
Sir Robert Mark war von 1972 bis 1977 Commissioner der Metropolitan Police und ist für zwei Dinge bekannt – erstens für die Goodyear-Reifenwerbung, in der er sagt: »Ich glaube, das ist ein entscheidender Beitrag zur Sicherheit unserer Straßen«, und zweitens für die »Operation Countryman«, eine Ermittlung gegen Korruption in den eigenen Reihen. In jenen Zeiten, die in der Daily Mail immer die »guten alten« heißen, konnte ein gewissenhafter Bobby sein Einkommen verdreifachen, indem er im richtigen Augenblick die Hand aufhielt, und jeder bewaffnete Gangster konnte durch eine bescheidene Investition seiner Verhaftung entgehen. Fairerweise muss man sagen, dass nach Möglichkeit trotzdem für jedes Verbrechen irgendjemand hopsgenommen wurde, damit jeder sehen konnte, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde, und das ist ja die Hauptsache. Commissioner Mark, der das etwas enger sah, setzte die gewaltigste Antikorruptionskampagne in Bewegung, die die Met je gesehen hatte. Noch heute benutzen ihn die Polizei-Opas als Schreckgestalt für unartige kleine Babypolizisten. Benimm dich, sonst kommt der große böse Sir Robert Mark und schmeißt dich raus. Wahrscheinlich aus diesem Grund hatte der jetzige Commissioner im Vorzimmer zu seinem Büro ein Porträt von Mark strategisch direkt gegenüber der Reihe unbequemer grüner Kunstledersessel platziert, auf denen Nightingale und ich warten mussten.
Wenn man ein simpler Constable ist, bedeutet es nie etwas Gutes, dem großen Mann unter die Augen treten zu müssen. Das letzte Mal, als ich da war, machte er mich zum Zauberlehrling. Diesmal ahnte ich, dass es eher auf Schnecke hinauslaufen würde. Nightingale neben mir schien recht gelassen. Er las den Telegraph und trug einen leichten hellbraunen Anzug von Davies & Son, der entweder brandneu oder (wahrscheinlicher) gerade wieder in Mode gekommen war. Ich trug meine Uniform, weil im Angesicht der Autoritäten die Uniform immer dein Freund ist, insbesondere da Molly sie so messerscharf bügelt, dass man meinen könnte, sie betrachte eine Bügelfalte als handliche Angriffswaffe.
Eine Sekretärin öffnete uns die Tür. »Der Commissioner hat jetzt Zeit für Sie.« Wir standen auf und marschierten nach drinnen, um der Sache ins Auge zu sehen.
Das Büro des Commissioners ist nicht sonderlich beeindruckend. Der Teppich ist zwar nicht unterste Preisklasse, aber das dumpfgraue Betonskelett des New-Scotland-Yard-Gebäudes aus den sechziger Jahren lässt sich durch keine Holztäfelung überschminken. Allerdings hat die Metropolitan Police über fünfzigtausend Mitarbeiter und ein Budget von viereinhalb Milliarden Pfund und ist zuständig für alles von asozialem Verhalten in Kingston bis hin zu Antiterrormaßnahmen in Whitehall, da kommt es nun wirklich nicht so darauf an, wie schick das Büro des Commissioners ist.
Der Commissioner saß an seinem Schreibtisch. Er trug seine Uniformmütze, und da wusste ich, dass wir wirklich tief in der Scheiße steckten. Als wir vor dem Tisch stehen blieben, zuckte Nightingales Hand wahrhaftig ein bisschen, als wollte er salutieren. Der Commissioner blieb sitzen. Er reichte uns weder die Hand noch bat er uns, Platz zu nehmen.
»Chief Inspector Nightingale«, sagte er. »Ich nehme an, Sie hatten schon Gelegenheit, sich mit den Berichten über die Ereignisse am Montagabend auseinanderzusetzen.«
»Ja, Sir.«
»Ihnen ist bekannt, welche Anschuldigungen von einigen Mitgliedern des Londoner Rettungsdienstes und im vorläufigen Bericht des DPS erhoben werden?«
»Ja, Sir«, sagte Nightingale.
Ich zuckte zusammen. Das DPS ist das Direktorat für Aufrechterhaltung der professionellen Standards – Ungeheuer in Menschengestalt, die unter uns wandeln, um das Fußvolk in Furcht und Schrecken zu halten. Sollten Sie je den eisigen Atem des DPS im Nacken spüren, so wie ich in diesem Augenblick, dann ist es unerlässlich, zu wissen, welches seiner schauerlichen Häupter ihn ausstößt. Ich glaubte nicht, dass es das ACC, das Antikorruptionskommando, oder das IIC, das Kommando für interne Ermittlungen, war, denn einen Rettungswagen zu entführen war ja eher eine kriminelle Dummheit als ein dummes Verbrechen. Jedenfalls hoffte ich, dass man das dort auch so sah und ich nur das MCAV am Hals hatte, das Sondierungskommando für Zivilklagen wegen Fehlverhaltens, dessen Aufgabe es ist, sich Polizisten vorzuknöpfen, die einen solchen Mist gebaut haben, dass mit Anzeigen von Bürgerseite gegen die Met zu rechnen ist – zum Beispiel von traumatisierten Sanitäterinnen.
»Stehen Sie immer noch zu Ihrer Bewertung der Handlungen von Constable Grant an diesem Abend?«
»Ja, Sir«, sagte Nightingale. »Ich glaube, dass Constable Grant eine schwierige Situation richtig erfasst und rasch und entschieden gehandelt hat, um den Tod des Individuums namens Ash Thames zu verhindern. Hätte er das kalte Eisen nicht aus der Wunde entfernt oder Ash nachfolgend nicht zum Fluss gebracht, wäre das Opfer zweifellos gestorben – schon durch den Blutverlust.«
Der Commissioner sah mich direkt an, und ich merkte, dass ich den Atem anhielt, bis er wieder zu Nightingale blickte.
»Sie wurden trotz Ihres gesundheitlichen Zustands in Ihrer Aufsichtspflicht belassen, weil mir versichert wurde, Sie seien der einzige Beamte mit der nötigen Qualifikation, um gewisse ›Spezialfälle‹ zu übernehmen. War das ein Fehler meinerseits?«
»Nein, Sir. Solange Constable Grant noch nicht voll ausgebildet ist, bleibe ich das einzige dahingehend qualifizierte Mitglied der Metropolitan Police. Glauben Sie mir, Sir, ich finde diese Perspektive ebenso beunruhigend wie Sie.«
Der Commissioner nickte. »Da es aussieht, als hätte Grant keine andere Wahl gehabt, als zu handeln, wie er gehandelt hat, bin ich bereit, es in dieser Angelegenheit bei einer Verletzung der Aufsichtspflicht Ihrerseits bewenden zu lassen. Betrachten Sie dies als mündlichen Tadel. Ich werde einen Vermerk in Ihrer Dienstakte machen.« Er wandte sich an mich. Ich hielt den Blick auf einen hübschen freundlichen Fleck an der Wand links hinter ihm gerichtet.
