelte und zusammenbrach.
Einen Augenblick lang fühlte ich Mitleid mit dem über dem Katheder zusammengesunkenen Körper. Ich bin ein närrischer, liebenswerter alter Mann … Er hätte mich ausgeschlossen, verhungern lassen, zugesehen, wie mich die Drogen zur Null gemacht hätten. Er war mein Feind. Ich sprang auf und übernahm die Gruppe.
„Mach dir keine Sorgen über Nebenwirkungen wie die beobachtete Verfärbung“, sagte Mike eine Stunde später in seinem Labor zu mir. „Wenn dich der Gedanke, sie seien ein Analogon zu Leberflecken, beruhigt, will ich dich davon nicht abbringen. Wir sind auf dem bestem Wege, Sherry; dein Vertrieb funktioniert großartig. Letzte Woche wurden in meinem Lehrstuhl drei ordentliche Professoren zwangspensioniert. Festanstellung, ich bin auf dem Wege zu dir!“
Als jüngere Kollegen von Fledermaus stammelnd zusammenbrachen, lag dieser in Bewußtlosigkeit, erholte sich dann aber langsam wieder. Ich hörte Geschichten von seiner neuerdings ausgebrochenen gräßlichen Sucht nach Süßigkeiten (Mike hatte ihm anonym eine Schachtel Würfelzucker gesandt) und schundigen Sitcoms, aber ich machte mir noch immer Sorgen.
„Ich glaube, er lebt ewig“, beklagte ich mich bei meinem Partner. Wir saßen eines Nachmittags nach dem Unterricht trinkend in seinem Labor. Die Flasche, die er im Schreibtisch hatte, war jetzt von trinkbarer Qualität. „Weißt du, er gehört noch immer zum aktiven Stand. Vielleicht fängt er sogar wieder zu unterrichten an.“
„Dr. F. ist erledigt“, erklärte Mike. Er griff nach dem Zucker und lehnte sich zufrieden zurück. Erst gestern hatte die Lehrkanzel für seine Festanstellung gestimmt – nach einer präzedenzlos kurzen Probezeit von zehn Jahren. Jetzt gefiel er sich in jüngst zerknitterten Polytweeds und legte ein für ihn neues Selbstvertrauen an den Tag, das beinahe Arroganz zu nennen war.
„Sherry, ich habe dir doch gesagt, daß du dir keine Sorgen zu machen brauchst. Du wirst fix angestellt.“
Ich glaube, ich war erleichtert.
„Aber eines stimmt: Fledermaus wird nicht sterben. Keiner der Leute, denen du heimlich die Lösung eingegeben hast, wird je sterben. Anscheinend haben die Hormone, aus denen ich das Azetylcholinesterasestimulans zusammenmischte, eine weitaus drastischere Nebenwirkung als die Flecken, die dir aufgefallen sind. Die Hormone rufen einen Zustand hervor, der in jeder Hinsicht Cockaynes Syndrom erzeugt, mit einer Ausnahme. Mein Serum ruft zwar Senilität hervor, das stimmt, aber es wirkt auch – nun, wie würden es deine Lieblingsschriftsteller nennen? Als Jungbrunnen? Unsterblichkeit!“ Er leckte sich die Worte mit etwas Zucker von den Lippen.
„In gewisser Hinsicht könnte man behaupten, daß wir ihnen eine Wohltat erweisen.“
Seine Augen glitzerten vor Selbstzufriedenheit. Lieber Mork, erst einen Tag fest angestellt und schon eine solche Selbstzufriedenheit? Die Fläschchen mit der Lösung glitzerten, als leuchte in ihren Tiefen ein Feuer.
„Struldbruggs“, flüsterte ich. „In Gullivers Reisen waren die Struldbruggs Unsterbliche, aber ihr Verstand erstarb, und sie – du hast aus allen Struldbruggs gemacht. Das ist eine lebende Verdammnis.“
Mikes schmaler Brustkorb blies sich vor selbstgerechter Entrüstung auf. „Denk doch bloß daran, mein Mädchen, wer das Mittel in den Kaffee getan hat. Ich bin bloß meinen Forschungen nachgegangen, die jetzt anerkannt und – zu Recht – mit der Festanstellung belohnt worden sind. Zum Unterschied von den immer noch nicht fertigen Arbeiten gewisser Leute, die ich nicht nennen will. Wenn du also etwas übelnimmst, vergiß bloß nicht …“
Jetzt, da Mike in unkündbarer Stellung war, würde er mich loswerden wollen. Ich war seine Komplizin gewesen, der einzige Mensch an der Universität, der exakt wußte, wohin ihn seine Forschungen geführt hatten. Und niemand wußte besser als ich, daß er mich, wenn er den Entschluß faßte, mich zu erledigen, auch erledigen würde. Außer ich erledigte ihn selbst zuerst. Und hatte ich nicht das Recht, mich zu schützen? Denk schnell, Sherry, oder in ein paar Wochen sabberst du.
