8

 

Im ersten Stock der Pension Almayer, in einem Zimmer mit Blick auf die Hügel, kämpfte Elisewin mit der Nacht. Reglos unter ihren Decken liegend, wartete sie darauf herauszufinden, was schneller kommen würde, der Schlaf oder die Angst.

Das Meer klang wie eine fortwährende Lawine, wie Donner eines unaufhörlichen Gewitters, wer weiß welchen Himmels Kind. Es hörte nicht eine Sekunde lang auf. Es kannte keine Müdigkeit. Und keine Gnade.

Wenn man es anschaut, merkt man es nicht: wieviel Lärm es macht. Aber im Finstern … All das Unendliche ist nur noch Getöse, Mauer aus Lärm, quälendes und blindes Gebrüll. Man kann es nicht abschalten, das Meer, wenn es brennt, des Nachts.

Elisewin spürte, wie eine leere Luftblase in ihrem Kopf zerplatzte. Diese heimliche Explosion, der unsichtbare, unerzählbare Schmerz, war ihr wohl vertraut. Aber ihn zu kennen nützte nichts. Gar nichts. Das heimtückische, schleichende Übel holte sie ein – schamloser Stiefvater, der sich holte, was ihm zustand.

Es war nicht so sehr die Kälte, die sie von innen her durchdrang, auch nicht das wie verrückt klopfende Herz oder der Schweiß, der ihr überall eiskalt ausbrach, oder das Zittern ihrer Hände. Das Schlimmste war das Gefühl, dahinzuschwinden, den eigenen Kopf zu verlassen, nur noch aus unbestimmter Panik zu bestehen und aus Zukkungen der Angst. Gedanken wie Ansätze einer Rebellion – Schauer – das Gesicht zur Fratze verzerrt, um es fertigzubringen, die Augen geschlossen zu halten – um es fertigzubringen, die Dunkelheit nicht sehen zu müssen, Grausen ohne Ausweg. Welch ein Kampf!

Elisewin brachte es fertig, an die Tür zu denken, die, nur wenige Meter von ihr entfernt, ihr Zimmer mit dem von Pater Pluche verband. Wenige Meter nur. Sie mußte es schaffen. Sie würde jetzt aufstehen, und ohne die Augen zu öffnen würde sie die Tür finden, und dann würde allein schon Pater Pluches Stimme genügen, nur seine Stimme, und alles wäre vorbei – sie müßte nur aufstehen, die Kraft für ein paar Schritte finden, das Zimmer durchqueren, die Tür öffnen – aufstehen, unter der Bettdecke hervorkriechen, sich an der Wand entlangtasten – aufstehen, auf die Beine kommen, die wenigen Schritte machen – aufstehen, die Augen geschlossen halten, die Tür finden, sie öffnen – aufstehen, durchatmen und sich dann vom Bett lösen – aufstehen, nicht sterben – dort aufstehen – aufstehen. Welch ein Grausen. Welch ein Grausen.

Es waren nicht wenige Meter. Es waren Kilometer, Ewigkeiten: genauso viele wie die, die sie von ihrem eigentlichen Zimmer trennten, von ihren Sachen, von ihrem Vater und von dem Ort, der ihr gehörte. Alles war so weit entfernt. Alles war verloren.

So gewinnt man keine Schlachten. Elisewin gab auf.

Als läge sie im Sterben, öffnete sie die Augen.

Sie begriff nicht gleich.

Das hatte sie nicht erwartet.

Es war hell im Zimmer. Ein mattes Licht nur. Aber überall. Warm.

Sie drehte sich zur Seite. Auf einem Stuhl neben dem Bett saß Dira, ein dickes Buch aufgeschlagen auf den Knien und einen Kerzenleuchter in der Hand. Eine brennende Kerze. Das Flämmchen in der Finsternis, die keine mehr war.

Elisewin blieb still liegen, den Kopf ein wenig vom Kissen abgehoben, und schaute. Es schien woanders zu sein, dieses Mädchen, und dennoch war es da. Die Augen fest auf die Buchseiten gerichtet, berührten ihre leicht schaukelnden Füße nicht einmal den Boden: schaukelnde Füßchen, die mit zwei Beinen und einem Röckchen verbunden waren.

Elisewin ließ ihren Kopf auf das Kissen zurücksinken. Sie sah, wie das Flämmchen der Kerze ruhig brannte. Und wie der Raum um sie herum sanft schlief. Sie fühlte sich müde, eine wunderbare Müdigkeit. Sie konnte gerade noch denken:

»Man hört das Meer gar nicht mehr.«

Dann schloß sie die Augen. Und schlief ein.

Am Morgen sah sie den Kerzenleuchter einsam auf dem Stuhl stehen. Die Kerze brannte noch. Sie schien gar nicht heruntergebrannt. Als hätte sie über eine Nacht gewacht, die nur einen Augenblick lang gedauert hatte. Ein unsichtbares Flämmchen im breiten Licht, das vom Fenster her den neuen Tag in ihr Zimmer brachte.

