Steven Gould
 

Lästige Augen
 

Das Klassenzimmer ist winzig. Das Kind ist neun Jahre alt.

Seine zehnjährigen Klassenkameraden können ihn nicht leiden. Sein fünfzigjähriger Lehrer bewundert ihn. Er ist der intelligenteste Schüler in der Klasse, und da er jung ist, läßt er es die anderen merken. Seine Brust ziert die unsichtbare Klassifikation „Lehrers Liebling“ mit doppeltem Eichenlaub. Er gibt seine Hausarbeiten vorzeitig ab, und sie stimmen immer. Wenn er aufgerufen wird, beantwortet er jede Frage fehlerlos. Bei der allwöchentlichen Schularbeit ist er immer als erster fertig.

Er verwendet Wörter mit fünf Silben.

Deshalb wurde er bestraft.

„Wer kann die Knochen des Beines aufzählen?“ Miss Griggs (o, welch vollkommener Name, so zäh und runzelig und humorlos) warf ihre Angel in gelangweilten und widerspenstigen Gewässern aus. Das Kind, das bis dahin jede Frage beantwortet hatte, bewies seltenen Takt und blieb stumm. Oder vielleicht tat ihm der Hals weh. Als jedoch die Stille erdrückend wurde und die Augen der Miss Grigg auf ihm zu ruhen kamen, schob er dennoch seinen Stuhl nach hinten und erhob sich, um zu antworten.

(Es gibt einen Satz, den Wildwestromane und Spionagethriller gemeinsam haben. Er lautet: „Spüren Sie, daß wir beobachtet werden?“)

Eine nie verspürte Empfindung kroch dem Kind den Rücken hinauf und zog sich zu einem festen Knoten im Hinterkopf zusammen. Der Knabe stand mit aufgerissenem Mund da, und eine Gänsehaut überzog seinen Körper. Seine Antwort und die Frage der Miss Griggs entzogen sich bewußter Überlegung.

Sie beobachteten ihn. Intensiv wie Nadelstiche fühlte er jedes Augenpaar auf sich ruhen.

Miss Griggs ermunterte ihn. „Was ist mit den Knochen, Johnny?“

Er hörte sie nicht. Er sah sie nicht. Er kümmerte sich nicht um die Luft, die über seine Haut strich, und der allgegenwärtige Geruch von Kalkstaub und Desinfektionsmitteln wurde von keinem Teil seines Geistes bewußt wahrgenommen. Alle gewohnten Sinneseindrücke wurden von der Flutwelle seiner überwältigenden neuen Empfindungen ertränkt. Bloß die akute Wahrnehmung anderer Wesen, die ihn selbst wahrnahmen, erreichte sein belagertes Gehirn.

„Johnny? Ist dir nicht gut?“

Die Empfindung nahm noch zu, als Miss Griggs’ schärfer gewordene Stimme die Aufmerksamkeit der Klasse noch stärker auf Johnny lenkte. Die Nadelstiche wurden zu Injektionsnadeln, die tief eindrangen. Die Knie gaben unter ihm nach, und er fiel hin. Als sein Kopf auf die Tischkante prallte, brachte ihm ein stechender Schmerz eine kurzfristige Linderung. Diese Normalität wurde erdrückt, als die ungewohnte Neuartigkeit seines Zusammenbruchs die Aufmerksamkeit der Klassenkameraden noch weiter steigerte.

Er rollte sich wie ein Fötus zusammen und trommelte mit den kleinen Fäusten gegen den Kopf – alles, um die Intensität ihrer Wahrnehmung von seinem Geist abzulenken. Obwohl das Blut floß, spürte er die Schläge kaum.

Sein Geist konnte es nicht ertragen.

Sein Geist ertrug es nicht.

Sie trugen ihn auf einer Tragbahre hinaus, noch immer zu einem Ball zusammengerollt. Einen kleinen, katatonischen Ball.

Das Klassenzimmer war winzig.

Das Kind war ich.

 

Draußen in der Mulde zog sich eine Staubfahne den alten Fuhrweg herauf. An jeder Kehre warf die Windschutzscheibe die Morgensonne zu mir in die Vorberge herauf. Ich wechselte die Stellung unter einem überhängenden Felsen und entfernte einen unbequemen Stein unter dem Bein. Kalkstein – oberes Perm. Ich legte ihn sacht beiseite.

Die Staubwolke löste sich langsam in zwei Chevy Blazers auf. Ich legte den Kopf zur Seite und horchte, aber sie waren nicht völlig … nein, da war es, ein dumpfes, mühsames Grollen, das die letzte Kehre heraufkam. Ich stand auf und ging ruhig (immer ruhig) den Hang hinunter auf den Straßenrand zu.

Trostlosigkeit – das ist das Antlitz des Mondes, der Sohle des Tonga-Grabens, der Gipfel des grönländischen Packeises und (in der irrigen Vorstellung vieler) einer Wüste. Hier stand ich in den westlichen Ausläufern des Delawaregebirges, einer nicht sehr großen, zerklüfteten Gebirgskette, die im westlichen Texas von Norden nach Süden verläuft. Sie gehören noch zur Wüste von Nord-Chihuahuan, einem Gebiet, dessen hauptsächlicher Exportartikel die Hitze ist, die von ihren Gipfeln und Trockentälern durch die ständig wechselnden Winde davongetragen wird.

Mir gefällt die Gegend.

Wie ich sah, war rechts und links von meinem Toyota Landrover ein Blazer geparkt. Als ich mich dem flachen Kiesstreifen am Straßenrand näherte, schlängelte ich mich durch das Mesquitedickicht. Zwar versuchte ich nicht, mich zu verbergen, wollte aber auch nicht unbedingt Aufmerksamkeit erregen. Von einer Menschengruppe drangen deutlich Stimmen zu mir herauf. Sie vertraten sich die Beine, um die Verkrampfung der Fahrt loszuwerden.

„Mein Gott, was für eine fürchterliche Straße!“

„Gebt mir etwas zu trinken.“

„Ich nehme an, das ist das Auto unseres Experten. Wo steckt der Experte?“

Als ich aus dem Mesquite herauskam, blickten sie in die Berge hinaus, das ausgetrocknete Flußbett hinunter oder einander an. Keiner von ihnen bemerkte, wie ich näher kam und mich an den Toyota lehnte.

Im Sinne von „wir sind drei beim Essen“ waren es sechs – vier Männer und zwei Frauen. Vernünftigerweise waren sie mit Stiefeln, Khaki und grobem Baumwolldrillich bekleidet. Ich hoffte, daß sie alle Hüte hatten.

Eine der Frauen zeigte nach Westen. „Was ist das für ein Berg?“ Bevor der Mann neben ihr noch seine Karte ausbreiten konnte, fing ich zu reden an.

„Das ist die Sierra Diablo, der Teufelsberg.“

Ich wollte sie nicht erschrecken. Fünf von ihnen fuhren herum, als hätte ich einen Knallfrosch geworfen, und der sechste verschüttete sein Coke auf dem Boden.

