Der Groucho Club, dessen Name sich auf das berühmte Zitat des amerikanischen Komikers bezog, war etwa zur Zeit meiner Geburt gegründet worden und auf die Sorte Künstler und Medienleute ausgerichtet, die sich diese Art ironischen Postmodernismus leisten konnten. Normalerweise nahm ihn das Auge des Gesetzes nicht weiter wahr, denn egal wie schick die Gäste es fanden, nonkonformistisch zu sein, sie lebten das in der Regel nicht samstagabends auf der Straße aus – außer natürlich, es bestand die Chance, dass es am nächsten Morgen in die Zeitung kam. Hier gingen so viele Prominente in verschiedenen Stadien der Drogensucht ein und aus, dass auf dem Bürgersteig gegenüber eine hübsche ökologische Nischenpopulation von Paparazzi entstanden war. Das erklärte, warum Stephanopoulos die Straße so weiträumig abgeriegelt hatte. Ich konnte mir vorstellen, wie beleidigt die Knipser jetzt vor sich hinbrüteten.

»Sie denken an St. John Giles?«, fragte ich.

»Der Modus Operandi ist recht eindeutig«, sagte Stephanopoulos.

St. John Giles war ein mutmaßlicher Samstagabendverführer und -vergewaltiger, dessen Karriere ein abruptes Ende genommen hatte, als vor ein paar Monaten eine Frau oder jedenfalls etwas, das aussah wie eine Frau, ihm in einem Club den Penis abgebissen hatte – mit ihrer Vagina. Man nennt es Vagina dentata, und es gab nie einen medizinisch belegten Fall. Das weiß ich, weil Dr. Walid und ich bis zurück ins siebzehnte Jahrhundert nach einem gesucht haben.

»Sind Sie im Fall Giles schon weitergekommen?«, fragte Stephanopoulos.

»Nein«, gab ich zu. »Wir haben die Beschreibung, die uns das Opfer und sein Freund gegeben haben, und eine unscharfe Aufnahme einer Überwachungskamera, das war’s.«

»Wir können zumindest eine vergleichende Opferanalyse anstellen. Rufen Sie in Belgravia an, lassen Sie sich die Fallnummer geben und übertragen Sie Ihre EPs in unsere Ermittlung.«

Eine EP oder »erfasste Person« ist jemand, der bei der Ermittlung in irgendeiner Weise die Aufmerksamkeit der Polizei erregt hat und in das umfassende Datensystem HOLMES eingegeben wurde. Zeugenaussagen, Ergebnisse der Spurensicherung, Verhörnotizen der Ermittler, selbst die Aufnahmen von Überwachungskameras – all das wird in die computerisierten Recherchemühlen gefüttert. Die erste Version des Systems wurde nach den katastrophal schiefgelaufenen Ermittlungen im Fall des Yorkshire Ripper entwickelt. Der Ripper, Peter Sutcliffe, war schon mehrere Male vernommen worden, bevor er dann rein zufällig bei einer Verkehrskontrolle geschnappt wurde. Die Polizei kann damit leben, als korrupt, brutal oder autoritär zu gelten, aber dumm auszusehen ist unverzeihlich. Das nämlich zerstört tendenziell das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Gesetzeshüter und ist der öffentlichen Ordnung äußerst abträglich. Da damals keine geeigneten Sündenböcke zu finden waren, musste die Polizei sich notgedrungen daran machen, ihren Apparat, der sich bis dahin rühmte, aus unfähigen Amateuren zu bestehen, zu professionalisieren. HOLMES war ein Bestandteil dieses Prozesses.

Damit all die Daten überhaupt von irgendeinem Nutzen waren, mussten sie im richtigen Format eingegeben werden, wobei alle relevanten Details hervorgehoben und zusätzlich in ein Verzeichnis aufgenommen werden mussten. Es versteht sich von selbst, dass ich damit im Fall St. John Giles noch nicht mal angefangen hatte. Ich war in Versuchung zu erwähnen, dass ich für eine Zwei-Mann-Einheit arbeitete, von denen der eine gerade erst kürzlich begriffen hatte, was Kabelfernsehen war, aber das war Stephanopoulos ja nicht neu.

»Ja, Boss«, sagte ich. »Wie heißt das Opfer?«

»Jason Dunlop. Clubmitglied, freier Journalist. Hatte für heute Nacht oben ein Zimmer reserviert. Er wurde zuletzt gesehen, als er kurz nach zwölf hier runter zum Lokus ging. Kurz nach drei hat ihn die Putzfrau gefunden.«

»Todeszeitpunkt?«

»Zwischen Viertel vor eins und halb zwei, plus/minus der übliche Fehlerspielraum.«

Bis der Pathologe ihn aufschnitt, würde der Fehlerspielraum in beide Richtungen bei etwa einer Stunde liegen.

»Fällt Ihnen was Besonderes auf?«, wollte sie wissen.

Ich musste nicht nachfragen, was sie meinte. Ich seufzte. Mein Bedürfnis, ihm noch einmal nahe zu kommen, hielt sich in Grenzen, aber ich ging in die Hocke und nutzte die Gelegenheit, um mir sein Gesicht näher anzuschauen. Seine Gesichtszüge waren erschlafft, aber der Mund wurde von dem Umstand, dass das Kinn auf der Brust ruhte, geschlossen gehalten. Der Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, und ich fragte mich, wie lange er mit in die Lenden gekrallten Händen dagesessen hatte, bevor er starb. Zuerst nahm ich kein Vestigium wahr, aber dann spürte ich ganz schwach, im Bereich von vielleicht hundert Milliwuff, ein Echo von Portwein, Melasse und brennenden Kerzen.

»Und?«, drängte sie.

»Nicht wirklich«, sagte ich. »Falls er von Magie angegriffen wurde, dann nicht direkt.«

»Müssen Sie das unbedingt so nennen? Bezeichnen wir es lieber als ›andere Mittel‹.«

»Von mir aus, Boss. Also, es ist möglich, dass dieser Angriff nichts mit ›anderen Mitteln‹ zu tun hatte.«

»Nicht? Eine Frau mit Zähnen in der Muschi? Für mich klingt das ziemlich ›anders‹, für Sie nicht?«

Darüber hatten Nightingale und ich schon nach dem ersten Angriff diskutiert. »Möglicherweise trug sie einen Einsatz, verstehen Sie, wie ein Gebiss, nur … hochkant. Wenn eine Frau so was hätte, glauben Sie nicht, sie könnte …« Ich bemerkte, dass ich mit der Hand zuschnappende Bewegungen machte, und hörte schnell auf damit.