Elisewin stand auf. Sie blies die Kerze aus. Von allen Seiten her war das Spiel eines unermüdlichen Musikers zu hören. Ein grandioses Getöse. Ein Schauspiel. Da war es wieder, das Meer. 

 

Plasson und Bartleboom verließen an dem Morgen gemeinsam das Haus. Jeder mit seinen Instrumenten: Plasson mit Staffelei, Farben und Pinseln, Bartleboom mit Heften und verschiedenen Meßgeräten. Man hätte meinen können, sie kämen vom Speicheraufräumen bei einem verrückten Erfinder. Der eine in Schaftstiefeln und Anglerjacke, der andere im Forscheranzug, mit einer Wollmütze auf dem Kopf und fingerlosen Handschuhen, wie Pianisten sie tragen. Womöglich war der Erfinder nicht der einzige Verrückte in der Gegend dort.

Eigentlich kannten sich Plasson und Bartleboom gar nicht. Sie waren sich nur ein paarmal in einem Flur in der Pension oder im Speiseraum über den Weg gelaufen. Wahrscheinlich wären sie nie gemeinsam zum Strand gegangen, jeder an seine Arbeitsstätte, wenn Ann Deverià das nicht beschlossen hätte.

»Es ist verblüffend. Aber wenn jemand Sie beide zusammenbauen würde, käme ein einziger, perfekter Verrückter dabei heraus. Meiner Ansicht nach fragt sich Gott, das große Puzzle vor der Nase, immer noch, wo die beiden Teile eigentlich geblieben sind, die so gut zusammenpaßten.«

»Was ist ein Puzzle?« fragte Bartleboom in der gleichen Sekunde, in der Plasson fragte:

»Was ist ein Puzzle?«

Am nächsten Morgen marschierten sie am Meeresufer entlang, jeder mit seinen Instrumenten, doch gemeinsam in der täglichen Mühsal, hin zu ihren widersinnigen Pflichten.

Plasson war in den vergangenen Jahren zu Geld gekommen, weil er der begehrteste Porträtmaler der Hauptstadt geworden war. Man konnte wohl sagen, daß es in der ganzen Stadt keine einzige raffgierige Familie gab, die nicht einen Plasson im Hause hätte. Porträts, wohlgemerkt, ausschließlich Porträts. Landbesitzer, kränkelnde Gattinnen, aufgeblasene Söhne, eingefallene Großtanten, rotwangige Industrielle, heiratsfähige Damen, Minister, Geistliche, Primadonnen der Oper, Militärs, Dichterinnen, Geiger, Akademiker, Konkubinen, Bankiers, Wunderknaben: entsprechend gerahmt schauten von den gut situierten Wänden der Hauptstadt Hunderte von betroffenen Gesichtern herab, die unausweichlich veredelt waren durch das, was in den Salons »die Hand Plassons« genannt wurde: eine merkwürdige stilistische Charakterisierung, die man ansonsten wohl in »Talent« übersetzen könnte, ein in der Tat außerordentliches, einmaliges Talent, dank dem der geschätzte Maler jedem noch so beliebigen Blick, und sei es der eines Kalbes, einen Anstrich von Intelligenz zu schenken verstand. »Und sei es der eines Kalbes« war allerdings ein Ausdruck, der in den Salons für gewöhnlich keine Erwähnung fand.

Plasson hätte noch Jahre so weitermachen können. Gesichter von reichen Leuten gehen nie aus. Aber eines Tages entschied er unversehens, alles hinzuwerfen. Und fortzugehen. Eine ganz bestimmte Inspiration, die er seit Jahren nährte, zog ihn fort.

Ein Porträt vom Meer wollte er malen.

Er verkaufte alles, was er besaß, verließ sein Atelier und machte sich auf eine Reise, die, so viel begriff er, unter Umständen auch endlos werden konnte. Es gab Tausende von Kilometern Küste überall auf der Welt. Es würde keine ganz leichte Sache sein, die passende Stelle ausfindig zu machen.

Den Reportern der Klatschpresse gegenüber, die ihn nach den Gründen für seinen unüblichen Abgang fragten, machte er keine Andeutungen hinsichtlich der Sache mit dem Meer. Sie wollten wissen, was hinter dem Verzicht des größten Meisters vortrefflicher Porträtkunst steckte. Er antwortete ihnen kurz mit einem Satz, der sich von da an immer wieder für die unterschiedlichsten Interpretationen anzubieten schien.

»Ich bin die Pornographie leid.«

Weg war er. Niemand würde ihn je wiederfinden.

Von all diesen Dingen wußte Bartleboom nichts. Er konnte davon nichts wissen. So kam es, daß er dort am Meeresstrand, nachdem die Freundlichkeiten hinsichtlich des Wetters erschöpft waren, bloß um die Konversation in Gang zu halten zu fragen wagte:

»Malen Sie schon lange?«

Auch in diesem Fall war Plasson kurz angebunden.