»Mir ist klar, dass Sie erstens unerfahren und zweitens gezwungen sind, sich in Situationen, die –« der Commissioner wählte seine Worte sorgfältig –, »außerhalb der gewöhnlichen Polizeiarbeit liegen, auf Ihre eigene Urteilskraft zu verlassen. Dennoch möchte ich Sie daran erinnern, dass Sie sowohl als Constable als auch als Lehrling einen Eid abgelegt haben. Und Sie wurden gewarnt, dass außergewöhnliche Dinge von Ihnen erwartet würden. Zum jetzigen Zeitpunkt werde ich keine disziplinarischen Maßnahmen ergreifen und auch nichts in Ihrer Akte vermerken. Ich erwarte jedoch, dass Sie in Zukunft mehr Taktgefühl und Diskretion an den Tag legen und versuchen, den Sachschaden auf ein Minimum zu begrenzen. Haben Sie verstanden?«
»Ja, Sir«, sagte ich.
»Der Sachschaden«, sagte der Commissioner zu Nightingale, »einschließlich desjenigen am Rettungswagen, wird aus dem Budget des Folly ersetzt werden, nicht aus den generellen Rücklagen der Met. Ebenso alle Gerichts- und sonstigen Kosten, die sich in dieser Sache aus Zivilklagen gegen die Metropolitan Police ergeben können. Klar?«
Wir sagten beide: »Ja, Sir.«
Ich schwitzte vor Erleichterung. Der einzige Grund, warum mich kein Disziplinarverfahren erwartete, war wohl, dass der Commissioner keine Lust hatte, der Polizeiaufsichtsbehörde zu erklären, warum ein einfacher Constable momentan de facto Leiter einer operativen Kommandoeinheit war. Jeder Rechtsanwalt, den ich mir vom Polizeiverband hätte stellen lassen können, hätte einen Heidenspaß damit gehabt, dass ich im Prinzip nicht unter Aufsicht durch einen ranghöheren Beamten stand – Nightingale war ja krankgeschrieben. Ganz zu schweigen von den Gesundheits- und Sicherheitsrisiken, die ich hatte eingehen müssen, als ich mitten in der Nacht in die Themse gesprungen war.
Ich dachte, damit wäre es vorbei, aber es kam doch noch etwas. Der Commissioner drückte auf seine Sprechanlage. »Sie können sie jetzt hereinbitten.«
Ich erkannte die Gäste. Der Erste war ein kleiner, knochiger weißer Mann mittleren Alters, der in seinem blauen Nadelstreifenanzug von Marks & Spencer erstaunlich fesch aussah – aber keine Krawatte, bemerkte ich, und sein Haar war so kammresistent wie eine Feldhecke. Oxley Thames, Vater Themses klügster Sohn, Erster Ratgeber, Medienexperte und Mann fürs Grobe. Er warf mir einen schiefen Blick zu, als er sich auf den angebotenen Stuhl rechts vom Schreibtisch setzte. Hinter ihm trat eine attraktive Frau mit makellosem hellem Teint, scharfer Nase und mandelförmigen Augen ein. Ihr schwarzer Chanel-Rock war das Äquivalent eines Autos, das in 3,8 Sekunden von null auf hundert kommt. Lady Ty, Mama Themses Lieblingstochter und Oxfordabsolventin mit dem Ehrgeiz, alle Fäden in der Hand zu halten. Sie schien erfreut, mich zu sehen, was kein gutes Zeichen war. Als sie sich neben Oxley setzte, erkannte ich, dass der Anschiss noch nicht vorbei war. Jetzt kam Phase Nr. 2: Es geht ans Eingemachte.
»Ich glaube, Sie kennen Oxley und Lady Tyburn«, sagte der Commissioner. »Die beiden möchten im Auftrag ihrer ›Vorgesetzten‹ deren Position im Hinblick auf Ash Thames klarstellen.« Er fragte die beiden, wer anfangen wolle.
Ty sah ihn an. »Ich habe eine Frage an Constable Grant. Darf ich?«
Der Commissioner deutete durch eine Geste an, dass sie freie Hand hatte.
»Ist Ihnen«, fragte sie, »zu irgendeinem Zeitpunkt der Gedanke gekommen, was mit meiner Schwester passiert wäre, wenn Ash gestorben wäre?«
»Nein, Ma’am«, sagte ich. Und das stimmte. Ich hatte keinen Moment an so was gedacht, und als mir der Gedanke jetzt verspätet kam, löste er größtes Unbehagen bei mir aus.
»Ein interessantes Bekenntnis angesichts dessen, dass Sie geholfen haben, die Vereinbarung auszuarbeiten. War Ihnen möglicherweise nicht in vollem Ausmaß bewusst, was ein Austausch von Geiseln bedeutet? Oder war Ihnen nur entfallen, dass das Leben meiner Schwester verwirkt gewesen wäre, wenn Ash in unserer Obhut den Tod gefunden hätte? Sie wissen, was das Wort verwirkt bedeutet, ja?«
Mir wurde eiskalt. Ich hatte weder daran gedacht, als ich Ash für den Überwachungsjob rekrutiert hatte, noch, als ich mit ihm die Themse hinuntertrieb. Wäre er gestorben, dann hätte Beverley Brook, Lady Tys Schwester, der sichere Tod erwartet. Mit anderen Worten: Ich hätte in dieser Nacht beinahe zwei Leute umgebracht.
Ich warf einen Blick zu Nightingale. Er bedeutete mir mit gerunzelter Stirn zu antworten.
»Ja, ich weiß, was das Wort verwirkt bedeutet«, sagte ich. »Zu meiner Verteidigung möchte ich sagen, dass ich nie gedacht hätte, dass Ash sich in Gefahr begibt. Ich dachte, er wäre so vernünftig und verlässlich wie all seine Brüder.«
Oxley schnaubte und erntete einen bösen Blick von Lady Ty.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er so tapfer oder geistesgegenwärtig wäre.« Jetzt bekam ich einen Blick von Oxley, der besagte, dass man es mit dem Honig-ums-Maul-Schmieren auch zu weit treiben konnte. Aber es war Lady Ty, mit der man sich nicht anlegen sollte, denn die wartete einfach ab, bis man mit dem Herumzappeln fertig war, und schlug dann zu.
»Mir ist zwar durchaus bewusst, welche Rolle Inspector Nightingale und Constable Grant dabei spielten, die Rahmenbedingungen für eine Aussöhnung auszuarbeiten«, sagte Lady Ty, »aber im Licht der jüngsten Ereignisse hielte ich es für angezeigt, wenn sie in den diplomatischen Angelegenheiten des Flusses ihre Eigeninitiative ein wenig drosseln würden.«
Fast hätte ich applaudiert. Der Commissioner nickte, was bewies, dass das ein abgekartetes Spiel war – wahrscheinlich mit der Polizeibehörde des Großraums London und dem Bürgermeisteramt. Sicher hatte er das Gefühl, schon genug am Hals zu haben, ohne dass wir ihm noch mehr aufbürdeten. Er wandte sich an Oxley und fragte, ob er noch etwas hinzuzufügen habe.
