Am Tag danach steht man folgendermaßen auf: Man schiebt die Bettdecke zurück, rollt sich auf die Seite, setzt die Füße auf den Boden und stellt sich darauf. Dann geht man aufs Klo, badet, zieht sich an, geht nach unten, frühstückt, redet mit seinem Chef, übt seine Formae, isst zu Mittag, schlägt den Punchingball im Fitnessraum kurz und klein, duscht, zieht sich etwas anderes an, steigt in den Ford Asbo und fährt in die Stadt, um sich dort sehen zu lassen. Das tut man, weil es zum Job gehört, weil es nötig ist und – wenn man ganz ehrlich ist – weil man es gerne macht. Dieser Prozess ist zu wiederholen, bis die Albträume aufhören oder man sich an sie gewöhnt hat – je nachdem, was zuerst der Fall ist.

Es gab eine kurze amtliche Bekanntmachung eines dreifachen Suizids, die ihnen flüchtigen Ruhm als gemeinschaftliche Selbstmörderinnen einbrachte. Aber niemand in den Medien war so interessiert, dass er weitere Nachforschungen angestellt hätte. Die polizeiliche Nachuntersuchung übernahm Nightingale mit Hilfe einiger von der Westminster-Kriminalabteilung ausgeliehener Detective Constables, darunter meine Lieblings-Somali-Ninja. Da man ihnen nicht gut erzählen konnte, dass die Opfer unsterbliche Jazzvampire gewesen waren, blieb es an mir hängen, die Geschichte bis zum Krieg zurückzuverfolgen.

Simone Fitzwilliam, Cherie Mensier und Margaret »Peggy« Brown waren 1941 von ihren Eltern als vermisst gemeldet worden. Die Polizei war der Sache zwar nachgegangen, aber bestenfalls flüchtig – wer konnte es ihr verdenken? Schließlich stand die ganze Stadt in Flammen. Ich überlegte, ob ich nach ihren nächsten Verwandten suchen sollte, aber was hätte ich denen sagen sollen? Dass irgendeine halbvergessene Großtante zwar bei der berühmten Bombardierung des Café de Paris gestorben war, sich aber noch eines langen, höchst vergnüglichen Nachlebens erfreut hatte – bis ich daherkam und sie zum zweiten Mal umbrachte? Na ja.

Aber ihre Lehrerin Miss Patternost spürte ich auf. Sie hatte nach dem Krieg den Großen Teich überquert und war mit einer gewissen Sadie Weintraub, Produktionssekretärin bei Warner Bros., zusammengezogen, die in Glendale einen recht hübschen Bungalow im Ranch-Stil besaß.

Ich fand auch Leute, die nach dem Krieg in Soho aufgewachsen waren und sich an die drei jungen Mädchen erinnerten, die in der Berwick Street gewohnt hatten. Manche hatten sie für Prostituierte gehalten, andere für Lesben, aber die Mehrheit hatte keinen Gedanken an sie verschwendet – so war Soho damals eben.

Ich fand genug Beweismaterial, um ihnen fünfzehn weitere Todesfälle anzulasten, alles Jazzmusiker, und in sechsundneunzig Fällen hatten sie vermutlich zu chronischen gesundheitlichen Problemen und gescheiterten Karrieren beigetragen. Mein Dad war einer davon. Nichts, was ich entdeckte, wies darauf hin, dass Simone und ihre Schwestern auch nur den leisesten Schimmer gehabt hatten, was für Schmerz und Leid sie verursachten. Dr. Walid versuchte halbherzig, mich davon zu überzeugen, dass Simone sich ihrer Taten vollkommen bewusst gewesen war und ich auf die plumpe Täuschung eines kranken, soziopathischen Monsters hereingefallen war. Aber ich wusste, dass er mich nur trösten wollte.

Ich verfasste eine ausführliche Fallbeschreibung mit Fußnoten und allem Drum und Dran, druckte sie aus, heftete die Sekundärdokumente daran, legte alles in eine Ablagebox und schloss das Ganze in den Sicherheitsschrank der allgemeinen Bibliothek ein. Dann löschte ich die Daten von meinem Computer und manipulierte die Fallidentifikationsnummer in HOLMES und der Datenzentrale so, dass jeder Versuch, darauf zurückzugreifen, eine Warnung auslöste. Es war natürlich möglich, dass irgendein investigatives Journalistengenie bemerken würde, dass eine Reihe ganz unterschiedlicher rechtsmedizinischer Untersuchungen dieselbe Fallreferenznummer der Metropolitan Police trugen, aber da keine Fußballer, Popstars oder Mitglieder der königlichen Familie darin verwickelt waren, beschloss ich, mir darüber keine Sorgen zu machen.