»Nie was anderes gemacht.«

Jeder, der Plasson so reden hörte, hätte den Schluß gezogen, daß es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder war er unerträglich eitel, oder er war ein Tölpel. Doch auch hier: Man mußte das verstehen. Plasson hatte eine seltsame Eigenart: Er beendete keinen Satz, wenn er sprach. Er brachte es nicht fertig. Er kam nur dann bis zum Ende eines Satzes, wenn dieser nicht mehr als sieben, acht Wörter umfaßte. Sonst verlor er auf halbem Weg die Orientierung. Deshalb bemühte er sich vor allem Fremden gegenüber, sich auf kurze, treffende Sätze zu beschränken. Und darin, das muß man sagen, bewies er Talent. Gewiß waren seine Aussagen dadurch ein wenig vage und unangenehm wortkarg. Aber das war immer noch besser, als ein tölpelhaftes Bild abzugeben: was nämlich immer dann der Fall war, wenn er sich in gegliederte Sätze stürzte oder auch nur in gewöhnliche: er brachte sie einfach nicht zu Ende, nie.

»Sagen Sie, Plasson, gibt es etwas auf der Welt, das Sie zu Ende bringen können?« hatte ihn eines Tages Ann Deverià gefragt, die in ihrem üblichen Zynismus den Kern des Problems durchschaut hatte.

»Ja, unliebsame Unterhaltungen«, hatte er geantwortet, war vom Tisch aufgestanden und in sein Zimmer gegangen. Er hatte, wie schon gesagt, ein Talent für kurze Antworten. Wirkliches Talent.

Auch davon wußte Bartleboom nichts. Er konnte davon nichts wissen. In kürzester Zeit aber erfuhr er es.

Unter der mittäglichen Sonne saßen er und Plasson am Strand und aßen das bißchen Proviant, das Dira ihnen mitgegeben hatte. Die Staffelei steckte wenige Meter von ihnen entfernt im Sand. Über allem der übliche Nordwind.

BARTLEBOOM: »Machen Sie jeden Tag eines von den Bildern da?«

PLASSON: »Gewissermaßen …«

BARTLEBOOM: »Sie haben sicher das ganze Zimmer voll davon …«

PLASSON: »Nein. Ich werfe sie weg.«

BARTLEBOOM: »Weg?«

PLASSON: »Sehen Sie das da auf der Staffelei?«

BARTLEBOOM: »Ja.«

PLASSON: »Fast alle sehen so aus.«

BARTLEBOOM: »…«

PLASSON: »Würden Sie sie aufheben?«

Eine Wolke verdeckt die Sonne. Eine Kälte kommt auf, wie man sie nicht erwartet hätte. Bartleboom setzt seine Wollmütze wieder auf.

PLASSON: »Es ist schwierig.«

BARTLEBOOM: »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Ich könnte nicht einmal dieses Stück Käse hier zeichnen, es ist mir ein Rätsel, wie Sie so etwas machen können, es ist mir ein Rätsel.«

PLASSON: »Das Meer ist schwierig.«

BARTLEBOOM: »…«

PLASSON: »Es ist so schwer zu erkennen, an welcher Stelle man beginnen soll. Sehen Sie, als ich noch Porträts malte, Porträts von Leuten, da wußte ich, wo ich anfangen mußte, ich schaute in die Gesichter und wußte ganz genau …« (stopp).

BARTLEBOOM: »…«

PLASSON: »…«

BARTLEBOOM: »…«

PLASSON: »…«

BARTLEBOOM: »Sie haben Leute porträtiert?«

PLASSON: »Ja.«

BARTLEBOOM: »Meine Güte, seit Jahren will ich schon ein Porträt von mir malen lassen, ehrlich, das wird Ihnen jetzt albern vorkommen, aber …«

PLASSON: »Als ich noch Porträts von Leuten gemacht habe, fing ich bei den Augen an. Ich vergaß alles andere und konzentrierte mich auf die Augen, ich studierte sie Minute um Minute, dann skizzierte ich sie mit Bleistift, und das war das Geheimnis, weil, wenn erst einmal die Augen gemalt sind …« (stopp).

BARTLEBOOM: »…«

PLASSON: »…«

BARTLEBOOM: »Was ist, wenn Sie erst einmal die Augen gezeichnet haben?«

PLASSON: »Dann kommt alles weitere von selbst, es ist, als gruppierten sich all die anderen Teile von allein um den Anfangspunkt herum, man braucht nicht einmal …« (stopp).

BARTLEBOOM: »Braucht man nicht.«

PLASSON: »Nein. Man könnte sogar fast darauf verzichten, das Modell anzuschauen, alles geht von allein, der Mund, die Halskurve, sogar die Hände … Wesentlich aber ist, bei den Augen anzufangen, verstehen Sie? Und hier liegt das eigentliche Problem; das Problem, das mich ganz verrückt macht, liegt genau hier: …« (stopp).

BARTLEBOOM: »…«

PLASSON: »…«

BARTLEBOOM: »Haben Sie denn eine Ahnung, wo das Problem liegt, Plasson?«

Zugegeben, es war etwas mühsam. Aber es funktionierte. Man mußte ihn nur wieder in Gang bringen. Jedesmal von neuem. Mit Geduld. Bartleboom war, wie man aus seinem eigenartigen Gefühlsleben schließen konnte, ein geduldiger Mensch.