»Also, ich könnte es nicht«, sagte Stephanopoulos. »Aber danke für die faszinierende These, Constable. Die wird mir heute Nacht den Schlaf rauben.«

»Seien Sie froh, dass Sie kein Mann sind, Boss.« Im nächsten Moment wünschte ich inbrünstig, das hätte ich nicht gesagt.

Sie bedachte mich mit einem seltsamen Blick. »Sie sind ein frecher kleiner Scheißer, hm?«

»Sorry, Boss.«

»Wissen Sie, was ich mag, Grant? Eine nette kleine Freitagabend-Messerstecherei, bei der irgendein armer Trottel eine Klinge in die Eingeweide kriegt, weil er einen anderen besoffenen Mistkerl komisch angeschaut hat. Das ist ein Motiv, das ich nachvollziehen kann.« Sie seufzte.

Einen Moment lang standen wir da und sehnten uns nach den fernen, unschuldigen Zeiten des gestrigen Abends.

»Sie sind offiziell nicht Teil des Ermittlungsteams«, sagte sie dann. »Betrachten Sie sich lediglich als Berater. Ich bin der diensttuende leitende Ermittler, und wenn ich der Meinung bin, dass ich Sie brauche, lasse ich Sie rufen. Verstanden?«

»Ja, Boss«, sagte ich. »Es gäbe da ein paar Spuren, denen ich nachgehen könnte, mit ›anderen Mitteln‹.«

»In Ordnung«, sagte Stephanopoulos. »Aber alle Maßnahmen, die Sie einleiten wollen, klären Sie vorher mit mir ab. Alle normalen Hinweise geben Sie in HOLMES ein, und im Gegenzug stelle ich sicher, dass Sie bei allen gruseligen Sachen mit einbezogen werden. Klar?«

»Jawohl.«

»Guter Junge. Jetzt verpissen Sie sich, und hoffen wir, dass Sie mir nicht noch mal unter die Augen kommen müssen.«

Ich trottete zurück ins Spurensicherungszelt und zog mir den Overall aus, aber vorsichtig, um mir nicht die Klamotten mit Blut zu besudeln.

Stephanopoulos wollte, dass ich mich bei der Ermittlung bedeckt hielt. Da bei unserem letzten gemeinsamen Fall, dem Covent-Garden-Aufruhr, vierzig Personen im Krankenhaus gelandet und zweihundert – darunter fast die gesamte Besetzung von Billy Budd – verhaftet worden waren, ein Deputy Assistant Commissioner vom Dienst suspendiert und Stephanopoulos’ eigener Vorgesetzter aus medizinischen Gründen beurlaubt worden war, nachdem ich ihn mit einer Spritze voller Elefantenbetäubungsmittel außer Gefecht gesetzt hatte (zu meiner Verteidigung möchte ich hinzufügen, dass er da gerade nach Kräften versuchte, mich zu erhängen), und das alles, noch ehe das Opernhaus demoliert wurde und der Markt in Flammen aufging, hatte ich jetzt überhaupt nichts dagegen, mich bedeckt zu halten.

 

Im Folly fand ich Nightingale im Frühstücksraum vor, wo er sich Kedgeree von einem der silbernen Präsentierteller nahm, die Molly beharrlich Morgen für Morgen auf dem Büffettisch aufstellt. Ich hob den Deckel von einem der anderen und erblickte eine Cumberlandwurst, garniert mit pochierten Eiern. Nach einer durchwachten Nacht kann man den Schlafmangel manchmal ausgleichen, indem man sich ein ordentliches Frühstück zuführt. Bei mir klappte es zumindest so weit, dass ich Nightingale über die Leiche im Groucho Club informieren konnte, obwohl ich mich aus unerfindlichen Gründen nicht dazu durchringen konnte, etwas von der Cumberlandwurst zu essen. Toby saß in Habachtstellung neben dem Tisch und schenkte mir den wachsamen Blick eines Hundes, der nicht zögern wird, jede noch so große fleischliche Herausforderung anzunehmen, die das Leben ihm vor die Pfoten wirft.

Als der bedauernswert kupierte St. John Giles unsere Aufmerksamkeit erregte, hatten wir einen forensischen Odontologen hinzugezogen, um zu bestätigen, dass die Wunde durch Zähne verursacht worden war und nicht durch ein Messer, ein Miniatur-Fuchseisen oder sonst was. Der Odontologe hatte, so gut er konnte, das verantwortliche Gebiss rekonstruiert. Es sah einem menschlichen Gebiss bemerkenswert ähnlich, nur vertikal orientiert und weniger gebogen. Seiner Meinung nach hatten Eck- und Schneidezähne weitgehend die im menschlichen Gebiss übliche Form, aber die Backenzähne waren ungewöhnlich dünn und scharf. »Sieht eher nach einem Fleischfresser als einem Allesfresser aus«, hatte er gemeint. Er war ein netter Kerl und sehr professionell, aber ich hatte das deutliche Gefühl, dass er glaubte, wir wollten ihn verschaukeln.

Diese Geschichte hatte eine bizarre Diskussion über den menschlichen Verdauungsvorgang nach sich gezogen, die erst endete, nachdem ich hingegangen war, ein paar Biologie-Schulbücher besorgt hatte und mit Nightingale den Magen, Dünn- und Dickdarm und ihre jeweilige Funktion durchgesprochen hatte. Auf meine Frage, ob er das nicht in der Schule gehabt hätte, meinte er, möglicherweise schon, aber er hätte da nicht aufgepasst. Als ich ihn fragte, wobei er denn aufgepasst hätte, sagte er, Rugby und Zaubern.

»Zaubern?«, fragte ich. »Sie wollen doch nicht sagen, Sie waren in Hogwarts auf der Schule?«

Was dazu führte, dass ich ihm die Harry-Potter-Bücher erklären musste, woraufhin er zugab, ja, er habe eine Schule für Söhne aus gewissen Familien mit ausgeprägter magischer Tradition besucht, aber sie sei der Schule in den Büchern nicht sehr ähnlich gewesen. Die Idee mit dem Quidditch gefiel ihm zwar, aber sie hatten hauptsächlich Rugby gespielt, und es war streng verboten gewesen, auf dem Spielfeld Magie einzusetzen.

»Aber wir hatten eine Art Squash«, erzählte er, »bei dem wir die Bewegungszauber benutzten. Da konnte es recht lebhaft zugehen.«

Die Schule war im Zweiten Weltkrieg vom Militär requiriert worden, und als sie Anfang der fünfziger Jahre wieder zur zivilen Benutzung freigegeben worden war, hatte es nicht mehr genug geeignete Schüler gegeben, dass es sich gelohnt hätte. »Oder genug Lehrer«, hatte Nightingale gesagt und dann sehr lange geschwiegen. Ich hatte es vermieden, das Thema je wieder anzuschneiden.

