
Schwarze Magie war nach Nightingales Definition jede Magie, die zum Schaden der öffentlichen Ordnung eingesetzt wurde. Ich merkte an, dass bei einer so vagen Definition darunter potenziell jeder Gebrauch von Magie fiel, der nicht vom Folly abgesegnet war. Nightingale schien das für selbstverständlich zu halten.
Dann sagte er: »Schwarze Magie ist der Gebrauch der Kunst in einer Weise, die einem anderen schadet. Ist Ihnen diese Definition lieber?«
»Wir haben keine Beweise, dass Jason Dunlop jemals jemandem mittels schwarzer Magie Schaden zugefügt hätte«, sagte ich. Wir hatten die Fallakte neben den Büchern aus Dunlops Wohnung und den Resten von Mollys abenteuerlichem Vorstoß in Richtung »Eier Benedict« auf einem Tisch im Frühstückszimmer ausgebreitet.
»Ich würde sagen, wir haben recht klare Hinweise darauf, dass jemand ihm Schaden zugefügt hat«, sagte Nightingale. »Und ziemlich sichere Indizien, dass er ein Praktizierender war. Angesichts der ungewöhnlichen Natur seiner Mörderin können wir, denke ich, mit einiger Sicherheit annehmen, dass Magie im Spiel war – meinen Sie nicht?«
»Könnte es in diesem Fall nicht sein, dass zwischen dem Mord an Jason Dunlop und meinen toten Jazzern ein Zusammenhang besteht?«
»Möglich«, sagte Nightingale. »Aber die Modi Operandi sind sehr unterschiedlich. Ich halte es für besser, die beiden Ermittlungen momentan noch voneinander zu trennen.« Er tippte mit dem Finger an eine der Gabeln aus Sheffield-Stahl mit Monogrammprägung des Folly, die aufrecht in ein Ei gespießt war. Sie bewegte sich nicht. »Was meinen Sie, ob sie nicht doch im Muffin feststeckt?«
»Nein«, sagte ich. »Das ist nur das Ei.«
»Ist das überhaupt möglich?«
»Bei Mollys Kochkünsten? Ist alles möglich.«
Wir sahen uns beide hastig um, um sicherzugehen, dass sie nicht in der Nähe war. Bis zu diesem Morgen hatte ihr Repertoire ausschließlich aus bewährter britischer Internatskost bestanden: Unmengen von Rindfleisch, Kartoffeln, Sirup und so viel Rindertalg, dass es für mehrere Großküchen gereicht hätte. Einmal, als wir auswärts beim Chinesen aßen, hatte Nightingale erklärt, dass er glaubte, Molly ziehe ihre Inspiration aus dem Folly selbst. »Eine Art institutionelles Gedächtnis.« Entweder veränderte sich das »institutionelle Gedächtnis« durch meine Anwesenheit, oder, was wahrscheinlicher war, Molly hatte bemerkt, wie oft Nightingale und ich uns zu heimlichen Mahlzeiten in fremde Lokalitäten davonschlichen.
Die Eier Benedict waren ihr Versuch, Abwechslung in die Speisekarte zu bringen.
Ich griff nach der Gabel, und das Ei, das Muffin und etwas, von dem man nur vermuten konnte, dass es Sauce hollandaise sein sollte, hoben sich wie ein einziges gummiartiges Objekt vom Teller. Ich bot es Toby an. Er schnupperte daran, winselte und verkroch sich unter dem Tisch.
Heute Morgen gab es kein Kedgeree, keine Würstchen, keine Eier außer den mit Hollandaise vulkanisierten und nicht einmal Toast und Marmelade. Offenbar hatte das kulinarische Experiment Molly so erschöpft, dass sie den Rest des Frühstücks von der Karte gestrichen hatte. Der Kaffee war immerhin trotzdem gut, und wenn man über Fallakten brütet, ist das alles, was zählt.
Bei einer Mordermittlung nimmt man sich zuerst das Opfer vor, denn das ist am Anfang meist das Einzige, was man hat. Das Studium des Opfers nennt man Viktimologie, weil sich alles viel schicker anhört, wenn man eine Ologie draus macht. Und damit man auch hübsch ordentlich an die Sache rangeht, hat die Polizei die unnützeste Eselsbrücke der Welt erfunden: die sechs W. Auch bekannt als Wer? Was? Wo? Wann? Warum? Wie? Wenn Sie das nächste Mal eine reale Mordermittlung im Fernsehen sehen und irgendwo eine Gruppe ernst blickender Ermittler intensiv irgendwas diskutiert, dann können Sie sicher sein, dass sie gerade versuchen, sich an die richtige Reihenfolge der verdammten Eselsbrücke zu erinnern. Sobald sie die geklärt haben, werden sie erst mal in die nächste Kneipe verschwinden, um zu verschnaufen und neue Energie zu schöpfen.
Was die erste Frage – Wer? – betraf, hatten Stephanopoulos und die Mordkommission uns erfreulicherweise den größten Teil der Arbeit abgenommen. Jason Dunlop war ein erfolgreicher freischaffender Journalist gewesen, daher auch seine Mitgliedschaft im Groucho Club. Sein inzwischen verstorbener Vater, ein höherer Staatsbeamter, hatte den jungen Jason auf eine zweitrangige Privatschule in Harrogate geschickt. Danach hatte Jason am Magdalen College in Oxford Englisch studiert. Er war ein mittelmäßiger Student gewesen, der konsequenterweise einen recht mittelmäßigen Abschluss gemacht hatte. Trotz seiner bescheidenen akademischen Leistungen war er geradewegs in einen Job bei der BBC hineingefallen, wo er zuerst als Rechercheur und dann als Produzent für die investigative Doku-Sendung Panorama arbeitete. Nachdem er dann in den Achtzigern eine Weile für (man sollte es nicht glauben) den Stadtrat von Westminster gearbeitet hatte, wandte er sich wieder dem Journalismus zu und schrieb Artikel für die Times, die Daily Mail und den Independent. Ich ging ein paar von den Zeitungsausschnitten durch; viele davon waren Artikel nach dem Motto »Ihr bezahlt mir den Urlaub, und ich schreib euch einen netten Bericht darüber«. Seine Ferien hatte er stets mit Ehefrau Mariana, einer PR-Managerin, und den beiden goldlockigen Kindern verbracht. Wie Stephanopoulos schon angedeutet hatte, war die Ehe kürzlich zu Bruch gegangen, beide Seiten hatten Anwälte genommen, vor allem das Sorgerecht für die Kinder war ein großes Thema.
»Man sollte vielleicht mit der Ehefrau sprechen«, sagte Nightingale. »Finden Sie heraus, ob sie etwas über seine Hobbys weiß.«
Ich überflog die Abschrift der Vernehmung seiner Frau, aber da war nichts, was auf ein ungesundes Interesse am Übernatürlichen oder Okkulten hindeutete. Ich fügte in Mariana Dunlops EP-Datei in HOLMES einen Vermerk ein, sie bitte noch einmal zu diesem Thema zu vernehmen, und leitete ihn an Stephanopoulos weiter, aber sie würde uns garantiert nur mit der Frau sprechen lassen, wenn wir konkrete Anhaltspunkte hatten.
