
Mein Dad sagt immer, ob du ein Londoner bist, hat nichts damit zu tun, wo du geboren bist. Er meint, es gebe Menschen, die in Heathrow aus dem Flieger steigen, mit einem Pass irgendeiner Nationalität durch die Passkontrolle gehen, sich in die U-Bahn setzen, und wenn der Zug am Piccadilly Circus ankommt, sind sie Londoner. Andere werden in Hörweite der Glocken von St. Maryle-Bow geboren und träumen ihr Leben lang nur davon, rauszukommen. Wenn ihnen das gelingt, gehen sie fast immer nach Norfolk, wo der Himmel weit, das Land flach und die Bevölkerung von milchweißer Unschuld ist, statistisch gesehen. Das Australien des armen Mannes, sagt mein Dad, jetzt, wo Südafrika so multikulti geworden ist.
Jerry Johnson war einer jener Nicht-Londoner, geboren durch Gottes Gnade 1940 in Finchley und gestorben durch einen abgebissenen Penis in einem Bungalow am Rand von Norwich. Letzteres war ja wohl ein guter Grund dafür, dass die furchteinflößendste Polizeibeamtin der Met, ihr Hetero-Cover, eine Motorradeskorte und ich mit zweihundert Sachen die M11 entlangdonnerten. Als wir von der Autobahn abfuhren, war es zwei Uhr nachts, deshalb brauchten wir auf der Schnellstraße kaum zu verlangsamen. In knapp neunzig Minuten hatten wir den Tatort erreicht – was ziemlich beeindruckend war. Dort mussten wir feststellen, dass die Polizei von Norfolk die Leiche schon weggeschafft hatte – das war weniger beeindruckend. Stephanopoulos und DCI Thompson zogen los, um die örtlichen Gendarmen in der Luft zu zerreißen, und ich musste sehen, wie ich allein zurechtkam.
»Keine Anzeichen für gewaltsames Eindringen«, sagte DC Trollope.
Entgegen den Vorurteilen meines Dad bestand die hiesige Polizei keineswegs aus Idioten oder den Produkten generationenlanger Inzucht. Falls die Eingeborenen von Norwich sich familienintern vermehrten, schickten sie ihren Nachwuchs jedenfalls nicht zur Polizei. Im Gegenteil, DC David Trollope war genau die Art nüchterner, sportlicher junger Mann, die jedem Möchtegern-Innenminister im Hinterland das Herz aufgehen lassen würde.
»Denken Sie, er hat den Täter ins Haus gelassen?«, fragte ich.
»Sieht so aus. Was meinen Sie?« Wie eine afrikanische Matrone bei einer Hochzeit ist sich jeder Polizeiangehörige der feinen, fast unsichtbaren Statusunterschiede unter den Kollegen bewusst. Wir hatten denselben Rang und waren etwa im gleichen Alter, aber der Nachteil, dass ich mich auf seinem Terrain bewegte, wurde von der Tatsache aufgewogen, dass ich in einem Achtzylinder-Jaguar XJ herkutschiert worden war, der unverkennbar aus unserem Kontingent für VIP-Schutz kam. Wir einigten uns auf eine etwas verlegene Kumpelhaftigkeit und würden die Begegnung vermutlich ohne peinliche Zwischenfälle überstehen, ganz wie die afrikanischen Matronen, sofern der Punsch nicht zu hochprozentig ausgefallen war.
»Gibt’s eine Alarmanlage?«
»Ja«, sagte Trollope. »Eine gute.«
Der Bungalow war ein scheußlicher roter Ziegelbau, ich tippte auf das Machwerk eines Schmierenarchitekten Anfang der Achtziger, der auf Art déco hinausgewollt hatte und stattdessen bei Tracey Emin gelandet war. Im Innern hatte es auch nicht mehr Charakter als von außen – das Sofa von World of Leather, nichtssagende Selbstaufbau-Möbel, Einbauküche. Mich überraschte nur, dass es drei Schlafzimmer gab.
»Hatte er Familie?«
Trollope blätterte in seinen Notizen. »Exfrau, Tochter, Enkelkinder. Leben alle in Melbourne in Australien.«
Die Einrichtung der beiden zusätzlichen Schlafzimmer stammte aus den Achtzigern, war ordentlich, sauber und unbenutzt. Trollope erzählte mir, zweimal die Woche komme eine Polin zum Saubermachen. »Sie hat die Leiche gefunden.«
Auf der Schwelle des Hauptschlafzimmers, das für Leute ohne Plastiküberzug noch gesperrt war, blieb ich stehen und schaute mir das Bett an. Die Spurensicherung hatte Bettzeug und Laken mitgenommen, aber die Matratze war noch da. Im unteren Drittel hatte sie einen rotbraunen Fleck. Sie war so mit Blut vollgesogen, dass es noch nicht getrocknet war, und der Geruch folgte mir bis ins Nebenzimmer. Ich hatte zwar selbst Handschuhe dabei, bat Trollope aber, mir ein Paar auszuleihen, damit er sich ein bisschen überlegen fühlen konnte.
Johnson mochte im Schlafzimmer gestorben sein, doch den größten Teil seines Lebens hatte er im Wohnzimmer verbracht. Breitbild-LCD-Fernseher, DVD-Player, die Fernbedienungen lagen griffbereit auf dem Wohnzimmertisch neben einer Ausgabe der Radio Times. Hier stand auch ein antiker Sekretär, der noch nicht auf Fingerabdrücke untersucht worden war, daher ließen wir ihn tunlichst in Ruhe. Und zwei verglaste Bücherschränke voller Taschenbücher aus den Siebzigern, Len Deighton, Ian Fleming, Clive Cussler. Es sah aus wie das Belletristikregal in einem Charity Shop. Die Unterschränke waren tiefer und hatten undurchsichtige Türen. Vorsichtig, weil sie auch noch nicht untersucht worden waren, öffnete ich sie. Bis auf ein paar Papierfetzen, die ich ebenfalls der Spurensicherung überließ, waren beide leer.
An den Wänden hingen einige überraschend gute Jagddrucke sowie ein gerahmtes Foto von Johnsons Abschlussjahrgang in Hendon. Welcher der blankpolierten Jungpolizisten er war, konnte ich nicht feststellen. Daneben hing ein Foto von ihm, wie er von einem ranghöheren Beamten – wie ich später erfuhr, war es kein Geringerer als Sir John Waldron, Commissioner der Metropolitan Police von 1968 bis 1972 – ein Belobigungsschreiben erhielt. Auf dem Kaminsims standen Familienbilder – eine Hochzeit inklusive fürchterlicher Koteletten und Schlaghosen, zwei Kinder, Junge und Mädchen, in verschiedenen Altersstufen: Kleinkind, Kindergarten, dann auf einem blassgelben Strand vor einem grünen Ozean. Ein paar waren hier vor dem Bungalow entstanden, da waren die Kinder etwa neun oder zehn. Danach kam nichts mehr. Ich überschlug im Geiste: die letzten Bilder mussten in der ersten Hälfte der Achtziger entstanden sein. Vor über dreißig Jahren.
»Die Angehörigen in Australien leben noch?«, fragte ich. »Sie sind nicht tragischerweise bei einem Autounfall ums Leben gekommen oder so?«
»Muss ich noch rausfinden«, sagte Trollope. »Warum?«
»Weil dreißig Jahre ohne irgendein neues Foto eine lange Zeit sind.«
Ganz hinten standen noch zwei Fotos, halb verdeckt von denen von Frau und Kindern. Noch mehr Männer mit Koteletten, peinlich breiten Jackenaufschlägen und noch breiteren Krawatten, aufgenommen in einer Bar, die mir bekannt vorkam und in der ich plötzlich das French House in Soho erkannte. Außerdem erkannte ich, dass mir aus dem Foto der Nachtclubbesitzer Alexander Smith in jungen Jahren entgegenblickte, der in seinem Knautschsamt-Smoking mit gekräuseltem Hemd schon damals wie ein Dandy ausgesehen hatte.
