
Die Öffentlichkeit hat ein recht verzerrtes Bild davon, wie eine polizeiliche Ermittlung abläuft. Sie malt sich gern aus, wie hinter heruntergelassenen Jalousien fieberhafte Beratungen abgehalten werden und unrasierte, aber auf verwegene Art gutaussehende Ermittler sich zielstrebig und aufopfernd in den Suff und die Ehekatastrophe hineinarbeiten. In Wirklichkeit geht man, falls man nicht auf irgendeine brandeilige Spur gestoßen ist, nach Feierabend nach Hause und widmet sich den wichtigen Dingen des Lebens – wie Essen, Trinken, Schlafen und, wenn man Glück hat, einer Beziehung zu jemandem mit Geschlecht und sexueller Orientierung nach Wunsch. Ich hätte am nächsten Morgen liebend gern zumindest einer dieser Tätigkeiten gefrönt, wäre ich nicht zufällig auch der letzte verdammte Zauberlehrling Englands gewesen. Was bedeutete, ich musste meine Freizeit damit verbringen, die Theorie der Magie zu studieren, tote Sprachen zu büffeln und Bücher zu lesen wie Abhandlungen über das Metaphysische von John »hasst Wörter, die nicht mindestens drei Silben haben« Cartwright.
Und natürlich zaubern zu lernen – weshalb sich das Ganze wenigstens lohnte.
Hier ist ein Zauberspruch: Lux iactus scindere. Sie können das leise oder laut sagen oder in dramatischer Pose während eines Gewitters deklamieren – nichts wird passieren. Das liegt daran, dass die Worte nur die äußere Gestalt der Formae sind, die Sie dabei im Geiste aufbauen: Lux, um Licht zu erschaffen, und Scindere, um es an einer Stelle zu fixieren. Führt man diesen Zauber richtig aus, dann erschafft er ein Licht, das an einem Ort verankert ist.
Verpatzt man ihn, kann er ein Riesenloch in einen Labortisch brennen.
»Wissen Sie«, sagte Nightingale, »ich glaube nicht, dass ich so etwas schon einmal erlebt habe.«
Ich verpasste dem Tisch einen letzten Spritzer aus dem Feuerlöscher und bückte mich, um nachzuschauen, ob der Boden unbeschädigt geblieben war. Ein kleiner Brandfleck war zu sehen, aber zum Glück kein Krater.
»Es haut mir immer wieder ab«, sagte ich.
Nightingale stand aus dem Rollstuhl auf und sah selbst nach. Er bewegte sich vorsichtig und belastete die rechte Seite kaum. Falls er noch einen Verband um die Schulter trug, verbarg er ihn unter einem frisch gebügelten fliederfarbenen Hemd, das ungefähr bei der Abdankung von König Edward in Mode gewesen war. Molly tat ihr Bestes, um ihn herauszufüttern, aber er war immer noch bleich und dünn. Er ertappte mich dabei, wie ich ihn prüfend ansah.
»Ich wäre froh, wenn Sie und Molly aufhören würden, mich derart zu mustern. Ich bin auf dem besten Wege der Genesung. Ich weiß, wovon ich rede, ich wurde ja nicht zum ersten Mal angeschossen.«
»Soll ich’s noch mal probieren?«
»Nein«, sagte er. »Das Problem liegt ganz offensichtlich beim Scindere. Ich dachte mir schon, dass Sie sich das nicht gründlich genug erarbeitet haben. Morgen fangen wir mit der Forma noch einmal von vorn an, und sobald ich mir sicher bin, dass Sie sie richtig beherrschen, versuchen wir es wieder mit diesem Zauber.«
»Halleluja«, sagte ich.
»Das ist überhaupt nicht ungewöhnlich«, versicherte er in ermutigendem Tonfall. »Sie müssen die Grundlagen unserer Kunst einwandfrei beherrschen, sonst wird alles, was Sie darauf aufbauen, fehlerhaft und darüber hinaus instabil. In der Zauberei gibt es keine bequemen Lösungen, Peter. Wenn es sie gäbe, würde sie jeder praktizieren.«
Oh ja, zum Beispiel in England sucht den Zauberstar, dachte ich, aber so ein Kommentar wäre bei Nightingale fehl am Platz, weil er, was die Zauberkunst anging, keinen Spaß verstand und sich im Fernsehen sowieso nur Rugby anschaute.
Ich setzte die aufmerksame Miene des pflichteifrigen Lehrlings auf, aber Nightingale ließ sich nicht täuschen.
»Erzählen Sie mir von Ihrem toten Musiker.«
Ich informierte ihn über alles, wobei ich betonte, wie stark die Vestigia gewesen waren, die Dr. Walid und ich in der Nähe des Leichnams gespürt hatten.
»Hat er sie genauso stark empfunden wie Sie?«, wollte Nightingale wissen.
Ich hob die Schultern. »Es waren Vestigia, Boss. Stark genug, dass wir beide eine Melodie hören konnten. Das ist doch verdächtig.«
»Verdächtig ja«, meinte er und ließ sich stirnrunzelnd wieder in seinem Rollstuhl nieder. »Aber ist es ein Verbrechen?«
»Im Gesetz heißt es zur Definition eines Mordes nur, dass man einen Menschen unter dem Frieden der Königin unrechtmäßigerweise aus niederen Beweggründen getötet haben muss. Wie, davon steht da nichts.« Das hatte ich vor dem Frühstück in Blackstone’s Enzyklopädie für das Polizeiwesen nachgeschlagen.
»Es dürfte interessant werden, mitzuerleben, wie die Staatsanwaltschaft das den Geschworenen unterbreitet«, sagte er. »Zuerst müsste man beweisen, dass er durch Magie getötet wurde, und dann herausfinden, wer in der Lage ist, so etwas zu tun und es aussehen zu lassen wie einen natürlichen Tod.«
»Könnten Sie’s?«
Nightingale musste kurz nachdenken. »Ich denke schon«, sagte er dann. »Zuvor müsste ich einige Zeit in der Bibliothek verbringen. Es müsste ein sehr mächtiger Zauber sein. Möglich, dass die Musik, die Sie gehört haben, das Signare des Praktizierenden ist – seine unverwechselbare Handschrift, seine Signatur. So wie früher die Telegrafenbeamten einander an der Art und Weise erkennen konnten, wie sie die Tasten bedienten, so hat auch jeder Praktizierende eine persönliche, einzigartige Weise, einen Zauber zu wirken.«
»Hab ich auch eine Signatur?«, fragte ich.