»Nun gut«, sagte Nightingale. »Dann lassen wir eben die herkömmlichen Fäden in den fähigen Händen der guten DS Stephanopoulos. Als unseren ersten Schritt schlage ich vor, die Bücher zurückzuverfolgen.«
»Ich nehme an, Dunlop hat sie aus der Bodleian Library geklaut.«
»Sie sollten nie voreilige Schlüsse ziehen«, sagte Nightingale. »Das hier ist ein altes Buch. Es könnte schon vor Dunlops Zeiten aus Oxford gestohlen worden und auf einem anderen Weg in seinen Besitz geraten sein. Vielleicht über die Person, die ihn ausgebildet hat.«
»Vorausgesetzt, er war ein Praktizierender.«
Nightingale tippte mit dem Buttermesser auf das in Plastik gewickelte Exemplar der Principia Artes Magicis. »Niemand trägt dieses Buch rein zufällig mit sich herum. Außerdem kenne ich den anderen Bibliotheksstempel. Es ist der meiner alten Schule.«
»Hogwarts?«, fragte ich.
»Ich wünschte wirklich, Sie würden es nicht so nennen. Wir könnten heute nach Oxford fahren.«
»Sie wollen mitkommen?« Dr. Walid hatte sich sehr klar ausgedrückt, was das Stressvermeiden und so weiter anging.
»Ohne mich werden Sie keinen Zutritt zur Bodleiana bekommen. Und es wird Zeit, dass ich Sie einigen Leuten vorstelle, die mit unserer Kunst verbunden sind.«
»Ich dachte, Sie wären der Letzte?«
»Die Welt besteht nicht nur aus London.«
»Das hab ich schon öfter gehört«, gab ich zurück. »Bisher hab ich aber noch keinen Beweis dafür gefunden.«
»Wir könnten den Hund mitnehmen. Er wird sich über die frische Landluft freuen.«
»Aber wir nicht«, brummte ich. »Nicht, wenn der Hund dabei ist.«
Glücklicherweise war der Tag trotz der leichten Bewölkung warm, so dass wir mit offenen Fenstern die A40 entlangbrausen konnten und der Geruch nach Hund nach draußen geweht wurde. Ganz ehrlich, für längere Fahrten ist der Jaguar nicht das bequemste Auto, aber es kam nun wirklich nicht in Frage, für eine Fahrt in einen Konkurrenzdistrikt den Ford Asbo zu nehmen – gewisse Standards müssen aufrechterhalten werden, selbst mit Toby auf dem Rücksitz.
»Wenn Jason Dunlop einen Lehrer hatte«, sagte ich, als wir auf die Great West Road fuhren, »wer war das?«
Über diese Problematik sprachen wir nicht das erste Mal. Nightingale sagte, es sei unmöglich, sich die Newton’sche Magie im Alleingang beizubringen. Wenn einem niemand den Unterschied klarmacht, ist es sehr schwer, Vestigia aus dem wahllosen Hintergrundrauschen des eigenen Gehirns herauszufiltern. Das Gleiche galt für die Formae; Nightingale musste sie mir immer erst genau demonstrieren, ehe ich in der Lage war, sie zu erlernen. Um sich all das selbst beizubringen, müsste man so eine Art wahnsinniger Monomane sein, der auch seinen eigenen Augapfel verformen würde, um seine optischen Theorien zu überprüfen – kurz, jemand wie Isaac Newton.
»Ich weiß es nicht«, sagte Nightingale. »Nach dem Krieg gab es nur noch ziemlich wenige von uns.«
»Das sollte den Kreis der Verdächtigen einschränken.«
»Die meisten Überlebenden wären inzwischen sehr alt.«
»Was ist mit anderen Ländern?«
»Keine der Kontinentalmächte ging unversehrt aus dem Krieg hervor. Die Nazis trieben alle Praktizierenden in den besetzten Ländern zusammen und töteten jeden, der sich nicht für sie einspannen lassen wollte. Diejenigen, die nicht auf ihrer Seite starben, starben zum größten Teil im Kampf gegen sie; dasselbe gilt für Frankreich und Italien. Was Skandinavien angeht, wurde immer vermutet, dass es da eine Tradition gab, aber die hielt sich sehr bedeckt.«
»Und die Amerikaner?«
»Von dort kamen schon zu Kriegsbeginn einige Freiwillige. Die Tugendhaften nannten sie sich, von der University of Pennsylvania.« In den Jahren nach Pearl Harbor waren noch andere hinzugekommen. Nightingale hatte immer den Eindruck gehabt, dass zwischen ihnen und den Tugendhaften tiefe Feindschaft herrschte. Er bezweifelte, dass jemand von ihnen nach dem Krieg noch einmal nach Großbritannien gekommen war. »Sie gaben uns die Schuld an Ettersberg«, sagte er. »Und wir hatten eine Abmachung.«
»Ja, natürlich.« Es gab immer eine Abmachung.
Nightingale behauptete, er hätte es gemerkt, wenn ein Amerikaner angefangen hätte, in London zu zaubern. »Sie waren nicht gerade das, was man subtil nennt.«
Ich fragte nach anderen Ländern – China, Russland, Indien, dem Nahen Osten, Afrika. Es kam mir unwahrscheinlich vor, dass es dort nicht irgendeine Art von Magie geben sollte. Nightingale räumte ein, dass er es nicht wusste, und sah wenigstens etwas beschämt drein.
»Vor dem Krieg war die Welt noch anders. Wir hatten keinen so atemberaubend schnellen Zugang zu Informationen wie Ihre Generation. Die Welt war größer, geheimnisvoller. Wir träumten noch von geheimen Schätzen auf dem Mond und von der Tigerjagd im Punjab.«
Damals, als es auf den Landkarten noch von Drachen wimmelte, dachte ich. Als jeder Junge glaubte, da draußen warte sein ganz persönliches Abenteuer, und Mädchen noch nicht erfunden waren.
Toby brach in begeistertes Bellen aus, als wir einen riesigen Transporter überholten, der ziemlich viel Irgendwas nach irgendwohin brachte.