»Über Johnsons berufliche Laufbahn haben Sie nicht zufällig schon mehr herausgefunden?«
Wieder blätterte Trollope in seinem Notizbuch, aber mir war schon klar, wo sich der größte Teil der Dienstzeit von DCSI Johnson abgespielt haben musste: in und um Soho.
»Er war in der Kriminalabteilung in West End Central. Vorher war er bei etwas, das OPS hieß.« Ich fragte nach den Daten. Er nannte 1967 bis 1975.
Die OPS war die Spezialeinheit Obszöne Publikationen, die allerkorrupteste Spezialeinheit der korruptesten Abteilung der Metropolitan Police. Und Johnson hatte ihr während des korruptesten Jahrzehnts angehört, jedenfalls seit die Londoner Diebesfänger nicht mehr für jeden abgelieferten Verbrecher einzeln bezahlt wurden.
Kein Wunder, dass auf dem Foto Alexander Smith zu sehen war. Die OPS hatte illegale Schutzgelder von Sexshops und Stripclubs kassiert. Solange man ihr einen bestimmten Betrag pro Tag zahlte, konnte man sicher sein, dass keine Razzia stattfand. Oder falls doch, dass man so früh gewarnt wurde, dass man reichlich Zeit hatte, um die deftigsten Sachen in aller Ruhe verschwinden zu lassen. Als zusätzlichen Bonus konnte man den Jungs in Blau »einen Drink spendieren«, und schon organisierten sie eine Razzia bei deinen Konkurrenten und verkauften dir das konfiszierte Zeug durch die Hintertür der Asservatenkammer im Revier von Holborn. Das erklärte, wie Johnson es sich hatte leisten können, so früh in Rente zu gehen – und vielleicht auch, warum er das hatte tun müssen.
Automatisch wanderte mein Blick zu den drei Fernbedienungen auf dem Wohnzimmertisch.
Ich hockte mich neben den Fernseher. Der graue Fernsehtisch war ein typisches Billig-Exemplar aus laminierter Spanplatte und wegen des Kabelknäuels, das hinten herauskam, nur sehr schwer effektiv abzustauben.
»Könnten Sie mir mal helfen?« Ich erklärte Trollope, was ich vorhatte. Vorsichtig, um nicht eventuelle Spuren zu zerstören, hoben wir den DVD-Player an je einer Seite an. Darunter kam ein scharf umrissenes staubfreies hellgraues Rechteck zum Vorschein, das anzeigte, dass hier jahrelang etwas gestanden hatte – etwas, das kleiner gewesen war als der DVD-Player. Ich nickte, und wir stellten das Gerät sorgfältig wieder ab.
»Was ist?«, fragte Trollope.
»Er hatte auch einen Videorecorder.« Ich zeigte auf die Fernbedienungen. Eine für den Fernseher, eine für den DVD-Player und …
»Meine Fresse«, sagte Trollope.
»Sie sollten Ihrem Tatortteam sagen, dass jemand alle VHS-Kassetten hier im Haus hat verschwinden lassen.«
»Warum hatte er noch einen Videoapparat?«, fragte Trollope. »Kennen Sie jemanden, der noch Video hat?«
»Es muss um etwas gehen, das zu digitalisieren zu riskant gewesen wäre.«
»Heutzutage? Das müsste was echt Ekliges oder Illegales sein. Kinderpornos oder Snuff oder, ich weiß nicht, wie ein Kätzchen erwürgt wird oder so.«
»Man sollte die Ehefrau befragen«, sagte ich. »Vielleicht weiß sie was.«
»Vielleicht ist sie deswegen weg«, überlegte Trollope. »Glauben Sie, da ist ein Trip nach Australien drin?«
»Nicht für uns. Die lassen doch keine DCs in der Weltgeschichte herumgondeln. Die Freiflüge kriegen immer ›erfahrene Kräfte‹.« Wir schwiegen einen Moment lang in düsterem Einvernehmen. »Wenn Sie ein paar Sachen hätten, die Sie um jeden Preis geheim halten wollten«, fragte ich dann, »wo würden Sie sie aufbewahren?«
»Gartenhäuschen«, sagte Trollope.
»Tatsächlich?«
»Da hob mein Dad immer sein Gras auf.«
»Ach ja?«
»Hier in der Gegend hat es ’ne lange Tradition, das Zeug selbst anzubauen.«
»Waren Sie schon mal in Versuchung, ihn einzubuchten?«
»Nur an Weihnachten.«
Idealerweise wären wir jetzt los und hätten uns das Gartenhäuschen mal angesehen, aber an einem modernen Tatort tut man so was nicht, ohne vorher die Spurensicherung zu fragen, und die untersagte uns, den Garten zu betreten, bis sie den Rasen nach Fußspuren abgesucht hatten. Und das war erst bei Tageslicht möglich. Bitte sehr. Da gingen wir hin und sagten Stephanopoulos, was uns geschehen war, und sie hatte Wohlgefallen daran und ließ uns ihre Großherzigkeit in Form von Kaffee und Sandwiches spüren. Die mussten wir allerdings auf der Straße verzehren, um keine Krümel am Tatort zu hinterlassen. Es war erstaunlich kalt, aber vor dem Haus parkten zwei Ford Transits der Polizei, von denen wir uns einen als Zuflucht aussuchten. Selbst so dicht bei Norwich war der Himmel noch verblüffend weit und voller Sterne. Stephanopoulos bemerkte, wie ich nach oben sah. »Stadtkind«, sagte sie.
Ich brachte meinen Vorschlag mit der Befragung von Johnsons Exfrau in Australien vor. Sie fand ihn gut, glaubte aber, dass die Polizei von Victoria das sicherlich allein schaffen würde, auch ohne dass wir einen britischen Beamten hinschickten, egal welchen Dienstgrads. Trollope gab ein Prusten von sich.
»Ist irgendwas lustig, Constable?«, fragte sie.
»Nein, Ma’am.«
Die Sandwiches kamen aus einer 24-Stunden-Tankstelle und brachten das Kunststück fertig, gleichzeitig durchweicht und altbacken zu sein. Ich glaube, meines war mit Schinkensalat belegt, aber sicher bin ich nicht. Stephanopoulos legte ihres nach dem ersten Bissen weg.
»Wir müssen rauskriegen, was Dunlop mit Johnson besprochen hat«, sagte sie.
»Ich wette, es hatte mit der Einheit Obszöne Publikationen zu tun«, vermutete ich. »Worüber hätten sie sonst reden sollen?«
»Der Mensch besteht aus mehr als nur seinem Job.«
»Dieser nicht«, widersprach ich. »Falls er noch andere Interessen hatte, waren sie auf den gestohlenen Videokassetten. Ein Grund für den Mord an ihm könnte gewesen sein, dass jemand die Dinger in die Hände bekommen wollte.«
»Verstehe«, sagte Stephanopoulos. »OPS plus dubiose Videos plus Journalist auf Storyjagd, vielleicht irgendein saftiger Skandal aus den Sechzigern? Möglicherweise wollte ihn jemand zum Schweigen bringen. Wenn wir rauskriegen, worum die Story sich drehen sollte, wissen wir, wer ein Motiv gehabt hätte.«
Ich erzählte ihr von Alexander Smith auf dem Foto auf dem Kaminsims.
»Wer soll denn das sein?«
»Ein Nachtclub-Impresario. Hatte schon in den Sechzigern die Finger im Geschäft und machte in den Siebzigern und Achtzigern einen ausgedehnten Urlaub auf dem Kontinent.«
»Ein Gangster?«, fragte Trollope.
»Auf jeden Fall ein zwielichtiger Kerl.«
»Woher kennen Sie ihn?«, wollte Stephanopoulos wissen.
»Aus einer anderen Ermittlung.« Ich warf einen Seitenblick auf Trollope. Ich wusste nicht, wie viel Klartext ich außerhalb der Met reden sollte.