»Oh ja. Wenn Sie zaubern, haben die Dinge in Ihrer Umgebung die verhängnisvolle Tendenz, in Flammen aufzugehen.«
»Im Ernst, Boss.«
»Für ein Signare sind Sie noch nicht weit genug, aber ein anderer Praktizierender würde sicherlich erkennen, dass Sie mein Lehrling sind. Vorausgesetzt natürlich, er wäre mit meiner Arbeit vertraut.«
»Gibt es denn noch andere Praktizierende?«
Nightingale setzte sich in seinem Rollstuhl zurecht. »Es gibt ein paar Überlebende aus dem Verein vor dem Krieg. Aber abgesehen davon sind Sie und ich die letzten klassisch ausgebildeten Zauberer. Das heißt, Sie werden es sein, sofern Sie je genug Konzentration aufbringen, um sich klassisch ausbilden zu lassen.«
»Könnte einer von diesen Überlebenden hinter meinem Fall stecken?«
»Nicht, wenn zu dem Signare Jazz gehört.«
Und folglich wohl auch keiner ihrer Lehrlinge – falls sie Lehrlinge hatten.
»Wenn es keiner von Ihrem Verein war …«
»Unserem Verein«, sagte Nightingale. »Sie haben einen Eid abgelegt. Damit gehören Sie zu uns.«
»Wenn es keiner von unserem Verein war, wer könnte so was noch zustande bringen?«
Nightingale lächelte. »Jemand von Ihren Freunden vom Fluss hätte sicherlich genug Macht.«
Das gab mir zu denken. Es gab zwei Götter der Themse, und beide hatten mehrere eigensinnige Kinder, eines für jeden Zufluss. Sie besaßen unbestreitbar große Macht – ich hatte persönlich miterlebt, wie Beverley Brook ganz Covent Garden geflutet hatte, womit sie rein zufällig mir und einer Familie deutscher Touristen das Leben rettete.
»Aber Vater Themse würde nicht unterhalb der Teddington-Schleuse aktiv werden«, fuhr Nightingale fort. »Und Mama Themse würde unsere Abmachung nicht aufs Spiel setzen. Wenn Tyburn jemanden tot sehen wollte, würde sie ihn auf dem Rechtsweg ruinieren. Fleet würde ihn in den Medien auseinandernehmen. Brent ist zu jung. Und abgesehen davon, dass Soho am falschen Ufer liegt – wenn Effra jemanden mit Musik umbringen wollte, dann sicherlich nicht mit Jazz.«
Nicht, wo sie praktisch die Schutzheilige des britischen Grime ist, dachte ich. »Gibt es noch andere?«, bohrte ich. »Andere Irgendwas?«
»Möglich«, sagte Nightingale. »Aber bevor Sie sich zu sehr auf das Wer versteifen, würde ich empfehlen, dass Sie sich näher mit dem Wie beschäftigen.«
»Irgendein Tipp?«
»Fangen Sie doch damit an, sich den Tatort anzusehen.«
Sehr zum Missfallen der herrschenden Klasse, die in ihren Städten gern Sauberkeit, Ordnung und freies Schussfeld hat, zeigte sich London nie sehr gefügig, was großangelegte Planungsprojekte anging, nicht einmal, nachdem es 1666 bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Nichtsdestoweniger gab es immer wieder Unverzagte, die einen solchen Versuch wagten, und in den 1880ern entwarf der Großstädtische Ausschuss für öffentliche Bauten die Charing Cross Road und die Shaftesbury Avenue, um bessere Verbindungen von Nord nach Süd und von Ost nach West zu schaffen. Dass dabei auch gleich die berüchtigten Newport Market Slums beseitigt wurden und sich somit die Anzahl unästhetisch ärmlicher Individuen, denen man beim Flanieren durch die Stadt begegnete, drastisch reduzierte, war sicherlich nur eine erfreuliche Begleiterscheinung. Wo sich die Road und die Avenue kreuzen, entstand der Cambridge Circus, dessen Westseite heute vom Palace Theatre und dessen spätviktorianischer Lebkuchenpracht beherrscht wird. Daneben steht das im selben Stil erbaute Bauwerk, das einst als Wirtshaus George and Dragon bekannt war und heute Spice of Life heißt. Laut Eigenwerbung Londons erste Adresse für guten Jazz.
Damals, als mein Dad noch auftrat, war das Spice of Life alles andere als eine Jazzkneipe. Laut seiner Aussage bestand die Kundschaft aus Typen mit Rollkragenpullovern und Kinnbärten, die Folk hörten und Gedichte rezitierten. In den Sechzigern spielte Bob Dylan dort ein paarmal, und Mick Jagger auch. Aber damit konnte mein Dad gar nichts anfangen – er sagte immer, Rock’n’Roll sei okay für Leute, die von allein nicht in der Lage seien, einem Rhythmus zu folgen.
Bis zu diesem Mittag hatte ich noch nie einen Fuß ins Spice of Life gesetzt. Vor meiner Zeit als Polizist war es nicht die Art Pub, wo ich was trinken ging, und seither war es nicht die Art Pub, wo ich Leute verhaftete.
Ich hatte meinen Besuch so gelegt, dass ich den Mittagsandrang vermied, was bedeutete, dass die Menge, die sich am Circus auf die Füße trat, hauptsächlich aus Touristen bestand und es im Pub angenehm kühl, dämmrig und leer war. In der Luft hing ein Hauch von Reinigungsmitteln, der versuchte, sich gegen Jahre verschütteten Biers zu behaupten. Ich wollte ein Gefühl für den Ort bekommen, und die natürlichste Methode dafür schien mir, an der Theke ein Bier zu trinken. Weil ich im Dienst war, nahm ich nur ein kleines. Anders als vielen Londoner Pubs war es dem Spice of Life gelungen, sich seine Einrichtung aus poliertem Holz und Messing zu erhalten und trotzdem nicht ins Kitschige abzugleiten. Als ich an der Theke stand und den ersten Schluck nahm, wehte mich eine Ahnung von Pferdeschweiß und Gehämmer auf einem Amboss an, Rufen und Lachen, der ferne Schrei einer Frau und Tabakgeruch – ziemlich typisch für ein Pub mitten in London.