»Nach dem Krieg war es, als erwachte ich aus einem Traum«, sagte Nightingale. »Plötzlich gab es Raketen und Jumbojets und Computer, und es schien eine ganz natürliche Entwicklung, dass die Magie verschwinden würde.«
»Sie meinen, Sie haben sich nicht die Mühe gemacht, zu suchen.«
»Es gab nur noch mich. Und ich war verantwortlich für ganz London und den Südosten. Mir kam nie der Gedanke, dass die alten Zeiten zurückkehren könnten. Außerdem haben wir Dunlops Bücher, wir wissen also, dass sein Lehrer keiner ausländischen Tradition angehörte – er war ein schwarzer Magier aus England.«
»Sie dürfen zu so jemandem nicht schwarzer Magier sagen.«
»Sie verstehen, dass schwarz hier rein metaphorisch gemeint ist?«
»Egal«, beharrte ich. »Wörter können ihre Bedeutung ändern, oder? Manche Leute würden mich als schwarzen Magier bezeichnen.«
»Sie sind kein Magier. Sie sind höchstens ein Lehrling, wenn überhaupt.«
»Sie lenken vom Thema ab.«
»Wie sollen wir sie also nennen?«, fragte er geduldig.
»Ethisch fragwürdige Magieanwender?«
»Rein aus Neugier«, sagte er, »in Anbetracht dessen, dass Sie, Dr. Walid und ich die einzigen Personen sind, die jemals hören werden, dass wir die Worte schwarzer Magier sagen, warum ist es Ihnen so wichtig, dass wir das nicht tun?«
»Weil ich nicht glaube, dass die alte Welt so bald zurückkehrt. Tatsächlich hab ich eher das Gefühl, dass eine neue Welt im Anmarsch ist, auf die wir uns einstellen müssen.«
Oxford ist ein seltsamer Ort. Wenn man durch die Außenbezirke geht, könnte es jede beliebige englische Stadt sein, genau die gleiche edwardianische Vorstadtarchitektur mit fließenden Übergängen zum Viktorianismus, dazwischen gelegentlich eine Entgleisung aus den 1950ern. Und dann überquert man die Magdalen Bridge und steht auf einmal mitten in der größten Ansammlung mittelalterlicher Architektur jenseits des 18. Jahrhunderts. Historisch gesehen ist das beeindruckend, aber vom verkehrstechnischen Standpunkt aus bedeutete es, dass wir für den Weg durch die engen Straßen fast noch einmal so lange brauchten wie für die ganze Strecke von London hierher.
John Radcliffe, königlicher Leibarzt von William und Mary, war zu seiner Zeit bekannt dafür, dass er sehr wenig las und so gut wie nichts schrieb. Einleuchtend also, dass er eine der berühmtesten Bibliotheken in Oxford gründete. Die Radcliffe Science Library befindet sich in einem runden Kuppelbau, der aussieht wie die St. Paul’s Cathedral minus das ganze religiöse Klimbim. Drinnen bestand alles aus glatt behauenem Stein, Büchern, Emporen und dem angespannten Flüstern junger Leute, die unnatürlich still sind. Unser Kontaktmann erwartete uns neben einer Anschlagtafel am Eingang.
Außerhalb größerer Städte reicht manchmal meine bloße Erscheinung aus, dass es bestimmten Leuten die Sprache verschlägt. So auch Dr. phil. Harold Postmartin, Fellow der Royal Society und Kurator der Spezialsammlungen der Bodleian Library, der unverkennbar nicht »so einen« als Nightingales Lehrling erwartet hatte. Ich konnte richtiggehend sehen, wie er versuchte, den Satz Aber der ist ja farbig so zu formulieren, dass er nicht beleidigend klang, und kläglich scheiterte. Ich erlöste ihn von seinen Qualen, indem ich ihm die Hand reichte. Nach meiner Faustregel sind alle, die nicht vor der körperlichen Berührung mit dir zurückschrecken, auch irgendwann in der Lage, dich unvoreingenommen wahrzunehmen.
Postmartin war ein gebeugter weißhaariger Herr, der viel älter und zerbrechlicher aussah als mein Vater, aber einen überraschend festen Händedruck hatte.
»Sie sind also der neue Lehrling«, sagte er und schaffte es, den Satz nicht wie eine Anschuldigung hervorzubringen. Da wusste ich, dass wir klarkommen würden.
Wie bei allen modernen Bibliotheken war das, was von der Radcliffe sichtbar war, nur die Spitze des Eisbergs. Der größte Teil des Bestands befand sich unter dem Radcliffe Square in Katakomben voller Bücher. Überall hörte man das aufdringliche Summen moderner Klimaanlagen. Postmartin führte uns durch einige Flure mit weiß gestrichenen Ziegelwänden bis vor eine nüchterne metallene Sicherheitstür mit der Aufschrift KEIN ZUTRITT. Er zog eine Magnetkarte durch das Sicherheitsschloss und tippte eine Zahlenkombination ein.
Die Tür öffnete sich mit einem satten Klonk, und wir betraten eine Kammer mit genau den gleichen Bücherregalen und Klimageräuschen wie in der übrigen Sammlung. Außerdem stand da ein einzelner Arbeitstisch, leer bis auf etwas, das wie das Produkt der unglücklichen Ehe eines frühen Mac mit einem IBM-Rechner aussah.
»Das ist ein Amstrad PCW«, sagte Postmartin. »Vor Ihrer Zeit, nehme ich an.« Er setzte sich auf einen lila Plastikstuhl und fuhr die Antiquität hoch. »Keine Netzwerkverbindung, keine USB-Anschlüsse, nur Drei-Zoll-Disketten, die nicht mehr hergestellt werden – so schafft man Sicherheit durch Überalterung. Ähnlich wie das Folly selbst. Etwas, auf das man keinen Zugriff hat, kann man nicht hacken, ich hoffe, ich gebrauche diese Begriffe korrekt.«
Der Bildschirm leuchtete in einem abscheulichen Grün auf, monochrom wie in einem alten Film. Als der Rechner auf die Drei-Zoll-Diskette zugriff, ertönte ein lautes Rattern.
»Haben Sie die Principia dabei?«
Ich reichte ihm das Buch, und er fing an, es durchzublättern. »Jedes Exemplar in dieser Bibliothek wurde in ganz besonderer Weise markiert.« Er hielt im Blättern inne und zeigte mir die aufgeschlagene Seite. »Sehen Sie, dieses Wort ist unterstrichen.«
Ich sah hin. Es war das Wort regentis. »Ist das von Bedeutung?«
»Wir werden sehen«, sagte er. »Vielleicht sollten Sie es aufschreiben.«
Ich schrieb das Wort in mein Polizeinotizbuch und bemerkte, dass auch Postmartin verstohlen etwas auf einen Block kritzelte, den er so platziert hatte, dass ich ihn – wie er glaubte – nicht einsehen konnte. Dann blätterte er weiter, bis er die nächste Unterstreichung fand, wieder schrieb ich das Wort – pedem – auf, und wieder sah ich ihn etwas anderes auf sein Blatt notieren. Das wiederholten wir noch dreimal, dann bat mich Postmartin, die Wörter vorzulesen.
»Regentis, pedem, tolleret, loco, hostium«, sagte ich.