Wir hatten viel Zeit damit verbracht, in der Bibliothek nach Verweisen auf die Vagina dentata zu suchen. So war ich auf Wolfes Exotica gestoßen. Was Polidori für makabre Todesfälle war, war Samuel Erasmus Wolfe für kuriose Tierarten und das, was Dr. Walid als »Kryptozoologie« bezeichnete. Er war ein Zeitgenosse von Huxley und Wilberforce und auf topaktuellem Stand, was die jüngsten Evolutionstheorien seiner Zeit betraf. In seiner Einführung in Magie als Auslöser bei der pseudo-Lamarck’schen Vererbung stellt er die These auf, dass in einem Organismus, der Magie ausgesetzt ist, möglicherweise Veränderungen vor sich gehen, die er seinen Nachkommen weitervererben kann. (Unter modernen Biologen ist so etwas als »weiche Vererbung« bekannt, und wer sie heute zu verfechten wagte, würde umgehend zum Gegenstand allgemeiner Heiterkeit.) Es klang plausibel, aber unglücklicherweise wurde Wolfe beim Baden vor Sidmouth von einem Hai gefressen, ehe er den Teil seines Buches vollenden konnte, in dem er seine These beweist.

Ich fand, dass man mit dieser These zumindest theoretisch die »Evolution« vieler Kreaturen erklären konnte, die in den Exotica beschrieben werden. Die Genii locorum, die ja definitiv existierten, wurden in Wolfes Theorie mit keinem Wort erwähnt. Aber an ihnen konnte man sehen, dass eine Person, die unter den Einfluss der mächtigen unterschwelligen Magie geriet, von der manche Orte durchdrungen zu sein schienen, vielleicht tatsächlich körperlich von selbiger verändert werden konnte. So geschehen zum Beispiel bei Vater Themse, Mama Themse und selbst Beverley Brook, die ich in Seven Dials geküsst hatte.

An die Nachkommen weitervererben?, dachte ich. Vielleicht war es ganz gut, dass Beverley Brook sich wohlverwahrt außer Reichweite jeglicher Versuchung befand.

»Angenommen, die Zahnforensik bestätigt, dass es dieselbe ›Kreatur‹ war«, sagte ich, »können wir dann davon ausgehen, dass sie nicht natürlich ist? Ich meine, sie muss doch in irgendeiner Weise magisch sein, oder? Hieße das nicht, dass sie überall, wo sie sich aufhält, eine Spur aus Vestigia hinterlassen müsste?«

Nightingale schenkte uns Tee nach. »Bisher haben Sie nichts dergleichen gespürt.«

»Nein. Aber falls sie ein Nest hat, ein Schlupfloch, wo sie sich meistens aufhält, müssten die Vestigia sich dort akkumulieren, und man müsste es leichter aufstöbern können. Und da beide Angriffe in Soho stattgefunden haben, könnte es doch sein, dass dort auch ihr Versteck ist.«

»Das ist ziemlich spekulativ.«

»Aber ein Anfang.« Ich warf Toby eine Wurst zu, und er legte einen sauberen Sprung aus dem Stand hin, um sie zu fangen. »Was wir brauchen, ist jemand, von dem wir wissen, dass er übernatürliche Sachen aufspüren kann.«

Wir sahen beide zu Toby, der seine Wurst mit einem Haps hinunterschlang.

»Nein«, sagte ich. »Nicht Toby. Jemand, der mir einen Gefallen schuldet.«

 

Als ich den Frieden zwischen den beiden Hälften des Themseflusses aushandelte, gehörte dazu auch ein Austausch von Geiseln. Sehr mittelalterlich, aber das Beste, was mir zu dem Zeitpunkt einfiel. Aus Mama Themses Hofstaat – dem Londoner Teil – wählte ich Beverley Brook mit den großen dunklen Augen und dem spitzbübischen Gesicht, und im Austausch dafür kam Ash mit dem Filmstarlächeln und dem schmalzig blonden Jahrmarktcharisma. Nach einem ziemlich katastrophalen Aufenthalt im Haus von Mama Themse in Wapping hatten ihre ältesten Töchter ihn ins Generator gesteckt, ein Studentenhostel an der Grenze zwischen dem rauen King’s Cross und dem wohlhabenden Bloomsbury. Es lag außerdem nicht weit vom Folly entfernt – nur für den Notfall.

Das Hostel befand sich in einem Hinterhaus am Tavistock Place. Von außen war es ein typisches cremefarbenes georgianisches Baudenkmal, aber drinnen dominierten leicht zu reinigende Primärfarben, wie sie auch gern für die Kulissen von Kinderfernsehsendungen verwendet werden. Das Personal trug blau-grüne T-Shirts, Baseballkappen und stets ein fröhliches Lächeln im Gesicht, das ihnen ein wenig entgleiste, als sie meiner ansichtig wurden.

»Ich will ihn nur abholen«, versicherte ich, und schon gewann das Lächeln die vorschriftsmäßige Intensität zurück.

Als Ash mir die Zimmertür öffnete, nahm ich missbilligend zur Kenntnis, dass er, obwohl ich nach meiner durcharbeiteten Nacht noch ein kurzes Nickerchen gehalten, geduscht und sogar ein bisschen Papierkram erledigt hatte, gerade erst aufgestanden war. Bekleidet war er mit einem schmuddeligen olivgrünen Badetuch.

»Petey. Komm rein.«

Damit der fundamentale Jugendherbergscharme auf jeden Fall erhalten bleibt, sind auch die Einzelzimmer im Generator mit Etagenbetten ausgestattet. Eigentlich sind es gar keine richtigen Einzelzimmer, man muss auch hier jederzeit darauf gefasst sein, es mit mindestens einer weiteren Person zu teilen. Ash hatte sich kurz nach seinem Einzug weiß Gott woher einen Schweißbrenner organisiert und das Etagenbett in ein Doppelbett umgestaltet. Wenn schon jemand das Zimmer mit ihm teilen sollte, dann gefälligst auch die Bettdecke. Als die Betreiber sich beschwerten, schickte Mama Themse ihre Tochter Tyburn vorbei, um die Sache zu regeln. Und wenn Lady Ty etwas regelt, dann bleibt es auch dabei. Fairerweise muss man sagen, dass Ash kaum eine Nacht allein in dem Zimmer verbringt. Ty kann ihn nicht ausstehen, aber das sah ich eher als Bonus, denn vorher war ich ihr bevorzugtes Hassobjekt gewesen.