Die Söhne von Mūsa ibn Shākir waren scharfsinnig und kühn, und wären sie keine Muslime gewesen, sie wären heute vermutlich die Schutzheiligen der Nerds und Erfinder. Sie sind berühmt für ihren im neunten Jahrhundert in Bagdad verfassten Bestseller, eine Sammlung von Beschreibungen genialer technischer Erfindungen, die sie originellerweise auch genauso nannten: Kitab al-Hiyal, das Buch der genialen Erfindungen. Darin beschreiben sie den wohl ersten brauchbaren Apparat, mit dem man Druckdifferenzen messen kann. Damit ging es erst richtig los. 1593 nahm sich Galileo Galilei eine Auszeit von seinen Hauptbeschäftigungen Astronomie und Ketzerei und erfand mal rasch ein Thermoskop, also einen Hitzemesser. 1833 erfand Carl Friedrich Gauß ein Gerät zum Bestimmen der Stärke eines Magnetfelds, und 1908 baute Hans Geiger ein Instrument, das ionisierende Strahlung aufspürte. Heutzutage entdecken Astronomen Planeten, die um weit entfernte Sterne kreisen, indem sie messen, wie stark deren Umlaufbahn eiert, und die klugen Köpfe bei CERN lassen haufenweise Partikel aufeinanderprallen in der Hoffnung, dass irgendwann Doctor Who auftaucht und ihnen sagt, sie können aufhören. Die Geschichte der Technik, mit deren Hilfe wir das physische Universum messen, ist die Geschichte der Wissenschaft selbst.
Und was hatten Nightingale und ich, um Vestigia zu messen? Einen feuchten Dreck – und es ist auch nicht so, als ob wir gewusst hätten, was wir überhaupt messen sollten. Kein Wunder, dass die Erben von Isaac Newton die Magie sicher unter ihren gepuderten Perücken verwahrten. Der Not gehorchend hatte ich eine eigene Skala für Vestigia aufgestellt, die auf der Stärke von Tobys Gekläff basierte, wenn er mit Magieresten in Berührung kam. Meine Einheit war das Wuff. Ein Wuff entsprach einem Vestigium in einer Stärke, dass ich es spontan spürte, ohne danach zu suchen.
Ein Eintrag im Internationalen Einheitensystem war eigentlich nur eine Frage der Zeit. Ich legte jedenfalls die Standard-Hintergrundmagie eines Pubs in der Londoner Innenstadt als 0,2 Wuff (0,2 wf) oder 200 Milliwuff (200 mwf) fest. Als ich das zu meiner Zufriedenheit geklärt hatte, trank ich mein Bier aus und machte mich auf den Weg in den Keller, wo der Jazz wohnte.
Über eine knarrende Treppe erreichte ich die Backstage Bar, einen annähernd achteckigen Raum mit niedriger Decke und vereinzelten dicken cremefarbenen Säulen, die vermutlich Stützfunktion hatten, denn zur Optimierung des Blickfelds trugen sie definitiv nicht bei. Als ich im Türrahmen stand und versuchte, ein Gefühl für eventuelle magische Unterströmungen zu bekommen, stellte ich fest, dass meine Kindheit dabei war, meine Ermittlungen zu gefährden.
1986 kam Journey to the Urge Within von Courtney Pine heraus, und plötzlich war Jazz wieder in, und mein Vater stieg zum dritten und letzten Mal in seinem Leben beinahe in die luftigen Höhen von Ruhm und Reichtum auf. Bei seinen Gigs war ich nie dabei, aber in den Schulferien nahm er mich oft in Clubs oder Aufnahmestudios mit. Manche Eindrücke bewahrt man selbst aus der Zeit vor dem Einsetzen der bewussten Erinnerung – schales Bier, Tabakrauch, der Klang einer Trompete, wenn sich der Trompeter warm spielt. In diesem Keller hätten sich zweihundert Kilowuff Vestigia verstecken können, ich wäre nicht fähig gewesen, sie von meinen eigenen Erinnerungen zu trennen.
Ich hätte Toby mitbringen sollen, der wäre von größerem Nutzen gewesen als ich. In der Hoffnung, dass es etwas bringen würde, näher ranzugehen, trat ich direkt vor die Bühne.
Mein Dad sagte immer, ein Trompeter richtet seine Waffe auf das Publikum, aber ein Saxofonist liebt es, ein gutes Profil abzugeben, und hat immer eine bevorzugte Seite. Es gehörte zum Credo meines Dad, dass niemand ein Rohrblattinstrument auch nur anfasst, dem es nicht wichtig ist, wie sein Gesicht aussieht, wenn er hineinbläst. Ich stellte mich auf die Bühne und nahm ein paar typische Saxofonistenposen ein. Und da begann ich etwas zu spüren, vorn rechts auf der Bühne, ein kleines Prickeln und die Melodiestimme von Body and Soul, wie aus weiter Ferne, schneidend und bittersüß.
»Erwischt«, sagte ich.
Da das magische Echo eines ganz bestimmten Jazzstücks derzeit meine einzige Spur war, überlegte ich, dass es wahrscheinlich angebracht wäre, herauszufinden, um welche der etlichen hundert Coverversionen von Body and Soul es sich handelte. Was ich brauchte, war ein Jazzexperte, der so besessen von seinem Thema war, dass er darüber seine Gesundheit, seine Ehe und seine eigenen Kinder vernachlässigte.
Mit anderen Worten, meinen Dad.
So sehr ich den Jaguar liebe, für die tägliche Polizeiarbeit ist er viel zu auffällig. Daher war ich an diesem Tag in einem zerkratzten, aus dem aktiven Polizeidienst entlassenen silbernen Ford Focus unterwegs, von Eingeweihten auch Ford Asbo genannt, weil man eigentlich verhaftet gehört, wenn man in so einem Ding fährt. Trotz all meiner Bemühungen roch er nach uraltem Überwachungsproviant und nassem Hund. Ich hatte ihn in der Romilly Street geparkt, mit meinem magischen Polizeitalisman in der Windschutzscheibe, um Verkehrskontrolleure abzuhalten. Ein Freund von mir hatte den alten Volvo-Motor so aufgemotzt, dass er ganz ordentlich zog, was nützlich sein konnte, wenn man, wie ich jetzt, auf dem Weg nach Kentish Town die Gelenkbusse auf der Tottenham Court Road überholen wollte.
Jeder Londoner hat sein »Terrain« – das Sammelsurium der Flecken in der Stadt, wo er sich wohlfühlt. Die Ecke, wo man wohnt oder das Universitätscollege, das man besucht hat. Der Arbeitsplatz oder der Sportverein. Die Gegend im West End, wo man abends in die Kneipe geht. Bei einem Polizisten sein Streifenbezirk. Bei einem gebürtigen Londoner – und entgegen allen Gerüchten sind wir immer noch in der Mehrheit – liegt der Kern dieses Terrains dort, wo man aufgewachsen ist. Die Straßen, auf denen du zur Schule gegangen bist, wo du zum ersten Mal geknutscht oder dich besoffen oder dein erstes Hühnchen-Vindaloo wieder von dir gegeben hast, vermitteln ein ganz eigenes Gefühl der Sicherheit.