„Wenn man den Teufel nennt – Sie müssen Mr. Galighty sein.“ Der älteste von ihnen, ein Mann mit kräftigem Händedruck und grauem Haar, trat nach vorne und ergriff meine ausgestreckte Hand. „Ich bin Larry Narowitz, der Anführer dieser kleinen Gruppe.“

Ich zog die Finger zurück und lächelte.

„Ich bin froh, daß Sie den Treffpunkt gefunden haben.“

„Wir auch. Das ist Tom Gamble, unser Geophysiker.“ Ein Mann von vielleicht dreißig Jahren mit blonden Haaren und vielen Lachfalten schüttelte mir die Hand. „Und das ist Robert Stahl, unser seismischer Analytiker.“ Noch ein Händedruck, mit einem Mann an die Fünfundzwanzig. „Leslie Marshall, unsere Dolmetscherin und Joe Lindquist, unser Knallexperte.“ Leslie hatte Haare, dunkler als das Gefieder eines Raben, die im Sonnenschein ebenso schillerten. Lindquist war schwer zu beschreiben, er mochte zwischen einundzwanzig und einundvierzig sein. Narowitz fuhr fort: „Und das ist Georgette, die von allen George Novosad genannt wird.“

„Was machen Sie?“

Sie antwortete im Ernst: „Was alle anderen nicht machen wollen.“

Ringsum Gelächter.

„Sie ist in Wahrheit unsere Elektronikerin“, erklärte Narowitz. „Aber wir haben dafür gesorgt, daß ihr Bügeleisen daheim blieb.“

„Das ist gut, ich habe nichts zum Bügeln mit.“ Ich zeigte auf einen Haufen lastwagengroßer Felsbrocken den Hang hinauf. „Dort gibt es viel Schatten. Wenn ihr euer Zeug den schmalen Pfad hinauftragt, kann’s losgehen.“ Ich blickte zur aufsteigenden Sonne empor. Im Schatten würden wir uns alle besser fühlen.

Es war nicht so schlimm, wie ich vermutet hatte. Wie Insekten, die einem über die Haut krabbeln. Ein oder zwei Marienkäfer, die einem den Arm hinunterkrabbeln, lenken ab, aber es tut weder weh, noch kann man sich nicht losreißen. Wenn sie mich anblickten, spürte ich es, aber dieses Wissen setzte mich nicht außer Gefecht, wie es einst der Fall gewesen wäre. Vielleicht würde aus mir doch noch ein soziales Wesen.

Warum verbrachte Lindquist soviel Zeit damit, mich zu beobachten, und versuchte zugleich, es sich nicht anmerken zu lassen? Ich bildete mir die Intensität, mit der er mich beobachtete, nicht bloß ein. Die beiden Frauen blickten mich ebenfalls fest an. Sie versuchten jedoch nicht, es zu verbergen. Vielleicht interessierten sie sich für mich? Vielleicht war Lindquist ein Homosexueller? Vielleicht gehörte die Hälfte der Felsen der Chihuahuan-Wüste in meinen Kopf.

„Ich bin da, weil die Danforth Geosource den Auftrag erhalten hat, in den entlegenen Regionen dreier afrikanischer Staaten nach Öl zu suchen. Ihr seid hier, weil Danforth der Ansicht ist, es käme billiger, dafür zu sorgen, daß die ausgebildeten Angestellten am Leben bleiben, als Ersatz auszubilden. Wir haben drei volle Tage Zeit, um eure Überlebensfähigkeit in der Wüste zu verbessern und zu erproben.“

„Ich war der Meinung, Sie würden uns diese Fähigkeit beibringen“, sagte Gamble, der Geophysiker.

„Nicht in dem Sinne, daß ich sie Ihnen mit dem Löffel einflöße. Sie lernen sie durch das Handeln. Habt ihr das alle gelesen?“ Ich hielt ein Taschenbuch mittleren Umfangs empor: Wasser im verborgenen: Eine Fibel für das Überleben in der Wüste von J. E. Galighty.

Alle nickten.

„Gut. Als Literatur taugt es kaum mehr als Micky Maus, aber es wird euch helfen, am Leben zu bleiben, wenn ihr nicht den Kopf verliert.“ Ich griff in eine Kiste und holte sechs kleine Taschen hervor. „Nehmt die da und macht sie auf. Der Becher ist in Millimetern kalibriert. Im Notizbuch werdet ihr sechs Füllfedern finden. Zwei davon sind keine Füllfedern.“ Ich klappte einen der Plastikbehälter auf und zeigte ihnen die Glasröhrchen darin. „Das sind Thermometer. Eines für die Umgebungsluft, das andere für die Körpertemperatur. Wenn ihr euch das Notizbuch anseht, werdet ihr bemerken, daß die Seiten für die stündliche Aufzeichnung beider Temperaturen und des in diesem Zeitraum verbrauchten Wassers eingerichtet sind. Wir werden euch zweimal am Tag mit einer Federwaage wiegen, die ich in meinem Landrover habe.

Für diese Quacksalberei gibt es zwei gute Gründe. Erstens liefert es euch einen objektiven Maßstab für die Reaktion eures Körpers auf Austrocknung und/oder Entsalzung. Zweitens – und am wichtigsten – liefert das brauchbare Daten für meine nächste Veröffentlichung mit dem Arbeitstitel: Wasserentzug: Neue Entwicklung auf dem Gebiet des Sadismus. Zum ersten Mal werde ich von meinen Versuchspersonen dafür bezahlt, daß ich mit ihnen experimentiere.“

 

„Okay, Leslie, Sie sterben vor Durst. Das Lastauto hat vor drei Tagen den Geist aufgegeben und das Funkgerät ist im Eimer. Seit gestern haben Sie keinen Tropfen zum Trinken gehabt. Finden Sie Wasser.“

Es war am Abend des zweiten Tages. Ein schmerzend schöner Sonnenuntergang breitete sich über den halben Himmel aus, aber ich war der einzige, der ihn beobachtete. Leslie marschierte entschlossen eine Rinne hinauf, und die anderen fünf folgten ihr auf den Fersen. Ich unterdrückte den Drang, sie sich während des Sonnenunterganges hinsetzen zu lassen, und folgte ihnen das alte Flußbett hinauf.

„Hier.“ Leslie zeigte auf den unteren Rand einer Flußbiegung, wo sich das Wasser sammeln würde, wenn es regnete. Stahl und Gamble fingen mit zerlegbaren Schaufeln zu graben an. In einem Meter Tiefe wurde die Erde feucht.

Sie kletterten aus der Grube, und George ging mit einer Rolle Plastikschlauch und einer großen Konservenbüchse nach vorn. Sie stellte die Büchse in den Dreck am Grund der Grube und ließ den Plastikschlauch aus der Büchse die Grubenwand hinauf- und hinauslaufen. Sodann breiteten Leslie und Narowitz eine zwei Quadratmeter große Plastikfolie über die Grube und beschwerten die Ränder mit Erde. Lindquist wartete, bis sie beide zurückgetreten waren, ehe er einen kleinen Stein in der Mitte des Kunststoffs platzierte. Die Plastikfolie wölbte sich scharf ein und formte über der Büchse einen umgestülpten Kegel.