PLASSON: »Das Problem ist: Wo, zum Teufel, sind die Augen des Meeres? Ich werde nie etwas zuwege bringen, solange ich das nicht entdecke, denn da ist der Anfang, verstehen Sie? Die Grundlage für alles, und solange ich nicht begreife, wo er ist, werde ich meine Tage damit zubringen, diese verfluchte Wasserfläche anzustarren, ohne …« (stopp).

BARTLEBOOM: »…«

PLASSON: »…«

BARTLEBOOM: »…«

PLASSON: »Das ist das Problem, Bartleboom:«

Ein Wunder: diesmal hatte er von allein weitergeredet.

PLASSON: »Das ist das Problem: Wo beginnt das Meer?«

Bartleboom schwieg.

Zwischen den Wolken kam und ging die Sonne. Es war der Nordwind, immer noch der gleiche, der dieses stille Schauspiel veranstaltete. Das Meer fuhr ungerührt fort, seine Psalmen aufzusagen. Wenn es Augen hatte, schaute es in dem Augenblick woanders hin.

Schweigen.

Minutenlanges Schweigen.

Dann wandte sich Plasson Bartleboom zu und sagte in einem Atemzug:

»Und Sie … was erforschen Sie denn mit all Ihren komischen Instrumenten?«

Bartleboom lächelte:

»Wo das Meer aufhört.«

Zwei Puzzleteile. Füreinander geschaffen. An irgendeinem Ort im Himmel hatte sie ein alter Herr in dem Augenblick endlich wiedergefunden.

»Zum Teufel! – Ich wußte doch, daß sie mir nicht abhanden gekommen waren.« »Das Zimmer liegt im Erdgeschoß. Da runter, die dritte Tür links. Schlüssel gibt’s keine. Hier hat niemand welche. In das Buch da sollten Sie Ihren Namen eintragen. Es ist keine Pflicht, aber alle hier machen es.«

Das Gästebuch wartete aufgeschlagen auf einem Holzpult. Ein frisch bezogenes papiernes Bett wartete auf die Träume neuer Namen. Die Feder des Mannes berührte es kaum.

Adams.

Dann zauderte er einen Moment, reglos.

»Wenn Sie die Namen der anderen Gäste erfahren wollen, können Sie mich fragen. Es ist schließlich kein Geheimnis.«

Adams blickte von dem Buch auf und lächelte.

»Dira ist ein schöner Name.«

Das Mädchen war sprachlos. Instinktiv warf sie einen Blick in das Buch.

»Da steht mein Name doch gar nicht.«

»Da nicht.«

Es war höchstens zehn Jahre alt, dieses Kind. Aber wenn es wollte, konnte es auch tausend Jahre älter sein. Es heftete die Augen geradewegs in die von Adams, und was es dann sagte, sagte es mit einer Stimme, die so schneidend war, daß sie zu einer Frau passen würde, die gar nicht da war.

»Adams ist nicht Ihr richtiger Name.«

»Nein?«

»Nein.«

»Und woher wollen Sie das wissen?«

»Auch ich kann lesen.«

Adams lächelte. Er bückte sich, nahm sein Gepäck und ging zu seinem Zimmer.

»Die dritte Tür links«, rief ihm eine Stimme nach, die jetzt wieder eine Kinderstimme war.

Es gab keine Schlüssel. Er öffnete die Tür und trat ein. Nicht, daß er wer weiß was erwartet hätte. Zumindest aber hatte er erwartet, das Zimmer leer vorzufinden.

»Oh, verzeihen Sie«, sagte Pater Pluche, wich vom Fenster zurück und strich instinktiv seinen Anzug glatt.

»Habe ich mich im Zimmer geirrt?«

»Nein, nein … ich bin es, der … Wissen Sie, mein Zimmer liegt oben, im ersten Stock, aber es geht auf die Hügel hinaus, das Meer ist nicht zu sehen: Ich hatte es sicherheitshalber so gewählt.«

»Sicherheitshalber?«

»Lassen wir das, das ist eine lange Geschichte … Jedenfalls wollte ich sehen, welche Sicht man von hier aus hat, aber jetzt will ich nicht weiter stören, ich wäre nie hergekommen, wenn ich gewußt hätte …«

»Bleiben Sie nur, wenn Sie möchten.«

»Nein, ich gehe jetzt. Sie haben sicher eine Menge zu tun, sind Sie gerade erst angekommen?«

Adams stellte sein Gepäck auf den Boden.

»Wie dumm von mir, natürlich sind Sie gerade erst angekommen … na gut, also, ich gehe dann. Ach so … ich heiße Pluche, Pater Pluche.«

Adams nickte zustimmend.