Ich bin in Kentish Town aufgewachsen, das in die Kategorie »begrünte Vorstadt« fallen würde, wenn es ein wenig begrünt und vorstädtisch wäre. Und weniger Sozialwohnblocks hätte. Einer davon ist Peckwater Estate, der Sitz meiner Ahnen, der gebaut wurde, als die Architekten sich damit abgefunden hatten, dass auch das Proletariat sich über ein eigenes Klo und ein gelegentliches Vollbad freut, aber noch nicht zu der Erkenntnis gelangt waren, dass besagtes Proletariat möglicherweise mehr als ein Kind pro Familie haben könnte. Andererseits, vielleicht dachten sie, mehr als zwei Schlafzimmer würden die Arbeiterklasse nur ermuntern, sich zu vermehren wie die Karnickel.
Einen Vorteil gab es hier allerdings: den Innenhof, der zum Parkplatz umfunktioniert worden war. Dort fand ich noch eine Lücke zwischen einem Toyota Aygo und einem ramponierten Mercedes, dessen Lackierung eigentlich als Straftatbestand zu werten war. Ich parkte, stieg aus, ließ das Schloss hinter mir zuschnappen und ging im sicheren Wissen davon, dass man mich hier kannte und deshalb niemand mein Auto aufbrechen würde. Genau das bedeutet es, auf deinem Terrain zu sein. Obwohl ich, ehrlich gesagt, den Verdacht hatte, dass die örtlichen jugendlichen Krawallbrüder mehr Angst vor meiner Mum hatten als vor mir. Das Schlimmste, was ich ihnen antun konnte, war, sie zu verhaften.
Als ich die Wohnungstür meiner Eltern öffnete, drang erstaunlicherweise Musik an meine Ohren – The Way You Look Tonight, solo auf dem Klavier gespielt. Es kam aus dem Schlafzimmer. Auf dem guten Sofa im Wohnzimmer lag meine Mum. Sie hatte die Augen geschlossen und noch ihre Arbeitsklamotten an – Jeans, grauer Pullover und Kopftuch mit Paisleymuster. Schockiert sah ich, dass die Stereoanlage ausgeschaltet war und nicht einmal der Fernseher lief. Bei meinen Eltern läuft immer der Fernseher – sogar bei Leichenfeiern. Vor allem bei Leichenfeiern.
»Mum?«
Ohne die Augen zu öffnen, legte sie den Finger an die Lippen und deutete in Richtung Schlafzimmer.
»Ist das Dad?«
Die Lippen meiner Mum verzogen sich ganz langsam zu einem glückseligen Lächeln, das ich nur von alten Fotos kannte. Das dritte und letzte Revival meines Dad in den frühen Neunzigern hatte geendet, als er kurz vor einem geplanten Auftritt bei BBC Two plötzlich seinen Ansatz verlor. Die nächsten anderthalb Jahre hatte ich meine Mum nicht mehr als jeweils zwei Worte mit ihm wechseln hören. Ich glaube, sie nahm es persönlich. Nur bei Prinzessin Dianas Begräbnis habe ich sie ähnlich außer sich erlebt, aber ich denke mal, das hat sie irgendwie genossen – auf kathartische Weise.
Die Musik ging weiter, suchend und tiefempfunden. Mir fiel wieder ein, dass meine Mum irgendwann, nachdem sie sich zum wiederholten Male Buena Vista Social Club zu Gemüte geführt hatte, meinem Dad ein Keyboard gekauft hatte, aber ich hatte keine Ahnung, dass er sich beigebracht hatte, darauf zu spielen.
Ich zwängte mich in die enge Küche und machte uns eine Tasse Tee. Irgendwann endete das Stück. Ich hörte, wie meine Mum sich bewegte und seufzte. Ich mag Jazz eigentlich gar nicht besonders, aber in meiner Kindheit wurde ich von meinem Dad so oft als Vinyl-Handlanger eingesetzt, um Schallplatten zwischen seiner Sammlung und dem Plattenspieler hin- und herzutragen, wenn es ihm nicht gutging, dass ich guten Jazz erkenne, wenn ich ihn höre. Dad spielte jetzt All Blues, machte aber keine allzu abgehobenen Experimente damit, ließ einfach nur die melancholische Schönheit des Stücks durchscheinen. Ich ging zurück ins Wohnzimmer, stellte die Tasse für meine Mum auf den Beistelltisch aus Walnussnachbildung, setzte mich und sah ihr zu, wie sie Dads Spiel lauschte, solange es währte.
Es währte aber nicht ewig, nicht einmal besonders lang. Wie auch? Irgendwann kam Dad die Melodie abhanden, und er beendete die Sache mit einem geräuschvollen Tastenklirren. Mum seufzte und setzte sich auf.
»Was machst du hier?«, wollte sie wissen.
»Ich muss Dad was fragen.«
»Gut.« Sie nahm einen Schluck von dem Tee. »Der ist ja kalt.« Sie schob mir die Tasse hin. »Mach mir einen neuen.«
Während ich in der Küche war, kam Dad ins Wohnzimmer. Ich hörte, wie er Mum begrüßte, dann folgte ein seltsames saugendes Geräusch, und mit Schrecken begriff ich, dass sie sich küssten. Fast hätte ich den Tee verschüttet.
»Hör auf«, hörte ich Mum flüstern. »Peter ist da.«
Mein Dad steckte den Kopf in die Küche. »Das kann nichts Gutes bedeuten. Krieg ich auch einen Tee?«
Ich zeigte ihm die Tasse, die ich schon bereitgestellt hatte.
»Ausgezeichnet«, sagte er.
Als ich uns alle mit Tee versorgt hatte, fragte Dad, was mich herführte. Sie hatten allen Grund, misstrauisch zu sein, denn bei meinem letzten unerwarteten Besuch hatte ich gerade Covent Garden abgefackelt – mehroderweniger.
»Ich bräuchte deine Hilfe bei einer Jazzangelegenheit«, sagte ich.