Die junge Dame der vergangenen Nacht beäugte mich misstrauisch hinter der sicheren Bastion der Bettdecke hervor. Da das Bett die einzige Sitzgelegenheit war, ließ ich mich am Fußende nieder und lächelte sie ermutigend an. Sie blickte nervös Ash nach, der im Flur in Richtung der Gemeinschaftsduschen verschwand.

»Tag«, sagte ich, und sie nickte zurück.

Sie war ziemlich hübsch – feine Wangenknochen, olivfarbene Haut und pechschwarzes Haar, das ihr in zierlichen Locken auf die Schultern fiel. Erst als sie sich so weit entspannt hatte, dass sie wagte, sich aufzusetzen, wobei die Bettdecke herunterglitt und eine haarlose, vollkommen flache Brust entblößte, dämmerte mir, dass er gar keine Sie war.

»Sind Sie ein Mann?«, fragte ich. Bloß um zu beweisen, dass das Training in Hendon in Fragen der »korrekten Herangehensweise bei sensiblen Themen« nicht umsonst gewesen war.

»Nur biologisch«, sagte er. »Und du?«

Die Antwort blieb mir erspart, weil Ash zurück ins Zimmer gestürmt kam und sich splitternackt auf die Jagd nach einer verwaschenen Jeans und einem T-Shirt mit Aufdruck Bra’Anancy machte, das er garantiert von Effra hatte. Er tauschte mit dem Jüngling im Bett einen Zungenkuss aus, dann zwängte er seine Füße in ein Paar Dr. Martens, und los ging es.

Ich wartete, bis wir am Auto angekommen waren, bevor ich mich nach dem Typen in seinem Bett erkundigte.

Ash zuckte mit den Schultern. »Ich hab erst in meinem Zimmer gemerkt, dass es ein Kerl war. Und wir hatten den ganzen Abend so viel Spaß gehabt, da dachte ich, warum nicht?«

Für jemanden, der bis vor einem Vierteljahr noch nie in einer größeren Häuseransammlung als Cirencester gewesen war, entpuppte sich Ash als erstaunlich metro.

»Wohin geht’s eigentlich?«, fragte er beim Einsteigen.

»Dein Lieblingsstadtteil. Soho.«

»Gibst du mir ein Frühstück aus?«

»Mittagessen, meinst du wohl.«

Es endete damit, dass wir uns in der Berwick Street eine Portion Fish and Chips holten. Die Berwick Street besteht aus Büros von TV-Gesellschaften am einen Ende, einem kleinen Straßenmarkt in der Mitte und einigen halbversteckten Sexshops am anderen Ende. Sie beherbergt auch ein paar weltberühmte Musikläden, ausschließlich Vinyl – die Art Adressen, wo mein Dad hingehen würde, um seine Sammlung zu verkaufen. Was zu seinen Lebzeiten garantiert niemals passieren wird.

Ich erklärte Ash, was ich von ihm wollte.

»Ich soll einfach in Soho abhängen?«

»Ja.«

»Mich in Pubs und Clubs rumtreiben und Leute kennenlernen.«

»Ja. Und die Augen aufsperren, ob dir eine psychopathische, möglicherweise übernatürliche Killerin über den Weg läuft«, erläuterte ich.

»Also in Clubs nach gefährlichen Frauen Ausschau halten. Wie sieht sie aus?«

»Ungefähr wie Molly, aber vielleicht mit einer anderen Frisur. Ich hoffe, dass sie dir auf diese gewisse spirituelle Weise auffallen wird, du weißt schon.«

Ich konnte beobachten, wie er diesen Satz im Kopf übersetzte. »Oh«, sagte er dann. »Kapiert. Und was mach ich, wenn ich sie sehe?«

»Du rufst mich an und gehst nicht in ihre Nähe. Das ist ein reiner Beobachtungsauftrag, ist das klar?«

»Klar. Und was ist für mich drin?«

»Ich hab dir gerade Fish and Chips spendiert, oder?«

»Geizhals. Ich brauche zumindest Kleingeld für was zu trinken.«

»Ich ersetze dir die Auslagen.«

»Komm, rück einen Vorschuss raus.«

Wir fanden einen Geldautomaten, und ich drückte ihm drei Fünfziger in die Hand. »Ich will die Quittungen. Oder ich erzähle Tyburn, was damals in dieser Nacht in Mayfair wirklich passiert ist.«

»Das war doch nur eine Katze«, sagte Ash.

»Es gibt Sachen, die sollte niemand über sich ergehen lassen müssen. Nicht mal eine Katze.«

»Sah aber gut aus, so glattrasiert.«

»Ich glaube nicht, dass Tyburn das auch fand.«

»Also, ich denke, ich fang im Endurance mit meiner Kundschaftermission an«, verkündete er. »Kommst du mit?«

»Keine Zeit. Manche Leute müssen für ihren Lebensunterhalt arbeiten.«

»Ich auch«, versetzte er. »Ich mach deinen Job.«

»Sei ja vorsichtig«, ermahnte ich ihn.

»Als zög’ ich aus zum Wildern«, sang er. »In herrlich mondheller Nacht.«

Ich sah noch, wie er im Wegschlendern einen Apfel von einem Marktstand stibitzte.

Die Sache mit Soho ist die: Hier Auto zu fahren ist verdammt ätzend, und es führt keine einzige U-Bahn- oder Buslinie hindurch, daher geht man unweigerlich zu Fuß. Und weil man zu Fuß geht, begegnet man Leuten, die man sonst vielleicht verpasst hätte. Ich hatte den Ford an der Beak Street abgestellt und wollte über die Broadwick Street dorthin zurück, aber bevor ich die richtige Soho-Entfliehgeschwindigkeit erreicht hatte, wurde ich an der Ecke Lexington abgefangen. Trotz des Verkehrs hörte ich das Geklapper der Absätze, ehe mich die Stimme erreichte.

»Constable Grant! Sie haben mich angelogen.«

Ich drehte mich um. Simone Fitzwilliam stöckelte über den Bürgersteig auf mich zu. Eine lange rote Strickjacke hing ihr wie eine Stola über die Schultern, darunter trug sie eine pfirsichfarbene Bluse, deren Knöpfe einiges aushalten mussten, und eine schwarze Leggings, die ihre kräftigen Beine großartig zur Geltung brachte. Als sie näher kam, roch ich Geißblatt, Rosen und Lavendel, die typischen Düfte eines englischen Gartens.

Ich bemühte mich, formell zu bleiben. »Miss Fitzwilliam.«

»Sie haben mich angelogen«, wiederholte sie, und ihr breiter roter Mund wurde noch breiter, weil sie lächelte. »Ihr Vater ist Richard ›Lord‹ Grant. Warum habe ich Ihnen das nicht gleich angesehen! Kein Wunder, dass Sie sich so gut auskennen. Spielt er noch?«

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte ich und kam mir vor wie der Moderator einer Nachmittagstalkshow.