»Pater Pluche.«

»Richtig.«

»Auf bald, Pater Pluche.«

»Ja, auf bald.«

Er verzog sich in Richtung Tür und ging hinaus. Als er an der Rezeption – wenn wir sie so nennen wollen – vorbeikam, fühlte er sich verpflichtet zu brummeln:

»Ich wußte ja nicht, daß jemand ankommen würde, ich wollte nur sehen, wie die Sicht aufs Meer ist …«

»Das macht doch nichts, Pater Pluche.«

Er war schon fast draußen, als er plötzlich stehenblieb, umkehrte, sich leicht über die Theke beugte und Dira leise fragte:

»Ob er Arzt ist, was meinen Sie?«

»Wer?«

»Er.«

»Fragen Sie ihn doch.«

»Das scheint mir keiner zu sein, der darauf brennt, sich Fragen anzuhören. Er hat mir nicht einmal gesagt, wie er heißt.«

Dira zögerte etwas.

»Adams.«

»Adams und nichts weiter?«

»Adams und nichts weiter.«

»Aha.«

Er wäre jetzt gegangen, wenn er nicht noch etwas zu sagen gehabt hätte.

Und das sagte er noch etwas leiser:

»Seine Augen … Er hat Augen wie ein jagendes Tier.«

Jetzt war er wirklich fertig. 

 

Ann Deverià, die in ihrem violetten Mantel am Ufer entlangspaziert. Neben ihr ein junges Mädchen namens Elisewin mit ihrem weißen Schirmchen. Sechzehnjahre alt ist sie. Womöglich wird sie sterben, vielleicht aber auch leben. Wer weiß. Ann Deverià spricht, ohne die Augen von dem Nichts, das vor ihr liegt, abzuwenden. Vor ihr, in vielerlei Hinsicht.

»Mein Vater wollte nicht sterben. Er wurde immer älter, starb aber nicht. Die Krankheiten zehrten an ihm, aber er klammerte sich unbeirrt ans Leben. Zum Schluß verließ er nicht einmal mehr sein Zimmer. Mit allem mußte man ihn versorgen. Jahre ging es so. Er hatte sich in einer Art Trutzburg verschanzt, die er sich im verborgensten Winkel seiner selbst aufgebaut hatte und die nur ihm gehörte. Er verzichtete auf alles, hielt aber wild entschlossen an den einzigen zwei Dingen fest, die ihm wirklich etwas bedeuteten: schreiben und hassen. Er schrieb mühsam mit der einen Hand, die er noch bewegen konnte. Und haßte mit den Augen. Sprechen, das tat er nicht mehr, bis zum Schluß nicht. Er schrieb, und er haßte. Als er starb – denn schließlich starb er dann doch –, nahm meine Mutter seine bekritzelten Blätter – es waren an die hundert – und las sie eines nach dem anderen. Es standen die Namen aller darin, die er gekannt hatte, alle nacheinander aufgelistet. Und neben jedem die minutiöse Beschreibung eines grauenvollen Todes. Ich habe sie nicht gelesen, diese Blätter. Aber die Augen – diese Augen, die bis zum Schluß in jeder Minute eines jeden Tages voller Haß waren, die hatte ich gesehen. Und wie ich sie gesehen hatte. Meinen Mann habe ich geheiratet, weil er gute Augen hatte. Das war das einzige, was mir wichtig war. Er hatte gute Augen.

Nun, das Leben verläuft nicht so, wie du es dir vorstellst. Es geht seinen Weg. Und du deinen. Und das ist nicht derselbe Weg. So ist das. Es ist nicht so, daß ich unbedingt glücklich sein wollte, das nicht gerade. Ich wollte … mich retten, ja: mich retten. Aber ich habe erst spät begriffen, aufweiche Seite man sich schlagen muß: auf die Seite der Sehnsüchte. Man erwartet eigentlich, daß es andere Dinge sind, durch die Menschen gerettet werden können: Pflichterfüllung, Ehrlichkeit, gut sein, gerecht sein. Nein. Es sind die Sehnsüchte, die einen erretten. Sie sind das einzig Wahre. Bist du auf ihrer Seite, wirst du dich retten. Aber als ich das begriff, war es schon zu spät. Wenn du dem Leben Zeit läßt, nimmt es eine eigenartige, unvermeidliche Wendung; und du stellst fest, daß du dich an dem Punkt nicht nach etwas sehnen kannst, ohne dir selbst weh zu tun. An dem Punkt scheitert alles, du kannst dem nicht entgehen, je mehr du um dich schlägst, desto mehr verfängst du dich in dem Netz, je heftiger du aufbegehrst, desto mehr verletzt du dich. Es gibt kein Entrinnen. Erst als es schon zu spät war, habe ich angefangen, mich zu sehnen. Mit der ganzen Kraft, die ich besaß. Ich habe mir so sehr weh getan, wie du es nicht einmal erahnen kannst.