»Ash ist ein junger Bursche«, sagte Oxley. »Und man weiß ja, wie junge Leute sind. Trotzdem denke ich, es würde nicht schaden, wenn Constable Grant im Umgang mit ihm etwas mehr Verantwortungsgefühl zeigen würde.«
Wir warteten einen Augenblick, ob noch mehr kommen würde, aber Oxley schwieg mit ausdruckslosem Gesicht. Lady Ty sah nicht begeistert aus, also war das Spiel vielleicht doch nicht so abgekartet, wie sie es gern gehabt hätte. Ich schenkte ihr mein vieldeutiges Kleinejungengrinsen, mit dem ich meine Mum zur Weißglut getrieben hatte, seit ich acht Jahre alt war. Ihre Lippen wurden schmal, aber offenbar war sie aus härterem Stoff gemacht als meine Mum.
»Das hört sich vernünftig an«, sagte Nightingale. »Ich bin sicher, solange sich alle Parteien weiterhin an die Abmachung und die Gesetze halten, können wir uns auf eine Nichteinmischungshaltung einigen.«
»Gut«, sagte der Commissioner. »Und so angenehm diese netten Plaudereien auch immer sind, ich wäre doch froh, wenn sie in Zukunft nicht in meinem Büro stattfinden müssten.«
Damit waren wir entlassen.
»Das hätte schlimmer ausgehen können«, sagte ich, als wir an der Ewigen Flamme im Foyer vorbeigingen, deren Zweck es ist, an die tapferen Männer und Frauen zu erinnern, die in Ausübung ihrer Pflicht gefallen sind, und uns Lebende zu ermahnen, ordentlich aufzupassen.
»Tyburn ist gefährlich«, sagte Nightingale auf dem Weg zur Tiefgarage. »Sie glaubt, sie könnte ihre Rolle im Stadtgeschehen durch bürokratische Mauscheleien und Ämterpolitik definieren. Früher oder später wird sie auf diese Weise mit ihrer Mutter in Konflikt kommen.«
»Und dann?«
»Die Folgen könnten durchaus mythische Ausmaße haben. Ich denke, es wäre in Ihrem Interesse, dann nicht zwischen den beiden zu stehen.« Er sah mich nachdenklich an. »Oder überhaupt irgendwo im Themsetal.«
Da Nightingale zur Nachuntersuchung ins UCH musste, setzte er mich am Leicester Square ab, und ich rief Simone an.
»Gib mir eine Stunde Zeit zum Aufräumen«, sagte sie. »Dann komm rüber.«
Da ich in Uniform war, wäre es nicht die beste Idee gewesen, in einem Pub etwas zu trinken, also holte ich mir beim Italiener in der Frith Street einen Kaffee und schlenderte gemächlich die Old Compton Street entlang. Ich überlegte gerade, ob ich bei der Patisserie Valerie noch etwas Kuchen mitnehmen sollte, da witterte meine hochempfindliche Polizistenspürnase anhand feinster Anzeichen, dass in der Dean Street etwas nicht stimmte.
Und natürlich anhand des Polizei-Absperrbandes, des Spurensicherungszelts und der Typen in Uniform, denen die spannende Aufgabe zufiel, den Tatort zu bewachen. Meine berufliche Neugier nahm überhand, und ich ging nachschauen, was los war.
Ich entdeckte Stephanopoulos, die mit zwei anderen Sergeants vom Mordermittlungsteam redete. Da man nicht einfach ohne Erlaubnis auf einen fremden Tatort spaziert, wartete ich an der Absperrung, bis sie mich bemerkte. Eine Minute später stapfte sie herüber und musterte meine Uniform.
»Was, zurück auf Streife wie wir gewöhnlichen Sterblichen? Also, für meinen Geschmack sind Sie da noch viel zu glimpflich davongekommen. Im Einsatzzentrum haben wir fifty-fifty gewettet, dass Sie gnadenlos suspendiert werden.«
»Mündliche Verwarnung«, sagte ich.
Stephanopoulos sah ungläubig drein. »Sie haben einen Rettungswagen gekidnappt und kriegen eine mündliche Verwarnung? Damit machen Sie sich bei der Truppe keine Freunde.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Wer ist tot?«
»Niemand, der Sie was anginge. Ein Vorarbeiter vom Crossrail-Projekt. Wurde heute Morgen in einem Zugangsschacht gefunden.« Die neue Bahnstrecke war zwar fast fertig, aber die Baugesellschaft buddelte immer noch unverdrossen alle möglichen Straßen auf. »Kann sein, dass es nur ein Unfall ist. An solchen Großbaustellen sind die Sicherheitsvorkehrungen fast so schlecht wie bei uns.«
Sicherheits- und Präventionsmaßnahmen, das war die neueste Manie des Polizeiverbands. Letztes Jahr war es noch um Stichschutzwesten gegangen, aber neuerdings war man zu der Erkenntnis gelangt, dass Polizisten bei der Verfolgung von Verdächtigen häufig unnötige Sicherheitsrisiken eingehen mussten. Der Verband forderte bessere Sicherheitsrichtlinien, um die Gefahr von Verletzungen zu verringern, und vermutlich auch gleich noch ferngesteuerte Drohnen, die die Verfolgungen allein erledigten.
»Ist es im Dunkeln passiert?«
»Nein, um acht Uhr morgens bei vollem Tageslicht. Was darauf hindeutet, dass er wahrscheinlich gestoßen wurde, aber, und nur das ist für Sie wichtig, an der Situation ist definitiv nichts auch nur annähernd Übernatürliches. Sie können sich also verpissen.«
»Danke, Sergeant«, sagte ich. »Mach ich.«
Da fiel ihr noch etwas ein. »Halt. Schauen Sie sich die Befragung von Colin Sandbrow an, die müsste jetzt im System sein.«
»Wer ist Colin Sandbrow?«
»Der Mann, der das nächste Opfer gewesen wäre, wenn nicht Ihr seltsamer Freund dazwischengekommen wäre. Ich hoffe, Sie schaffen das ohne weiteren Sachschaden.«
Ich lachte, um zu zeigen, dass ich Spaß verstand, aber so wie ich den polizeilichen Humor kannte, würde ich diesen Rettungswagen für den Rest meiner Laufbahn mit mir herumschleppen.
Ich ließ Stephanopoulos weiter ihren Tatort terrorisieren und nahm die Abkürzung über den St. Anne’s Court und die D’Arblay Street zur Berwick Street. Da ich am Abend zuvor nicht richtig aufgepasst hatte, musste ich mich erst orientieren, bevor ich die Tür wiederfand, die zwischen einer Apotheke und einem auf Vinyl spezialisierten Musikladen eingezwängt war. Der schwarze Anstrich der Tür blätterte ab, und die Namensschilder an der Sprechanlage waren entweder unleserlich oder fehlten ganz. Egal, ich wusste ja, dass sie ganz oben wohnte.