Stephanopoulos nickte. »Meinen Sie, es gibt da eine Verbindung?«
»Ich weiß es nicht, aber man sollte dem nachgehen.«
»Gut. Sie schlafen jetzt ein bisschen, und morgen halten wir ein nettes Schwätzchen mit Mr. Alexander Smith.«
Es fiel mir gar nicht schwer, auf dem Rücksitz des Transit zu schlafen, aber da der Morgen klar und eiskalt war, war ich doch froh, als DC Trollope in einem Zivil-Mondeo auftauchte, um mich und Stephanopoulos zum Bahnhof zu fahren. Er und ich tauschten unsere Handynummern aus – es schadet nie, sich Kontakte aufzubauen –, dann trabte ich ins Bahnhofsgebäude auf der Suche nach einem Kaffee. Der Bahnhof von Norwich besteht aus der typisch spätviktorianischen Mischung aus Klinker, Gusseisen und Glas, auf die später die grellen Plastikfronten verschiedener Fast-Food-Ketten draufgeklatscht worden waren. Ich stolperte dankbar in Richtung Upper Crust und hätte am liebsten gefragt, ob ich mal kurz den Kopf unter das Spundloch der Kaffeemaschine halten dürfe, beließ es dann aber bei zwei doppelten Espresso und einem Chicken-Tikka-Masala-Baguette. Letzteres erntete harsche Kritik von Stephanopoulos. »Das Hühnchen da drin wurde mit Chemie behandelt, getrocknet und plattgepresst und dann mit noch mehr Chemie behandelt.«
»Ich hab so einen Hunger, ich kann mir darüber jetzt keine Gedanken machen.«
Wir nahmen den Expresszug nach Liverpool Street. Dank Stephanopoulos’ Dienstausweis bekamen wir Erste-Klasse-Fahrscheine, was auf der kurzen Strecke immerhin ein bisschen breitere Sitze und ein bisschen weniger Gesocks bedeutete. Stephanopoulos war eingeschlafen, noch ehe der Zug den Bahnhof verlassen hatte.
Im Zug gab es kein WLAN, also holte ich mir eine PDF-Datei von Latein für Dummies auf den Bildschirm und verbrachte die nächsten anderthalb Stunden damit, die dritte Deklination der Adjektive auf die Reihe zu kriegen. Als es noch zwanzig Minuten bis Liverpool Street waren und die Vororte als tröstlich verregnetes Einerlei hinter der Fensterscheibe vorbeizogen, rief Trollope mich an.
»Ich durfte jetzt ins Gartenhäuschen. Ich hatte recht. Die Tür war gewaltsam geöffnet worden.« Wie, war allen ein Rätsel – das Schloss samt dem Holz drumherum war einfach kreisförmig herausgelöst worden. »Keiner hier kann sich vorstellen, wie der das gemacht hat.«
Ich wusste es. Es war ein Zauberspruch. Tatsächlich hatte ich schon mit eigenen Augen gesehen, wie Nightingale damit ein Gartentor in Purley geöffnet hatte, als wir das Vampirversteck ausgehoben hatten. Entweder unser Schwarzmagier wurde unachtsam, oder er hatte keine Ahnung, dass es jemanden gab, der es mit ihm aufnehmen konnte, oder es war ihm schlichtweg egal, ob man auf ihn aufmerksam wurde.
Trollope beschrieb das Innere des Gartenhäuschens als das übliche Chaos aus Gartengeräten, Blumentöpfen, Schläuchen und Fahrradteilen. »Ich glaube nicht, dass wir je rauskriegen werden, ob etwas gestohlen wurde oder nicht.« Trotzdem suchte die Spurensicherung nach Fingerabdrücken. Was dabei herauskam, würde gemeinsam mit den Details über das Schloss und den beiden auf dem Rasen gefundenen Fußabdrücken der EP-Datei in HOLMES hinzugefügt werden. Ich dankte Trollope und versprach, ihn zu informieren, falls etwas Aufregendes passierte.
Stephanopoulos wachte mit einem kleinen Schnarcher auf, als wir gerade in den Bahnhof einfuhren, und ich fing einen winzigen verwirrten Blick von ihr auf, ehe sie sich wieder zurechtfand. Ich weihte sie in die Neuigkeiten mit dem Gartenhäuschen ein.
Sie nickte. »Sollten wir Ihren Boss hinzuziehen?«
Dr. Walid hatte sich unmissverständlich ausgedrückt. »Noch nicht. Schauen wir lieber erst, ob wir nicht was aus Alexander Smith herauskriegen, bevor wir ihn aus dem Bett holen.«
Der Zug kam zum Halten. »Ach ja, Smith. Ein Bösewicht der alten Schule. Wird sicher ein Genuss.«
Stephanopoulos beschloss, die Vernehmung in West End Central durchzuführen. Das Revier in der Savile Row ist ein großer quadratischer Büroblock aus den dreißiger Jahren, mit teurem Portland-Kalkstein verkleidet, damit man nicht gleich sieht, welche Einfallslosigkeit sich dahinter verbirgt. Mit Soho in unmittelbarer Nähe – gleich hinter der Regent Street – war es zum Hauptquartier der Sitte geworden, und Stephanopoulos überredete einen alten Freund von ihr, der dort arbeitete, Alexander Smith für uns herbeizuschaffen. Dahinter stand der Gedanke, ihm zu suggerieren, er sei nur ein kleiner Fisch, der in ein riesiges unpersönliches Mahlwerk für Fischmehl gespült worden war. Unsere Idealvorstellung war eine Mischung aus Kafka und Orwell – da sieht man mal wieder, wie gefährlich es ist, wenn deine Polizisten belesener sind als du. Wir ließen ihn über eine Stunde lang im Vernehmungsraum schmoren, tranken derweil in der Kantine eine Tasse von dem echt scheußlichen Kaffee des Hauses und legten uns unsere Vernehmungsstrategie zurecht. Also, eigentlich war es Stephanopoulos, die zurechtlegte, während ich dasaß und das Ganze nach bewährter Methode für die Akten präparierte.
Alexander Smith hatte in den Siebzigern und Achtzigern tatsächlich im Ausland gelebt, und zwar in der Nähe von Marbella in Südspanien an der berüchtigten Costa del Crime – gemeinsam mit vielen anderen üblen Kerlen im mittleren Alter, die redeten wie die Fernsehgangster und die moralische Festigkeit von nassem Klopapier besaßen. Er war in der Tat ein Bösewicht der alten Schule, aber ein schlauer, denn er wurde nie verhaftet oder überhaupt strafrechtlich verfolgt. Seine Haupteinnahmequelle war früher nicht sein Club gewesen, sondern seine Tätigkeit als Mittelsmann zwischen korrupten Polizisten und den Pornobaronen von Soho. Er wusste buchstäblich, in welchen Kellern die Leichen versteckt waren und würde erwarten, dass dort unser Interesse lag.
»Aber er hat Angst«, sagte Stephanopoulos. »Er hat keinen Anwalt verlangt und nicht mal, dass er telefonieren darf – sieht aus, als wollte er eingebuchtet werden.«
»Warum hat er nicht einfach um Polizeischutz gebeten?«
»Solche Typen bitten nicht um Schutz. Sie reden überhaupt nicht mit der Polizei, außer sie wollen uns kaufen. Aber vor irgendwas hat er Angst, und wir müssen herausfinden, wovor. Und dann stecken wir das Messer in die Wunde und bohren so lange darin herum, bis wir ihn knacken wie eine Muschel.«
»Keine Auster?«
»Und Sie tun immer nur, was ich Ihnen vorgebe.«
»Und wenn es in Richtung meines Spezialgebiets geht?«
Stephanopoulos schnaubte. »In dem unwahrscheinlichen Fall, dass wir in Ihr Bermudadreieck abdriften, dürfen Sie die nötigen Fragen stellen. Aber schalten Sie Ihren Verstand ein und seien Sie vorsichtig. Ich finde es absolut unprofessionell, Leuten unterm Tisch ans Schienbein treten zu müssen.«
Wir tranken unseren scheußlichen Kaffee aus und hatten eine kurze Debatte über den Umfang der Papiere. Es ist nicht unüblich, dass Polizeibeamte eine etwas aufgeplusterte Akte in eine Vernehmung mitnehmen, damit der Anschein entsteht, sie wüssten sowieso schon alles, also könnte man zur Zeitersparnis auch gleich sagen, was man selber weiß. Aber Stephanopoulos hatte den Verdacht, dass ein alter Hase wie Smith darauf nicht reinfallen würde. Außerdem wollten wir den Eindruck vermitteln, dass er uns gar nicht so besonders interessierte.