Mehr Sorgen bereitete mir der Gesichtslose, der Mann mit der Maske, der Feuerbälle fangen und Schornsteine aufhalten konnte. Das Einzige, was ich noch alarmierender fand als die Vorstellung von einem voll ausgebildeten Zauberer mit krankhaftem Hang zu Menschenexperimenten war der Gedanke, dass Geoffrey Wheatcroft in seinem kleinen Zauberclub wohl mehr als nur einen Lehrling ausgebildet hatte. Wie viele kleine Krokodile gab es wohl noch, und wie viele davon waren gestörte Scheißkerle wie der Gesichtslose? Nightingale machte sich darüber auch Gedanken, das wusste ich, weil wir viel mehr Zeit als früher im Schießstand verbrachten.

Am ersten Montag im Oktober hatten mein Dad und die Hilfstruppen ihren ersten Auftritt unter ihrem neuen Bandnamen. Er fand im Round Midnight am Chapel Market in Islington statt. Mein Dad absolvierte den Zwei-Stunden-Gig mit Bravour und ohne einen einzigen Aussetzer, und während des berühmten Solos in Love for Sale gab es einen Augenblick, wo sein Gesichtsausdruck so überirdisch wurde, dass ich mich fragte, ob zwischen Musik und Magie tatsächlich eine Verbindung bestand, ob Jazz womöglich wahrhaftig Leben war.

Nach dem Gig war er völlig fertig, so sehr er sich auch bemühte, es zu verbergen, also setzte ich ihn und Mum in ein Taxi, gab dem Fahrer ein Trinkgeld und wedelte außerdem kurz mit meinem Dienstausweis, damit er sich am anderen Ende der Reise auch anständig benahm. Dann ging ich mit Max, Daniel und James zur Feier des Abends einen trinken, aber da das Round Midnight unser Budget ein wenig überstieg, schlichen wir uns ein Stück weiter ins Alma, wo es billigeres Bier und einen Fernseher mit dem Fußball-Bezahlkanal gab.

»Die haben angefragt, ob wir noch mal dort spielen«, sagte James.

»Das liegt daran, dass die Leute Durst kriegen, wenn sie uns hören«, sagte Max. »Ist gut fürs Geschäft.«

»Musik ist immer gut fürs Geschäft«, sagte James.

»Glückwunsch«, sagte ich. »Ihr habt’s geschafft – ihr seid eine richtige Band, und fremde Leute zahlen Geld, um euch spielen zu hören.«

»Dank deinem Vater«, sagte Max.

»Und Cyrus«, fügte Daniel hinzu.

»Auf Cyrus«, sagte Max, und wir stießen feierlich an.

»Hast du je rausgekriegt, was passiert ist?«, wollte James wissen. »Mit Cyrus, meine ich.«

»Nee, Kumpel. Ermittlungen leider ohne Ergebnis eingestellt.«

Er hob das Glas. »Auf die ungelösten Rätsel der Jazzpolizei.«

Wir stießen auch darauf an.

»Und auf Lord Grants Hilfstruppen«, sagte ich, und wir stießen noch einmal an.

So ging es drei Runden lang weiter, dann gingen wir noch ein Curry essen und dann nach Hause.

Nicht, dass ich wirklich Albträume hatte. Ich schlief eigentlich ganz gut, aber manche meiner Erinnerungen sind so stark wie Vestigia. Der Geruch von Geißblatt, ihr prustendes Lachen, ihre Rundungen, wenn sie in meinen Armen lag. Manchmal hält mich das bis in die frühen Morgenstunden wach.

Ich hatte also eine Affäre mit einer Jazzvampirin gehabt. Auf verrückte Art ergab es irgendwie Sinn. Die Göttin eines kleinen Flusses in Südlondon, dann eine Jazzvampirin aus Soho. Was würde als Nächstes kommen? Eine Werwölfin aus Chelsea, ein Sukkubus aus Sydenham? Ich beschloss, mir einen ganz persönlichen Regelkanon zu erstellen, einfach, um ihm eine brandneue Regel hinzuzufügen: Red nie schlecht über die Mutter von irgendjemandem, spiel nie Schach mit der kurdischen Mafia und geh nie mit einer Frau ins Bett, die magischer ist als du selber.

 

An einem kalten, düsteren Tag im Oktober fuhr ich aus London hinaus. Während ich mich im Rushhour-Verkehr zentimeterweise dem Stadtrand näherte, hatte ich viel Zeit, die Leute zu beobachten, die in Mäntel gehüllt mit hochgezogenen Schultern und eingezogenen Köpfen zur Arbeit eilten – der Sommer war vorüber, und der vielversprechende Mittelstürmer saß mit einer Kosmetikerin aus Malaga im Flieger nach Rio.

Aber London kümmerte sich nicht darum. Dieser Stadt ist es egal, wenn man sie verlässt, weil sie weiß: Für jeden, der geht, kommen zwei Neue. Außerdem war sie ganz damit beschäftigt, sich den Neonlippenstift nachzuziehen und sich mit gold-rotem Flitterkram zu behängen. Ach, Süßer, Fußballer sind doch mega-out. Diese Saison dreht sich alles ums Theater. Sie hatte es jetzt auf einen Hollywoodstar abgesehen, der Lust hatte, sein Können im West End unter Beweis zu stellen.