Er lächelte erfreut. »Dann komm in mein Büro. Der Jazzdoktor hat Sprechstunde.«
Wenn das Wohnzimmer meiner Mum und ihrer erweiterten Verwandtschaft gehörte, dann war das Schlafzimmer das Territorium meines Vaters und seiner Plattensammlung. In einer alten Familienlegende heißt es, die Wände seien einst in hellem Pastellbraun gestrichen gewesen, aber davon war jetzt nichts mehr sichtbar. Jeder Zoll war von Dads Regalen erobert worden, Kiefer natur mit Metallrahmen. Sie waren dicht an dicht mit hochkant gestellten Schallplatten bestückt, sorgfältig außer Reichweite jedes Sonnenstrahls. Nachdem ich zu Hause ausgezogen war, war der ausladende Kleiderschrank meiner Mum, Marke British Home Store, gemeinsam mit dem größten Teil ihrer Schuhsammlung in mein altes Zimmer hinübergewandert. So bot das Schlafzimmer jetzt immerhin noch genug Platz für ein schmales Doppelbett, ein breites Keyboard und die Stereoanlage meines Vaters.
Ich erklärte ihm, wonach ich suchte, und er fing gleich an, Platten herauszuziehen. Wie ich geahnt hatte, begannen wir mit Coleman Hawkins’ berühmter Aufnahme von 1938 für Bluebird Records. Das war natürlich Zeitverschwendung, denn Hawkins kommt nie auch nur in die Nähe der eigentlichen Melodie. Aber ich ließ meinen Dad erst das Stück genießen, bevor ich darauf hinwies.
»Es war eher alte Schule, Dad. Die Version, die ich gehört habe. Mit richtiger Melodie und allem.«
Dad brummte etwas und ging einen Pappkarton voller alter Schellackplatten durch. Schließlich zog er eine braune, an drei Seiten mit Klebeband geflickte Hülle mit schwarz-goldenem Victor-Aufdruck heraus, in der eine Aufnahme des Benny-Goodman-Trios steckte. Der Garrard-Plattenspieler meines Dad besitzt eine 78er-Einstellung, aber man muss den Tonabnehmer wechseln – mit großer Sorgfalt baute ich unter Dads wachsamem Blick den Ortofon aus und sah mich nach dem Stanton um. Er lag noch genau am gleichen Platz wie früher, auf dem Regalbrett hinter der Stereoanlage, mit der Unterseite nach oben, um die Nadel zu schützen. Während ich ihn mit Hilfe des winzigen Schraubenziehers auf den Arm schraubte, zog Dad vorsichtig die Platte heraus und inspizierte sie glücklich lächelnd. Dann reichte er sie mir. Sie war, wie alle Schellackplatten, überraschend schwer, viel schwerer als eine LP. Wer von Kindesbeinen an nur CDs gewohnt ist, könnte sie vermutlich nicht mal anheben. Ich nahm sie vorsichtig entgegen, die Außenkante zwischen den Handflächen, und legte die Platte sorgfältig auf die Drehscheibe.
Kaum senkte sich die Nadel in die Rille, fing es an zu zischen und zu knacken, und darüber hörte man Goodmans Klarinetten-Intro. Dann hatte Teddy Wilson sein Klaviersolo, dann kam wieder Benny mit der Klarinette. Glücklicherweise hielt sich Krupa am Schlagzeug zurück. Das hier kam der Version, die der selige Mr. Wilkinson von sich gegeben hatte, schon viel näher.
»Aber ich glaube, es muss eine spätere Version sein«, sagte ich.
»Das ist nicht schwer«, meinte Dad. »Diese Aufnahme wurde fünf Jahre nach Entstehung des Stücks gemacht.«
Wir nahmen uns noch ein paar 78er vor, einschließlich einer von 1940 mit Billie Holiday, die wir nur deshalb auflegten, weil Lady Day eine der wenigen Vorlieben ist, die Dad und ich wirklich gemeinsam haben. Die Aufnahme war wunderschön und traurig, und das brachte mich darauf, was noch fehlte.
»Es war fröhlicher«, sagte ich. »Es war eine größere Combo, und es hatte mehr Swing.«
»Swing?«, wunderte sich Dad. »Wir reden hier über Body and Soul – das ist kein Swingstück.«
»Komm schon, Dad, irgendwer muss doch mal eine swingendere Version davon gespielt haben – und sei es nur für die Weißen.«
»Halt dich zurück, freche Kröte. Aber ja, ich glaube, ich hab eine Ahnung, was du suchst.« Er zog aus seiner Jackentasche ein kleines rechteckiges Objekt aus Plastik und Glas.
»Du hast ein iPhone«, sagte ich fassungslos.
»Einen iPod Touch«, berichtigte er. »Hat gar keinen so schlechten Klang.« Und das von einem Mann, der einen fünfzig Jahre alten Quad-Röhrenverstärker besitzt, weil der besser ist als Transistoren. Er gab mir die Ohrstöpsel und ließ den Finger über das Display fliegen, als hätte er sein Leben lang mit Touchscreens gearbeitet. »Hör’s dir an.«
Und da war es, digital bearbeitet, aber mit genug Zischen und Knacken, um die Puristen zu befriedigen. Body and Soul, mit klarer Melodie und gerade so viel Swing, dass man darauf tanzen konnte. Falls es nicht dieselbe Version war, die ich an dem Toten gehört hatte, dann in jedem Fall dieselbe Band.
»Wer ist das?«
»Ken Johnson«, sagte Dad. »Der alte Snakehips persönlich. Das ist auf Blitzkrieg Babies and Bands drauf – nette Digitalsammlung alter Schellackaufnahmen. Im Begleitheft nennen sie als Trompeter allerdings ›Jiver‹ Hutchinson, dabei ist es ganz klar Dave Wilkins.«
»Von wann ist die Aufnahme?«
»Die Original-Achtundsiebziger kam 1939 raus. Decca-Studios, West Hampstead.« Dad sah mich durchdringend an. »Gehört das zu einem Fall? Als du das letzte Mal hier warst, hast du ’ne Menge seltsames Zeug geredet.«
Auf die Schiene ließ ich mich gar nicht ein. »Was soll das mit dem Keyboard?«
»Ich belebe meine Karriere neu«, sagte er. »Ich hab vor, der nächste Oscar Peterson zu werden.«
»Ach, tatsächlich?« Das war selbst für meinen Dad ziemlich überkandidelt.
»Tatsächlich«, sagte er und rutschte auf der Bettkante bis zum Keyboard. Er spielte die Melodie von Body and Soul an, dann fing er an zu improvisieren, begab sich weiter und weiter auf eine musikalische Bahn, der ich noch nie hatte folgen oder etwas abgewinnen können. Meine Reaktion schien ihn zu enttäuschen – er hofft immer noch, dass ich es eines Tages zu schätzen lerne. Andererseits: Mein Dad hat einen iPod, also ist nichts unmöglich.