Weißt du, was schön ist, hier? Schau: wir gehen und lassen alle diese Abdrücke im Sand zurück, und sie bleiben bestehen, ganz deutlich und ordentlich. Aber wenn du morgen aufstehst, wirst du auf diesen großen Strand schauen, und nichts wird mehr da sein, kein Abdruck, kein anderes Zeichen, gar nichts. Das Meer löscht alles aus in der Nacht. Die Flut versteckt alles. Als wäre nie jemand hier entlanggegangen. Als hätten wir nie existiert. Wenn es einen Ort auf der Welt gibt, an dem du meinen könntest, du seiest nichts, dann ist es dieser Ort hier. Nicht mehr Land, noch nicht ganz Meer. Kein unechtes Leben, kein echtes Leben. Es ist die Zeit. Zeit, die vergeht. Weiter nichts.

Es wäre der perfekte Unterschlupf. Für jeden Feind unsichtbar. Schwebend. Weiß wie Plassons Bilder. Unsichtbar auch für dich selbst. Aber etwas fügt diesem Fegefeuer Risse zu. Es ist etwas, dem du nicht entkommen kannst. Das Meer. Das Meer betört, das Meer tötet, es ist anrührend und beängstigend, manchmal ist es zum Lachen, manchmal verschwindet es, und andere Male trägt es die Maske eines Sees, oder es baut Stürme, verschlingt Schiffe, verschenkt Reichtümer, gibt keine Antworten, es ist weise, es ist sanft, es ist mächtig und unberechenbar. Vor allem aber: Das Meer ruft. Du wirst es noch herausfinden, Elisewin. Im Grunde genommen macht es nichts anderes als dies: rufen. Es hört nie auf, dringt in dich ein, es haftet an dir, es will dich. Du kannst so tun, als ginge es dich nichts an, aber das nützt nichts. Es wird dich immer weiter rufen. Dieses Meer, das du siehst, und all die anderen, die du nie sehen wirst und die es dennoch gibt, die immerfort, einen Schritt jenseits von deinem Leben, geduldig auf der Lauer liegen. Unermüdlich wirst du sie rufen hören. Das ist es, was geschieht in diesem Fegefeuer aus Sand. Es würde in jedem beliebigen Paradies so geschehen und in jeder beliebigen Hölle. Ohne etwas zu erklären, ohne dir zu sagen, wo, wird es immer ein Meer geben, das dich ruft.«

Ann Deverià bricht ab. Sie bückt sich, zieht die Schuhe aus. Sie läßt sie im Sand stehen. Barfuß nimmt sie ihren Gang wieder auf. Elisewin rührt sich nicht von der Stelle. Sie wartet, bis sie sich einige Schritte von ihr entfernt hat. Dann sagt sie, laut genug, um verstanden zu werden:

»In ein paar Tagen werde ich von hier abreisen. Und ich werde ins Meer gehen. Dann werde ich gesund. Das ist es, wonach ich mich sehne. Gesund zu werden. Zu leben. Und eines Tages so schön zu sein wie Sie.«

Ann Deverià wendet sich um. Sie lächelt. Sucht nach Worten. Findet sie:

»Nimmst du mich mit?« 

 

Auf Bartlebooms Fensterbrett saßen sie diesmal zu zweit. Der Junge, wie üblich. Und Bartleboom. Ihre Beine baumelten im Leeren. Ihre Augen schweiften über dem Meer.

»Hör mal, Dood …«

Dood hieß er, der Junge.

»Da du ja ständig hier sitzt …«

»Mmmmh.«

»Womöglich weißt du es.«

»Was?«

»Wo hat es seine Augen, ich meine, das Meer?«

»…«

»Es hat doch welche, oder?«

»Ja.«

»Wo zum Teufel sind sie dann?«

»Die Schiffe.«

»Die Schiffe was?«

»Die Schiffe sind die Augen des Meeres.«

Bartleboom saß stumm vor Staunen. Darauf war er nun wirklich nicht gekommen.

»Aber Schiffe gibt es doch zu Hunderten …«

»Es hat ja auch Hunderte von Augen, das Meer. Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß es mit zweien auskommt.«

In der Tat. Bei der ganzen Arbeit, die da anfällt. Und so groß, wie es ist. Es leuchtet ein, das alles.

»Ja, aber dann, entschuldige mal …«

»Mmmmh.«

»Und die Schiffbrüche? Die Unwetter, die Taifune, alle diese Sachen … Warum sollte es die Schiffe verschlukken, wenn sie seine Augen sind?«

Dood scheint langsam die Geduld zu verlieren. Als er sich Bartleboom zuwendet, sagt er:

»Und Sie … machen Sie etwa nie die Augen zu?«

Mein Gott. Er hat einfach auf alles eine Antwort, dieser Junge.

Bartleboom überlegt. Er überlegt und grübelt und bedenkt und wägt ab. Dann springt er auf einmal mit einem Satz vom Fensterbrett. Zur Zimmerseite hin, versteht sich. Man müßte Flügel haben, um auf der anderen Seite herunterzuspringen.

»Plasson … ich muß Plasson finden … ich muß es ihm sagen … Verflixt, so schwer war das nun auch wieder nicht, man brauchte nur ein wenig darüber nachzudenken …«

Heftig keuchend sucht er nach seiner Wollmütze. Er kann sie nicht finden. Was einleuchtet: Er hat sie auf dem Kopf. Er läßt das Suchen sein. Rennt aus dem Zimmer.