Zunächst würde ich ihm schmeicheln, dachte ich. Die meisten Akademiker sind nicht gegen Schmeicheleien gefeit – vielleicht deshalb, weil ihnen die Frauen so wenig schmeicheln.
„Na wirklich“, fing ich an, „ich fälle keine Werturteile. Ich weiß die Errungenschaft, die dir in der Forschung geglückt ist, zu schätzen. Ich würde wirklich mehr darüber wissen, trotz der Technophobie, die man uns Spezialisten für englische Literatur nachsagt. Ist die tatsächliche Herstellung – ich meine die Synthese – der Lösung schrecklich kompliziert?“
Mike plusterte sich auf. „Am Anfang war es äußerst schwierig, die Azetylcholinesterase in ausreichenden Mengen synthetisch herzustellen, damit die Wirkstoffe darin isoliert werden konnten. Aber jetzt hat der Prozeß einen Punkt erreicht – Sherry, selbst du könntest es tun.“
„Wirklich?“ Irgendwie schaffte ich den Tonfall ehrfürchtiger Bewunderung, ohne daß ich daran erstickte.
„Ich zeige es dir.“ Seine Gelehrteneitelkeit würde noch sein Untergang sein. Ich mochte eine Gefahr für ihn sein, aber ich war noch immer der einzige Mensch auf der Welt, dem gegenüber er prahlen konnte. Schritt für Schritt führte er das Verfahren vor. Ich stellte mich tollpatschig an, um ihn noch weiter in seinem Glauben zu bestärken – daß alle Humanwissenschaftler im Labor unbeholfen seien. Ich war jedoch imstande, etwas zu lernen, und wenn mir die Staatsuniversität Struldbrugg etwas beigebracht hatte, dann das Ausführen von Befehlen. Ich würde überhaupt keine Probleme haben – bis auf das eine, das ich eben dabei war, auszuschalten.
Ich weigerte mich, beim Zusammenräumen Mikes Hilfe anzunehmen.
„Wie wäre es mit einem Drink?“ fragte ich. „Wasch dir die Hände; sobald ich hier fertig bin, schenke ich ein. Schließlich …“ – ich preßte mir ein Lachen ab – „… bist du derjenige unseres Teams, der fest angestellt ist.“
„Ich schenke ein“, sagte er, und ich wußte, daß es mir ganz und gar nicht gelungen war, ihn zu täuschen. Er hatte sich bloß vor jemandem produzieren wollen. Jetzt, da er die Befriedigung genossen hatte, seine Methode jemandem von akzeptabler Intelligenz zu erklären – zu dozieren –, würde er gewiß sicherstellen, daß ich ihn nie verraten konnte: indem er mir durch Drogen zu einer gräßlichen Unsterblichkeit verhalf.
Mike kam mit zwei Plastikbechern herein. Er sah sehr freundlich aus. Eine Minute lang überlegte ich, ob ich nicht davonlaufen sollte, aber ich wußte, daß ich, wenn ich jetzt davonlief, nie mehr unbesorgt etwas essen und trinken konnte. Ich würde nie eine zweite Chance erhalten, Mike so nahe zu kommen. Daher griff ich nach einem der Becher, hob ihn hoch, als wolle ich ihm zuprosten, ging auf ihn zu und stolperte.
Mein Drink bespritzte ihn vom Gesicht bis zur Krawatte.
Was ist die erste Reaktion, wenn einem etwas im Gesicht trifft? Man leckt sich die Lippen ab!
Mike leckte sich die Lippen ab und erstarrte dann. Die Verdauung würde die Azetylcholinesterase in seinem Körper wirkungslos machen, aber nichtsdestoweniger rannte er zum Waschbecken, um sich den Mund auszuspülen. Ich schützte meine Hand mit einem Handtuch, öffnete das Fläschchen mit Azetylcholinesterase neuerlich und schüttete seinen Inhalt in den Plastikbecher. Um sicherzugehen, besprengte ich auch einige Stück Würfelzucker, die er immer lutschte. Dann ging ich.
Obwohl ich so weit weg von dem Labor laufen wollte, wie ich nur konnte, zwang ich mich dennoch, draußen vor der Tür stehenzubleiben, und schaute ihm durch das winzige Fenster zu, wie er nach dem Becher griff. Er blickte ihn an und schleuderte ihn dann gegen die Wand. Als ob diese Handlung seinen Zorn abgelassen hätte, setzte er sich nieder, wischte sich geistesabwesend die Hand ab und griff nach seinen Süßigkeiten.