»Du Schuft, was willst du schon?«, schnarrte die Sprechanlage. »Ich bin noch nicht fertig.«
»Ich kann auch noch eine Runde um den Block drehen.«
Das Schloss summte, und ich drückte die Tür auf. Im Tageslicht sah die Treppe auch nicht besser aus; der Teppich war hellblau und an einigen Stellen ganz durchgescheuert, und die Wände hatten Flecken von den Händen der Leute, die sich daran abgestützt hatten. Auf jeder Etage gab es überstrichene Türen, die in einer Gegend wie Soho überallhin führen konnten – von drakonischer Disziplin zu erschwinglichen Preisen bis hin zu einer TV-Produktionsgesellschaft. Ich zwang mich, meine Schritte zu zügeln, damit ich nicht völlig außer Atem oben ankam.
Als Simone meine Uniform sah, trat sie einen Schritt zurück und klatschte in die Hände. »Ach, wie herrlich, ein Strip-o-gramm.«
Ihre Putzmontur bestand aus einer grauen Jogginghose und einem marineblauen Sweatshirt, das aussah, als hätte sie es unten mit der Nagelschere abgeschnitten. Ihre Haare hatte sie auf eine irgendwie typisch englische Art, die ich nie außerhalb der Serie Coronation Street gesehen hatte, in ein Kopftuch gehüllt. Ich schloss sie in die Arme. Sie roch nach Schweiß und Domestos. Ich hätte sie einfach auf den Fußboden geworfen, aber sie wandte leicht kurzatmig ein, die Tür stehe doch noch offen. Wir lösten uns lange genug voneinander, um die Tür zu schließen und zum Bett zu stolpern. Es war ein breites Doppelbett, und wir gaben uns Mühe, jeden Zentimeter davon zu nutzen. Irgendwann war meine Uniform weg, und was mit ihrem Sweatshirt passierte, fanden wir nie heraus – das Kopftuch behielt sie aber auf meine Bitte hin an.
Über eine Stunde später fand ich Gelegenheit, die Wohnung genauer in Augenschein zu nehmen. Das Bett nahm eine ganze Ecke des Zimmers ein und war abgesehen von einem Lederpolstersessel die einzige Sitzgelegenheit. Ansonsten bestand die Möblierung aus einem Trio nicht zusammenpassender Kleiderschränke nebeneinander an einer Wand und einer massiven Eichenkommode, die so riesig war, dass man sie mit einem Kran durchs Fenster hereinbefördert haben musste, etwas anderes erschien mir unmöglich. Ich entdeckte weder einen Fernseher noch eine Stereoanlage, allerdings konnte durchaus ein kleiner MP3-Player unter den Kleiderverwehungen, die sich durchs Zimmer zogen, begraben sein. Da ich ein Einzelkind bin, habe ich nie mit mehr als einer Frau auf einmal zusammenleben müssen und war überhaupt nicht auf die schieren Massen an Kleidung vorbereitet, die von drei zusammenlebenden Schwestern angesammelt werden können. Insbesondere die Schuhe machten sich überall im Raum breit: dicht geschlossene Reihen schwarzer, in meinen Augen identisch aussehender High-Heel-Riemchensandaletten, Knäuel von Sandalen, wahllos in irgendeine Ecke geschoben, und in die Zwischenräume zwischen den Schränken waren Pumps gestopft. An der Wand hingen Stiefelpaare aller Art wie Schwerter in einer Burg.
Als Simone sah, wie ich ein Paar Fetischstiefel mit Zehn-Zentimeter-Pfennigabsätzen musterte, wollte sie sich aus meinen Armen winden. »Soll ich sie anziehen?«
Ich zog sie zurück an meine Brust und küsste sie auf den Hals – ich wollte nicht, dass sie irgendwohin ging. Sie drehte sich zu mir um, und wir küssten uns, bis sie sagte, sie müsse mal für kleine Mädchen. Wenn deine Geliebte aufgestanden ist, kannst du das genauso gut auch tun, und so zwängte ich mich nach ihr ins Badezimmer, ein winziges Kabuff, in dem gerade genug Platz für eine überraschend moderne Massagedusche, eine Toilette und ein kleines seltsam geformtes Waschbecken war, das offenbar extra für solche Badezimmerengpässe entworfen war. Während ich hier verweilte, gewannen meine Polizisteninstinkte die Oberhand, und ich durchwühlte rasch ihren Medizinschrank. Simone und ihre Schwestern waren offenbar große Befürworterinnen der langfristigen Vorratshaltung gefährlicher Chemikalien – ich fand Paracetamol und verschreibungspflichtige Schlaftabletten mit Verfallsdatum von vor zehn Jahren.
»Wühlst du in meinen Sachen?«, rief Simone aus der Küche.
Ich fragte sie, wie sie und ihre Schwestern es mit einem so kleinen Bad aushielten.
»Wir waren alle im Internat, Liebster«, gab sie zurück. »Wer das überlebt, kommt überall zurecht.«
Als ich herauskam, fragte sie mich, ob ich einen Tee wolle. Ich sagte natürlich nicht nein, und wir richteten uns auf einem Tablett einen perfekten englischen Tee mit Brombeermarmelade und dick mit Butter bestrichenen Crumpets auf blau-goldenem Wedgwood-Geschirr.
Ich genoss es, sie anzuschauen, wie sie nackt mit aufgestütztem Arm auf dem Bett lag wie der Nationalgalerie entsprungen, eine Teetasse in der einen Hand und ein Crumpet in der anderen. Ungeachtet des schönen Sommers, den wir dieses Jahr gehabt hatten, war ihre Haut sehr blass, fast durchsichtig. Als ich meine Hand von ihrem Schenkel hob, blieb ein roter Abdruck zurück.
»Ja«, sagte sie. »Manche Leute werden eben nicht so leicht braun, danke, dass du mich daran erinnerst.«
Um mich zu entschuldigen, küsste ich die Stelle und dann, als kleine Einladung, noch die Rundung ihres Bauches. Sie kicherte und schob mich weg. »Nicht! Ich bin kitzlig. Trink erst deinen Tee, du Wilder. Hast du keine Manieren?«
Ich nahm die Tasse und nippte am Tee. Er schmeckte ungewohnt, exotisch. Bestimmt eine Luxusmischung aus einem weiteren Fortnum-&-Mason-Korb. Sie schob mir ein Stückchen Crumpet in den Mund. Ich fragte, warum sie keinen Fernseher hatte.
»Als wir klein waren, hatten wir auch keinen Fernseher. Daher haben wir es uns nie angewöhnt. Irgendwo haben wir ein Radio. Wir hören immer The Archers. Wir haben noch keine Episode verpasst.« Sie betrachtete mich über den Rand ihrer Tasse hinweg. »Du bist kein Archers-Fan, was?«
»Nicht so richtig.«
Sie trank ihren Tee aus. »Wir müssen dir ziemlich merkwürdig vorkommen. Wohnen in wüstem Chaos in einer Einzimmerwohnung, ohne Fernseher, mitten zwischen den Grapschlokalen von Soho.« Sie stellte ihre Tasse und das Tablett auf den Boden neben dem Bett und nahm mir dann meine leere Tasse ab.