„Schaut, es kommt bereits zur Kondensation!“ Leslie deutete auf die Tropfen Feuchtigkeit, die sich schon an der Unterseite der Folie bildeten. Nach einer Minute lief Wasser den Kegel hinunter und tropfte langsam in die Büchse.

Ich kniete neben dem Solardestillationsapparat nieder und steckte den Schlauch zwischen die Lippen. Ich saugte vorsichtig und wurde durch ein schmatzendes Geräusch vom Grund der Grube belohnt. „Nicht schlecht. Wenn ihr euch an dieselbe Stelle haltet, im Schatten bleibt und euch schont, reichen zwei davon aus, einem von euch das Leben zu retten.“ Ich blickte sie an, und sie beobachteten mich mit ernsten Gesichtern. „Mit Müh und Not das Leben zu retten.“ Sie nahmen jedes Wort in sich auf, als wüßte ich, wovon ich redete. Ich fühlte mich jünger als mit meinen dreiundzwanzig Jahren, und obendrein schwoll mir der Kamm.

Lindquist war noch immer ein ständiger Druck in meinem abgewandten Rücken.

 

Nach meiner Uhr waren es noch drei Stunden bis Sonnenaufgang. Ich zählte die Gestalten – sechs leichte Schlafsäcke im Umkreis um ein erlöschendes Feuer. Scorpio erstreckte sich über den Himmel, und seine irdischen Brüder schliefen unter den wärmsten Felsen – oder Körpern –, die sie finden konnten. Meinen Schülern war bekannt, daß sie am Morgen ihre Stiefel überprüfen mußten.

Lindquist war endlich eingeschlafen und die anderen waren es auch, wie es schien. Zumindest schenkte mir keiner von ihnen die geringste Beachtung.

Wenn ich nur dasselbe von dem Beobachter auf dem Berg sagen könnte.

Er war seit dem frühen Nachmittag da und nicht immer allein. Ich stellte ihn in der Nähe meines Lagers vom ersten Tag fest, von wo aus ich zugesehen hatte, wie die Gruppe des Narowitz über die Mulde gefahren kam. Seine Anwesenheit war mir ein Rätsel.

Die Aufmerksamkeit des Beobachters schweifte umher. Rund alle sieben Minuten verschwand der Druck, um bald danach zurückzukehren. Ich zog den Rucksack zu mir heran und wartete. Nach der nächsten Pause zog ich im Mesquite die Stiefel an, während der Späher meinen von der Decke verborgenen Rucksack beobachtete.

Ich hatte vor langer Zeit, aus harter und grausamer Notwendigkeit, gelernt, den Augen des Menschen auszuweichen. Ich trieb mich herum wie ein Gespenst – ungehört und ungesehen. (Und wer wüßte das besser als ich?) Ich stand auf dem Grat und blickte zu ihnen hinab.

Es waren zwei. Einer schlief unter einer Zeltbahn, während der zweite in das hellgrüne Okular eines Nachtsichtgerätes blickte. Kurz erwog ich einen gespenstischen Besuch, ließ den Einfall aber rasch fallen. Überrumpelte neigen zu gefährlichen Reaktionen.

Zwanzig Minuten später schlüpfte ich unbemerkt ins Bett zurück. Der Schlaf stellte sich zögernd ein.

„Der andere Grund, warum ich behauptete, daß dieser Ausflug dazu dient, eure Überlebensfähigkeit aufzupolieren, anstatt sie euch einzuimpfen, ist der, daß das Überleben unter jedweden Bedingungen eine Kunst und keine Wissenschaft ist. Die Technik, die einer von euch entwickelt, kann sich entschieden von der eines anderen unterscheiden, ohne deswegen weniger wirkungsvoll zu sein.

Doch gibt es bestimmte Parameter, die ihr nicht überschreiten dürft. Vermeidet einen Sonnenbrand; er setzt euch außer Gefecht und führt auch dazu, daß sich dringend benötigtes Wasser in den verbrannten Stellen ansammelt. Die Ergänzung außerzellulären Wassers und Natriums ist lebenswichtig. Wenn ihr durch Schwitzen zuviel Salz verliert, sinkt der Blutdruck gefährlich ab.“

„Warum?“ Leslie hörte aufmerksam zu. Die übrigen befanden sich anscheinend in einem Zustand zwischen höflicher Aufmerksamkeit und völliger Langeweile.

„Nun, der Salzgehalt, in Wahrheit der Pegel freier Ionen in euren intra- und extrazellulären Flüssigkeiten, pendelt sich immer auf dem gleichen Niveau ein. Wenn der Salzgehalt auf einer Seite einer Zellmembran steigt, wandert das Wasser osmotisch von der Seite geringen Salzgehalts zu der mit hohem. Wenn euer Blutplasma und andere extrazelluläre Flüssigkeiten weniger salzhaltig sind als das Zellinnere, fließt Wasser in die Zellen. Daher sinkt der Blutdruck, und man bekommt ein Schwindelgefühl, man wird schwach, oder man verliert das Bewußtsein. Wenn das weit genug geht, schaffen es die Körperfunktionen nicht mehr, und man stirbt. Das kann einem sogar passieren, wenn man alles salzfreie Wasser der Welt zur Verfügung hat.“

Leslie nickte verständnisvoll. Alle übrigen dösten. Aus Gambles Richtung drang ein Schnarchen. Ich fuhr fort.

„Das Gegenteil passiert, wenn man Wasser, aber kein Salz verliert. Der Salzgehalt im Blutplasma steigt, und das Wasser tritt aus den Zellen aus und ins Plasma, in die Lymphflüssigkeit und so weiter ein. In diesem Fall bleibt der Blutdruck erhalten, aber die Zellen sterben ab.“

Leslie wirkte verstört. Alle übrigen sahen schläfrig aus.

Ich lachte.

„Bedenkt, daß die vorkolumbianischen Indianer dieses Teils von Texas dreimal soviel Freizeit hatten wie ihre Brüder im wasserreichen Osttexas. Es war ihnen nicht nur möglich, hier zu überleben, es fiel ihnen sogar leichter!“

 

Zwar hätte man mich einst als tollwütigen Hund einstufen können, aber daß ich Engländer sei, hat nie jemand behauptet. Ich saß unter einem schrägen Felsblock, der Mittagssonne entzogen. Zwölf Meter weiter tat Lindquist unter einem anderen Felsen so, als würde er schlafen, den Kopf auf dem Rucksack, der ihm als Kissen diente. Daß er nicht schlief, war der Grund, warum mein Dösen immer wieder unterbrochen wurde. Versuchen Sie mal zu schlafen, wenn Ihnen ein paar Schaben die Brust hinaufkriechen. Die Empfindung ist nicht dieselbe, aber der Ablenkungspegel ist ungefähr der gleiche.

Weitere Augen auf mir und das Knirschen des Gesteins rechts von mir zeigten an, daß sich Leslie näherte. Ich wälzte mich weiter, um für sie im Schatten Platz zu machen.