Das Lächeln schwankte ein bisschen. »Mal besser, mal schlechter. Wissen Sie, was mich aufheitern würde? Eine kleine Näscherei.«

Ich hatte noch nie eine reale Person das Wort Näscherei aussprechen hören.

Ich fragte: »Was schwebt Ihnen vor?«

Die Engländer haben auf dem Kontinent zu allen Zeiten großen missionarischen Eifer hervorgerufen, und immer wieder machten sich vereinzelte tapfere Individuen auf, dem Wetter, den hygienischen Zuständen und dem englischen Sarkasmus zu trotzen, um den armen umnachteten Inselbewohnern die schönen Dinge des Lebens nahezubringen. Zu diesen Pionieren, so erzählte mir Simone, gehörte Madame Valerie, die in der Frith Street eine Patisserie eröffnete und diese, nachdem die Deutschen sie dort ausgebombt hatten, in die Old Compton Street verlegte. Ich war schon unzählige Male daran vorbeipatrouilliert, aber da man dort keinen Alkohol ausschenkte, war ich nie hineingerufen worden.

Simone packte mich an der Hand und zerrte mich praktisch nach drinnen, wo die Vitrinen in der Nachmittagssonne glänzten. Auf cremefarbenen Spitzendeckchen standen hier Unmengen von Petits Fours mit rosa, gelbem oder rotem Zuckerguss oder Schokoladenüberzug, bunt und wohlgeordnet wie eine Spielzeugarmee.

Simones Lieblingstisch war der neben der Treppe, direkt hinter der Kuchenvitrine. Von hier aus, erklärte sie, konnte man die Leute beobachten, die kamen und gingen, und zugleich ein Auge auf die Kuchen haben – nur für den Fall, dass plötzlich ein Riesenansturm darauf losging. Da sie zu wissen schien, was sie tat, überließ ich die Bestellung ihr. Man servierte ihr ein umfangreiches Schichtgebilde aus Blätterteig, Cremefüllung und Zuckerguss, und mir wurde etwas vor die Nase gestellt, was im Kern ein Schokoladenkuchen mit Unmengen von Schokosahne und Schokoladendekor war. Ich fragte mich, ob sie mich verführen oder ins diabetische Koma treiben wollte.

»Sie müssen mir unbedingt erzählen, was Sie herausgefunden haben«, sagte sie. »Ich habe gehört, dass Sie heute Nacht mit Jimmy und Max im Mysterioso waren. Ein schrecklich verrufener Ort, nicht? Sie mussten sich bestimmt sehr beherrschen, nicht an jeder Ecke einen Übeltäter zu verhaften.«

Ich bestätigte, dass ich den Club besucht hatte und er in der Tat eine Lasterhöhle war, sagte aber nichts von Mickey the Bone, der im Leichensaal des UCH auf Dr. Walid wartete. Stattdessen murmelte ich etwas von laufenden Ermittlungen und sah ihr beim Essen zu. Sie verschlang den Kuchen wie ein ungeduldiges, aber wohlerzogenes Kind mit hastigen manierlichen Bissen, schaffte es aber trotzdem, sich den Mund mit Creme zu verschmieren. Ich beobachtete, wie ihre Zunge herausschnellte, um sie abzulecken.

»Wissen Sie, mit wem Sie reden sollten?«, sagte sie, als die Creme vollständig verschwunden war. »Mit der Musikergewerkschaft. Deren Aufgabe ist es doch schließlich, sich um ihre Mitglieder zu kümmern. Wenn jemand wissen sollte, was da los ist, dann sie. Essen Sie das nicht mehr?«

Ich bot ihr den Rest meines Kuchens an, und sie schielte schuldbewusst nach rechts und links wie ein Schulmädchen, bevor sie den Teller zu sich herüberzog. »Ich kann meinen Appetit so schlecht zügeln. Damit kompensiere ich wohl meine Jugend – damals fehlte es uns an allem.«

»Damals?«

»Als ich noch jung und dumm war.« Sie hatte einen Klecks Schokolade auf der Wange. Ohne nachzudenken wischte ich ihn mit dem Daumen weg. »Danke«, sagte sie. »Man kann eigentlich niemals genug Kuchen haben.«

Man hat jedenfalls nie genug Zeit. Ich zahlte, und wir gingen gemeinsam die Straße hinunter. Ich fragte sie, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente.

»Ich bin Journalistin.«

»Welches Blatt?«, wollte ich wissen.

»Oh, ich bin freischaffend. Wie anscheinend jeder heutzutage.«

»Worüber schreiben Sie?«

»Jazz natürlich. Die Londoner Szene, Musikkritiken, Klatsch. Die meisten meiner Artikel verkaufe ich nach Übersee. Hauptsächlich an die Japaner. Die sind ganz verrückt auf Jazz, die Japaner.« Sie äußerte den Verdacht, dass irgendein Redakteur in Tokio ihre Arbeiten ins Japanische übersetzte und ihr Name eines der Dinge war, die bei der Übersetzung verloren gingen.

Wir erreichten die Straßenecke.

»Ich wohne gleich dort drüben in der Berwick Street«, sagte sie.

»Bei Ihren Schwestern.«

»Das wissen Sie noch«, rief sie. »Aber natürlich, Sie sind schließlich Polizist. Zweifellos haben Sie das trainiert. Also werden Sie sich bestimmt auch an meine Adresse erinnern, wenn ich sie Ihnen sage.«

Sie nannte mir ihre Adresse, und ich tat, als prägte ich sie mir ein. Zum zweiten Mal.

»Au revoir«, sagte sie. »Bis zum nächsten Mal.«

Ich sah ihr nach, wie sie auf ihren hohen Absätzen mit unbeschwertem Hüftschwung davonstöckelte.

Oh, Lesley würde mich umbringen.