»Ich denke, du machst dir zu viele Gedanken darum, was ich denken könnte«, sagte ich.
Simone stellte auch meine Tasse auf den Boden und küsste mich aufs Knie. »Tu ich das?«
»Ich würde sagen, ja«, sagte ich und musste ein Kieksen unterdrücken, als sie sich vom Knie aus immer weiter nach oben küsste.
Zwei Stunden später warf sie mich auf nettestmögliche Weise aus dem Bett. »Meine Schwestern kommen bald heim. Wir haben Regeln. Nach zehn Uhr abends keine Männer mehr im Bett.«
»Es gab schon andere?«, fragte ich, auf der Suche nach meinen Boxershorts.
»Natürlich nicht. Du bist mein erster.« Sie zog sich wahllos Klamotten über, die sie vom Boden aufsammelte, darunter einen Satinslip, der ihr passte wie eine zweite Haut. Zuzusehen, wie sie ihn anzog, war fast so erotisch wie das Gegenteil es wäre. Sie bemerkte, wie mein Atem sich beschleunigte, und schwenkte den Zeigefinger. »Oh nein. Wenn wir jetzt wieder anfangen, hören wir nie mehr auf.«
Damit hätte ich zwar leben können, aber ein Gentleman weiß, wann es angezeigt ist, ehrenhaft zu kapitulieren und das Feld zu räumen. Allerdings nicht ohne noch eine kleine Knutscherei im Türrahmen.
Den Duft von Geißblatt in der Nase, schlenderte ich durch Soho zurück und half laut späteren Berichten den Kollegen von Charing Cross und West End Central, zwei Prügeleien zu beenden – eine zwischen Ehegatten und eine bei einer Junggesellinnenparty, die in einem versuchten sexuellen Übergriff auf einen männlichen Stripper geendet hatte. Aber ich erinnere mich an nichts davon.
Scindere übt man, indem man einen Apfel mit Impello schweben lässt und sich dann bemüht, ihn an einer Stelle zu fixieren, während der Lehrer versucht, ihn mit einem Kricketschläger wegzuschlagen. Am nächsten Morgen nahm ich drei Stück auf einmal, und sie wackelten nicht einmal, als Nightingale auf sie eindrosch. Natürlich schlug er sie zu Brei, aber selbst der blieb in der Luft hängen wie ein Missgeschick in der Küche einer Raumstation.
Als Nightingale mir die Forma erstmals gezeigt hatte, hatte ich ihn gefragt, wie lange die Äpfel oben bleiben würden. Er erklärte, das hinge davon ab, wie viel Magie man in den Apfel steckte. Bei den meisten Lehrlingen seien es wenige Minuten bis eine halbe Stunde. Diese präzise Aussage demonstrierte mal wieder hervorragend die Nightingale’sche Einstellung zur Empirie. Ich hingegen war diesmal vorbereitet. Ich hatte eine Stoppuhr dabei – eine antike mit Mechanik und einem Zifferblatt so groß wie meine Handfläche –, mein Notizbuch und die ausgedruckte Vernehmung von Colin Sandbrow aus der Vagina-dentata-Falldatei. Als Nightingale sich nach vollbrachter Apfelzerschlagung wieder nach oben verzog, drückte ich auf die Stoppuhr, setzte mich an einen Labortisch und fing an zu lesen.
Colin Sandbrow, einundzwanzig Jahre alt, war an jenem Abend von Ilford nach London gekommen, um Spaß zu haben. Hatte eine Frau getroffen, von der er dachte, sie gehörte der Gothic-Szene an. Sie redete nicht viel, schien aber einem bisschen Freiluftgymnastik nicht abgeneigt zu sein. Vom Aussehen her war Sandbrow zwar jung und sportlich, aber sein Gesicht war irgendwie farblos-nichtssagend, als hätte sein Schöpfer ihn noch rasch kurz vor Feierabend gemacht, um sein Soll zu erfüllen. Das erklärte vermutlich, warum Sandbrow die Gelegenheit sofort beim Schopf gepackt hatte.
»Fanden Sie es nicht verdächtig, dass sie einen so willigen Eindruck machte?«, hatte Stephanopoulos gefragt.
Sandbrow hatte angedeutet, dass er geneigt gewesen war, es als Geschenk des Schicksals zu werten, sich jedoch jetzt vorgenommen hatte, das andere Geschlecht in Zukunft mit mehr Vorsicht zu genießen.
Sechzehn Minuten und vierunddreißig Sekunden, nachdem ich den Zauber gesprochen hatte, fing es an, Apfelmus zu regnen. Ich legte die Vernehmung weg und notierte mir das. Ich hatte vorher Plastiktüten druntergelegt, daher musste ich zum Glück nicht viel aufwischen. Sowohl meine Zauberbücher als auch Nightingale sparten sehr mit konkreten Aussagen, woher die Kraft, die die Äpfel in der Luft hielt, eigentlich kam. Wurde sie die ganze Zeit aus meinem Kopf gesaugt? Wenn ja, wie viele konnte ich gleichzeitig oben halten, ohne dass mein Gehirn einschrumpelte? Und falls sie nicht aus mir kam, woher dann? Ich bin da altmodisch – ich glaube fest an die Gesetze der Thermodynamik.
Ich las den Rest der Vernehmung durch, stieg ins Erdgeschoss hinauf und eilte schnurstracks zur Remise und dem Komfort des einundzwanzigsten Jahrhunderts – Breitbildfernseher, Internetanschluss und HOLMES. Und ertappte dort Nightingale, der es sich mit einer Dose nigerianischem Star-Bier in der Hand auf dem Sofa vor einer Rugbyübertragung bequem gemacht hatte. Er sah etwas verlegen aus und sagte: »Ich dachte, Sie hätten sicher nichts dagegen. In der Ecke stehen noch zwei Kisten von diesem Zeug.«
»Die passten nicht mehr rein, als ich Mama Themses Wohlwollen mit einem Schwerlaster voll Alkoholika erkauft habe.«
»Das erklärt einiges.« Er winkte mit der Dose. »Sagen Sie Molly nichts von dem Bier. Sie tendiert gerade dazu, ein wenig zu glucken.«
Ich versprach, dass sein Geheimnis bei mir sicher sein würde. »Wer spielt?«
»Harlequins gegen Wasps.«
Ich ließ ihn weiterschauen. Ein bisschen Fußball oder einen ordentlichen Boxkampf schaue ich mir ganz gerne an, aber anders als meine Mum, die von allem fasziniert ist, wo ein Ball dabei ist (sogar Golf), konnte ich Rugby noch nie viel abgewinnen. Also setzte ich mich an meinen Schreibtisch, fuhr den Laptop hoch, den ich als HOLMES-Terminal benutze, und vertiefte mich wieder in den Fall.