Postmartin musterte mich über den Rand seiner Brille hinweg. »Und was glauben Sie, was das bedeutet?«
»Ich glaube, es bedeutet, dass die Seitenzahlen wichtiger sind als die Worte.«
Postmartin sah völlig niedergeschmettert drein. »Woher wissen Sie das?«
»Ich kann Ihre Gedanken lesen.«
Postmartin schaute Nightingale an. »Kann er das?«
»Nein«, sagte Nightingale. »Er hat beobachtet, wie Sie die Zahlen aufgeschrieben haben.«
»Sie haben es faustdick hinter den Ohren, Constable Grant«, sagte Postmartin. »Ohne Zweifel werden Sie es noch weit bringen. Wie Sie richtig vermuten, sind die Worte selbst irrelevant, aber die Seitenzahlen, als reine Ziffernfolge aneinandergereiht, ergeben eine spezifische Identifikationsnummer. Welche wir in unseren ehrwürdigen Freund hier eingeben können, und voilà …«
Auf dem Bildschirm des PCW erschien ein hässlicher grüner Text – Titel, Autor, Verlag, Magazinnummer und eine kurze Liste aller Personen, die das Buch jemals ausgeliehen hatten.
Als Letzter stand da ein gewisser Geoffrey Wheatcroft. Er hatte das Buch im Juli 1941 entliehen und nie zurückgebracht.
»Oh«, sagte Postmartin überrascht. »Geoffrey Wheatcroft? Den würde ich kaum als ruchlosen Zeitgenossen bezeichnen. Gar kein typischer krimineller Typus, stimmt’s, Thomas?«
»Sie kennen ihn?«, fragte ich.
»Ich kannte ihn. Er ist letztes Jahr gestorben. Thomas und ich waren bei der Beerdigung, wobei Thomas sich als sein eigener Sohn ausgeben musste, damit niemand sich wunderte.«
»Es ist schon zwei Jahre her«, warf Nightingale ein.
»Meine Güte, wirklich? Ich weiß noch, es war nur eine Handvoll Leute da.«
»War er ein aktiver Praktizierender?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Nightingale. »Seinen Stab erhielt er 1939, galt aber nie als besonders talentiert. Nach dem Krieg wandte er sich von der Kunst ab und nahm einen Lehrauftrag am Magdalen College an.«
»Theologie, ausgerechnet«, sagte Postmartin.
»Magdalen College?«, fragte ich nach.
»Ja«, sagte Nightingale und stutzte plötzlich.
Ich kam zuerst darauf. »Da war auch Jason Dunlop.«
Nightingale wollte sofort zum Magdalen College, aber Postmartin schlug vor, erst noch im Eagle and Child zu Mittag zu essen. Ich hielt eine kurze Verschnaufpause für eine gute Idee, denn Nightingale saß ziemlich zusammengekrümmt da und wirkte, um ehrlich zu sein, nicht gerade wie das blühende Leben. Schließlich einigten wir uns darauf, dass Nightingale rasch mit dem Auto ins College fahren würde und wir uns danach im Pub treffen würden. Postmartin lud mich ein, gemeinsam mit ihm zu Fuß zu gehen, so dass er mir auf dem Weg noch einiges erklären konnte.
»Halten Sie das wirklich für nötig?«, fragte Nightingale.
»Ich glaube schon.«
»Verstehe«, sagte Nightingale. »Nun, wenn Sie meinen …«
Postmartin beteuerte, er betrachte es als absolut unerlässlich. Wir gingen zu dritt zurück zum Auto, wo ich ihm Toby vorstellte, der in einer aparten Geruchswolke aus dem Wagen hüpfte. »Ah, der berühmte Geisterjagdhund«, sagte Postmartin.
»Ist er berühmt? Wusste ich gar nicht.«
Dann fuhr Nightingale mit Toby im Jaguar davon, und mich geleitete Postmartin durch eine extrem authentische spätmittelalterliche Gasse, in deren Mitte sogar noch eine steinerne Abflussrinne verlief. »Natürlich wird sie nicht mehr für ihren ursprünglichen Zweck genutzt«, sagte Postmartin. In der Gasse wimmelte es von Studenten und Touristen, die sich nach Kräften bemühten, die vielen Radfahrer zu ignorieren, die wiederum ihr Bestes taten, alles, was sich ihnen in den Weg stellte, schwungvoll niederzumähen.
Ich fragte Postmartin, welche Rolle er in dem verschlungenen Netzwerk größtenteils ungeschriebener Abmachungen innehatte, aus denen die magische Rechtspflege Englands zu bestehen schien.
»Wenn Sie oder Nightingale Berichte schreiben, bin ich derjenige, der sie liest. Wenigstens die relevanten Abschnitte.«
»Sind Sie so was wie Nightingales Chef?«
Postmartin schmunzelte. »Nein. Ich bin der Archivar. Ich hüte die Schriften des großen Mannes und all jener Geringeren, die in seiner Nachfolge standen – auch von Nightingale und Ihnen.«
Nach so viel Geschichtsträchtigkeit war es eine richtige Erleichterung, in der Broad Street anzukommen, wo es wenigstens ein paar viktorianische Reihenhäuser und einen Oxfam-Shop gab.
»Hier entlang«, dirigierte Postmartin.
»Newton war doch in Cambridge«, sagte ich. »Warum sind seine Schriften hier?«
»Aus demselben Grund, warum man dort seine alchimistischen Werke nicht wollte. Kaum dass er endlich tot und begraben war, wurde der gute Isaac zum strahlenden Leitstern der Wissenschaft und Vernunft – ich bin sicher, man wollte dieses Bild von ihm nicht durch seine wahre, ehrlich gesagt bestenfalls komplexe Persönlichkeit verkomplizieren.«
Oxford blieb bis auf wenige Ausbrüche georgianischen Überschwangs weiterhin beharrlich der Tudor-Ära verpflichtet, bis wir den Eagle and Child in der St. Giles Street erreichten.
»Gut«, seufzte Postmartin, als wir uns in einem, wie er sagte, »Sitzeckchen« niedergelassen hatten. »Thomas ist noch nicht da. Über manches redet es sich viel leichter mit einem Sherry in der Hand.«
Das weckte unangenehme Erinnerungen. Wenn man ein Junge ist, scheint das Leben mehr oder weniger aus einer unregelmäßigen Abfolge unangenehmer Gespräche zu bestehen, die verschiedene Erwachsene einem widerstrebend angedeihen lassen, um einem Dinge zu erklären, die man entweder schon längst weiß oder lieber gar nicht wissen will.
Er bestellte sich seinen Sherry, ich nahm eine Limo.