 

Damals in den alten Zeiten hingen mein Dad und seine Kumpels in der Hoffnung auf Arbeit ständig in der Archer Street herum, wo die Musikergewerkschaft ihren Sitz hatte. Ich hatte mir das immer so vorgestellt, dass auf dem Bürgersteig vereinzelte Grüppchen von Musikern herumstanden und ein Schwätzchen hielten. Dann sah ich mal ein Foto, auf dem die gesamte Straße nur so von Männern in billigen Anzügen und mit knautschigen Hüten auf dem Kopf wimmelt, die Instrumentenkoffer mit sich herumschleppen wie arbeitslose Mafiosi. Mein Dad erzählte, irgendwann seien das Gedränge und die Konkurrenz so groß geworden, dass die Bands geheime Handzeichen entwickelt hätten, um sich über die Menge hinweg zu verständigen – eine langsam ausgefahrene Faust bedeutete einen Posaunisten, die flache Hand mit Handfläche nach unten einen Schlagzeuger, flatternde Finger einen Trompeter oder Kornettspieler. So konnte man sich die Freundschaft zu seinen Kumpels in der Menge erhalten und ihnen gleichzeitig einen Gig im Savoy oder im Café de Paris vor der Nase wegschnappen. Mein Dad pflegte zu sagen, man hätte nur die Archer Street entlanggehen müssen und hätte in Nullkommanichts zwei komplette Orchester und eine Bigband zusammengehabt, plus genug Leute für ein paar Quartette und einen Soloklimperer für das Klavier im Lyons Corner House.

Heutzutage organisieren die Musiker ihre Auftritte per SMS und Internet, und die Musikergewerkschaft hat sich auf die andere Seite der Themse in die Clapham Road verlagert. Es war zwar Sonntag, aber in der Annahme, dass die Musik genau wie das Verbrechen niemals schläft, rief ich dort an. Es ging tatsächlich jemand dran, und nachdem ich ihn davon überzeugt hatte, dass es sich um eine Polizeiangelegenheit handelte, gab er mir die Handynummer von Tista Ghosh, zuständig für die Unterabteilung Jazz. Bei ihr meldete sich die Mailbox. Ich hinterließ meinen Namen und einen unbestimmten Eindruck der Dringlichkeit, ohne etwas Konkretes zu sagen. Niemals etwas aufzeichnen lassen, was man nicht auch in YouTube stellen würde, ist meine Devise. Ms. Ghosh rief zurück, als ich gerade das Auto erreicht hatte. Sie hatte diesen unverkennbaren gedrechselten Mittelklasse-Akzent, den man bekommt, wenn man von Kindesbeinen an Englisch als Zweitsprache lernt. Sie fragte, was ich wolle. Ich erklärte, ich müsse mit ihr über plötzliche Todesfälle unter ihren Mitgliedern sprechen. »Muss das heute sein?«, fragte sie. Im Hintergrund spielte eine Band Red Clay.

Ich versicherte ihr, ich wolle versuchen, die Vernehmung so kurz wie möglich zu halten. Das Wort »Vernehmung« benutze ich gern, weil nicht wenige Mitbürger darin den ersten Schritt auf dem Pfad der Justiz sehen, der über die »Unterstützung der Polizei bei ihren Ermittlungen« geradewegs in eine enge Zelle Ihrer Majestät führen kann, wo du deinem fetten schwitzenden Zellengenossen ausgeliefert bist, der sich nicht davon abbringen lässt, dich Susan zu nennen.

Ich fragte sie, wo sie gerade sei.

»The Hub im Regent’s Park. Jazz in the Open Air Festival.«

Tatsächlich war es, wie ich später auf einem Plakat am Eingang sah, die LETZTE CHANCE FÜR DAS JAZZ IN THE OPEN AIR FESTIVAL, gesponsert von einem früher als Cadbury Schweppes bekannten Unternehmen.

Vor fünfhundert Jahren ersann der, wie jeder weiß, ziemlich ausgebuffte Heinrich VIII. eine elegante Methode, um seine theologischen und pekuniären Probleme auf einen Schlag loszuwerden: Er löste die Klöster auf und riss sich ihre Ländereien unter den Nagel. So auch ein Gebiet nördlich von Marylebone. Und da das oberste Prinzip einer reichen Person, die reich bleiben will, lautet: Gib nichts weg, außer es geht wirklich nicht anders, gehört dieses Land bis heute der Krone. Dreihundert Jahre später engagierte der Prinzregent den Architekten John Nash, um darauf einen großen Palast sowie einige elegante Häuserzeilen zu errichten, die er vermieten konnte, zur Finanzierung seiner heroischen Bemühungen, sich mit Hilfe von ausschweifenden Orgien zeitnah zu Tode zu befördern. Der Palast wurde nie gebaut, aber die Häuserzeilen – die Terraces – und die Ausschweifungen gehören zu den wesentlichen Merkmalen seiner Regierungszeit, genau wie der Park, der nach ihm benannt ist. Das eine Ende des Parks, die Northern Parklands, besteht zum größten Teil aus Spielplätzen und Sportanlagen. Ihre Mitte bildet der Hub, ein breiter künstlicher Hügel mit einem darin eingebauten Pavillon und einigen Umkleideräumen. Seine drei Eingänge sehen aus wie die Zufahrten zu einem Flugzeugbunker, was den Eindruck erweckt, es ginge hier zum Hauptquartier eines Superschurken. Obendrauf befindet sich ein rundum verglastes Café mit 360-Grad-Panoramablick über den gesamten Park, in dem man sitzen, Tee trinken und die Weltherrschaft planen kann.

Es war sonnig, aber in der Luft lag schon eine warnende Kühle. Im August wäre die Menschenmenge vor der für das Festival aufgestellten Bühne und auf dem betonierten Vorplatz des Cafés halbnackt gewesen, aber jetzt, Mitte September, hatte man die Pullover wieder von der Taille losgeknotet und die Ärmel heruntergekrempelt. Dennoch war das Licht so golden, dass man sich noch mindestens einen weiteren Tag lang vormachen konnte, London sei eine Stadt der Straßencafés und des Open-Air-Jazz.

Die derzeitige Band spielte etwas Fusion-artiges, was selbst ich nicht als Jazz bezeichnet hätte, daher war ich nicht überrascht, Tista Ghosh mit einem Glas Weißwein hinter den Verpflegungszelten zu finden, wo man die Musik nur gedämpft hörte.

»Ich hoffe, Sie geben mir einen aus«, sagte sie. »Dieses australische Zeug hält nicht mehr lange vor.«

Warum nicht, dachte ich. Schon die ganze Woche lassen sich alle von mir aushalten, warum sollte sich das hier und jetzt ändern?

Ms. Ghosh war eine schlanke Frau mit hellem Teint und scharfgeschnittener Nase, die ihr schwarzes Haar in einem Pferdeschwanz trug und offenbar eine Schwäche für lange klimpernde Ohrringe hatte. Sie trug eine weiße Hose und eine lila Bluse und darüber eine etwas edlere Version einer Biker-Lederjacke, die ihr mindestens fünf Nummern zu groß war. Vielleicht hatte sie sie wegen der Kälte von jemandem ausgeliehen.