Wieder umfuhr ich Colchester, und diesmal rief ich noch rasch an, damit Lesley wusste, dass ich kam. Der eisengraue Horizont kam immer näher, und rechts und links von mir dümpelte Brightlingsea herum wie steinernes Packeis unter einem trüben Himmel. Als ich vor Lesleys Haus parkte, wartete sie schon unter der Kutschenlaterne. Dem Wetter entsprechend trug sie eine wasserfeste blaue Kapuzenjacke, und sie hatte den Rockstar-Schal und die Brille gegen eine Gesichtsmaske aus hypoallergenem Plastik vom Staatlichen Gesundheitsdienst ausgetauscht. Als sie sprach, klang ihre Stimme noch immer fremd.

»Ich muss dir was zeigen.«

Auf dem Weg durch die nassen Straßen begegneten wir ein paar Einheimischen, die Lesley heiter zuwinkten und mir misstrauische Blicke zuwarfen.

»Der Vorteil, wenn man in einer Kleinstadt wohnt«, sagte sie. »Alle wissen’s, niemand ist geschockt.«

»Mich mögen sie nicht so, glaube ich«, sagte ich.

»Sie spüren, dass du aus dem verruchten Sündenpfuhl kommst.«

Wir überquerten wieder den Parkplatz mit den Segelbooten, die jetzt für den Winter mit Planen verhüllt waren und in deren Takelage der eisige Wind sang, und erreichten die Strandpromenade mit der langen Reihe Strandhütten. Wieder führte Lesley mich in den gemauerten Unterstand mit der Wandmalerei aus unwahrscheinlich blauem Himmel und weißen Stränden.

»Ich nehme jetzt die Maske ab«, sagte sie. »Glaubst du, du kommst damit klar?«

»Nein«, sagte ich. »Aber ich versuch’s.«

Lesley zupfte an den Verschlüssen herum. »Das ist so ein blödes Gefummel. Ich hab noch eine mit Klettverschluss, die ist noch schlimmer – na endlich.«

Und bevor ich eine Chance hatte, mich darauf vorzubereiten, war die Maske weg.

Es war noch schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. So schlimm, dass mein Verstand sich dagegen wehrte, dass das überhaupt ein Gesicht sein sollte. Ihr Kinn war weg. Stattdessen floh die Haut unter der absurd vollen Unterlippe knotig nach hinten weg, bis sie sich mit der unbeschädigten Haut an der Kehle vereinigte. Die Nase war flach und formlos, ein unregelmäßiger rosa Knubbel inmitten einer Landschaft aus erhabenen weißen Narben kreuz und quer über Wangen und Stirn. Mir zog sich alles zusammen. Hätte ich mich nicht ganz angespannt, ich wäre bis auf die andere Seite des Unterstands zurückgewichen.

»Kann ich jetzt die Augen aufmachen? Bist du fertig?«, fragte sie.

Ich sagte etwas – ich weiß nicht mehr, was.

Sie öffnete die Augen. Sie waren immer noch blau. Es waren immer noch Lesleys Augen. Ich versuchte mich ganz auf diese Augen zu konzentrieren.

»Was meinst du?«, fragte sie.

»Hab schon Schlimmeres gesehen.«

»Lügner. Wen denn?«

»Deinen Dad.«

Es war nicht besonders witzig, aber ich merkte, dass der Versuch sie freute. »Glaubst du, du kannst dich daran gewöhnen?«

»An was?«

»An mein Gesicht.«

»Weißt du, du denkst immer nur an dein Gesicht«, sagte ich. »Du bist so eitel! Denk mal an andere Leute statt die ganze Zeit nur an dich.«

»An wen soll ich denn denken?«

Es war schrecklich, wie die Haut unter ihrem Mund sich verformte, wenn sie sprach. »An mich zum Beispiel. Als du mich zwischen den blöden Booten durchgezerrt hast, hab ich mir am Bordstein den Zeh gestoßen.«

»Ach ja?«

»Und das tut verdammt weh. Also, ich wette, er ist schon dick geschwollen. Willst du mal sehen?«

»Ich will deinen Zeh nicht sehen.«

»Ganz sicher?«

»Ja, da bin ich ganz sicher.« Und sie legte die Maske wieder an.

»Das musst du nicht«, sagte ich.

»Ich mag’s nicht, wenn die Kinder vor mir wegrennen.«

Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie erleichtert ich war, als ihr Gesicht wieder hinter der Maske verschwunden war.

»Es sind noch mehr OPs geplant, oder?«, fragte ich.

»Irgendwann. Aber jetzt will ich dir was anderes zeigen.«

»Okay«, sagte ich. »Was denn?«

Sie streckte die Hand aus, und über ihrer Handfläche bildete sich eine Kugel aus Licht mit wunderschön irisierendem Schimmer – viel schöner als jedes Werlicht, das ich je zustande gebracht hatte.

»Ach du Scheiße«, sagte ich. »Du kannst zaubern.«