„Guten Tag“, sagte ich.

„Guten Tag“, erwiderte sie.

„Kipling hat irgend etwas über das Hinaustreten in die Mittagssonne gesagt.“

„Ich habe eine Frage an Sie, Mr. Galighty.“

„Als Jüngster von euch allen möchte ich lieber mit John angesprochen werden.“

„Gut, John, waren Sie in Vietnam?“

„Nein, ich war zu jung und wäre auch untauglich gewesen. Warum?“

„Mein Bruder war bei den Grünen Teufeln. Wenn er es darauf anlegte, konnte er leiser als eine Katze schleichen. Sie gehen die ganze Zeit so.“

„Ich trage nicht einmal einen dicken Knüppel mit mir herum.“

Eine Spur von Verärgerung huschte über ihr Gesicht, und ich gewann den Eindruck, daß ich sie nicht ernst nahm, wie sie ernstgenommen werden wollte.

„Und wen retten Sie heute, Johnny Samtpfote?“

Ich zuckte zusammen. „Sie lesen die falschen Zeitungen, Mädchen.“

„Ich habe mich gefragt, wo mir Ihr Name früher untergekommen ist. Vor ein paar Minuten fiel es mir ein. Sie spürten die Familie Randolf auf, als es allen mißlungen war, ihr Flugzeug zu finden. Das ist nicht so außergewöhnlich. Was Ihnen all diese Aufmerksamkeit einbrachte, war Ihre Abneigung, interviewt oder photographiert zu werden. Die Houston Post erfand schließlich diesen Spitznamen, nachdem Sie ihren Reporter zum zwölften Mal abgeschüttelt hatten. Wie lautete doch die Schlagzeile? Ach ja …‚ Wer war der Maskierte?‘“

„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Ich war nicht in Texas, und niemand hat mich gesehen.“ Ich knirschte mit den Zähnen und zog mir den Hut übers Gesicht.

„Man hätte die Cessna schließlich gefunden, aber viel zu spät.“

„Wie haben Sie es gemacht?“ Ich sagte ihr die lautere Wahrheit.

„Ich erklomm den höchsten Gipfel in der Gegend und löste eine Rauchbombe aus. Als sie sie sahen, wußte ich, wo sie waren.“

„Was?“

„Macht nichts. Reines, dämliches Glück.“ Auf nicht sehr subtile Art bemüht, das Thema zu wechseln, deutete ich auf die Talmulde hinaus. „Die Apachen sind hier auf ihren Raubzügen aus Mexiko durchgezogen.“ Ich lüftete den Hut ein wenig. „Einmal habe ich einen Archäologen in die Berge hinter uns geführt, und er stellte mir eines Nachts folgende Frage: Wer hatte Ihrer Meinung nach die beste leichte Kavallerie, die es auf diesem Planeten je gab?“

Sie sah nachdenklich drein. „Ich würde sagen, die Mongolen oder die georgischen Kosaken.“

„Ich selbst tippte auf die bengalischen Lanzenreiter. Aber auch ich irrte mich.“

„Wer hatte sie also?“

„Die Komanchen. Ohne die Einführung von Repetiergewehren hätten sie die Weißen aus Texas gejagt wie die Apachen und die Kiowas.“

„Dieses Thema scheint mit der Erdölsuche nichts zu tun zu haben.“

„Das hängt von der Perspektive ab. Wenn Sie die Sahara sehen, versuchen Sie, einmal nicht an Khartum oder Thomas Edward Lawrence zu denken.“

„Wen?“

„Sie wissen schon, Larry von Arabien.“ Ich kratzte mich an der Nase. „Wie lange kennen Sie die übrigen Angehörigen Ihrer Gruppe schon?“

„Bis auf Joe werden wir schon seit zwei Monaten ausgebildet. Der Sprengstoffsachverständige, den wir hatten, wurde vor zwei Wochen zu einem Firmenvorhaben an die Ostküste versetzt. Neue Hoffnung für den Baltimore-Canon.“

Vor zwei Wochen hatte ich das Angebot der Geosource für diese kleine Übung akzeptiert.

„Warum waren Sie untauglich?“

Soviel, was Themenwechsel anging. „Wollen Sie es wirklich wissen?“

„Ja.“

„Ich habe sieben Jahre meines Lebens im Brentwood-Spital für Geisteskranke zugebracht. Ich wurde als paranoider Schizophrener mit geringen Aussichten auf Besserung eingeliefert. Nach meiner Entlassung wurde ich weitere zwei Jahre ambulant behandelt. Ich glaube nicht, daß mich die Armee genommen hätte.“

Weil Augen eine solche Wirkung auf mich ausüben, neige ich dazu, Ausdrücke an ihren Bewegungen zu beurteilen. Leslies Augen wurden groß, als sie vor mir zurückzuckte. Das schmerzte, daher lachte ich. „Keine Bange, der einzige, der je vor meinen winzigen kleinen Augen beschützt werden mußte, war ich selbst.“

„Aber wie erwarben Sie Ihren akademischen Grad?“

„Welchen akademischen Grad?“

„Ich war der Meinung, Sie hätten zumindest einen Magister in Physiologie oder Wüstenökologie. Sie publizieren in wissenschaftlichen Zeitschriften, sogar in Scientific American! Sie sind einer der gebildetsten Menschen, mit denen ich je gesprochen habe.“

„Gebildet? Das ist der Schlüssel. In England wird man nicht gefragt, in welchem Fach man an der Universität die Prüfungen abgelegt hat. Man wird gefragt, welche Vorlesungen man an der Universität besucht hat. Ich war bereits mit neun Jahren gebildet. Selbst für Wahnsinnige sind Irrenhäuser unangenehm. Bücher sind wunderbare Verstecke.“ Ich lächelte. „Man hat mich eingeladen, an verschiedenen Hochschulen Vorlesungen zu halten, aber ich selbst habe nie welche besucht.“

„Ich verstehe“, sagte sie, obwohl augenscheinlich war, daß sie nichts verstand. „Es ist besser, ich ruhe mich etwas aus.“

„Tun Sie das.“

Sie ging zu ihrem Platz im Schatten zurück, und ich versuchte wieder einzuschlafen, aber die beiden eingebildeten Schaben tanzten noch immer auf meiner Brust herum.

 

Es war am Morgen des letzten Tages, und Ärger stand uns bevor. Der Beobachter auf dem Berg hörte auf, mich zu beobachten, und der Wind blies aus Nordwesten. Beides war ein schlechtes Zeichen. Der Wind hatte in der Dämmerung eingesetzt und nahm ständig an Geschwindigkeit zu. Ich schätzte ihn auf 55 Kilometer pro Stunde, mit wachsender Tendenz. Im Norden wurde es dunkler, und die oberste Bodenschicht wurde davongeweht. Ich gab Schutzbrillen aus und machte mir Sorgen, es könnte zu Sturzfluten kommen.