»Ich weiß, was Sie denken«, sagte sie. »Was macht ein nettes indisches Mädchen wie ich in der Jazzszene?« Eigentlich hatte ich darüber nachgedacht, woher sie bloß diese Lederjacke hatte und ob sie aus religiösen Gründen überhaupt so was wie eine Lederjacke tragen sollte.

»Meine Eltern waren unglaublich jazzbegeistert. Sie kamen aus Kalkutta, da gab es diesen berühmten Club namens Trinca’s in der Park Street. Ich war letzten September mal wieder dort, auf einer Hochzeit, wissen Sie. Er hat sich leider völlig verändert, aber früher war dort eine großartige Jazzszene, da haben sie sich kennengelernt. Meine Eltern, meine ich.«

Den Aufschlag der Jacke zierten mehrere Anstecker, wie man sie mit einer Handpresse herstellen kann. Während Ms. Ghosh sich noch ein wenig über die innovative Jazzszene im Nachkriegsindien ausließ, sah ich mir die Dinger verstohlen an. ROCK AGAINST RACISM – ANTI-NAZI LEAGUE – DON’T BLAME ME I DIDN’T VOTE TORY – Slogans aus den achtziger Jahren, größtenteils noch von vor meiner Geburt.

Als Ms. Ghosh mir erzählte, wie Duke Ellington einmal im Winterpalast gespielt hatte (dem Hotel in Kalkutta, nicht dort, wo die russische Revolution ihren Anfang nahm), beschloss ich, das Gespräch wieder in die richtige Bahn zu lenken. Ich fragte, ob sie etwas von plötzlichen Todesfällen unter ihren Mitgliedern mitbekommen habe, insbesondere während und nach einem Auftritt.

Ms. Ghosh bedachte mich mit einem langen, skeptischen Blick. »Ist das ein Scherz?«

»Wir untersuchen verdächtige Todesfälle unter Musikern«, sagte ich. »Das ist noch keine offizielle Ermittlung. Es könnte den Anschein gehabt haben, als sei der Tod von Erschöpfung, Drogen- oder Alkoholkonsum verursacht worden. Haben Sie etwas Derartiges mitbekommen?«

»Bei Jazzern? Ist das Ihr Ernst? Wenn die nicht mindestens ein Laster haben, nehmen wir sie gar nicht erst in die Gewerkschaft auf.« Sie lachte. Ich nicht. Sie bemerkte es und hörte auf. »Reden Sie etwa von Mord?«

»Das wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Wir unternehmen nur aufgrund erhaltener Informationen gewisse erste Schritte.«

»Spontan fällt mir niemand ein«, sagte sie. »Aber ich kann morgen in meinen Akten nachschauen.«

»Das wäre sehr hilfreich.« Ich gab ihr meine Karte. »Könnten Sie das morgen früh als Allererstes tun?«

»Natürlich. Wissen Sie übrigens, dass diese Typen da Sie schon die ganze Zeit anstarren?«

Ich drehte mich um und sah, dass meine Hilfstruppen aus der Old Compton Street uns vom Eingang des Bierzelts her beobachteten. Max winkte mir zu.

James rief: »Vorsicht, Miss, mit dem sollten Sie lieber nicht reden – er ist die Jazzpolizei.«

Ich verabschiedete mich von Ms. Ghosh und hoffte, dass sie mich trotz der Clowns ernst genug nahm, um mir die Informationen herauszusuchen. Die Hilfstruppen willigten ein, mir als Entschädigung für mein ramponiertes Ansehen etwas zu trinken zu spendieren.

»Was machen Sie hier?«, fragte ich.

»Wo man swingt, da lass dich ruhig nieder«, sagte James.

»Eigentlich sollten wir hier auftreten«, erläuterte Daniel. »Aber ohne Cyrus …« Er zuckte mit den Schultern.

»Konnten Sie keinen Ersatz finden?«

»Nicht ohne unseren Standard zu senken«, sagte James.

»Der zugegebenermaßen ohnehin nicht sehr hoch war«, fügte Max hinzu. »Sie spielen nicht zufällig?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Schade. Nächste Woche sollten wir im ›Arches‹ spielen.«

»Wir waren die zweitletzte Band für den Abend«, sagte Daniel betrübt.

Ich fragte ihn, ob er noch etwas anderes spielen könne als Klavier.

»Mit meiner Gibson komm ich auch ganz gut klar.«

»Würden Sie gern mit einem Mann spielen, der fast eine Jazzlegende ist?«

»Wie kann man fast eine Jazzlegende sein?«, fragte Max.

»Halt die Klappe«, sagte James. »Der Mann redet von seinem Vater. Sie reden von Ihrem Vater?«

Es entstand eine Pause – es war allgemein bekannt, dass mein Dad seinen Ansatz verloren hatte. Daniel war es, der zwei und zwei zusammenzählte. »Er hat sich auf ein anderes Instrument verlegt, ja?«

»Keyboard«, sagte ich.

»Ist er denn gut?«, fragte Max.

»Besser als ich auf jeden Fall«, sagte Daniel.

»Lord Grant«, stieß James aus. »Das ist ja cool.«

»Verdammt cool«, sagte Max. »Glauben Sie denn, dass er mitmachen würde?«

»Ich werd’s rausfinden«, sagte ich. »Ich wüsste nicht, was dagegen spräche.«

»Danke«, sagte Daniel.

»Danken Sie mir nicht, Mann. Ich tue nur meinen Job.«

Die Jazzpolizei, dein Freund und Helfer. Falls mein Dad einverstanden war – woran ich kaum Zweifel hatte. Das Arches lag an der Camden-Schleuse, ganz in der Nähe unserer Wohnung, die Logistik würde also einfach zu bewältigen sein. Ich würde Mum bitten, die Proben zu organisieren. Das machte ihr bestimmt Spaß.

Erst nachdem ich dieses Angebot gemacht hatte, wurde mir klar, dass ich meinen Dad noch nie vor Publikum hatte spielen hören. Die Hilfstruppen waren so verzückt, dass sie mir das Du und noch ein Pint aufdrängten – nein, so viele Pints, wie ich wollte, aber ich blieb bei dem einen, weil ich ja noch fahren musste. Das stellte sich als klug heraus, denn zehn Minuten später rief Stephanopoulos an.

»Wir durchsuchen gerade Dunlops Wohnung«, sagte sie. »Dabei sind ein paar Sachen aufgetaucht, die Sie sich mal anschauen sollten.« Sie gab mir eine Adresse in Islington.

»Ich bin in einer halben Stunde da«, versprach ich.