»Er will was von uns«, sagte Stephanopoulos. »Er will zum Aufgeben überredet werden. Je überzeugter er ist, dass es uns egal ist, desto bereitwilliger wird er reden.«
Smith hatte einen leuchtend blauen Blazer an, aber der Kragen des farblich genau passenden Hemdes stand offen, und sein Gesicht war grau und unrasiert. Wir machten ein großes Trara darum, die Kassetten ins Aufnahmegerät einzulegen, uns vorzustellen und ihn über seine Rechte zu informieren.
»Sie stehen nicht unter Arrest und können diese Vernehmung jederzeit abbrechen.«
»Ach, wirklich?«, sagte Smith.
»Sie dürfen auch einen Rechtsanwalt oder eine andere Vertrauensperson Ihrer Wahl hinzuziehen.«
»Ja, ja. Können wir einfach weitermachen?«
»Sie wollen also keinen Anwalt?«, fragte ich.
»Nein, ich scheiß auf euren Anwalt.«
»Sie scheinen es eilig zu haben. Haben Sie etwas Dringendes zu erledigen?«, fragte Stephanopoulos. »Wartet vielleicht jemand auf Sie?«
»Was wollen Sie?«, fragte Smith.
»Die Sache ist die, wir möchten gern klären, inwieweit Sie an einer Anzahl von Straftaten beteiligt waren.«
»Was für Straftaten? Ich war ein anständiger Geschäftsmann, damals wie heute, ich besaß einen Club, das ist alles.«
»Wann damals?«, fragte ich.
»Damals, früher«, sagte er. »Immer! Also, ich war nur ein anständiger Geschäftsmann.«
»Leider, Smithy«, sagte Stephanopoulos, »glaube ich nicht an anständige Geschäftsleute. Ich bin nicht erst seit gestern bei der Polizei. Und der Constable hier hält Sie auch nicht für anständig. Zufällig ist er nämlich aktives Mitglied der Revolutionären Arbeiterpartei und betrachtet jede Art von Besitz als Verbrechen gegen das Proletariat.«
Das traf mich etwas überraschend. Alles, was ich herausbrachte, war ein mattes: »Alle Macht dem Volk!«
Smith starrte uns an, als wären wir beide verrückt geworden.
»Also«, sagte ich. »In wie viele Verbrechen waren Sie damals verstrickt, Smithy?«
»Ich war kein Engel. Und ich gebe gern zu, ich hatte zu meiner Zeit mit einigen ungesunden Elementen zu tun. Das war einer der Gründe, warum ich das Land verließ – ich wollte das alles hinter mir lassen.«
»Und warum sind Sie zurückgekommen?«, wollte ich wissen.
»Hab Sehnsucht nach Good Old England bekommen.«
»Ach? Sie hatten mir mal erzählt, England sei ein Dreckloch.«
»Na ja, immerhin ein Dreckloch, wo man englisch spricht.«
»Ihm ist die Kohle ausgegangen«, sagte Stephanopoulos. »Stimmt’s, Smithy?«
»Also bitte. Ich könnte Sie und sämtliche höheren Beamten hier in dieser Station kaufen und hätte immer noch genug für eine Wohnung in Mayfair.«
»Machen Sie mir ein Angebot«, sagte Stephanopoulos. »Ich könnte einen neuen Hühnerstall gebrauchen. Und meine bessere Hälfte wünscht sich sehnlichst einen größeren Wintergarten.«
Smith, der keineswegs vorhatte, etwas zu sagen, was man ihm zur Last legen oder digital in ein Schuldgeständnis verwandeln könnte, schenkte uns ein angemessen ironisches Lächeln.
»Wenn es nicht das Geld war«, fragte ich, »warum kamen Sie dann zurück?«
»Ich war nach Marbella gegangen, weil ich mein Glück gemacht hatte. Ich war im Ruhestand! Hatte mir und meiner Holden eine nette Villa gekauft, und ich sag Ihnen ganz ehrlich, das Leben dort war herrlich, nicht ständig Regen und dieser ganze Dreck. Alles war wunderschön, bis in den Achtzigern die Scheiß-Russen auftauchten und sich da breitmachten. Sofort ging’s los mit Schießereien und Strafaktionen, und man war in seinem eigenen Haus nicht mehr sicher. Da dachte ich mir, na, den Scheiß kannste auch in London haben.«
»Pech für Marbella, Glück für London«, sagte Stephanopoulos. »Nicht wahr, Constable?«
»Unbestreitbar. Durch Sie erhält das historische Stadtbild von London erst die richtige folkloristische Untermalung.«
Aus Berichten des Ressorts Schwerverbrechen und Organisierte Kriminalität wussten wir, dass Smith in Wahrheit zurückgekommen war, weil er Pech mit seinen Drogengeschäften gehabt hatte. Seine Ware war regelmäßig in Amsterdam und Spanien konfisziert worden, und als er schließlich im Flugzeug nach Gatwick saß, ließ er in Marbella nur Schulden und seine Frau zurück, die daraufhin bei einem brasilianischen Zahnarzt einzog. Das hatte bestimmt wehgetan.
»Wo kommen Sie eigentlich her?«, fragte er mich.
»Was glauben Sie denn?«, gab ich zurück. Eines der unausgesprochenen Gesetze bei einer polizeilichen Vernehmung ist es, niemals Informationen preiszugeben – zuallerletzt über sich selbst.
»Weiß nicht«, brummte er. »Aber ich hab das Gefühl, allmählich weiß ich gar nichts mehr.«
»Kennen Sie Jerry Johnson?«, fragte Stephanopoulos.
»Wer soll ’n das sein?« Aber er war zusammengezuckt und wusste, dass wir es gesehen hatten.
»Detective Chief Inspector Johnson«, sagte ich und schob Smith das Foto zu, das auf Johnsons Kaminsims gestanden hatte. Er war sichtlich überrascht, es zu sehen.
»Um Greasy Johnson geht’s Ihnen? Diesen Scheißkerl?«
»Der ist immer in Soho rumgelaufen und hat die Hand aufgehalten. Genau wie der Rest von der Drecksbande. Ist heute übrigens auch nicht anders. Aber wie geht’s ihm? Hab gehört, er wurde gefeuert.«
Ich war drauf und dran, Smith ein nettes Foto von Jerry am Tatort unter die Nase zu schieben, nackt wie Gott ihn schuf minus ein kleines Detail, aber Stephanopoulos tippte unauffällig mit dem Finger auf den Tisch, was bedeutete, ich solle mich zurückhalten. Ich sah Smith scharf an und bemerkte, dass sein Bein wieder so zu zittern begonnen hatte wie neulich in seinem Büro. Wir wollten ihm Angst einjagen, aber nicht so sehr, dass er dichtmachte oder die Fliege zu machen versuchte.
»Er wurde gestern ermordet«, sagte sie. »In seinem Haus in Norfolk.«
Smiths Schultern sackten herunter. Erleichterung, Resignation, Verzweiflung? Ich konnte es nicht sagen.
»Sie wussten es schon vorher, oder?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Gestern. Als ich bei Ihnen war – deshalb hatten Sie den Stiernacken vor der Tür und deshalb haben Sie so geschwitzt.«
»Ich hatte so was läuten gehört«, gab Smith zu.
»Was?«, wollte Stephanopoulos wissen.