»Ich vermute, Sie wissen, was für ein unerhörtes Ereignis es ist, dass Thomas einen Lehrling angenommen hat?«
»Das haben mir schon einige Leute zu verstehen gegeben.«
»Ich denke, vielleicht hätte er diesen Schritt schon früher unternehmen sollen. Spätestens als feststand, dass die Behauptungen, die Magie sei tot, heillos übertrieben waren.«
»Woran merkten Sie das denn?«
»Ein Anhaltspunkt war, dass Thomas begann, rückwärts zu altern«, sagte Postmartin. »Ich archiviere auch Dr. Walids Befunde, und das, was ich davon verstanden habe, klingt … merkwürdig.«
»Muss ich mir Sorgen machen?« Ich hatte mich erst vor kurzem an den Gedanken gewöhnt, dass mein Chef im Jahr 1900 das Licht der Welt erblickt hatte und sich nach eigenen Angaben seit Anfang der siebziger Jahre wieder verjüngte. Nightingale vermutete, es könnte mit dem generellen Anstieg magischer Aktivität seit den Sechzigern zu tun haben, wollte aber einem geschenkten Gaul nicht zu genau ins Maul schauen. Ich konnte es ihm nicht verübeln.
»Ich wünschte, ich wüsste es«, sagte Postmartin. Er griff in seine Tasche und gab mir seine Karte. Darauf standen seine Telefonnummer, Mailadresse und überraschenderweise sogar eine Twitteradresse. »Sie können mich gern benachrichtigen, wenn Ihnen irgendetwas Sorgen macht.«
»Und was tun Sie dann?«
»Ich werde mir Ihre Sorgen anhören«, sagte er. »Und mitfühlende Worte äußern.«
Es dauerte noch über eine Stunde, bis Nightingale auftauchte. Ich durfte zusehen, wie er sich ein ganzes Pint Bitter zu Gemüte führte, während er uns das Ergebnis seiner Nachforschungen präsentierte – das im Wesentlichen darin bestand, dass Jason Dunlop während seiner Studienzeit offenbar keinen Kontakt zu Geoffrey Wheatcroft gehabt hatte.
Nightingale hatte sich eine Liste aller Studenten und Lehrpersonen ausdrucken lassen, die zur selben Zeit wie Jason am Magdalen gewesen waren. Außerdem eine Liste aller Studenten, die jemals ein Seminar bei Geoffrey Wheatcroft besucht hatten. Beides zusammen ergab einen Stapel Papier von genau der richtigen Dicke, dass man damit einen Verdächtigen zu einem Geständnis bewegen konnte, ohne blaue Flecken zu hinterlassen. Falls man darin seine Berufung als Gesetzeshüter sah. Wenn man HOLMES mit diesen Daten fütterte, würden sie automatisch mit allen Namen abgeglichen werden, die im Zuge der konventionellen Ermittlung aufgetaucht waren. Die Mordkommission unter Stephanopoulos hatte mindestens drei zivile Mitarbeiter, deren einzige Aufgabe darin bestand, solche nervtötenden, zeitraubenden, aber ganz essenziellen Arbeiten zu erledigen. Und das Folly? Sie können sich denken, wen das Folly hatte, und er war überhaupt nicht begeistert von der Aussicht.
Postmartin fragte Nightingale, was er als Nächstes vorhatte. Nightingale zog eine Grimasse und nahm noch einen Schluck von seinem Bier. »Ich dachte, ich hole die verbliebenen Bibliothekskarten aus Ambrose House. Es wird Zeit, dass wir nachprüfen, wo die restlichen Bücher herkommen.«
Wir nahmen die Ausfahrt Nr. 5 von der Autobahn, fuhren durch Stokenchurch, eine Klinik mit einem recht hübschen angebauten Dörfchen drumherum, und bogen dann auf eine Landstraße ab, die sich bald zu einem einspurigen Sträßchen zwischen hohen grünen Wällen, sehr alten Feldhecken, verjüngte.
»Ein Großteil des Besitzes ist an hiesige Bauern verpachtet«, sagte Nightingale. »Gleich kommt auf der linken Seite das Tor.«
Hätte er mich nicht vorgewarnt, ich wäre daran vorbeigerauscht. Abrupt wich die Hecke einer hohen Steinmauer mit einem breiten schmiedeeisernen Tor. Ich hielt an. Nightingale stieg aus, gefolgt von Toby, öffnete das Tor mit einem großen eisernen Schlüssel und schob es auf, wobei es ein astreines Horrorfilm-Kreischen von sich gab. Toby ließ es sich nicht nehmen, den Torpfosten zu markieren. Ich hielt hinter dem Tor wieder an, damit Nightingale einsteigen konnte, aber er zeigte auf eine Baumgruppe, hinter der der Zufahrtsweg verschwand. »Wir treffen uns vor dem Haus. Es ist nicht weit.«
Das stimmte. Als ich um die Ecke bog, lag das Hauptgebäude der Schule direkt vor mir. Die Reifen des Jaguar knirschten auf dem Schotter, als ich anhielt. Ich stieg aus und schaute mich um.
Es war fünfzig Jahre her, dass hier jemand gelebt hatte, und so sah es auch aus. Der Rasen und die Blumenrabatten waren von Brombeeren, Brennnesseln, Leinkraut und Wiesenkerbel überwuchert – falls Sie sich jetzt wundern: die Namen lernte ich später –, das Haus war grau verwittert, die großen Schiebefenster mit Brettern vernagelt. Aus irgendeinem Grund war ich auf etwas im gotischen Stil gefasst gewesen, aber es hatte eher etwas von einem Regency-Stadthaus, das irgendwie aufs Land entwischt war und sich rasch in alle Richtungen ausgedehnt hatte, bevor ein brutaler Architekt es einfangen und wieder in seine ursprüngliche enge Lücke zurückstopfen konnte. So verlassen es aussah, verfallen war es nicht. Die Regenrinnen waren frei von Unkraut, und einige Stellen auf dem Dach waren unübersehbar neu gedeckt worden.
Toby kam angeflitzt, kläffte ein paarmal, um mich aufmerksam zu machen, und sauste dann schnurstracks in ein verwildertes Waldstück links von der Schule. Offenkundig war er im tiefsten Herzen ein Landhund. Nicht lange danach tauchte Nightingale auf.
»Ich dachte, das Gebäude wäre vielleicht umfunktioniert worden«, sagte ich.
»In was?«, fragte Nightingale.
»Ich weiß nicht. Landhotel mit Konferenzcenter, Wellness-Spa, Promi-Entzugsklinik?«
»Nein«, sagte Nightingale, nachdem ich ihm erklärt hatte, was eine Promi-Entzugsklinik war. »Das ganze Gelände ist noch immer Eigentum des Folly. Alle Renovierungsarbeiten werden durch die Pachteinnahmen aus der Landwirtschaft finanziert.«
»Warum wurde es nicht verkauft?«
»Nach dem Krieg war alles in großer Unordnung. Als die Verhältnisse geklärt waren, war ich der Einzige, der noch irgendeine offizielle Funktion innehatte. Die Schule eigenmächtig zu verkaufen wäre mir … anmaßend vorgekommen.«
»Sie hofften, man könnte sie irgendwann wiedereröffnen?«
Nightingale verzog das Gesicht. »Ich habe versucht, so wenig wie möglich über sie nachzudenken.«
»Das Land ist heute bestimmt einiges wert.«
»Glauben Sie, es wäre eine Verbesserung, wenn man eine Promi-Entzugsklinik daraus machte?«
Ich musste zugeben, dass das unwahrscheinlich war. Dann zeigte ich auf die große Eingangstür, die fest verrammelt und mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert war. »Haben Sie dafür einen Schlüssel?«
Nightingale grinste. »Jetzt schauen Sie mal gut zu, dann lernen Sie was.«
Wir gingen zu einer Stelle links der Freitreppe, wo verborgen im hohen Gras ein paar schmale Stufen nach unten zu einer dicken Eichentür führten, die weder vernagelt noch mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Eine Türklinke schien sie auch nicht zu haben.