»Was ist aus Ken Johnson geworden?«
»Bei den deutschen Luftangriffen umgekommen. Genau wie Al Bowlly und Lorna Savage. Ted Heath erzählte mir mal, sie hätten manchmal das Gefühl gehabt, Göring hätte es speziell auf Jazzer abgesehen. Er sagte, während des Kriegs hätte er sich auf Tournee durch Nordafrika sicherer gefühlt als bei Auftritten in London.«
Ich bezweifelte, dass ich es mit dem rachedurstigen Geist von Reichsmarschall Hermann Göring zu tun hatte, aber es schadete sicher nicht, es zu überprüfen.
Jetzt verbannte Mum uns aus dem Schlafzimmer, weil sie sich umziehen wollte. Ich machte uns noch einen Tee, und wir setzten uns ins Wohnzimmer.
»Mal sehen«, sagte Dad, »vielleicht schaue ich mich demnächst nach Gigs um.«
»Als Pianist?«
»Es geht um die Grundlinie. Das Instrument ist nur Mittel zum Zweck.«
Der Jazzer lebt, um zu spielen.
In einem ärmellosen gelben Sommerkleid und ohne Kopftuch kam meine Mum wieder aus dem Schlafzimmer. Ihr Haar war in diese dicken Zöpfe geflochten, die meinen Dad immer zum Grinsen brachten. Als ich klein war, ließ sie ihre Haare pünktlich alle sechs Wochen glätten. Überhaupt saß jedes Wochenende irgendjemand im Wohnzimmer – eine Tante, eine Cousine oder ein Mädchen aus der Nachbarschaft – und ätzte sich die Haare mit viel Chemie glatt. Hätte ich nicht bei der Schuldisco in der zehnten Klasse was mit Maggie Porter angefangen – ihr Dad trug Dreadlocks und ihre Mum war Autoversicherungsvertreterin –, die ihr Haar kraus ließ, ich hätte möglicherweise bis ins Erwachsenenalter geglaubt, die Haare eines schwarzen Mädchens dufteten von Natur aus nach Kaliumlauge. Ich persönlich bin da wie mein Dad, ich mag sie am liebsten au naturel oder geflochten – aber was die Haare einer schwarzen Frau angeht, ist die erste Regel: Man spricht nicht darüber. Die zweite Regel ist: Man fasst sie niemals ohne schriftliche Erlaubnis an. Das gilt auch nach dem Sex, nach der Heirat und selbst nach dem Tod. Die Gegenseite hält sich natürlich nicht an diese Höflichkeitsregeln.
»Du musst dir mal wieder die Haare schneiden lassen«, sagte meine Mum prompt. Mit Haare schneiden meinte sie so kurz abrasieren, dass meine Kopfhaut sonnenbrandgefährdet war. Ich versprach ihr, es in Angriff zu nehmen, und sie stöckelte in die Küche, um Abendessen zu machen.
»Ich war ein Kriegsbaby«, sagte Dad. »Deine Oma wurde evakuiert, als sie mit mir schwanger war, deshalb steht in meiner Geburtsurkunde Cardiff. Zum Glück hat sie uns noch vor Kriegsende nach Stepney zurückevakuiert.« Sonst wären wir jetzt womöglich Waliser – in den Augen meines Dad ein noch schlimmeres Schicksal, als Schotte zu sein.
Er sagte, in den späten Vierzigern sei der Krieg in den Köpfen der Leute immer noch allgegenwärtig gewesen. Da waren die zerbombten Häuser, die Lebensmittelkarten, die schnöseligen Radiostimmen des BBC Home Service. »Nur natürlich kein Bombenhagel mehr. Damals redete noch jeder davon, wie Bowlly in der Jermyn Street in die Luft gejagt worden war, oder wie Anno ’44 Glen Millers Flugzeug vom Radar verschwand. Wusstest du, dass er ein waschechter Major bei der amerikanischen Air Force war? Er gilt bis heute offiziell als vermisst.«
In den Fünfzigern jung und talentiert zu sein, hieß hingegen, ständigen Wandel zu erleben. »Body and Soul hab ich zum ersten Mal im Flamingo Club gehört«, erzählte Dad. »Gespielt von Ronnie Scott, als er gerade dabei war, zu Ronnie Scott zu werden. Damals war der Flamingo Club das In-Lokal der schwarzen Flieger aus Lakenheath und den anderen US-Luftstützpunkten. Die wollten unsere Frauen«, sagte er. »Und wir ihre Platten. Sie hatten immer das Neueste vom Neuesten da. Wir haben uns perfekt ergänzt.«
Mum kam mit dem Abendessen. Bei uns wurde schon immer zweigleisig gekocht, einmal für Mum und einmal deutlich weniger scharf für Dad. Außerdem isst er lieber Weißbrot mit Margarine als Reis dazu, was geradezu nach einem Herzinfarkt schreien würde, wenn er nicht so spindeldürr wäre. Ich nahm mir immer aus beiden Töpfen und mochte Reis und Weißbrot, das erklärt zweifellos meine männlich-edlen Gesichtszüge und meine stattliche Erscheinung.
Bei Mum gab es heute Maniokblätter, Dad bekam Schmortopf mit Lamm. Ausnahmsweise nahm ich nur Lamm; Maniok mag ich einfach nicht, vor allem nicht, weil Mum es immer in Palmöl ertränkt. Außerdem verwendet sie so viel Cayennepfeffer, dass ihre Suppe ein rotes Neonleuchten abstrahlt und ich nur auf den Moment warte, in dem einmal ein Gast Opfer einer spontanen Selbstentzündung wird. Wir aßen an dem großen Glas-Couchtisch im Wohnzimmer. In die Mitte stellte Mum eine große Plastikflasche Highland Spring, und wir bekamen rosa Papierservietten und einzeln in Zellophan verpackte Grissini, die Mum bei ihrem neuesten Reinigungsjob hatte mitgehen lassen. Ich schmierte Dad ein paar Margarinebrote.
Beim Essen merkte ich, dass Mum mich beobachtete. »Was ist?«, wollte ich wissen.
»Warum kannst du nicht so spielen wie dein Vater?«, fragte sie.