»Bis später, Dood.«

»Bis später.«

Der Junge bleibt, wo er ist, die Augen fest aufs Meer gerichtet. Er bleibt noch eine Weile dort. Dann vergewissert er sich, daß niemand in der Nähe ist und springt mit einem Satz vom Fensterbrett. Zur Strandseite hin, versteht sich. 

 

Eines Morgens wachten sie auf, und nichts war mehr da. Nicht nur ihre Abdrücke im Sand waren verschwunden. Alles war verschwunden. Sozusagen.

Ein unbeschreiblich dichter Nebel.

»Das ist kein Nebel, das sind Wolken.«

Unbeschreiblich dichte Wolken.

»Das sind Meereswolken. Die am Himmel stehen hoch. Die, die vom Meer kommen, liegen tief. Sie kommen nur selten. Dann gehen sie wieder.«

Sie wußte eine Menge, diese Dira.

Sicher, was man sah, wenn man hinausschaute, war beeindruckend. Am Abend vorher war der Himmel noch sternenklar gewesen, märchenhaft. Und jetzt: als stünde man in einer Tasse Milch. Nicht zu reden von der Kälte. Als stünde man in einer Tasse kalter Milch.

»In Carewall ist es genauso.«

Pater Pluche stand wie verzaubert, die Nase an der Fensterscheibe plattgedrückt.

»Er hält sich tagelang. Er bewegt sich um keinen Zentimeter. Das ist Nebel. Richtiger Nebel. Und wenn er kommt, findet man sich nicht mehr zurecht. Die Leute gehen auch tagsüber mit Fackeln in der Hand nach draußen. Um sich zu orientieren. Aber das nützt auch nicht viel. Des Nachts allerdings … kommt es vor, daß man sich überhaupt nicht mehr auskennt. Denken Sie nur, Arlo Crut hat sich eines Abends auf dem Heimweg im Haus geirrt und ist geradewegs im Bett von Metel Crut, seinem Bruder, gelandet. Metel, der wie ein Stein schlief, hat gar nichts bemerkt, aber seine Frau, die hat ihn bemerkt. Den Mann, der zu ihr ins Bett schlüpfte. Unglaublich. Na, und wissen Sie, was sie zu ihm sagte?«

An diesem Punkt fand in Pater Pluches Kopf der übliche Wettstreit statt. Zwei schöne Sätze preschten aus den Startblöcken des Gehirns, ihr Ziel, die Stimme nämlich, mit der sie ins Freie treten wollten, deutlich vor Augen. Der sinnvollere von beiden – man bedenke, daß es sich immerhin um die Stimme eines Geistlichen handelte – war sicher der:

»Tu es, und ich schreie.«

Der aber hatte den Makel, der falsche zu sein. Der andere siegte, der richtige.

»Tu es, oder ich schreie.«

»Pater Pluche.«

»Was habe ich denn gesagt?«

»Was haben Sie denn gesagt?«

»Ich habe etwas gesagt?«

Sie hielten sich alle in dem großen, zum Meer gelegenen Gesellschaftszimmer auf, geschützt vor der Überschwemmung der Wolken, aber nicht vor dem unangenehmen Gefühl, nicht recht zu wissen was tun. Die eine Sache ist, nichts zu tun. Die andere, nichts tun zu können. Das ist etwas anderes. Sie kamen sich alle ein bißchen ratlos vor. Wie Fische im Aquarium. Der Unruhigste war Plasson: In Schaftstiefeln und Anglerjacke irrte er nervös umher und spähte durch die Fensterscheiben nach der milchig-weißen Flut, die keinen Millimeter nachgab.

»Es sieht tatsächlich aus, als sei’s ein Bild von Ihnen«, bemerkte Ann Deverià, die, tief in einem Korbsessel versunken, das Schauspiel gleichfalls beobachtete, mit erhobener Stimme. »Alles so wunderbar weiß.«

Plasson ging weiter auf und ab. Als hätte er überhaupt nichts gehört.

Bartleboom blickte von seinem Buch auf, in dem er lustlos blätterte.

»Sie sind zu streng, Madame Deverià. Herr Plasson versucht, etwas sehr Schwieriges zu vollbringen. Und seine Bilder sind auch nicht weißer als die Seiten meines Buches hier.«

»Sie schreiben ein Buch?« fragte Elisewin von ihrem Stuhl vor dem großen Kamin aus.

»So etwas Ähnliches wie ein Buch.«

»Hast du gehört, Pater Pluche, Herr Bartleboom schreibt Bücher.«

»Nein, nein, es ist kein richtiges Buch …«

»Eine Enzyklopädie ist es«, enthüllte Ann Deverià.