»Dass jemand, von dem ich dachte, er wäre tot, vielleicht doch noch leben könnte.«
»Hat der ’nen Namen, der Tote?«, fragte sie.
»Da gab’s so jemand, mit dem Johnson zu tun hatte. Seltsamer Kerl, Magier oder so.«
»Magier? Also Kartentricks und so?«
»Nein, nicht so einer. Was der drauf hatte, war wie Voodoo, nur dass er ’n Weißer war.«
»Wie Voodoo, sagen Sie?«, schaltete ich mich ein. »Hat er sich von Loas in Besitz nehmen lassen, hat er Rituale und Opferungen vorgenommen?«
»Weiß ich doch nicht. Ich hab einen großen Bogen um den gemacht.«
»Aber Sie denken, er konnte wirklich zaubern?«
»Ich denke das nicht. Ich hab’s gesehen.«
»Was?«
»Jedenfalls glaube ich, dass ich’s gesehen habe.« Smith schien in seinem Hemdkragen versinken zu wollen. »Sie werden mir nicht glauben.«
»Ich nicht«, sagte Stephanopoulos. »Aber Constable Grant hier wird dafür bezahlt, dass er alles glaubt, was unglaublich ist. Er muss auch an Feen und Zauberer und Hobgoblins glauben.«
»Und Hobbitse«, sagte ich.
»Sie finden das wohl witzig«, sagte Smith wütend. »Erinnern Sie sich noch an Larry Piercingham? Der Larry die Lerche genannt wurde, weil er gern frühmorgens unterwegs war?«
»Ich bin nicht so alt, wie ich aussehe«, sagte Stephanopoulos. Ich schrieb den Namen auf.
»Die Einzelheiten kenn ich nicht, aber der muss dem Magier ans Bein gepisst haben …«
»Hatte der auch ’nen Namen?«, fragte Stephanopoulos.
»Wer?«
»Dieser Magier, wie hieß der?«
»Weiß ich nicht. Wenn wir über ihn redeten, war er immer nur der Magier, und so wie die Dinge lagen, haben wir sowieso kaum über ihn geredet.«
»Und was ist mit Larry der Lerche passiert?«, hakte ich nach.
»Larry hatte viel mit ’ner Gang aus Somers Town zu tun, Knochenbrecher, richtig harte Hunde. Die Art Leute, die damals fett Kohle machten. Die waren hoch geachtet, verstehen Sie?«
Wir verstanden. Somers Town war früher ein einziger Ballungsraum des Bösen zwischen den Bahnhöfen Euston Station und St. Pancras. In den Zeiten, bevor Rottweiler aufkamen, hatten die Leute dort eine abgesägte Schrotflinte neben der Haustür stehen – nur für den Fall, dass ungebetene Gäste oder Sozialarbeiter klopften.
Larry, der, wenn er nicht gerade Geldtransporte ausraubte, als Mann fürs Grobe für diverse Sexshopbesitzer, Zuhälter und wer weiß was noch arbeitete, war eines Tages einfach verschwunden. Seine Alte fragte noch eine Zeitlang nach ihm herum, aber niemand hatte ihn gesehen.
»Nicht dass irgendwer groß nach ihm gesucht hätte«, erklärte Smith. »Einen Monat später fand ’ne große Feier im Acropolis an der Frith Street statt. Die ganze Somers-Town-Bande war dort, plus ein paar erlesene Gäste aus der Unterwelt von Soho.«
»Aus welchem Anlass?«, erkundigte sich Stephanopoulos.
»Keine verdammte Ahnung. Ich glaube nicht, dass irgendeiner von denen, die dabei waren, noch weiß, was der Scheiß-Anlass war.«
Das Acropolis war ein griechisch-zypriotisches Restaurant, daher gab es Unmengen von gegrilltem Fleisch, Fisch und Oliven. »So richtig schlemmen auf Griechisch. Nicht dieser kurdische Abklatsch.«
»Wenn sich da die Unterwelt traf«, fragte Stephanopoulos, »warum waren Sie dann dort?«
»Ich hatte geschäftliche Verbindungen zu ein paar von denen. Aber der entscheidende Punkt war, ich war eingeladen, und wenn man von solchen Leuten eingeladen wird, dann geht man auch hin.«
Etwa zwei Stunden tat sich nichts Ungewöhnliches. Dann, als die Speisen schon zum größten Teil abgetragen waren, kamen zwei Kellner mit einer großen Servierplatte mit Deckel herein und stellten sie mitten auf dem Tisch ab.
»Was soll denn das?«, fragte Michael »The Mick« McCullough, zwar nicht der unangefochtene, aber derzeit der am wenigsten tote oder krankenhausreife Anführer der Bande. »Hab ich Geburtstag oder was?«
Jemand mutmaßte, es könnte eine Stripperin sein.
»Ist wohl kleinwüchsig, die Süße«, sagte McCullough, packte den Deckel und hob ihn ab. Darunter lag der Kopf von Larry der Lerche, so knackig frisch wie in dem Moment, als er abgeschlagen worden war. Garniert mit einem Stechpalmen- und einem Mistelzweig. Das notierte ich mir, vielleicht wurde es ja noch wichtig.
Die Männer aus Somers Town waren per definitionem harte Kerle, die nichts dagegen hatten, ab und zu etwas Blut zu vergießen. Sie waren alte Hasen im Einschüchtern von Leuten und hatten nicht vor, sich von so was Banalem wie einem Kopf auf einem Silbertablett aus der Fassung bringen zu lassen.
»Das«, sagte McCullough, »ist wahrscheinlich die hässlichste Stripperin, die ich je gesehen hab.«
Seine Leute brachen in Gelächter aus. Es erstarb abrupt, als der Kopf zu sprechen begann.
»Helft mir«, sagte er.
Nach Smiths Aussage ähnelte die Stimme ein bisschen der von Larry, aber sie klang seltsam pfeifend. Jetzt wurde es den harten Kerlen aus Somers Town doch etwas zu viel, bis auf McCullough, der nicht abergläubisch war.
»Das ist ein Trick, ihr Volltrottel«, hatte er gebrüllt und mit einem Ruck die Servierplatte vom Tisch gefegt.
»Ich glaube, er dachte, im Tisch wäre ein Loch«, sagte Smith. »Um ehrlich zu sein, das dachte ich auch. Dass Larry die Lerche da unten saß und sich einen Scherz mit uns machte. Aber da war kein Loch und kein Larry. Also, jedenfalls nicht der Rest von Larry.«
Der Kopf kullerte über den Tisch und plumpste auf den Boden, und all die harten Kerle, die Schlägertypen und Messerstecher kreischten auf wie kleine Mädchen und sprangen panisch aus dem Weg. Nur nicht McCullough, denn wenn man eines über McCullough sagen konnte, dann, dass er keine Angst kannte. Er stapfte um den Tisch herum, packte den Kopf an den Haaren und hob ihn hoch, damit jeder ihn sehen konnte. »Das ist ein Scheißtrick«, brüllte er. »Ich glaub’s nicht – was seid ihr für Hosenschisser.«
»Mickey«, sagte der Kopf von Larry der Lerche, »um Christi willen, bitte hilf mir.«
»Und was sagte McCullough?«, fragte Stephanopoulos.
Smiths Absatz vollführte einen kleinen Trommelwirbel auf dem Fliesenboden des Vernehmungszimmers. »Ich weiß es nicht. Ich hab die Beine in die Hand genommen, so wie alle anderen auch. Niemand hat je wieder von diesem Abend gesprochen oder von Larry der Lerche, und das Restaurant hat zugemacht. Ich hab gesehen, dass ich die nötige Kohle zusammenkriege, und mich aus England verkrümelt.«
»Was hatte der Magier mit Detective Chief Inspector Johnson zu tun?«, fragte Stephanopoulos.
»Das Übliche. Wollte sich gegen übermäßige Einmischung der Staatsgewalt absichern.«
Ich fragte, in was die Staatsgewalt sich denn hätte einmischen können.