»Weil ich singen kann wie meine Mutter«, gab ich zurück. »Aber zum Glück kann ich kochen wie Jamie Oliver.«
Sie gab mir einen Klaps auf den Schenkel. »Du bist nicht zu groß, dass ich dir nicht eine runterhauen könnte.«
»Ja, aber ich bin viel schneller als früher«, sagte ich.
Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal mit Mum und Dad gegessen hatte, zumindest nicht, ohne dass ein halbes Dutzend zusätzlicher Verwandter dabei gewesen wäre. Ich bin nicht einmal sicher, ob das in meiner Kindheit jemals vorgekommen ist. Immer war eine Tante, ein Onkel oder eine garstige legoklauende jüngere Cousine (nein, ich bin nicht nachtragend) im Haus.
Als ich das erwähnte, wies mich meine Mum darauf hin, dass besagte legoklauende Cousine gerade angefangen hatte, in Sussex Maschinenbau zu studieren. Bitte sehr, dachte ich, soll sie doch dort Lego klauen, so viel sie will. Ich meinerseits wies darauf hin, dass ich jetzt ein amtlich vereidigter Police Constable war und für eine geheime Abteilung der Metropolitan Police arbeitete.
»Und was machst du dort?«, fragte sie.
»Das ist geheim, Mum. Wenn ich es dir sagen würde, müsste ich dich töten.«
»Er betreibt Zauberei«, warf mein Dad ein.
»Man soll keine Geheimnisse vor seiner Mutter haben«, sagte sie.
»Du glaubst doch nicht an Magie, oder, Mum?«
»Über so was macht man keine Witze. Die Wissenschaft hat nicht auf alles eine Antwort, weißt du.«
»Aber sie hat die besten Fragen«, gab ich zurück.
Plötzlich wurde sie ernst. »Du beschäftigst dich nicht tatsächlich mit Hexerei, oder? Ich mach mir schon genug Sorgen um dich.«
»Ich versichere dir, dass ich nicht dabei bin, mich mit irgendwelchen bösen Geistern oder anderen übernatürlichen Wesen einzulassen«, sagte ich. Was unter anderem daran lag, dass das übernatürliche Wesen, mit dem ich mich am liebsten eingelassen hätte, derzeit flussaufwärts am Hof von Vater Themse im Exil lebte. Es war eine dieser tragischen Beziehungen: Ich ein Jungpolizist, sie die Göttin eines Vorstadtflusses im Süden von London – hoffnungslos.
Nach dem Essen meldete ich mich freiwillig zum Abwasch. Während ich mit Hilfe einer halben Flasche Spülmittel das Palmöl vom Geschirr schrubbte, hörte ich, wie meine Eltern sich im Nebenzimmer unterhielten. Der Fernseher war immer noch aus, und meine Mum hatte seit drei Stunden mit niemandem telefoniert – langsam wurde es mir ein bisschen unheimlich. Als ich fertig war und ins Wohnzimmer kam, saßen sie nebeneinander auf dem Sofa und hielten Händchen. Ich fragte, ob sie noch einen Tee wollten, aber sie lehnten ab und lächelten dabei beide auf genau die gleiche seltsame, leicht entrückte Art. Auf einmal durchzuckte mich die Erkenntnis, dass sie es kaum erwarten konnten, bis ich abhaute, damit sie ins Bett verschwinden konnten. Ich nahm eilig meine Jacke, gab meiner Mum zum Abschied ein Küsschen und floh aus der Wohnung. Es gibt Dinge, über die man als junger Mensch nicht genauer nachdenken möchte.
Im Aufzug bekam ich einen Anruf von Dr. Walid.
»Haben Sie meine Mail schon gelesen?«
Ich erklärte ihm, dass ich meine Eltern besucht hatte.
»Ich habe eine Todesstatistik von Jazzmusikern im Stadtgebiet von London zusammengestellt und Ihnen gemailt«, erzählte er. »Sie sollten sich das so schnell wie möglich anschauen – rufen Sie mich morgen an.«
»Gibt es etwas, was ich besser jetzt schon wissen sollte?«
Die Aufzugtür öffnete sich, und ich trat in den gefliesten Eingangsbereich hinaus. Der Abend war warm, und ein paar Kinder lungerten vor der Haustür herum. Ein Junge starrte mich provozierend an, aber ich starrte zurück, und der Kleine senkte den Blick. Wie gesagt, das hier war mein Terrain. Und außerdem war ich auch mal dieser Junge gewesen.
»Aus den Daten schließe ich, dass im Großraum London im letzten Jahr zwei bis drei Jazzmusiker innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach einem Auftritt gestorben sind.«
»Ich nehme an, das ist statistisch signifikant?«
»Steht alles in der Mail.«
Als wir auflegten, war ich gerade am Auto angekommen.
Also dann, auf in die Tech-Gruft, dachte ich.
Nightingale zufolge wird das Folly von einer Reihe ineinandergreifender magischer Schutzmechanismen geschützt. Zuletzt wurden sie 1940 erneuert, um es der Post zu ermöglichen, ein damals supermodernes Koaxial-Telefonkabel ins Hauptgebäude zu verlegen und ein Vermittlungspult zu installieren. Ich hatte das Pult unter einer Staubschutzhülle in einem Alkoven neben der Eingangshalle entdeckt. Es hatte eine wunderschöne Mahagonioberfläche mit Messingbeschlägen, von Mollys unbeherrschbarem Drang zu polieren in glänzendem Zustand gehalten.
Nightingale behauptet, diese Schutzmechanismen seien lebenswichtig, will aber nicht verraten, warum, und pflegt hinzuzufügen, dass er allein nicht in der Lage sei, sie zu erneuern. Ein Breitbandkabel zu verlegen kam also nicht in Frage, und einige Zeit sah es so aus, als würde ich für den Rest meiner Karriere ausweglos im finsteren Mittelalter feststecken.
Glücklicherweise stammt das Folly aus der Regency-Zeit, als es Mode war, hinter einer repräsentativen Villa ein separates Wirtschaftsgebäude zu bauen, damit die Pferde und die geruchsintensiveren Bediensteten leewärts der Herrschaft untergebracht werden konnten. Daher gab es hinten im Hof des Folly eine Remise und darüber einen ausgebauten Dachboden, der einst als Dienstbotenquartier und dann als Partyraum für das Jungvolk gedient hatte, als es im Folly noch Jungvolk gab – oder jedenfalls mehr als einen. Da die »Schutzzauber« (Nightingale war nicht glücklich, wenn ich »Kraftfelder« dazu sagte) die Pferde scheu machten, war die Remise davon ausgenommen. Was bedeutete, ich konnte das Breitbandkabel dorthin verlegen lassen, und schon gab es wenigstens einen Ort im Folly mit Anschluss ans 21. Jahrhundert.