»Die Nachtpforte.« sagte Nightingale. »Sie wurde einst gebaut, damit die Lakaien geradewegs aus ihren Quartieren auf die Kutsche ihres Herrn springen konnten, noch ehe dieser die Treppe heruntergestiegen war.«
»Wie schön war es doch im achtzehnten Jahrhundert.«
»In der Tat. Aber zu meiner Schulzeit hatten wir eine andere Verwendung für sie.« Er legte eine Hand auf die Tür, ungefähr da, wo man das Schloss erwartet hätte, und murmelte leise etwas auf Latein. Ein Klicken und Scharren ertönte. Nightingale drückte gegen die Tür, und sie schwang nach innen.
»Abends herrschte natürlich Ausgangssperre, und wir nichtswürdigen jungen Männer wollten raus, uns amüsieren. Aber es ist nicht so leicht, eine Ausgangssperre zu umgehen, wenn deine Meister die Geister von Erde und Luft persönlich auf dich hetzen können.«
»Echt?«, fragte ich. »Die Geister von Erde und Luft?«
»Das behaupteten sie wenigstens. Und ich für meinen Teil glaubte ihnen.«
»Dann war es also nichts mit Amüsieren.«
Nightingale erschuf ein Werlicht und trat durch die Tür. Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, erschuf ich ebenfalls ein Werlicht und folgte ihm. Draußen bellte Toby, schien aber keine Lust zu haben, mit uns zu kommen. Unsere Werlichter beleuchteten einen kurzen, roh gemauerten Gang, der mich an die Dienstbotengänge unter dem Folly erinnerte.
»Offiziell erst in der Prima«, sagte Nightingale. »Sobald man in den Oberstufen-Gemeinschaftsraum eingeführt war, bekam man von den Oberprimanern den Zauber für die Pforte beigebracht, und der Weg in den Pub war frei. Außer man hieß Horace Greenway. Den konnten die Präfekten nicht leiden.«
Der Gang teilte sich, und wir bogen rechts ab.
»Was wurde aus ihm?«
»Gefallen. In der Schlacht von Kreta.«
»Ich meine, wie ist er in den Pub gekommen?«
»Einer von uns hat ihm die Tür aufgehalten.«
»Und haben die Lehrer es nie spitzgekriegt, dass Sie sich wegschlichen?«
Wir erreichten den Fuß einer hölzernen Treppe. Sie knarrte beunruhigend unter unserem Gewicht.
»Die Meister wussten es alle. Schließlich waren sie auch einmal Primaner gewesen.«
Als wir an einem kurzen Flur mit hölzerner Wandverkleidung ankamen, durchzuckte mich eine vage Ahnung von Vestigia – Zitronenbonbons und Brausepulver, nasse Wolle und hastiges Fußgetrappel. Beidseits an den Wänden standen Bänke, genau so hoch, dass heranwachsende Jungen hier ihre Schuhe wechseln konnten, darüber hingen Kleiderhaken aus Messing. Ich fuhr mit den Fingerspitzen über das Holz und spürte stattdessen das raue Papier alter Comics.
Nightingale sah mich innehalten. »Eine Menge Erinnerungen«, sagte er.
Geister, dachte ich, Erinnerungen. Ich fragte mich, wo das eine aufhörte und das andere begann.
Nightingale öffnete eine zerschrammte Tür, und wir betraten eine riesige Eingangshalle. Im Schein der plötzlich kümmerlich wirkenden Werlichter erkannte man eine massige zweiflügelige Treppe und hohe kahle Wände mit blassen Rechtecken, die verrieten, wo einst Gemälde gehangen hatten. Wegen der verrammelten Fenster wäre es ohne unser Licht stockfinster gewesen.
»Die Vorhalle«, sagte Nightingale. »Zur Bibliothek geht es die sinistre Treppe hinauf.«
Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig beherrschen, ihn zu fragen, warum in aller Welt die Treppe sinister sei, als ich erkannte, dass wir auf die linke Treppe zusteuerten. Links heißt auf Latein sinister – genau solche Dinge sind es, aus denen die beliebten Schulbubenwitze gemacht sind, die an sich schon ein schlagendes Argument für die Vorteile gemischtgeschlechtlicher Schulen sind. Allein sich vorzustellen, einer der Schüler hier hätte das Unglück gehabt, Dexter zu heißen, dachte ich. Während wir die Treppe hinaufstiegen, bemerkte ich, dass die Holzvertäfelung der Wand gegenüber voller eingravierter Namen war. Aber ehe ich fragen konnte, was es damit auf sich hatte, war Nightingale schon oben angelangt und strebte weiter in die kühlen Tiefen der Schule hinein.
Die Flure waren überwiegend weiß verputzt, und es gab noch mehr rechteckige Flecke, wo Bilder gehangen hatten. Ich hatte meiner Mum oft genug beim Putzen von Büroräumen geholfen, um zu erkennen, dass die Person, von der Nightingale das Haus sauberhalten ließ, einen großen Industriestaubsauger benutzte – die Teppiche hatten die typischen Streifen. Der angesammelte Staub deutete darauf hin, dass die letzte Reinigung mindestens zwei Wochen her war.
Ohne Bücher und Möblierung sah die Bibliothek aus wie jeder andere große Raum. Im unsteten Schein unserer Werlichter wirkte er fast wie eine Höhle. An der Wand standen von Schonbezügen verhüllte Karteischränke, die genauso aussahen wie die beiden in der allgemeinen Bibliothek im Folly. Nightingale leuchtete mir, während ich den Bezug abnahm und die Schubladen öffnete. Hier gab es keinen Staub und erstaunlich wenig Vestigia.
Als ich das erwähnte, meinte Nightingale: »Es waren nur Bücher über Magie, keine magischen Bücher.«
Die Schubladen enthielten ganz gewöhnliche Karteikarten. Oben standen jeweils mit Schreibmaschine der Titel des Buches und die Signatur; darunter folgte eine handgeschriebene Liste der Ausleiher mit Datum. Wir hatten in Oxford noch eine Jumbopackung Gummibänder gekauft, damit die Karten beim Verpacken nicht durcheinander gerieten. Ich brauchte Ewigkeiten, um alle Schubladen zu leeren, und hatte am Ende einen schwarzen Müllsack, der nicht viel leichter zu schleppen war, als es der Schrank im Ganzen gewesen wäre. »Wir hätten einfach das ganze Ding mitnehmen sollen«, sagte ich, aber Nightingale wies mich darauf hin, dass der Schrank fest im Fußboden verschraubt war.