 

Jason Dunlop hatte im Tiefparterre eines umgebauten viktorianischen Reihenhauses in der Barnsbury Road gewohnt. Die Dienstbotenquartiere vorangegangener Ären hatten sich ganz unter der Erde befunden, aber die Viktorianer, die ja große Weltverbesserer waren, vertraten die Meinung, dass auch die Geringsten unter ihren Zeitgenossen in der Lage sein sollten, die Füße derer zu sehen, die an den Häusern ihrer Herrschaften vorbeigingen – so entstand das Tiefparterre. Ein weiterer Vorteil war natürlich das wegen des besseren Lichts eingesparte Geld für Kerzen, denn wer den Pfennig nicht ehrt und so weiter.

Die Wohnung hatte jungfräulich weiße Wände ohne jede Dekoration – keine gerahmten Fotos, keine Monet- oder Klimt-Drucke, nicht mal pokernde Hunde. Die Einbauküche war brandneu und billig. Das roch nach Vermieterwerk, und zwar erst kürzlich. Auch die halbvollen Umzugskartons im Wohnzimmer sprachen dafür, dass Jason hier noch nicht lange gewohnt hatte.

»Unschöne Scheidungsgeschichte«, sagte Stephanopoulos, als sie mich herumführte.

»Hat sie ein Alibi?«

»Bisher ja.« Ach, die Freuden einer Ermittlung, wenn die Angehörigen zugleich Opfer und Verdächtige sind was war ich froh, dass mir dieser Teil erspart blieb. Die Wohnung hatte nur ein Schlafzimmer. In eine Ecke waren mehrere maskulin aussehende Koffer geschoben worden, die Wand entlang reihten sich Umzugskartons mit Spurensicherungspulver auf den Deckeln. Stephanopoulos zeigte mir einen Haufen Bücher, ordentlich auf einer Plastikfolie neben dem Bett aufgestapelt.

»Sind die schon untersucht?«, fragte ich.

Sie bejahte, aber ich zog mir trotzdem Handschuhe an. Sicher ist sicher im Umgang mit Indizien. Von Stephanopoulos kam ein zustimmendes Grunzen. Ich nahm das oberste Buch in die Hand; es war alt, aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und sorgfältig in weißes Seidenpapier gewickelt. Ich schlug es auf und las den Titel: Philosophiae Naturalis Principia Artes Magicis von Isaac Newton. Auf meinem Schreibtisch im Folly lag ein Exemplar derselben Ausgabe neben einem noch viel dickeren lateinischen Wörterbuch.

»Als wir das sahen«, sagte Stephanopoulos, »dachten wir gleich an Sie.«

»Gibt es noch mehr solches Zeug?«

»In der Kiste dort. Die haben wir für Sie aufgehoben. Für den Fall, dass sie verflucht ist oder so.«

Ich hoffte, das war nur Ironie.

Ich sah mir das Buch genauer an. Der Einband war wellig vom Alter und an den Ecken abgestoßen, die Seitenränder vom vielen Umblättern speckig und eingerissen. Wer auch immer dieses Buch besessen hatte, es hatte kein ödes Regaldasein geführt. Aus einem Impuls heraus schlug ich Seite 27 auf und erblickte an genau der Stelle, wohin ich einen Klebezettel mit einem Fragezeichen geklebt hatte, das mit verblasstem Bleistift geschriebene Wort quis?. Noch jemand, der nicht kapierte, worauf zum Teufel Isaac im Mittelteil seiner Einleitung hinauswill.

Wer sich ernsthaft mit unserem Handwerk beschäftigte, brauchte unbedingt auch Cuthbertsons Modernen Kommentar zu einem großen Werk. 1897 geschrieben – Gott sei Dank auf Englisch – und zweifellos von jedem frustrierten Schüler, der je versucht hat, sein Zimmer mit einem Werlicht zu illuminieren, enthusiastisch begrüßt. Ich schaute in die Kiste und fand den Cuthbertson direkt unter einem modernen Latein-Großwörterbuch plus dazugehöriger Grammatik – schön zu wissen, dass ich nicht der Einzige war, der so was brauchte. Der Moderne Kommentar war genau wie die Principia alt und abgegriffen. Beim Durchblättern fiel mir nach etwa dreißig Seiten ein verblasster Rundstempel auf – ein aufgeschlagenes Buch mit drei Kronen darum und dem Schriftzug BIBLIOTHECA BODLEIANA als kreisförmiger Umrandung. Ich sah in der Principia nach und fand einen anderen Stempel, einen altmodischen Zirkel, umgeben von den Worten SCIENTIA POTESTAS EST QMS. Auf der Innenseite des Buchdeckels war in der unteren Ecke eine quadratische hellere Stelle. Mein Dad besaß Bücher mit genau solchen Merkmalen, die er als Kind aus der Schulbücherei geklaut hatte. Die quadratische Stelle kam von der aufgeklebten Papptasche, in die man die Ausleihkarte gesteckt hatte, damals in jenen fernen Tagen, als noch Dinosaurier auf der Erde wandelten und Computer so groß waren wie Garagen.

Vorsichtig räumte ich die ganze Kiste aus. Es gab noch sechs weitere Bücher, in denen ich ernsthafte Werke über Magie erkannte, alle mit dem Stempel BIBLIOTHECA BODLEIANA. Ich nahm an, dass damit die Bodleian Library gemeint war, die sich meines Wissens in Oxford befand. Den anderen Stempel kannte ich zwar nicht, das Motto aber sehr wohl. Ich rief im Folly an. Es tutete einige Male, ehe jemand dranging. »Ich bin’s, Peter«, sagte ich. Auf der anderen Seite Schweigen. »Ich muss ihn sofort sprechen.« Ich hörte das Klappern, als der Hörer neben das Telefon gelegt wurde. Während ich wartete, befand ich, dass es höchste Zeit war, dass ich Nightingale ein vernünftiges Telefon kaufte.

Als ich ihn endlich an der Strippe hatte, erzählte ich ihm von den Büchern. Er ließ sich alle Titel nennen und die Stempel beschreiben. Dann fragte er, ob ich ihm Stephanopoulos geben könne.

Ich rief sie und hielt ihr mein Handy hin. »Mein Boss will Sie sprechen.«

Während sie redeten, machte ich mich daran, die Bücher in Beweisbeutel zu stecken und die Etiketten auszufüllen.

»Und Sie glauben, das erhöht die Wahrscheinlichkeit?«, fragte Stephanopoulos. »Also gut. Ich schicke den Jungen mit den Büchern rüber. Aber sorgen Sie ja für eine intakte Kontrollkette.« Nightingale versicherte ihr offenbar glaubhaft, dass wir so penibel sein würden wie die Labors des Innenministeriums, denn sie nickte und gab mir das Telefon zurück.

»Ich fürchte«, sagte Nightingale, »wir könnten es hier mit einem schwarzen Magier zu tun haben.«