Hatte Mike nicht gesagt, daß er mir die Azetylcholinesteraselösung nicht anvertrauen würde? Wie schade, daß ich ihm nie sagen konnte, wie recht er mit seinen Befürchtungen gehabt hatte.
„Ich habe den negativen Beschluß Ihres Lehrstuhls bezüglich Ihrer Festanstellung aufgehoben“, sagte der Dekan und beäugte mich, um sich zu vergewissern, daß ich gebührend dankbar dreinsah. „Um die Wahrheit zu sagen, die Kollegiumsmitglieder haben mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, daß Ihre Bewerbung – vor allem angesichts der großen Anzahl von Erkrankungen, die wir kürzlich unter den Seniorangehörigen dieser Fakultät hatten – überaus willkommen ist. Sie haben mich darüber hinaus bevollmächtigt, Ihnen interimistisch den Posten eines geschäftsführenden Lehrstuhlvorstandes anzubieten, bis eine Bestellung vorliegt. Natürlich bin ich jetzt auch bereit, mit Ihnen über eine Gehaltserhöhung und die Verminderung der Lehrverpflichtung zu verhandeln; ich bin mir gewiß, daß Sie darauf brennen, Ihre wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen.“
Ein neuer Anfang! Und die ganzen Jahre über hatte ich mir eingebildet, der Dekan würde sich der Illusion hingeben, man könne lehren und forschen zugleich. Dafür war ich ihm einiges schuldig. Schade, daß er Teetrinker war, sonst hätte er seinen Lohn schon bekommen.
Ich bemerkte, daß er von seinem letzten Urlaub – einer Kreuzfahrt, alle diese Grauwale unternahmen Kreuzfahrten – schön gebräunt zurückgekehrt war. Und er saß hinter einem wunderschönen Schreibtisch aus Teak. Eine Kreuzfahrt … Zeit zum Pläneschmieden … und ein Schreibtisch wie dieser würde mir schon genügen. Ja, wirklich, mir gefiel sein Schreibtisch.
Ich beugte mich nach vorn, krümmte die Finger und begann zu feilschen. Der Dekan nippte an seinem Tee und stellte dann die dampfende Schale ab. Keine Arbeit in den Ausschüssen. Sechs Stunden Vorlesungen für Fortgeschrittene pro Semester – vier, wenn ich einen Lehrstuhl übernahm.
Nach einer Weile lehnte er sich im Sessel zurück, Respekt in den Augen.
„Ich wußte gar nicht, daß es unter euch vom Englisch-Bereich so abgebrühte Exemplare gibt“, meinte er. „Ja, wahrhaftig, Sie verschwen…“ Er faßte sich und nippte an seinem Tee, um sein Stocken zu überspielen. „Ich rufe schnell den Präsidenten an. Er wollte wissen, wie Sie sich entschieden haben.“
Sobald er sich umgedreht hatte, griff ich nach seiner Schale. Er bevorzugte seinen Tee stark, so daß ich die Dosis der Struldbrugglösung verdreifachte. Er beendete den Telephonanruf, trank gierig den restlichen Tee aus und lächelte.
„Ich hätte Ihnen etwas zu trinken anbieten sollen. Wollen Sie etwas? Ich habe etwas Brandy, der sich vorzüglich zum Feiern eignet.“
„Während der Arbeitszeit trinke ich nicht“, erwiderte ich.
„Braves Mädchen“, sagte er zustimmend. „Bei einer solchen Einstellung haben Sie eine große Zukunft vor sich, das sehe ich.“
Als der Dekan letzte Woche einen Zusammenbruch erlitt, übernahm ich sein Büro. Ich lehnte mich in dem weichen Ledersessel zurück und schlug die Computerschaltkreise des Übermittlungsdienstes auf.
„Ich benötige den Ausdruck aller leitenden Angestellten“, verlangte ich. „Genauer gesagt der jüngeren leitenden Angestellten, sie dürfen nicht älter als 35 sein – aus dem Index Fortune Fünftausend. An sie alle geht folgender Brief heraus – auf Büttenpapier, nicht fotokopiert. Kopf: links oben eine Art Jungbrunnenmotiv. Darunter in geprägten Lettern die Aufschrift „Struldbrugg-Stiftung“. Brieftext wie folgt:“
„Sehr geehrter Herr (der Name ist im Ausdruck einzusetzen), sind Sie daran interessiert, trotz eines übergeordneten Managements, das erst im Tode abtreten will, rasche Karriere zu machen? Gestatten Sie mir, die Ergebnisse jahrelanger Forschungen mit Ihnen zu teilen …“
Verdammt richtig, ich hatte eine herrliche Zukunft vor mir!
THE STRULDBRUGG SOLUTION
by Susan M. Schwartz
Copyright © 1980 by Davis Publications Inc.
aus ANALOG, September 1980.
Übersetzung: Irene Lansky