Stephanopoulos’ Leute waren sehr gründlich. Sie hatten Sandbrows sämtliche Freunde sowie alle zufälligen Gäste befragt, deren sie habhaft werden konnten. Die Türsteher des Clubs beharrten felsenfest darauf, dass sie die Verdächtige nicht hatten hereinkommen sehen, obwohl die Auswertung der Überwachungskamera deutlich zeigte, wie sie geradewegs an ihnen vorbeimarschierte. Die ganze Attacke erinnerte mich eher an den Vorfall mit St. John Giles im Sommer als an den Mord an Jason Dunlop – ich wollte gerade eine dahingehende Notiz eingeben, da sah ich, dass es Stephanopoulos auch schon aufgefallen war.
Ich fragte mich, wie es Lesley ging. Sie hatte keine meiner SMS oder Mails beantwortet, deshalb rief ich bei ihr zu Hause an. Eine ihrer Schwestern war am Apparat.
»Sie ist in London«, erklärte sie. »Hat einen Termin bei ihrem Spezialisten.«
»Das hat sie mir gar nicht gesagt.«
»Wundert mich nicht«, sagte die Schwester.
»Kannst du mir sagen, in welchem Krankenhaus?«
»Nee. Wenn sie gewollt hätte, dass du weißt, dass sie in der Stadt ist, hätte sie dir Bescheid gegeben.«
Dem konnte ich nicht widersprechen.
Nightingales Rugbyspiel war zu Ende. Er bedankte sich für das Bier und verschwand. Ich schaltete auf die Nachrichten um, weil ich wissen wollte, ob ein gewisser entführter Rettungswagen noch darin herumspukte, aber er war von einer schweren Überschwemmung bei Marlow verdrängt worden. Es gab eine Menge hübscher Bilder von Autos, die auf idyllischen Landstraßen herumschwammen, und Senioren, die von der Feuerwehr in Booten herumgefahren wurden. Einen Augenblick lang kam mir der schreckliche Verdacht, das könnte Vater Themses Reaktion darauf gewesen sein, dass Ash verletzt worden war, aber als ich die Einzelheiten recherchierte, fand ich heraus, dass das Wasser erst in der folgenden Nacht gestiegen war, als ich mich mit Simone auf dem Dach vergnügt hatte.
Welche Erleichterung. Ich hatte schon genug Probleme, da musste ich nicht noch unabsichtlich das halbe Themsetal fluten.
Eine Dame vom Umweltamt wurde gefragt, warum es keine Flutwarnung gegeben hatte. Sie erklärte, die Themse habe ein höchst komplexes Wassereinzugsgebiet, das durch den menschlichen Eingriff in die natürlichen Prozesse noch komplexer geworden sei.
»Manchmal kann der Fluss einen schlicht überraschen«, sagte sie. In der Nacht zuvor hatte es bereits einen unerwarteten Pegelanstieg gegeben, und sie schloss nicht aus, dass es im Verlauf des heutigen Tages zu einem weiteren kommen könnte. Wie die meisten Londoner war ich der Ansicht, dass es sich nur reiche Leute leisten konnten, direkt am Fluss zu wohnen, daher konnte ich die Aussicht auf eine weitere Überschwemmung mit größter Fassung ertragen.
Ich schloss meine HOLMES-Sitzung und fuhr alles herunter. Stephanopoulos hatte keine Verbindung zwischen unseren zweieinhalb Opfern gefunden. Noch schlimmer – St. John Giles und Sandbrow waren rein zufällig in dem Club gelandet, wo sie die mysteriöse Killerin getroffen hatten. In den Notizen, die Stephanopoulos an die Personendateien angehängt hatte, vertrat sie die Meinung, und da musste ich ihr zustimmen, dass die beiden jungen Männer Zufallsopfer waren, während das Vorgehen bei Jason Dunlop wie ein gezielter Mord aussah. Mit den beiden hatte die Bleiche Lady, wie ich sie inzwischen im Stillen nannte, an einem öffentlichen Ort vor möglichen Zeugen Kontakt aufgenommen. Vielleicht hatte es etwas mit der Überlappung von Berufsleben und Freizeit zu tun. Vielleicht waren die zwei Jungs in den Nachtclubs Hobby gewesen und Dunlop Arbeit.
Mum rief mich an, um mich daran zu erinnern, dass ich an diesem Nachmittag Dad mit meinen Hilfstruppen bekannt machen wollte. Ich bemerkte, dass dies schon ihr dritter Anruf in dieser Sache sei, aber davon ließ sie sich überhaupt nicht stören, wie immer. Ich versicherte ihr, dass ich pünktlich da sein würde. Kurz überlegte ich, ob ich Simone mitnehmen sollte, aber dann entschied ich, dass es mit ihr viel zu gut lief, als dass ich meine Familie auf sie hätte loslassen wollen – insbesondere meine Mum.
Ich rief sie trotzdem an. Sie versicherte mir, sie habe schreckliche Sehnsucht nach mir. Im Hintergrund hörte ich weibliches Gelächter und einige Kommentare, zu leise, um sie zu verstehen. Ihre Schwestern, vermutete ich.
»Schreckliche Sehnsucht«, wiederholte sie. »Du könntest nicht vielleicht später vorbeikommen und mich zur Ordnung rufen?«
»Was ist mit keinen Männern nach zehn?«
»Du hast nicht zufällig ein Bett« – weiteres Gelächter im Hintergrund –, »das du nicht teilen musst?«
Ich fragte mich, ob ich sie ins Folly schmuggeln könnte. Nightingale hatte nie ausdrücklich etwas gegen Übernachtungsgäste gesagt, aber ich war mir nicht sicher, wie ich das Gespräch darauf bringen sollte. In der Remise hatte ich zwar selbst schon geschlafen, aber für zwei würde das Sofa sehr eng sein. Vielleicht sollte ich den Gedanken aber weiterverfolgen.
»Ich ruf dich später an«, sagte ich und schlug müßig die Zimmerpreise einiger Hotels im Zentrum nach – aber selbst mit meinen ganz anständigen Finanzen war das utopisch.
Erst da fiel mir ein, dass sie noch vor weniger als zwei Wochen die trauernde Geliebte des seligen Cyrus Wilkinson gewesen war, Mitglied genau der Band, mit der mein Dad heute Nachmittag proben würde. Ein Grund mehr, sie nicht einzuladen.
So gut wie jeder Sozialwohnblock hat ein paar Gemeinschaftsräume. Irgendwas an dem Konzept, einen Haufen Leute wie in Eierkartons aufeinanderzustapeln, scheint in Architekten und Stadtplanern den Glauben zu nähren, ein paar Räumlichkeiten für die gemeinsame Nutzung könnten zum Beispiel das Bedürfnis nach einem Garten kompensieren oder das nach etwas Luft zum Atmen. Vielleicht malen sie sich glücklich aus, wie die Bewohner des Wohnblocks sich spontan zu fröhlichen proletarischen Festen oder einfach nur zum gemeinschaftlichen Atmen versammeln. In Wahrheit werden solche Räume im Allgemeinen für zwei Zwecke genutzt: Kindergeburtstage und Mieterversammlungen. An diesem Nachmittag würden wir an den Grundfesten dieser Regel rütteln und stattdessen eine Jazzprobe abhalten.