Ich wurde nervös. Wo waren die Beobachter? Wer waren die Beobachter? Die naheliegendste Vermutung war die, daß sie von der Geosource entsandte Aufpasser waren, die die Sicherheit ihrer Angestellten überwachen sollten. Auch wenn ich aufgrund meiner Veröffentlichungen eine anerkannte Autorität war, wußten sie nichts über meine persönliche Verläßlichkeit. Trotzdem kam mir das schwächer als Spaghetti unter Belastung vor, und ich gab mich anderen Vorstellungen hin.

„Mr. Narowitz?“ Ich sprach laut. Der Wind heulte durch die Felsen, und ich mußte alles wiederholen, ehe er mich hörte. Er machte eine Schlaufe an seiner improvisierten Zeltplane fest und kam dann zu mir herüber.

„Ja, Johnny?“ Sie nannten mich alle Johnny, da ihnen Leslie vom Flugzeugabsturz und der Rettungsaktion erzählt hatte.

„Es mag seltsam oder peinlich klingen, aber gibt es irgendein Geheimnis um eure Suchtechniken oder eure Ausrüstung? Vielleicht etwas, was eine andere Firma oder ein anderes Land verleiten könnte, euch oder einen eurer Techniker zu entführen, um es an sich zu reißen?“

„Das ist eine merkwürdige Frage. Einen von uns entführen? Etwa Leslie?“ Er lächelte.

„Die letzten zwei Tage haben uns zwei Männer vom Felsgrat da oben nicht aus den Augen gelassen. Das ging so weit, daß sie ein Nachtsichtgerät eingesetzt haben.“

Seine Überraschung wirkte echt. „Sind Sie sicher?“

„Ohne Zweifel. In der ersten Nacht ihres Auftauchens habe ich sie mir angesehen.“ Ich grapschte nach der nächsten Frage. „Stehen sie mit Lindquist in Verbindung?“

„Wie zum Teufel soll ich das wissen?“ Er sah verdutzt aus. „Ich wäre wirklich nicht überrascht. Beobachten sie uns noch immer?“

„Nein, vor etwa dreißig Minuten haben sie es aufgegeben. Vielleicht, um sich zu entfernen, vielleicht, um etwas anderes auszuhecken.“ Ich sprang plötzlich auf. „He, keine Schaben mehr!“

„Was?“ Narowitz betrachtete mich plötzlich voller Mißtrauen. Vielleicht hatte er von Brentwood gehört.

„Wo ist Lindquist?“ Ich kletterte auf den nächsten Felsen und setzte mich oben hin. Ich sah nichts als einen Berghang voller Schiefer, Mesquite und Lecheguia – die berüchtigte Frucht, die als Marterpfahl des Südwestens bekannt ist. Das war alles, was ich sah, aber jemand anders sah mehr. Ich spürte, wie meine rechte Seite mit der Wahrnehmung mehrerer Personen kribbelte. Ich sah dorthin, den Berg hinauf. Dort oben mußten sich sieben Menschen befinden, sie waren im Gebüsch und zwischen den Felsen versteckt und blickten auf mich herab. Ich wandte mich um und spürte, daß mich zwei weitere vom Fuß des Hanges aus musterten.

„Ich habe mich verzählt“, sagte ich zu Narowitz und glitt vom Felsbrocken herab, weg aus jenem schrecklichen Kreuzfeuer von Blicken. „Wir haben eine Menge Gesellschaft. Holen Sie die anderen!“

Selig die, die keine Fragen stellen. Er rief sie zu sich. Wie ich bereits bemerkt hatte, fehlte Lindquist.

„Schnappt euch Wasser und folgt mir. Das ist kein Test und keine Übung.“ Ihr Gesichtsausdruck reichte von Belustigung bis Schock, zum Großteil waren es Reaktionen auf meinen eigenen Gesichtsausdruck. „Zumindest neun Menschen nähern sich uns. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum, und ich möchte es auch nicht erfahren, wenn es sich vermeiden läßt.“

Sie ergriffen die Wasserflaschen und ihre Hüte, und ich führte sie im behutsamen Trott durch das Gewirr der Gesteinsbrocken. Bei dem aufkommenden Wind war es kein Problem, nicht gehört zu werden. Ich hielt am Nordrand der Felsklötze an. Vor mir befand sich ein Mesquitedickicht, das über den Berghang zu einem ausgetrockneten Flußbett verlief. Ich schloß die Augen und konzentrierte mich, verspürte aber nichts als die teilweise Aufmerksamkeit meiner Begleiter. Wir duckten uns, und ich legte die Hand auf Gambles Schulter.

„Zum Wasserlauf und dann an ihm entlang und den Hang hinauf.“

Er nickte, und ich klopfte ihm auf den Rücken. Er kroch gebückt in das Dickicht, und ich achtete sorgfältig darauf, wo er den Fuß hinsetzte. Ich sandte ihm George und Stahl nach. Sie verschwanden außer Sicht.

Leslie und Narowitz kamen zu mir heran. Narowitz bekam kaum Luft, und er drückte die rechte Hand an die Wade.

„Was ist passiert?“

Er entblößte einen ausgezackten Riß im Hosenbein. Blut drang aus einem winzigen Einstich.

„Lecheguia?“

Er nickte.

„Das macht nichts. Wenn Sie zum Kamm kommen, versuchen Sie, im Bogen zu den Autos zu gelangen. Passen Sie auf, ob sie einen Wachtposten aufgestellt haben.“

„Was machen Sie?“ fragte Leslie.

„Ich werde der Bibel nacheifern und führe sie in die Wüste.“

Leslie protestierte. „Das ist unklug, Johnny. Sie könnten den Tod finden! Ich verlasse Sie nicht!“ Alles in einem Atemzug.

Da sie von den Göttern der Logik nicht mit Stummheit geschlagen wurde, schüttelte ich heftig den Kopf. „Nein, tun Sie es nicht, denn Sie werden alle Hände voll haben, Ihrem Chef den Hang hinaufzuhelfen.“ Ich starrte ihr hart ins Gesicht, und sie wandte die Augen ab. „Sie haben es selbst gesagt. Man nennt mich Johnny Samtpfote, und Sie wären für mich bloß eine Belastung!“ Ich deutete auf den Mesquite hinaus. „Sehen Sie?“

Sie wandten beide den Kopf, und ich war, flugs wie der Wind, fort.

 

Ich zeigte mich auf der bergabgewandten Seite der Felsbrocken. Ein langer Schieferzug erstreckte sich vom Kamm in ein Gebiet sich windender Trockentäler, die durch Jahrhunderte von Wind und Wasser in den Berg eingeschnitten worden waren. Ich glitt sorgfältig hinunter und wich den Spanischen Dolchen, Feigenkakteen und Lecheguias aus, die auf dem Hang verstreut wuchsen. Auf dem halben Weg hinunter lief mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich ließ mich nicht beirren. Ein besonders heftiger Windstoß bewog mich, auf das Talbecken hinauszusehen. Die Sierra Diablo war hinter einem Vorhang schwarzer, brodelnder Wolken verborgen, die über den Wüstenboden zogen wie ein Berg, der nach Mohammed Ausschau hält. Der Blitz zuckte in abgerissenen Striemen über diese Gewitterfront. Ich dankte Gott für die Brille, die ich trug, und fragte mich, ob meine Verfolger ebenfalls welche hatten.