Mit dem Sack über der Schulter folgte ich Nightingale leicht schwankend in die Vorhalle. Dabei ergriff ich die Gelegenheit, ihn zu fragen, was für Namen dort an der Wand standen.
»Das«, sagte er, »sind unsere in Ehren gehaltenen Toten.« Er führte mich zur dextren Treppe und ließ sein Werlicht nach oben in die Höhe der ersten Zeilen steigen. »Der amerikanische Bürgerkrieg«, sagte er. Es waren eine Handvoll Namen. »Waterloo.« Hier stand nur ein einziger. Im Krimkrieg war ein halbes Dutzend gefallen, zwei im indischen Sepoy-Aufstand, in verschiedenen anderen Kolonialkriegen des 19. Jahrhunderts vielleicht zwanzig, insgesamt etwas mehr als die knapp zwanzig Toten des Ersten Weltkriegs. »Da hatten wir eine Abmachung mit den Deutschen, keine Magie einzusetzen«, erklärte Nightingale. »Den haben wir ausgesessen.«
»Ich wette, damit haben Sie sich echt beliebt gemacht.«
Im Schein des Werlichts kamen die ersten Namen des Zweiten Weltkriegs in Sicht. »Schauen Sie, da ist Horace.« Der Lichtschein schwebte zur Inschrift HORACE GREENWAY, KASTELLI, 21. MAI 1941. »Und da sind Sandy und Champers und Pascal.« Das Werlicht zuckte über die dichtgedrängten Zeilen der Namen, die Orte daneben wie Tobruk oder Arnheim kamen mir aus dem Geschichtsunterricht vage bekannt vor. Aber hinter den meisten stand ein Ort namens Ettersberg und das Datum 19. Januar 1945.
Ich stellte den Müllsack ab und erschuf ein Werlicht, das hell genug war, um den ganzen Raum auszuleuchten. Die Gedenkliste erstreckte sich über zwei Wände von ganz oben bis ganz unten. Es mussten Tausende Namen sein.
»Da ist Donny Shanks. Hatte die Belagerung von Leningrad ohne einen Kratzer überstanden, und dann hat ihn ein Torpedo erwischt … und Smithy in Dieppe und Rupert Dance, Dance das Faultier nannten wir ihn …« Nightingale verstummte. Ich drehte mich zu ihm um. Auf seinen Wangen glitzerte es. Rasch sah ich wieder weg.
»Manchmal scheint es so unendlich lange her zu sein, und dann wieder …«
»Wie viele?«, fragte ich, bevor ich es mir verkneifen konnte.
»Zweitausenddreihundertsechsundneunzig. Drei Fünftel aller britischen Magier im wehrfähigen Alter. Und viele überlebten schwer verwundet oder in so schlechter psychischer Verfassung, dass sie nie wieder praktizierten.« Er machte eine Geste, und das Werlicht sank in seine Handfläche zurück. »Zeit, in die Gegenwart zurückzukehren.«
Ich ließ mein Licht erlöschen und hievte mir den Müllsack wieder über die Schulter. Beim Gehen fragte ich, wer die Namen dort verewigt hatte.
»Ich«, sagte Nightingale. »Im Hospital wurde man ermuntert, sich ein Hobby zu suchen. Ich wählte Holzschnitzerei. Ohne ihnen zu sagen, warum.«
»Weshalb nicht?«
Mit eingezogenem Kopf tauchten wir in die Dienstbotengänge ein. »Weil die Ärzte ohnehin der Meinung waren, ich sei zu morbide.«
»Warum haben Sie das mit den Namen gemacht?«
»Oh, irgendjemand musste es tun, und soweit ich wusste, war ich der Einzige, der noch aktiv war. Außerdem hatte ich die lächerliche Hoffnung, dass es helfen könnte.«
»Und, hat es?«
»Nein«, sagte er. »Nicht sehr.«
Wir traten durch die Nachtpforte hinaus und blinzelten in das helle Licht. Ich hatte schon ganz vergessen gehabt, dass es draußen noch Tag war. Nightingale zog die Tür hinter uns zu und folgte mir die Stufen hinauf. Toby hatte sich auf der sonnenwarmen Motorhaube des Jaguar zum Schlafen zusammengerollt. Rings um ihn sah man die Spuren seiner schlammverschmierten Pfoten. Nightingale runzelte die Stirn.
»Warum haben wir eigentlich diesen Hund?«
»Er hält Molly bei Laune.« Ich warf den Sack mit den Karten in den Kofferraum. Vom Geräusch der Klappe wachte Toby auf und sprang ohne weitere Aufforderung auf den Rücksitz, wo er prompt wieder einschlief. Nightingale und ich schnallten uns an, und ich startete den Wagen. Beim Wenden warf ich einen letzten Blick auf die blicklosen Fenster der Schule, dann verschwand sie hinter den Bäumen, und wir fuhren in Richtung London.
Es war schon dunkel, als wir uns in den Rushhour-Verkehr auf der M25 einreihten. Von Osten trieben große graue Regenwolken heran, die ersten Tropfen prasselten schon gegen die Windschutzscheibe. Die altertümliche Lenkung des Jaguar blieb so sicher wie ein Fels in der Brandung, nur die Scheibenwischer waren eine Katastrophe.
Nightingale starrte während der ganzen Fahrt stumm aus dem Seitenfenster. Ich versuchte nicht, ein Gespräch anzufangen.
Wir bogen gerade auf den Westway ab, als mein Handy klingelte. Ich schaltete es auf Lautsprecher. Es war Ash.
»Ich seh sie«, rief er. Im Hintergrund waren der Lärm vieler Menschen und ein wummernder Beat zu hören.
»Wo bist du?«
»Im Pulsar Club.«
»Bist du sicher, dass sie es ist?«
»Groß, dünn, lange schwarze Haare. Riecht nach Tod«, sagte er. »Ich wüsste nicht, wer das sonst sein sollte.«
Ich warnte ihn, ihr ja nicht in die Nähe zu kommen, und sagte, ich sei auf dem Weg. Nightingale nahm das Blaulicht und setzte es im strömenden Regen aufs Dach. Ich beschleunigte.
Jeder Mann auf der Welt hält sich für einen hervorragenden Autofahrer. Jeder Polizist, der jemals einen Augapfel aus einer Pfütze klauben musste, weiß, dass das in den meisten Fällen pure Selbsttäuschung ist. Bei dichtem Verkehr zu fahren ist schwierig, stressig und schlicht und einfach gefährlich. Aus diesem Grund unterhält die Met in Hendon eine weltberühmte Fahrschule, in der Polizisten mittels mehrstufiger Aufbau-Fahrkurse bis an den Punkt kommen, wo sie mit hundertzwanzig durch eine Innenstadtstraße jagen und dabei die Personenschäden einstellig halten können.