»Seinen Club in der Brewer Street.«
»In der Brewer Street gibt es keinen Club«, sagte ich.
»Er war außerordentlich exklusiv«, sagte Smith.
»Und was kriegte Johnson dafür?«, wollte Stephanopoulos wissen.
»Greasy Johnson hatte Bedürfnisse. Spezielle Bedürfnisse. Der Mann war unwahrscheinlich bedürftig.«
»In welcher Hinsicht? Drogen, Alkohol? Oder Glücksspiel oder Sex?«
»Sex.«
»Was für Sex?«, fragte ich. »Jungs, Mädchen, Socken, Schafe?«
»Letzteres.«
»Schafe?«, sagte Stephanopoulos. »Das ist doch nicht wahr.«
»Ich weiß nicht, ob’s direkt Schafe waren«, meinte Smith. »Aber um Tiere ging’s definitiv. Wissen Sie, was ein Cat-Girl ist?«
»Diese Mädchen in den Mangas mit Katzenohren und Katzenschwänzen«, sagte ich. »Ich glaube, sie heißen Neko-chan.«
»Na, gut, dass es die Japaner gibt«, sagte Smith. »Sonst hätten wir für all das Zeug überhaupt keine Namen. Genau das mochte Greasy. Cat-Girls.«
»Sie meinen Frauen, die sich als Katzen verkleiden«, präzisierte Stephanopoulos.
»Passen Sie auf«, sagte Smith, »ich hab keine Ahnung von diesem Kram und hab mir immer Mühe gegeben, dass das auch so bleibt, aber verkleidet? Wohl kaum. Mutanten, das hab ich gehört.«
»Gab es ihn später noch?«, fragte Stephanopoulos.
»Wen?«
»Den Magier. War er noch da, als Sie Heimweh kriegten und zurückkamen?«
»Nein. Ich hatte mich vorher genau erkundigt – wenn er noch da gewesen wäre, wäre ich nach Manchester gegangen.«
»Manchester?«, fragte ich. »Im Ernst?«
»Von mir aus auch Blackpool, wenn Manchester nicht gereicht hätte.«
»Aber er war weg?«
»Spurlos«, bestätigte Smith.
Das war Stephanopoulos’ Stichwort. »Und wer hat dann Jerry Johnson umgebracht?«
»Ich weiß es nicht.« Das Beinzittern setzte wieder massiv ein.
»War es der Magier?«
»Ich weiß es nicht.«
»War es der verdammte Magier?«
Smiths Kopf zuckte leicht nach rechts und links. »Sie wissen nicht, was Sie da von mir verlangen.«
»Wir können Sie beschützen«, sagte sie.
»Sie haben doch keine Ahnung.«
»Zeigen Sie’s ihm, Constable«, bat Stephanopoulos.
Ich öffnete die Hand und beschwor ein Werlicht. Ich legte viel Rot hinein und ließ es flackern und wabern, damit es beeindruckender aussah.
Zu meiner großen Befriedigung starrte Smith es in entgeistertem Erstaunen an.
»Wir wissen, wovon wir reden«, erklärte ich. Obwohl diese Form des Werlichts meine Niedrigenergie-Demo-Variante war, die ich in der Hoffnung entwickelt hatte, dass sie ohne elektronische Verluste auskam, warf ich einen besorgten Blick auf das Aufnahmegerät und schaltete es vorsichtshalber aus.
Smith starrte mich an. »Was soll das? Haben wir jetzt Zauberbullen? Seit wann das?«
»Seit den Bow Street Runners.«
»Ja, klar«, sagte Smith. »Und wo wart ihr, als Larry ’nen Kopf kürzer gemacht wurde?«
Eine gute Frage, die ich in einem günstigen Moment unbedingt Nightingale stellen musste.
»Das war in den Siebzigern«, gab ich zurück. »Jetzt ist heute.«
»Sie können ja auch wieder zurück nach Marbella gehen«, schlug Stephanopoulos vor.
»Oder nach Manchester«, sagte ich.
»Oder Blackpool«, ergänzte sie.
»Burlesquetanz im Schatten des Blackpool Tower.«
»Da ist noch ein anderer Typ«, sagte Smith plötzlich. »Noch so ’n Scheißmagier, keine Ahnung, wo der herkommt. Plötzlich ist er wie aus dem Nichts aufgetaucht.«
»Wann?«, fragte ich.
»Im Sommer. Ein paar Wochen nach diesem Brand in Covent Garden.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
Smith schüttelte den Kopf. »Ich hab gar nichts gesehen. Und auch nichts gehört.«
»Woher wissen Sie dann, dass er da ist?«, fragte Stephanopoulos.
»Ihr neumodischen Bullen glaubt, euch könnte keiner was erzählen. Aber Soho, das ist mein Terrain, mein Revier. Und wenn sich in meinem Revier was ändert, dann spür ich das, da bin ich wie ein Tiger. Mann, mich juckt’s in der kleinen Zehe, wenn ein neuer China-Imbiss aufmacht, also spür ich’s auch, wenn sich was derart Böses einschleicht.« Er sah uns mitleidig an. »Ein Bulle vom alten Schlag hätt’s auch gespürt. Selbst ein Flachwichser wie Johnson hätte gemerkt, dass da was im Busch ist.«
»Und hätte schnell geschaut, ob für ihn was dabei rausspringt«, sagte Stephanopoulos.
Smith zuckte mit den Schultern.
»Warum sind Sie nicht sofort verduftet?«, wollte ich wissen.
»Weil ich heutzutage meine Finger in nichts mehr drin hab, wo sie nicht reingehören, und meine Kundschaft eine völlig andere ist. Ich bin koscher. Also, warum sollte ich mir Sorgen machen? Außerdem steckt all mein Vermögen in meinem Geschäft.«
»Was war dann das Problem?«, fragte ich.
»Ich vermute mal, Sie«, sagte er. »Als Sie zum ersten Mal bei mir auftauchten, waren Sie kaum aus der Tür, da kommt er reinstolziert und setzt sich auf genau den Stuhl, wo Sie saßen.«
»Wer?«, fragte Stephanopoulos.
»Das ist der Punkt. Ich weiß es nicht. Ich kann mich an seine Stimme erinnern und daran, was er sagte, aber sein Gesicht – nichts.«
»Ach, kommen Sie.«
»Haben Sie schon jemals vergessen, wo Sie Ihre verdammten Schlüssel hingelegt haben? Genau so war’s, ich weiß hundertprozentig, dass er vor mir saß, aber Scheiße noch mal, ich komm nicht mehr darauf, wie er aussah.«
»Woher wollen Sie dann wissen, dass es der neue Magier war?«, fragte sie.
»Sind Sie taub? Oder glauben Sie, ich hab BSE? Ich kann mich nicht an das Gesicht von dem Kerl erinnern – hört sich das für Sie wie ein natürliches Vorkommnis an?«
Stephanopoulos warf mir einen Blick zu, aber ich konnte nur mit den Achseln zucken – magisch gesprochen überstieg das bei weitem meine Kompetenz. Außerdem wurde mir angesichts des Tempos, in dem meine beiden Fälle sich einander annäherten, allmählich eiskalt in der Magengrube.
»Was wollte Mr. Vergissmich denn von Ihnen?«, fragte ich.
»Hat nach demselben Vögelchen gefragt wie Sie.«
»Peggy?«
Er nickte. »Was ich über Peggy wüsste, was ich über Sie wüsste, und ob ich nicht damals bei Larrys Debüt dabei gewesen wäre? So nannte er es – Larrys Debüt.«
Stephanopoulos verspannte sich leicht; sie hätte gern gewusst, wer Peggy war, aber das zweite ungeschriebene Gesetz einer Vernehmung ist, dass die Polizei zu jeder Zeit als einige Front erscheinen muss. Vor einem Verdächtigen stellt man sich gegenseitig keine Fragen.
»Und Sie sind sicher, dass dieser Mann nicht mit dem alten Magier identisch war?«, erkundigte sie sich.