Im ersten Trockental wandte ich mich um und blickte den Berg hinauf. Vier Männer kamen hinter mir den Hang heruntergeklettert. Drei weitere standen oben und beobachteten uns mit Feldstechern. Alle trugen Drillichanzüge. Während ich sie beobachtete, glitt einer der Männer auf dem Schiefer aus und rutschte in einem Gewirr um sich schlagender Arme in ein Lecheguiagebüsch. Durch das Brausen des Windes drang sein gellender Aufschrei zu mir.

Ich zuckte zusammen. Über den dort brauchte ich mir nicht mehr den Kopf zerbrechen. Ich ließ mich über die Kante in das Trockental fallen.

Etwas schlug gegen meine Stirn. Ich fuhr mit der Hand an die Haut und zog sie naß zurück. Bald fielen weitere dicke, sandige Wassertropfen. Und die Männer hinter mir trugen keine Brillen. Ich sprintete aus voller Kraft den Wasserlauf hinunter.

Der Nordwind verfärbte den Himmel schwarz und wirbelte die Erde auf. Windstöße von mehr als achtzig Meilen pro Stunde trieben Mesquitebäume durch die Luft. Der Regen fiel noch immer vereinzelt, aber ich wußte, daß auf den Gipfeln Tonnen von Wasser niederströmten. Bald würden die Fluten einsetzen.

Ich versuchte, mich tiefer in die Vertiefung hineinzupressen, die ich auf einer Erhebung in der Talmulde entdeckt hatte. Der Regen tropfte noch immer auf meine Beine.

Noch zweimal, nachdem ich die Trockentäler erreicht hatte, zeigte ich mich ihnen. Jedesmal lockte ich sie weiter von den Bergen fort. Dann schüttelte ich sie ganz ab und schaute mich nach dem hohen Boden um. Ich hoffte, daß Leslie und die anderen die Wasserläufe verlassen hatten.

Nun, was jetzt, Johnny? Machst du dich nach Ignacios Schaffarm im Süden auf und funkst um Hilfe? Oder trägst du den Kampf zum Feind? Wer war der Feind?

Eines war sicher. Ich würde erst etwas unternehmen, wenn sich der Sturm gelegt hatte.

Wie Moses hatte ich sie in die Wüste geführt, und jetzt verließ ich sie wie Moses und ging in die Berge.

Es war leicht, ihnen aus dem Weg zu gehen. Ich fand heraus, daß ich imstande war festzustellen, wann sie in meine Richtung schauten, ob sie mich jetzt erblickten oder nicht. Sieben von ihnen befanden sich nun im Talbecken, und zumindest ein weiterer war mit einem Feldstecher in den Bergen.

Am späten Nachmittag kletterte ich in den Irrgarten der Gesteinsbrocken zurück. Die Wolken waren verschwunden, und die Sonne bemühte sich, die verlorene Zeit wieder wettzumachen. Die Felsen schimmerten in einem Dunst, der in der Hitze tanzte. Ich kauerte mich zwischen den Felsen nieder und gestattete mir einen herrlichen Schluck Wasser. In der Sonne sah es aus, als leuchte ein meterlanges Stück Kalkstein wie der Mantel einer Gasleuchte – weißglühend.

„Hm“, murmelte ich. „Das würde ich gerne sehen, wie Moses aus diesem Felsen Wasser hervorzauberte.“ Ich näherte mich den Autos.

Fünf Fahrzeuge standen jetzt auf der weiten Kiesfläche. Die beiden Neuzugänge waren Kastenwagen mit Funkantennen. Zwischen ihnen und den im Schatten aufgestellten Klappsesseln war eine Plane aufgespannt worden. Die komplette Mannschaft der Danforth Geosource saß unbewacht unter der Plane und trank aus Büchsen Fruchtsäfte.

Ich pirschte mich durch das Mesquitedickicht näher heran.

Lindquist blickte in die offene Tür eines der Lastwagen und fragte: „Noch nichts zu sehen?“

Ein Mann, der lose um den Hals Kopfhörer trug, trat in die Türöffnung. „Nein, aber in der Hitze ist noch ein Mann ausgefallen. Sie ließen die beiden Burschen mit den angegriffenen Augen mit etwas Wasser bei ihm zurück.“

„Zum Teufel! Warum hat niemand an Schutzbrillen gedacht? Hat keiner etwas von Sandstürmen gehört?“

Narowitz und Stahl lachten schallend. George und Gamble lächelten. Leslie starrte bloß. „Warum brechen Sie es nicht ab? Sie haben herausgefunden, was Sie wollten. Wollen Sie einen Ihrer eigenen Leute bei dem Versuch umbringen, etwas zu fangen, was nicht zu fangen ist?“

Mach es ihnen nur klar, Leslie.

Lindquist bekam einen nachdenklichen Ausdruck. „Wie steht’s damit, Doktor?“ rief er in den Lastwagen hinein. Ein großer, rothaariger Mann mit dicker Brille und beginnendem Kahlkopf stieg aus dem Lastwagen und gesellte sich zu ihnen. Er hieß Tom Case, und er war der letzte, den ich in der Wüste von Nord-Chihuahuan zu sehen erwartet hätte.

„Ich würde es gerne abblasen“, sagte Case. „Wer sagt das jedoch Johnny?“

„Verwenden Sie ein Megaphon. Erlaubt mir, es ihm mitzuteilen!“ Die wütende Leslie war beeindruckend. „Sie brauchen ihn nicht zu fangen, um ihm etwas mitzuteilen!“

„Ach? Die Houston Post wollte nur eine Photographie, und die Leute wurden wütend und vertrödelten mehr Zeit bei dem Versuch, eine zu bekommen, als die Geschichte wert war. Ich habe das Gefühl, daß man ihn fangen muß, wenn man mit Johnny reden will.“

Ich ging herum, bis sich einer der Lastwagen zwischen mir und der Plane befand. Mir gegenüber war ein Fenster, aber niemand schaute hindurch. Ich glitt ruhig über den Kies und schlich an den Lastwagen heran. Narowitz’ Stimme drang um die Ecke.

„Es war mir bekannt, daß Danforth viele Regierungsaufträge hat, aber ich hatte keine Ahnung, daß Sie soviel Einfluß haben.“

„Mr. Narowitz, wir haben lediglich auf die Vorteile eines Überlebenstrainings hingewiesen. Zur selben Zeit ließ die Agency Geosource wissen, daß sie sich für Mr. Galighty interessiert … natürlich als Berater. Ich denke, es war sehr nett von Ihnen, mich in eure Mannschaft aufzunehmen.“ Lindquist klang weitaus selbstbewußter als der Sprengfachmann Joe.