Als ich vom Westway auf die stark befahrene Harrow Road abbog, wünschte ich inbrünstig, ich hätte mal so einen Kurs belegt. Eigentlich hätte Nightingale als mein Vorgesetzter mich gar nicht fahren lassen sollen. Aber vermutlich wusste er nicht einmal, dass es so was wie Aufbau-Fahrkurse gab. Oder überhaupt den Führerschein – der wurde schließlich erst 1934 verpflichtend eingeführt.
Ich bog in die Edgware Road ein, wo ich, obwohl jeder Verkehrsteilnehmer, der irgendwas auf dem Kerbholz hatte, beiseitewich, auf kaum dreißig Stundenkilometer kam. Ich nutzte die Zeit, um Ash noch einmal anzurufen und ihm zu sagen, dass wir in knapp zehn Minuten bei ihm wären.
»Sie geht grade zur Tür«, sagte Ash.
»Allein oder in Begleitung?«
»Sie hat ’nen Kerl dabei.«
Mist, Mist, Mist – so viel dazu, die Sache kleinzuhalten. Nightingale war schon weiter. Er zog ein Airwave-Set aus dem Handschuhfach und tippte eine Nummer ein – ich war beeindruckt, schließlich hatte ich ihm das erst vor einer Woche beigebracht.
»Folg ihr«, sagte ich. »Aber bleib am Telefon und geh bloß nicht zu nahe ran.«
Ich ging das Risiko ein, mit dem Abbiegen bis zum Marble Arch zu warten – die Oxford Street darf nur von Bussen und Taxis befahren werden, und ich hoffte, darauf schneller voranzukommen als in dem verzwickten System von Einbahnstraßen rund um die Bond Street.
»Stephanopoulos ist auf dem Weg«, sagte Nightingale.
Ich fragte Ash, wo er jetzt sei.
»Ich komm grade aus dem Club. Sie ist fünf Meter vor mir.«
»Wohin geht sie?«
»Richtung Piccadilly Circus.«
Ich malte das im Kopf auf eine Landkarte. »Sherwood Street, in südliche Richtung«, informierte ich Nightingale. Er gab es an Stephanopoulos weiter.
»Was mach ich, wenn sie dem Typ auf die Pelle rückt?«, fragte Ash.
Ich scherte aus, um einen Bus zu umfahren, der mit Warnblinklicht an einer Haltestelle stand. Das Blaulicht zuckte über die neugierigen Gesichter der Passagiere im unteren Deck.
»Halt dich von ihr fern«, sagte ich. »Warte auf uns.«
»Zu spät«, sagte Ash. »Ich glaub, sie hat mich bemerkt.«
Die Fahrlehrer der Aufbaukurse wären sicher nicht erfreut darüber gewesen, wie ich am Oxford Circus über die rote Ampel bretterte und schleudernd mit qualmenden Reifen in die Regent Street einbog.
»Nur die Ruhe«, sagte Nightingale.
»Die gute Nachricht ist«, sagte Ash, »sie hat den armen Kerl losgelassen.«
»Sie sind fast in der Denman Street.« Nightingale sprach von der Einsatztruppe. »Stephanopoulos lässt das Gebiet abriegeln.«
Ich schrie beinahe auf, als ein offenbar blinder und tauber Idiot genau vor mir einen Ford Mondeo aus einer Parklücke lenkte. Was ich ihm an den Hals wünschte, wurde zum Glück vom Lärm des Martinshorns verschluckt.
»Die schlechte Nachricht ist«, sagte Ash, »sie kommt direkt auf mich zu.«
Ich sagte, er solle abhauen.
»Zu spät.«
Dann hörte man ein Zischen, einen Schrei und das Geräusch, das ein Handy macht, wenn es auf eine harte Oberfläche geschleudert wird und den Geist aufgibt.
Ich bog mit einem Powerslide auf die Glasshouse Street ein, was mir (könnte ich schwören) den Applaus der anwesenden Fußgänger und ein empörtes Jaulen von Toby einbrachte, der gegen die Tür geschleudert wurde. Nicht ohne Grund war der Jaguar MK II einst ein beliebtes Gangster-Fluchtauto und auch der Dienstwagen der Flying Squad gewesen, und Nightingales Exemplar war definitiv für Verfolgungsjagden aufgemotzt worden. Dieser Tatsache war es wohl zu verdanken, dass er nicht lange herumschlingerte. Ich drückte auf die Tube und hatte noch vor der Ecke mit dem Leicester Arms wieder fast neunzig Sachen drauf.
In diesem Augenblick erkannte ich, dass das, was ich für unser Blaulicht gehalten hatte, das irgendwo reflektiert wurde, tatsächlich das Licht eines Rettungswagens war, der uns entgegenkam, und gleich darauf konnten wir uns selbst überzeugen, wie gut die nachgerüsteten Vierradbremsen wirklich waren – die Antwort war: gerade ausreichend. Hätte der Wagen einen Airbag besessen, hätte ich ihn jetzt im Gesicht gehabt. Stattdessen bekam ich nur eine böse Quetschung vom Sicherheitsgurt, aber das bemerkte ich erst viel später, weil ich schon aus der Tür war und die Sherwood Street hinaufrannte, ungefähr in demselben Tempo wie der Rettungswagen. Er hielt an. Ich nicht.
Auf der einen Seite der Sherwood Street gibt es einen Arkadengang, leider im unrühmlichen Keramikfliesen-Stil der fünfziger Jahre gehalten. Da er stark einer öffentlichen Bedürfnisanstalt ähnelt, wird er allnächtlich von angetrunkenen Mitbürgern in Not vielleicht nicht zu Unrecht als solche genutzt. Soweit die Mordkommission es später rekonstruieren konnte, hatte unsere ominöse Penisfeindin diesen Ort für ihren neuesten Coup nutzen wollen.
Ich fand Ash auf dem Boden liegen, inmitten einer Ansammlung besorgter Bürger. Zwei redeten beruhigend auf ihn ein, während er sich auf dem Bürgersteig wand. Überall war Blut – an ihm, an den besorgten Bürgern und an der fünfzig Zentimeter langen Eisenstange, die aus seiner Schulter ragte.
Ich schaffte mir etwas Platz, indem ich aus Leibeskräften »Polizei!« brüllte, und versuchte ihn in die stabile Seitenlage zu bringen.
»Ash. Ich hab doch gesagt, du sollst dich von ihr fernhalten.«
Ash hörte kurz auf, um sich zu schlagen, und sah mich an. »Peter«, sagte er. »Das Miststück hat mich mit ’ner Geländerstange aufgespießt.«