»Was soll ich sagen«, gab Smith zurück. »Er war jung und piekfein, das ist alles, was ich weiß.«
»Wo war der Club dieses alten Magiers?«, fragte ich.
»Das wollen Sie nicht wirklich wissen.«
»Doch, Smithy«, sagte ich. »Zufällig will ich genau das unbedingt wissen.«
Wenn man nicht ernstlich ein Rad ab hat, spaziert man nicht einfach zu einer verdächtigen Adresse und tritt die Tür ein. Abgesehen von allem anderen ist es nicht so leicht, eine Tür einzutreten – beim letzten Mal, als ich es versuchte, hatte ich mir einen Zeh gebrochen. In gewerbliche Einrichtungen einzudringen ist normalerweise noch schwerer als in Privatwohnungen, deshalb reservierten wir zuallererst ein Zugriffsteam für den späten Nachmittag. Das ließ uns genug Zeit, um gemäß Abschnitt 8 des Gesetzes zur Polizeiarbeit und Kriminalitätsbekämpfung von 1984 mit Hilfe einiger sorgfältig ausgewählter Höhepunkte aus der Vernehmung von Alexander Smith eine Durchsuchungsgenehmigung zu beantragen. »Wir« ist hier nicht ganz wörtlich zu nehmen, denn mit einer kompletten Mordkommission zusammenzuarbeiten hat gewisse Vorteile. Stephanopoulos hatte ein ganzes Regiment von Untergebenen zur Verfügung, die die Formalitäten erledigten. In der Zwischenzeit zogen wir beide uns ins Burlington Arms zurück und genehmigten uns was zu trinken. Wir fanden, das hatten wir uns verdient.
In den alten primitiven Zeiten hätte eine typische Polizistenkneipe folgendermaßen ausgesehen: Linoleumboden, nikotinfleckige Holzpaneele an den Wänden und das Ganze mit Messingplunder dekoriert, der nur deshalb antik war, weil niemand sich die Mühe machen wollte, ihn gegen irgendwas anderes auszutauschen. Aber die Zeiten hatten sich geändert, und heutzutage bekam man in der netten Gaststube im Obergeschoss eine sehr ordentliche Cumberlandwurst in Zwiebelsoße mit dicken Kartoffelchips, wozu ein Scrumpy Jack Cider sehr gut passte – genau das Richtige nach einem anstrengenden Morgenverhör. Stephanopoulos nahm die Lauchsuppe und einen Rucolasalat und dazu einen Single Malt. Ich bemerkte die Karaokeanlage in der Ecke und fragte, ob sie viel benutzt wurde.
»Sie sollten mal zu einem Wettsingen kommen. Wenn die Sitte gegen Kunstraub und Antiquitäten antritt, geht’s immer heiß her – I Will Survive darf nicht mehr gespielt werden, seit es deswegen mal eine Prügelei gab. Erzählen Sie mir von dieser anderen Ermittlung.«
Also erzählte ich ihr von den toten Jazzern und meinen Bemühungen, das oder die Wesen zu finden, die sich möglicherweise von ihnen ernährten.
»Jazzvampire«, seufzte Stephanopoulos.
»Ich hätte nie anfangen sollen, sie so zu nennen«, murmelte ich.
»Was glauben Sie, was der Magier mit ihnen vorhat?«
»Weiß ich nicht. Wir müssen einfach noch mehr herausbekommen.«
Auf dieses Stichwort hin näherte sich einer ihrer Untergebenen, ein leicht angesäuert wirkender DC, und überreichte seiner Chefin den Durchsuchungsbeschluss. Stephanopoulos wartete sorgsam ab, bis er weg war, bevor sie mich fragte, wie wir die Razzia am besten angehen sollten.
Abgesehen von der Möglichkeit, zu klingeln und höflich zu fragen, ob man reinkommen darf, gibt es zwei Arten, einen Durchsuchungsbeschluss auszuführen. Einmal das klassische Hauruckverfahren: Man verschafft sich gewaltsam Eintritt, brüllt »Polizei« und »Keiner rührt sich« und tritt jeden zusammen, der sich nicht sofort mit über dem Kopf verschränkten Händen auf den Boden wirft, wenn man ihn dazu auffordert. Die zweite Methode hat keinen offiziellen Namen, aber sie besteht darin, dass Polizisten in Zivil unauffällig zur Tür geschlendert kommen, sie dezent eindrücken und nach drinnen strömen wie eine Horde extrem penetranter Staubsaugervertreter. Da wir nicht die geringste Ahnung hatten, was uns erwartete, schlug ich Letzteres vor.
»Und halten Sie ein paar zusätzliche Leute draußen in Bereitschaft. Nur für den Fall.«
»Sie haben leicht reden. Ist ja nicht Ihr Budget, von dem die Überstunden abgehen.« Sie kippte den Rest ihres Whiskys hinunter. »Wer geht zuerst rein?«
»Ich.«
»Nie im Leben.«
Schlussendlich fanden wir einen Kompromiss: Wir würden beide gehen.
In den fünfziger und sechziger Jahren waren die Immobilien in Soho spottbillig. Wer wollte schon mitten im verqualmten alten London wohnen? Die Mittelschicht floh in Scharen in die begrünten Vororte, und die Arbeiterklasse wurde in brandneue Schlafstädte in der Wildnis von Essex und Hertfordshire verfrachtet, die nur deshalb New Towns genannt wurden, weil der Begriff Bantustan zu der Zeit noch nicht so bekannt war. Die Regency-Reihenhäuser, die das Gros der erhaltenen Bausubstanz in Soho ausmachten, wurden in Wohneinheiten und Läden unterteilt, die Keller zu Clubs und Bars ausgebaut. Als die Grundstückspreise wieder zu steigen begannen, schnappten sich Immobilienunternehmer die zerbombten Häuser und Trümmergrundstücke und errichteten darauf die formlosen Betonklötze, denen die Siebziger ihren Ruf als strahlende Ära der Weltarchitektur verdanken. Zur Enttäuschung der Verfechter des Futurismus war Soho jedoch nicht so leicht unterzukriegen. Dank oftmals verwirrender Eigentumsverhältnisse, der urwüchsigen Dickköpfigkeit der Einwohner und schlichter Korruption blieb die Sanierungstätigkeit eingedämmt, bis der absonderliche Drang, die historischen Zentren britischer Städte in eine Ansammlung gigantischer Klohäuschen zu verwandeln, wieder abgeebbt war. Aber Immobilienspekulanten sind eine gerissene Spezies, und einer ihrer bewährtesten Tricks – falls man ihn sich leisten kann – besteht darin, ein Gebäude so lange unbewohnt zu lassen, bis es derart verfällt, dass es abgerissen werden muss.
Genau so sah unser Zielobjekt aus – es lag zwischen einem Minisupermarkt und einem Sexshop und wirkte im Vergleich zu seinen Nachbarn heruntergekommen und vernachlässigt. Schmutzige Fensterscheiben, verrußte Wände und abblätternde Farbe an der Tür. Vor der Beantragung des Durchsuchungsbeschlusses hatten Stephanopoulos’ Schreibtischknechte eine Überprüfung der Besitzverhältnisse durchgeführt und waren tatsächlich auf das typische Hütchenspiel verschiedener Immobiliengesellschaften gestoßen. Da wir schlecht abwarten konnten, bis Klarheit in die Sache gebracht war, hatten wir uns einfach einen Beschluss für das ganze Gebäude geholt.
Um sicherzugehen, beobachteten wir das Haus eine ganze Stunde lang von einem zivilen Astra aus. Niemand kam heraus oder ging hinein. Stephanopoulos vergewisserte sich noch einmal, dass alle Teams auf Posten waren, dann gab sie den Befehl zum Entern.