Der Speicher über der Remise verfügt über ein teilverglastes Dach, eine Ottomane, eine Chaiselongue, einen Plasmafernseher und einen Ikea-Küchentisch, den zusammenzubauen Molly und mich geschlagene drei Stunden gekostet hat. Indem ich mich auf den Status des Folly als operative Kommandoeinheit berief, brachte ich das Direktorat für Informationen dazu, ein halbes Dutzend Airwaves – digitale Handfunkgeräte – samt Ladegerät und einen für die Arbeit mit HOLMES 2 eingerichteten Computer auszuspucken. Außerdem standen hier mein Laptop, mein Reserve-Laptop und meine Playstation (nicht dass ich bisher die Zeit gefunden hätte, sie auszupacken). Aus diesem Grund hängt vor der Tür ein großes Schild mit der Aufschrift: MAGIE STRENGSTENS VERBOTEN! BEI ZUWIDERHANDLUNG KEINE GARANTIE FÜR LEIB UND LEBEN. Das Ganze nenne ich die Tech-Gruft.
Das Erste, was nach dem Hochfahren des Rechners hereinkam, war eine Mail von Lesley mit dem Betreff Mir ist langweilig!, also schickte ich ihr Dr. Walids Autopsiebericht, da hatte sie was zu tun. Dann öffnete ich Police National Computer Xpress, überprüfte bei der Kfz-Zulassungsstelle Melinda Abbotts Autonummer und stellte fest, dass die dort gespeicherten Daten mit denen auf ihrem Führerschein übereinstimmten. Simone Fitzwilliam überprüfte ich gleich mit, aber offenbar hatte sie nie den Führerschein gemacht oder ein Auto besessen. Noch hatte sie im Vereinigten Königreich je ein Verbrechen begangen, gemeldet oder war Opfer eines solchen geworden. Womöglich waren diese Informationen aber auch irgendwo verloren gegangen oder falsch in die Datenbanken eingegeben worden, oder sie hatte vor kurzem ihren Namen geändert. Die heutige Informationstechnologie hat ihre Grenzen, und genau deshalb gibt es immer noch Polizisten, die ganz altmodisch bei den Leuten an die Tür klopfen und Sachen in kleine schwarze Notizbücher kritzeln. Der Vollständigkeit halber gab ich die beiden noch in Google ein. Melinda Abbott hatte, wie mehrere andere Melinda Abbotts, einen Facebook-Account, aber Simone Fitzwilliam hatte keinerlei offenkundige Internetpräsenz.
Dann arbeitete ich mich in ähnlicher Weise durch Dr. Walids Liste toter Jazzmusiker hindurch – die alle männlich waren, stellte ich fest. In Fernsehkrimis stellen die Ermittler immer so clevere Querverbindungen an. Das funktioniert zwar durchaus auch in der Wirklichkeit, aber im Fernsehen wird nie gezeigt, wie verdammt lange es dauert. Als ich die Liste durchhatte, war es fast Mitternacht, und ich war immer noch nicht sicher, was ich eigentlich herausbekommen hatte.
Ich nahm eine Dose Red Stripe aus dem Kühlschrank, öffnete sie und trank einen Schluck.
Fakt Nummer 1: In den letzten fünf Jahren waren jährlich zwei bis drei Jazzmusiker innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach einem Auftritt im Großraum London verstorben. Immer wurde als Todesursache entweder »Unfall«, sprich Drogenmissbrauch, oder eine natürliche Todesursache angegeben – meist Herzinfarkt, dazwischen ab und zu ein Aneurysma, damit es nicht gar zu langweilig wurde.
Dr. Walids Mail enthielt noch eine zweite Datei, in der alle Personen erfasst waren, die im selben Zeitraum gestorben und von Beruf »Musiker« gewesen waren. Fakt Nummer 2: Obwohl auch Vertreter anderer musikalischer Stilrichtungen deprimierend häufig eines plötzlichen Todes »aus natürlicher Ursache« starben, passierte das nicht so oft direkt nach Auftritten wie bei den Jazzern.
Fakt Nummer 3: Cyrus Wilkinson hatte seinen Beruf gar nicht als Musiker angegeben, sondern als Buchhalter. Niemand lässt sich als freiberuflich oder in irgendeiner Weise künstlerisch tätig registrieren, es sei denn, er will, dass seine persönliche Kreditwürdigkeit niedriger eingestuft wird als die einer irischen Bank. Was zu Fakt Nummer 4 führte: Meine ganze statistische Analyse konnte ich mehr oder weniger den Hasen geben.
Trotzdem: drei Jazzer pro Jahr. Das konnte kein Zufall sein.
Aber Nightingale würde das viel zu fadenscheinig finden. Und er erwartete von mir, dass ich morgen früh pünktlich auf der Matte stand und es zur vollendeten Beherrschung von Scindere brachte. Ich fuhr alles herunter und schaltete die Steckdosenleisten aus. Das ist erstens gut für die Umwelt und verhindert zweitens, dass meine kostbare Ausrüstung durchschmort, falls es mal einen magischen Zwischenfall gibt.
Ich nahm den Hintereingang ins Folly. Durchs Oberlicht schien der abnehmende Mond ins Atrium, daher schaltete ich das Licht nicht ein, als ich die Treppe zu meinem Zimmer hochstieg. Auf der Galerie gegenüber sah ich eine bleiche Gestalt lautlos durch die düsteren Schatten des westlichen Lesesaals gleiten. Aber das war nur Molly, die rast- und ruhelos ihren geheimnisvollen nächtlichen Tätigkeiten nachging.
In meinem Stockwerk angekommen, erkannte ich am Geruch nach feuchtem Teppich, dass Toby mal wieder vor meiner Tür eingeschlafen war. Der kleine Hund lag auf dem Rücken, unter dem Fell hoben und senkten sich seine dünnen Rippen. Er schnüffelte und zuckte im Schlaf mit den Pfoten, und die Hinterbeine strampelten in der Luft, ein sicheres Anzeichen für mindestens fünfhundert Milliwuff magischer Hintergrundstrahlung. Ich schlüpfte in mein Zimmer und schloss vorsichtig die Tür hinter mir, um ihn nicht zu wecken.
Bevor ich die Nachttischlampe ausschaltete, simste ich Lesley noch: Wtf jetzt?
Am nächsten Morgen bekam ich eine Antwort. Mit Band reden, Idiot!