„Sie haben mich keine Minute lang getäuscht“, erwiderte Narowitz. „Ihre Sprengtechniken eigneten sich mehr fürs Zerstören als für seismische Signale. Ich war der Meinung, daß Sie uns für eine Geheimdiensttätigkeit in Nordafrika zugeteilt wurden.“

„Das war kein lange haltender Deckmantel.“

„In der Tat“, stimmte ich zu und kam um den Lastwagen herum. „Es war eine miserable Tarnung.“

Diesmal wollte ich sie überraschen. Das glückte mir ziemlich gut.

Lindquist, dessen Sessel bereits nach hinten geneigt war, fiel mit einem Krachen um. Tom Case zuckte zum Lastwagen zurück. Narowitz ließ sein Coke fallen, und Gamble hustete heftig von dem verschluckten Sprite.

„Mutter Gottes!“ rief George aus und schlug eilends ein Kreuz. Narowitz klopfte Gamble auf den Rücken, und Case half einem im Gesicht rot gewordenen Lindquist auf die Beine.

Leslie setzte sich im Sessel zurück und konnte sich vor Lachen nicht halten.

„Hat jemand Ihr Bein behandelt?“ fragte ich Narowitz, als Leslies schallendes Gelächter in einem unterdrückten Kichern erstarb. Lindquist war im Lastwagen verschwunden, um seine umherirrenden Krieger zurückzurufen.

Narowitz lächelte bedächtig. „Ich glaube, ich habe gar nicht mehr daran gedacht.“

Ich kniete nieder und schob den ausgefransten Stofflappen zurück. „Lassen Sie es in warmem Seifenwasser weichen. Ich nehme an, Sie wurden erst kürzlich gegen Tetanus geimpft?“

„Ja.“

„Gut.“ Ich stand auf und blickte Case an. „Tom, gehen wir spazieren.“

Erinnerungen aus den Sälen des Wahnsinns: Erinnerungen an diesen Mann – an Tom Case.

Er war ein graduierter Student, der in Brentwood seine Dissertation schrieb. Ein paar solcher Studenten trieben sich herum, führten mit den Patienten Tests durch und versuchten die Schwestern zu verführen. Die Anstaltsärzte betrachteten sie als etwas, mit dem man sich abfinden mußte, und vergnügten sich damit, ihre empfindlichen Egos zu durchlöchern. Die Angestellten hatten eine besondere Abneigung gegen Case.

Einmal in der Woche spielten wir Schach, und obwohl wir gleichwertige Spieler waren, gewann ich die Mehrzahl der Partien.

„Warum verliere ich so oft?“ fragte er einmal, mehr sich als mich.

Ich war damit beschäftigt, die Figuren für die nächste Partie aufzustellen. „Der Grund Ihres Verlierens ist einfach: Sie schenken mir zuviel Aufmerksamkeit und meinen Figuren zuwenig.“

„Ich bin Psychologe, verdammt noch mal! Ich kümmere mich um Menschen.“

„Und Sie verlieren Schachpartien, die Sie nicht verlieren sollten.“

Er eröffnete mit Ruy Lopez.

„Wie verhindere ich es? Wenn ich wüßte, wann meine Aufmerksamkeit abgelenkt wird, wäre ich imstande, es abzustellen. Es fällt mir aber augenscheinlich nicht auf.“

„Haben Sie schon versucht, sich eine Schnur um den Daumen zu binden? Überhaupt, wer ist denn hier der Patient?“

Mitten in einem Bauernabtausch sagte ich: „Sie tun es schon wieder.“

Er erstarrte, die Hand halb über dem Brett. „Sie haben recht, aber woher wissen Sie es?“

„Sie würden mir nicht glauben, wenn ich es Ihnen sagte. Lesen Sie meine Akte.“ Ich griff seine Königin an. „Hören Sie zu starren auf. Es tut weh und kostet Sie eine weitere Partie.“

Am nächsten Tag kam er mit einem Kartenspiel und einer Trefferliste zu mir ins Zimmer. Die Karten bestanden aus Kreisen, Quadraten, Sternen, Dreiecken und Wellenlinien. Es war ein Test für mein außersinnliches Wahrnehmungsvermögen. Ich scheiterte kläglich.

„Sie verschwenden Ihre Zeit, Mr. Case. Ich bin bloß einer von diesen Paranoikern, die sich einbilden, sie wüßten, wenn Leute sie beobachten. Was Sie brauchen, ist ein zweiter Edgar Cayce.“

Eine halbe Stunde später war er zurück. „Legen Sie bitte mir zuliebe diese Augenbinde an, Johnny.“

Ich betrachtete die Binde mißtrauisch. „Warum?“

„Seien Sie kein Zyniker. Legen Sie sie an.“ Er prüfte, ob sie gut saß. „Was spüren Sie?“

„Was meinen Sie?“

„Etwa … wie viele Menschen beobachten Sie?“

Ich erwiderte ohne zu zögern. „Drei. Sie, jemand auf der anderen Seite der Beobachtungswand und jemand außerhalb des Fensters.“ Ich riß mir die Binde ab. „Verschafft es Ihnen Vergnügen, mit geistig Kranken Ihr Spielchen zu treiben? Bitte verschwinden Sie aus meinem Zimmer, bevor ich einen Arzt rufe und mich beschwere.“

„Regen Sie sich nicht auf, Johnny.“

„Verduften Sie. Es ist mir gelungen, mir in diesem Höllenloch ein sicheres, privates Nest aufzubauen, und Sie verderben alles. Ich mag Menschen, die starren, nicht! Verschwinden Sie! Fort mit Ihnen!“

Er verließ mein Zimmer. Zwei Tage später verließ er Brentwood nach einer heftigen Auseinandersetzung mit den Ärzten. Er kam nicht mehr zurück.

Wir saßen im Schatten einer schrägen Felsplatte und sahen zu, wie das alte Flußbett neuerlich austrocknete. Ich fragte mich, wie oft im Jahr es Wasser in das Talbecken führte.

„Na Tom, wann haben Sie promoviert?“

„Letzten Mai.“

„Erstaunlich. Ich wußte gar nicht, daß es Doktorate fürs Pfuschen gibt.“

Er seufzte und verzichtete auf eine Erwiderung.

„Wie um aller Welt ist es Ihnen gelungen, die CIA dazu zu bringen, diesen dummen Ausflug zu bewilligen?“ Ich verschränkte die Arme auf der Brust.

Er lachte. „Sie würden sich wundern, was die Agency alles bewilligt, wenn das Projekt nur hinlänglich billig ist.“

„Billig? Die Zahl der Beteiligten muß ziemlich groß sein.“

„Wirklich nicht. Der Stoßtrupp hat gerade die Ausbildung abgeschlossen und mußte sowieso im Felde erprobt werden. Wir haben bloß den Schauplatz verlagert.“

„Sie haben nicht viel Ahnung von der Wüste, nicht wahr?“

„Ich glaube nicht. Lindquist ist meiner Abteilung auf Dauer dienstzugeteilt, und nach dem, was ich gehört habe, hat die Geosource etwas für ihr Geld bekommen.“

„Okay, so war es also. Nun sagen Sie mir, warum? Warum wollen Sie meinen Schlaf noch mehr stören, als er bereits gestört ist?“

Seine Augen starrten durch mich hindurch, aber der Kopf hinter ihnen befand sich woanders. Ich glaube, er überlegte sich, mit welcher Methode er es bei mir versuchen sollte.