Wir schwärmten alle aus den Autos und pirschten uns an die Hintertür heran. Dort holte einer vom Zugriffsteam mit einem Vierzig-Pfund-Nahkampframmbock aus und brach die Tür mit einem einzigen geübten Stoß auf. Einer seiner Kollegen begab sich, einen durchsichtigen Plastikschild vor sich, zuerst hinein, ein weiterer blieb mit der Schrotflinte im Anschlag dicht hinter ihm. Die Flinte war für den Fall gedacht, dass der Hausbewohner sich einen Hund hielt, aber darüber bewahren wir normalerweise Stillschweigen, weil die Leute sich sonst bloß aufregen.
Stephanopoulos und ich gingen hinter ihnen rein. Für alle, die nicht zum Zugriffsteam gehören, zählt das als »zuerst«, nur falls Sie sich wundern. Unter unseren Jacken trugen wir Stichschutzwesten und am Gürtel unsere ausziehbaren Schlagstöcke. Vor uns lag ein fensterloser Flur; zur Linken war eine geschlossene Tür und zur Rechten eine Treppe nach unten. Als ich versuchsweise auf den Lichtschalter drückte, leuchtete düster eine schirmlose 40-Watt-Glühbirne auf. Die Wände waren mit einer uralten rot-goldenen Velourstapete verkleidet, die sich an der Oberkante abzulösen begann.
Stephanopoulos tippte einem der Einbruchspezialisten auf die Schulter und zeigte auf die Tür. Wieder wurde der Rammbock geschwungen, und Plastikschild und Schrotflinte stiegen die dahinter liegende Treppe hinauf, gefolgt von einem halben Dutzend Mordermittlern und Angehörigen der hiesigen Standortunterstützung. Sie würden sich die oberen Geschosse vornehmen, während Stephanopoulos und ich uns unten umschauen wollten.
Ich lenkte den Strahl meiner Taschenlampe in die schattigen Tiefen der Treppe. Sie war mit einem robusten Nylonteppich belegt, wie es ihn auch in Kinos und Kindergärten gibt, passend zur Tapete ebenfalls in Rot-Gold. Ich hatte ein sehr ungutes Vorgefühl, möglicherweise ein Vestigium oder aber auch nur das sehr vernünftige Widerstreben, eine unbekannte dunkle Treppe hinunterzusteigen.
Das Team trampelte nach oben wie eine Horde Babyelefanten in einer Holzhandlung. Stephanopoulos sah mich an. Ich nickte, und wir machten uns auf den Weg nach unten. Im Schein der beiden lichtstarken Taschenlampen, die wir uns von der Standortunterstützung ausgeliehen hatten, kam auf dem ersten Absatz ein Kassenschalter in Sicht. Daneben befand sich ein Tresen, hinter dem Finsternis gähnte. Ich hoffte, dass es sich nur um die Garderobe handelte.
Vorsichtig, dicht an der Wand, näherte ich mich dem Absatz – ich war nicht erpicht darauf, dass etwas hinter der Ecke hervorsprang, bevor ich es sah. Aber die Treppe führte nur in der Gegenrichtung weiter nach unten in die Dunkelheit. Es roch nach Schimmel und muffigem Teppich, was ich beruhigend fand. Ich beugte mich über den Garderobentresen und ließ den Lichtstrahl durch die Finsternis gleiten. Sie entpuppte sich als schmaler L-förmiger Raum mit Kleiderhaken und Ablagen. Ich kletterte über den Tresen und sah mich genauer um. Nirgends hingen vergessene Mäntel oder Taschen herum, aber auf dem Boden lagen ein paar Papierfetzen. Ich hob einen auf. Es waren Abrisse von Eintrittskarten.
»Was gefunden?«, fragte Stephanopoulos. Ich schüttelte den Kopf.
Sie schnippte mit den Fingern, und zwei Leute von der Mordkommission mit Handschuhen und Beweisbeuteln in der Hand kamen zu uns heruntergestiegen. Auf einen Wink von Stephanopoulos trabten sie an mir vorbei, um die Garderobe einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen. Eine von ihnen war eine junge Somalierin in Motorradlederjacke und edlem schwarzem Seiden-Hijab. Sie bemerkte, dass ich sie anstarrte, und grinste. »Muslim-Ninja«, flüsterte sie.
Gewöhnlich macht die Polizei gern ordentlich Lärm, wenn sie in ein Gebäude eindringt, weil es (außer bei Psychopathen) immer besser ist, wenn die Bewohner Zeit haben, sich gut zu überlegen, ob sie irgendwelche Dummheiten begehen wollen. In diesem Fall aber verhielten wir uns alle geradezu unnatürlich leise, damit ich beim Weitergehen nach Vestigia fahnden konnte. Ich hatte versucht, Stephanopoulos das Konzept der Vestigia zu erklären. Ich bin nicht sicher, ob sie es ganz verstand, aber die Idee, mir den Vortritt zu überlassen, schien sie plötzlich sehr ansprechend zu finden. Ich ging weiter die Treppe hinunter.
Zuerst sah ich nur den Unterbau des Glaskastens: Mahagoni und Messing, das im Strahl der Taschenlampe aufblitzte. Je tiefer ich hinunterstieg, desto mehr davon kam in Sicht. Das Licht der Taschenlampe spiegelte sich in der vorderen und der hinteren Scheibe der Glasverkleidung, und ich erkannte, dass es eine Art Wahrsageautomat war, der da mitten ins Foyer des Clubs platziert worden war. Ich ließ den Strahl durch den Raum dahinter gleiten und bekam flüchtige Eindrücke von einer Bar, Tischen mit darauf gestapelten Stühlen und dunklen Rechtecken von Türen, die weiter hineinführten.
Mich überkamen Vestigia aus aufblitzendem Licht, Zigarettenrauch, Benzin und teurem Parfüm, neuen Ledersitzen und den Rolling Stones mit I Can’t Get No Satisfaction. Ich trat rasch ein paar Schritte zurück und nahm das Wahrsagekabinett in Augenschein.
Es beherbergte keines der üblichen Wahrsagerpuppenmodelle mit Kopf und Schultern. Stattdessen ruhte der Kopf direkt auf einem runden Sockel aus mit Metallbändern verstärktem Glas. Aus dem abgeschnittenen Hals hingen zwei ledrige, blasenartige Säcke herab, die beklemmend an Lungen erinnerten. Den Kopf selbst zierte der obligatorische Turban, aber der Standard-Großwesirbart fehlte. Die Haut war wächsern, und das ganze Ding sah unbehaglich echt aus – weil es das natürlich auch war.
»Larry die Lerche, nehme ich an.«
Stephanopoulos trat neben mich. »Oh Gott.« Dann kramte sie ein Fahndungsfoto aus der Tasche, vermutlich ein Relikt aus Larrys krimineller Karriere, und hielt es zum Vergleich hoch.
»Lebendig sah er besser aus«, bemerkte ich.
Ich spürte es schon, bevor es passierte; es ähnelte auf seltsame Weise dem Gefühl, wenn Nightingale mir eine Forma oder einen Zauberspruch vorführte – als ob etwas weit hinten in meinem Bewusstsein einrastete. Aber mit einem entscheidenden Unterschied: dieses Gefühl hier rappelte und surrte wie ein Uhrwerk.
Und schon setzte sich das echte Uhrwerk in Gang, und mit einem staubigen Zischen füllten sich die Säcke unter Larrys Hals mit Luft. Sein Mund öffnete sich, und eine Reihe erstaunlich weißer Zähne wurde sichtbar. Die Muskeln in seiner Kehle zuckten, dann begann er zu sprechen.
»Hereinspaziert, nur hereinspaziert in den Garten der überirdischen Lüste. Müder Pilger, streife den Mantel puritanischer Zurückhaltung ab und entledige dich des Korsetts der bourgeoisen Moral. Und labe dich hier an all den unerhörten Genüssen, die das Leben zu bieten hat.«
Der Mund blieb offen stehen, während die verborgene Maschine ratternd und surrend noch einmal die Säcke mit Luft füllte.
»Um Christi willen, bitte tötet mich«, sagte Larry. »Bitte, tötet mich.«