Als Schlagzeuger war James derjenige mit dem Van – ein gebührend altersschwacher Ford Transit, den man offen mit Schlüssel im Zündschloss und einem Schild NIMM MICH MIT im Fenster hätte abstellen können, ohne Angst haben zu müssen, dass er später vielleicht nicht mehr da sein würde. Als ich ihm half, das Schlagzeug in den Probenraum zu schleppen, erklärte er mir, dass das volle Absicht war. »Ich komme aus Glasgow. In puncto Wertsachen und persönliche Sicherheit kann mir London gar nichts erzählen.«
Wir mussten noch dreimal gehen, um alle Verstärker und Lautsprecher zu holen, und da gerade die Schule aus war, zogen wir ein Publikum aus jugendlichen Möchtegern-Rabauken an. In Glasgow waren die Rabauken wohl beeindruckender, denn James würdigte sie keines Blickes. Ich sah aber, dass Daniel und Max sich unwohl fühlten. Niemand kann so neugierig-feindselig blicken wie eine Bande Dreizehnjähriger, die keine Lust haben, sich an ihre Hausaufgaben zu setzen. Ein dünnes Mädchen gemischter Herkunft legte den Kopf schief und fragte, ob wir in einer Band seien.
»Wonach sieht’s denn aus?«, fragte ich.
»Und was macht ihr für Musik?«, fragte sie. Sie hatte ein Gefolge kleiner Freundinnen, die wie auf Kommando loskicherten. Ich war mit ihren älteren Geschwistern zur Schule gegangen – sie kannten mich, aber heute war ich trotzdem Freiwild.
»Jazz«, sagte ich. »Das mögt ihr nicht.«
»Ach«, gab sie zurück. »Swing, Latin oder Fusion?«
Das Gefolge lachte und feixte gebührend. Ich sah die Kleine streng an, aber das machte ihr gar nichts aus. »Wir hatten letztes Jahr Jazz in Musik.«
»Ich glaube, deine Mum wartet auf dich.«
»Nö«, widersprach sie. »Können wir kommen und zugucken?«
»Wir sind auch still.«
»Nein, seid ihr nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich kann in die Zukunft sehen.«
»Kannst du nicht.«
»Wieso nicht?«
»Weil das die Kaudalität zerstören würde.«
»Daran ist Doctor Who schuld, da bin ich sicher«, sagte James.
»Kausalität«, verbesserte ich.
»Mir doch wurscht. Können wir jetzt zugucken?«
Also ließ ich sie mitkommen. Sie blieben länger, als ich erwartet hätte – ganze zwei Minuten von Airegin.
»Das ist doch dein Dad, oder?«, sagte sie hilfsbereit, als mein Dad auf der Szene erschien. »Ich wusste gar nicht, dass der spielt.«
Es war seltsam, mit anzusehen, wie mein Dad sich hinsetzte, um in einem Ensemble Keyboard zu spielen. Ich hatte ihn nie live spielen sehen, aber meine Erinnerung war voller Schwarzweißfotos, auf denen er seine Trompete in der Hand hatte. Immer hielt er sie möglichst genau wie Miles Davis, wie eine Waffe, wie ein Gewehr bei der Parade. Aber er konnte auch Keyboard spielen. Selbst ich merkte das. Trotzdem kam es mir einfach wie das falsche Instrument vor. Es störte mich die ganze Probe über, ohne dass ich hätte sagen können, warum.
Nach der Session hatte ich gedacht, wir würden alle noch im Pineapple an der Leverton Street einen trinken gehen, aber meine Mum lud uns in die Wohnung ein. Auf der Treppe stellte sich mir das vorlaute Gör aus der Probe in den Weg. Diesmal ohne ihre Rasselbande.
»Ich hab gehört, du kannst zaubern.«
»Woher hast du denn so was?«
»Ich hab meine Quellen. Und, stimmt’s?«
»Ja«, sagte ich, weil manchmal die Wahrheit Kinder schneller zum Verstummen bringt als eine Ohrfeige und außerdem den Vorteil hat, dass sie nicht als Gewalt gegen Minderjährige gilt. »Ich kann zaubern. Und?«
»Ganz echt?«, bohrte sie. »Keine Tricks und so?«
»Ganz echt.«
»Bring’s mir bei.«
»Hör zu«, sagte ich. »Du lernst Latein, machst das Latinum, und ich bring dir das Zaubern bei.«
»Okay.« Sie streckte mir die Hand hin.
Ich schlug ein. Ihre Hand war klein und trocken.
»Schwör’s beim Leben deiner Mum.«
Ich zögerte. Sie drückte meine Hand, so fest sie konnte. »Beim Leben deiner Mum.«
»Ich schwör nicht beim Leben meiner Mum«, sagte ich.
»Okay. Aber wir haben einen Deal, ja?«
»Ja.« Inzwischen wurde ich allerdings misstrauisch. »Wie heißt du?«
»Abigail. Ich wohn da drüben.«
»Und du fängt jetzt wirklich an, Latein zu lernen?«
»Was denn sonst? Bis dann.« Und sie hüpfte nach draußen.
Ich zählte meine Finger, um sicherzugehen, dass sie noch alle dran waren. Ich brauchte keinen Nightingale, der mir sagte, dass das nicht gerade eine Glanzleistung von mir gewesen war. Eines war sicher, ich musste Abigail von da drüben ganz oben auf meine Beobachtungsliste setzen. Beziehungsweise, ich musste mir dringend eine Beobachtungsliste anlegen, damit ich Abigail ganz oben draufsetzen konnte.
Als ich in die Wohnung kam, hatte sich die Band schon ins Schlafzimmer verlagert, wo sie sich vor Bewunderung für die Plattensammlung meines Dad gar nicht mehr einkriegte. Meine Mum hatte offenbar Kampfshopping bei Iceland betrieben, denn auf dem Wohnzimmertisch drängten sich Schüsseln voller Mini-Würstchen im Schlafrock, Mini-Pizzas und Hula Hoops. Auf Wunsch waren Cola, Tee, Kaffee und Orangensaft erhältlich. Meine Mum wirkte sehr zufrieden mit sich.
»Kennst du Abigail?«, fragte ich.
»Natürlich. Das ist die Tochter von Adam Kamara.«
Der Name war mir vage bekannt; Adam gehörte zu den mehreren Dutzend Verwandten, die der Einfachheit halber als Cousins bezeichnet wurden – wobei unter diese Definition sowohl meine leiblichen Onkel als auch der weiße Bursche aus dem Friedenskorps fielen, der 1977 zufällig ins Haus meines Großvaters spaziert und nie wieder gegangen war.