„Erstens: Werden Sie mir zuhören und mich aussprechen lassen, bevor Sie einen Entschluß fassen?“

Ich nickte. „In vernünftigem Ausmaß. Ich gebe Ihnen fünf Minuten.“

„Ich arbeite für eine wenig bekannte kleine Abteilung, die bei der Agency Schwarzer Jäger heißt. Wir spüren paranormal Begabte auf und finden heraus, wie wir sie einsetzen können. Zum Beispiel haben wir ein Mädchen mit der Gabe des Sehens. Das klingt nicht sehr großartig, aber man muß wissen, daß sie vor sechs Jahren beide Augen eingebüßt hat. Sie kann den Inhalt eines verschlossenen Safes aus dreihundert Metern Entfernung beschreiben.

Sie ist unser Prunkstück, diejenige, die wir wichtigen Besuchern zeigen, aber seit ich in der Abteilung bin, habe ich drei mögliche Telepathen, einen Telekinetiker, zwei zeitweilige Präkognostiker und einen Menschen gefunden, der mit Bestimmtheit weiß, wann ihn die Leute anschauen.“ Er hielt inne und lehnte sich zurück.

„Sie hätten nie nach Brentwood gehört. Ihre Diagnose war völlig falsch. Mich schaudert es, wenn ich an die verlorenen Jahre Ihres Lebens denke.“

„Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf. Die Elektroschocktherapie ist eine wahre Wonne. Ich empfehle sie allen meinen Freunden.“

„Sie haben keine Freunde.“

„Ach, halten Sie den Mund.“

Case fuhr mit seiner Anpreisung fort.

„Ich hatte vor, meine Doktorarbeit über Sie zu schreiben, Johnny, aber es hat sich etwas anderes ergeben. Dennoch braucht Sie der Schwarze Jäger. Wir wollten Sie testen.“

„Soweit ich weiß, steht meine Nummer noch immer im Telefonbuch. Warum haben Sie mich nicht einfach gefragt?“ Ich begann ärgerlich zu werden, und das zeigte sich an meiner Stimme.

„Hat es Johnny Samtpfote einem Reporter erlaubt, etwas so Harmloses zu tun, wie ihn zu photographieren? Ich möchte wetten, Sie hatten in Brentwood Tests und Laboruntersuchungen zur Genüge.

Dann ist da noch ein Faktor, den der Schwarze Jäger herausgefunden hat. Wir haben mehrere Versuchspersonen entdeckt, die im Labor gute Leistungen erbringen, aber im Felde versagen. Für die Zwecke nachrichtendienstlicher Tätigkeit sind sie wertlos. Indem wir Sie auf diese Art testeten, haben wir uns überzeugt, daß Ihre Gabe auch bei Belastung effektiv funktioniert.“

„Hurra.“

„Großer Gott, Mann! Sie sind der Traum eines jeden Geheimagenten. Sie haben Augen im Rücken, und es ist unmöglich, Sie zu beschatten. Hier haben wir neun ausgebildete Männer auf Ihre Spur gesetzt, und Sie haben sie im Nu abgeschüttelt. Wir brauchen Sie!“

„Sind Sie fertig?“

„Bis auf eines –, daß nämlich die Bezahlung gut ist und daß Sie bequem reisen.“

Ich blickte zu einem rotschwänzigen Falken auf, der oben in den Thermalschichten schwebte. Er sah in seinem Himmelswinkel recht zufrieden aus. Ich fragte mich, ob ich je einen für mich finden würde.

„Tom, ich will Ihnen den Alptraum erzählen, der mich ständig plagt. Er geht so: Es ist finster, und ich bin an einen Stuhl gefesselt und kann mich nicht befreien. Dennoch bemühe ich mich, denn mir ist klar, daß etwas Schreckliches passiert, wenn es mir nicht gelingt, mich zu befreien. Dann gehen alle Lichter an, und ich sitze in der Mitte des Astrodoms von Houston. Ich erwache gewöhnlich, bevor alle Plätze besetzt sind, aber gewöhnlich schreie ich.“ Mich schaudert unwillkürlich. „Ich arbeite nicht für Sie, denn es könnte sein, daß ich in diesem Sessel aufwache.“

Ich stand auf und ging den Hang hinunter.

 

„Ich möchte Sie nochmals sehen.“

„Das habe ich befürchtet.“

„Bin ich so abstoßend?“

„Das wissen Sie besser.“

Leslie reichte mir mit ihren zollhohen Kunststoffsohlen bis zum Kinn. Sie blickte mit großen, seelenvollen Augen zu mir auf. Die Intensität ihres Blickes machte mich auf eine Weise zittern, die nicht ganz und gar unangenehm war. Die Männer der Danforth Geosource warteten ungeduldig bei ihren Autos, und der erschöpfte Stoßtrupp quälte sich den Grat entlang.

Leslie schob eine Haarsträhne zurück.

„Warum fürchten Sie sich vor mir?“

„Haben sie Ihnen etwas über mich gesagt?“

„Ein wenig. Sie wissen, wenn Leute Sie anschauen.“

„Oder mich hören, riechen, berühren, schmecken oder auf irgendeine andere Weise wahrnehmen. Und je angestrengter sie mich wahrnehmen, desto stärker spüre ich es.“ Ich spürte, wie eine überwältigende Einsamkeit mich überkam, und der verdammte Wind trieb mir das Wasser in die Augen. Zumindest eine Träne floß meine staubbedeckte Wange hinab.

„Sie sind in mich verschossen – ich spüre das. Sie konzentrieren Ihre Aufmerksamkeit auf mich wie eine Linse das Licht. Ich bin wie eine Pflanze. Ich brauche die Sonne, aber wenn Sie sie auf mich konzentrieren, brenne ich. Ich empfinde starke Aufmerksamkeit als sehr lästig und sogar schmerzhaft.“

Sie hob eine fragende Hand zu dem Wasserstreifen auf meinem Gesicht empor. Mein Herz hörte beinahe zu schlagen auf.

„Werden Sie je imstande sein, es zu ertragen?“

„Es gelingt mir schon immer besser.“

Sie ließ die Hand sinken. „Mein afrikanischer Ausflug ist in sieben Monaten vorbei.“ Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und ging zur Gruppe der Geosource zurück.

Ich kletterte zitternd in den Toyota Landrover und startete hastig den Motor. Als ich die Straße hinunterfuhr und glücklicherweise allen aus den Augen entschwand, war Leslie erst halb bei den Blazers unten. Eine große Last fiel mir von den Schultern, und ich bereitete mich innerlich darauf vor, wieder allein zu sein.

Draußen über dem Talbecken versank die Sonne hinter der Sierra Diablo. Leise vor mich hin fluchend, fuhr ich in den Sonnenuntergang hinein … zum Teufel!

 

THE TOUCH OF THEIR EYES
by Steven Gould
Copyright © 1980 by Davis Publications Inc.
aus ANALOG, September 1980.
Übersetzung: Irene Lansky