»Hast du ihr erzählt, dass ich zaubern kann?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Sie war mal mit ihrem Vater hier, kann sein, dass sie was mitbekommen hat.«
»Ihr redet über mich, wenn ich nicht da bin?«
»Du hast ja keine Ahnung.«
Ganz offensichtlich, dachte ich und nahm mir eine Handvoll Hula Hoops.
Auf Befehl meiner Mutter steckte ich den Kopf ins Schlafzimmer, um die Hilfstruppen zu fragen, ob sie etwas essen wollten. Mein Dad versicherte, sie kämen gleich raus – in der Sicherheitszone um die Sammlung waren natürlich keine Lebensmittel erlaubt – und klinkte sich wieder in die Diskussion mit Daniel und Max über die Entwicklung von Stan Kenton zum Third Stream ein. James saß auf dem Bett, eine LP in der Hand, und sah sich dem Dilemma des wahren Vinylliebhabers gegenüber. Er hätte sie sich gern ausgeliehen, wusste aber genau: hätte sie ihm gehört, er hätte sie niemals aus der Hand gegeben. Er war tatsächlich den Tränen nahe.
Um sich abzulenken, stürzte er sich in ein Gespräch über Don Cherry und sagte irgendwann: »Ich weiß, es ist völlig unmodern, aber ich hab schon immer eine Schwäche für das Kornett gehabt.«
Wäre ich eine Comicfigur gewesen, dann wäre in diesem Moment mit einem ping eine kleine Glühbirne über meinem Kopf angegangen.
Ich lieh mir den iPod von meinem Dad aus, ging damit durch die Küche auf den Balkon (von dem aus man eine atemberaubende Aussicht auf die Wohnungen gegenüber hatte) und klickte die Tracks auf der Suche nach einem bestimmten Stück durch. Schließlich fand ich es – die Body and Soul-Version aus Blitzkrieg Babies and Bands von Snakehips Johnson, der dem Stück einen so tanzbaren Swing verlieh, dass Coleman Hawkins eine komplett neue Jazzrichtung erfinden musste, um das aus dem Kopf zu kriegen. Es war genau diese Version, die ich beim Tanz mit Simone im Café de Paris gehört hatte.
Das Vestigium an Mickeys Leiche hatte wie eine Posaune geklungen. Bei Cyrus Wilkinson war es ein Altsaxofon gewesen – die Instrumente, die die beiden Musiker gespielt hatten. Henry Bellrush hatte Kornett gespielt, aber im Café de Paris hatte ich kein Kornett gehört.
Ich hatte Snakehips Johnson und sein West Indian Orchestra gehört, die alle dort gestorben waren, im Café de Paris, vor über siebzig Jahren.
Das war alles Mögliche, aber kein Zufall.
Am nächsten Morgen überredete ich Nightingale, meine Übungen ausfallen zu lassen, und fuhr nach Clerkenwell ins Stadtarchiv. Die City of London Corporation ist eine Organisation, die dafür zu sorgen hat, dass die City (sprich, Londons Finanzdistrikt) bloß nicht von diesem neumodischen Zeug namens Demokratie vereinnahmt wird, das in den letzten zweihundert Jahren sein hässliches Haupt erhoben hat. Wenn für den legendären Bürgermeister Dick Whittington eine Oligarchie in Ordnung war, so ihr Argument, dann wird wohl auch das London des einundzwanzigsten Jahrhunderts damit klarkommen. In China funktioniert’s doch auch.
Der Corporation unterstehen auch die alten Archive des London County Council, die in einem nüchternen, aber nichtsdestotrotz eleganten Art-déco-Gebäude aufbewahrt werden. Ich zeigte einer der Archivarinnen meinen Dienstausweis, und sie stellte mir eine Liste von Dokumenten zusammen und erklärte mir, wie man bestellte.
Außerdem bot sie an, dass sie im digitalen Archiv nachschauen könnte, ob es Bilder gab. »Ist es ein alter Fall?«, fragte sie.
»Steinalt.«
Als Erstes kam Position LCC/CE/4 / 7 aus dem Lagerraum, ein Karton voller Faltmappen, die mit schmutzigweißen Bändern zugebunden waren. Ich suchte Nr. 39 heraus, den Bericht vom 8. März 1941. Die Nummer war von Hand mit schwarzer Tinte daraufgeschrieben worden. Ich schnürte die Mappe auf. Der Bericht stand in lila Schrift auf blassgelbem Papier, ein sicheres Zeichen, meinte die Archivarin, dass er mit einem Mimeographen vervielfältigt worden war. Er war mit GEHEIM überschrieben und trug das Datum 9. März 1941, LAGEBERICHT UM 0600 UHR. Es folgte eine Aufzählung von Schäden an Fabriken, Eisenbahnlinien, Fernmeldestationen, Stromversorgungseinrichtungen, Docks, Straßen, Krankenhäusern und öffentlichen Gebäuden. Das St.-Thomas-Kinderkrankenhaus in Lambeth war getroffen worden, aber es war niemand verletzt worden. Ich war seltsam erleichtert, als ich das las – dabei war das schon bei meiner Geburt ein halbes Jahrhundert her gewesen. In der Mitte der dritten Seite fand ich, was ich suchte.
2140. Sprengbombe, Café de Paris, Coventry Street. 34 Tote, ca. 80 Schwerverletzte.
Während ich auf die restlichen Dokumente wartete, rief mich die Archivarin zum Infostand, weil sie tatsächlich ein paar Fotos gefunden hatte. Die meisten stammten aus der Daily Mail – die musste einen Fotografen hingeschickt haben, kaum dass die Bombe gefallen war. In Schwarzweiß sah alles seltsam blutleer aus, und erst wenn einem klar wurde, dass der hellgraue Schlauch, der unter einem Tisch herausragte, der Unterarm einer Frau war, begriff man, dass man ein Massaker vor sich hatte. Es gab noch weitere sechs Bilder vom Innern des Nachtclubs und einige von Verletzten bei ihrer Ankunft im Charing Cross Hospital – bleiche, wie betäubte Gesichter zwischen weißen Decken und der primitiven Einrichtung eines Krankenhauses zu Kriegszeiten.
Fast wäre ich achtlos darüber hinweggegangen, aber irgendwas regte sich in meinem Gedächtnis, und ich klickte zurück und sah es mir genauer an.
Es war ein verwirrendes Bild, unmöglich auszumachen, wo es aufgenommen worden war, vielleicht in der Haltezone eines Rettungswagens. Eine Gruppe Frauen wurde an der Kamera vorbeigeführt, alle bis auf eine gebeugt und in Decken gewickelt. Ein Gesicht starrte direkt in die Kamera, ein glattes bleiches Oval, dem der Schock jeden Ausdruck geraubt hatte. Ich erkannte es. Zuletzt hatte ich es in der Nacht, als Mickey the Bone gestorben war, im Hinterzimmer des Mysterioso gesehen. Sie hatte sich Peggy genannt.
Ich fragte mich, ob das ihr richtiger Name war.