»Eine Enzyklopädie?«

Das Startzeichen. Manchmal reicht ein Nichts aus, um das große milchige Meer zu vergessen, das einem in der gleichen Zeit Streiche spielt. Manchmal genügt womöglich der heisere Ton eines seltsamen Wortes. Enzyklopädie. Ein einziges Wort nur. Durchgestartet. Alle ohne Ausnahme: Bartleboom, Elisewin, Pater Pluche, Plasson. Und Madame Deverià.

»Bartleboom, spielen Sie nicht den Bescheidenen, erklären Sie der jungen Dame die Sache mit den Grenzen, die der Flüsse und so fort.«

»Es heißt Enzyklopädie der in der Natur anzutreffenden Grenzen …«

»Ein schöner Titel. Im Priesterseminar hatte ich mal einen Lehrer …«

»Lassen Sie ihn aussprechen, Pater Pluche …«

»Seit zwölf Jahren arbeite ich daran. Eine komplizierte Sache … ich erforsche praktisch, bis wohin die Natur vordringen kann, oder besser: wo sie ihr Ende festsetzt. Denn zu einem Ende kommt sie immer, manchmal früher, manchmal später. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Beispielsweise …«

»Geben Sie ihr das Beispiel mit den Kopronen.«

»Nun, das ist ein etwas außergewöhnlicher Fall …«

»Haben Sie sie schon gehört, Plasson, die Geschichte mit den Kopronen?«

»Na, hören Sie, liebe Madame Deverià, die Geschichte hat er doch mir erzählt, und Sie haben sie wiederum von mir erfahren.«

»Alle Achtung, das war ja ein ganz langer Satz, Plasson, meine Hochachtung, Sie machen Fortschritte.«

»Was hat es denn nun mit diesen Kopronen auf sich?«

»Kopronen leben in den Eisbergen im Norden. Es sind – auf ihre Art – perfekte Tiere. Sie altern praktisch nicht. Wenn sie wollten, könnten sie ewig leben.«

»Grauenhaft.«

»Doch Achtung. Die Natur überwacht alles, nichts entgeht ihr. Und so geschieht nun folgendes: An einem gewissen Punkt, wenn sie so um die Siebzig, Achtzig sind, hören die Kopronen einfach auf zu fressen.«

»Nein.«

»Doch. Sie hören einfach auf zu fressen. Sie leben dann durchschnittlich noch weitere drei Jahre in dem Zustand. Dann sterben sie.«

»Drei Jahre, ohne zu fressen?«

»Durchschnittlich. Manche halten auch länger durch. Aber zum Schluß, und das ist das Ausschlaggebende, sterben sie. Das ist wissenschaftlich erwiesen.«

»Aber das ist ja Selbstmord!«

»In einem gewissen Sinne.«

»Und Ihrer Ansicht nach sollen wir Ihnen das glauben, Bartleboom?«

»Sehen Sie hier, ich habe auch eine Zeichnung … die Zeichnung eines Kopronen …«

»Zum Teufel, Bartleboom, Sie hatten recht, Sie zeichnen wirklich miserabel, ich habe wahrhaftig noch nie eine so miserable Zeichnung … (stopp).«

»Die ist nicht von mir … Das war der Seemann, der mir die Geschichte erzählt hat, der hat es gezeichnet …«

»Ein Seemann?«

»Die ganze Geschichte haben Sie von einem Seemann?«

»Ja, wieso?«

»Oh, mein Kompliment, Bartleboom, wahrhaft wissenschaftlich erwiesen …«

»Ich glaube Ihnen.«

»Danke, Fräulein Elisewin.«

»Ich glaube Ihnen, und Pater Pluche auch, nicht wahr?«

»Sicher … eine absolut wahrscheinliche Geschichte, im Gegenteil, wenn ich genau darüber nachdenke, hatte ich sie sogar schon einmal gehört, das muß im Priesterseminar gewesen sein …«

»Man lernt ja wirklich eine Menge Dinge in diesen Seminaren … Gibt es auch welche für Damen?«

»Jetzt, da ich darüber nachdenke, Plasson, könnten Sie vielleicht die Illustrationen der Enzyklopädie für mich machen, das wäre doch wunderbar, nicht?«

»Müßte ich dann Kopronen zeichnen?«

»Na ja, abgesehen von den Kopronen gibt es noch eine Menge anderer Sachen … ich habe unter 872 Stichwerten geschrieben, Sie könnten sich die aussuchen, die Sie bevorzugen …«

»872?«

»Finden Sie nicht auch, Madame Deverià, daß das ein guter Einfall ist?«

»Beim Stichwort Meer könnte man gegebenenfalls auf eine Illustration verzichten …«

»Pater Pluche hat die Zeichnungen in seinem Buch selbst gemacht.«

»Elisewin, laß das.«

»Stimmt doch.«

»Jetzt sagen Sie bloß nicht, daß wir noch einen Wissenschaftler haben …«

»Es ist ein wunderschönes Buch.«

»Wirklich, Pater Pluche, Sie schreiben auch?«

»Aber nein, es handelt sich um etwas … anderes, nicht wirklich um ein Buch.«

»Wohl, es ist ein Buch.«

»Elisewin …«

»Er zeigt es nie jemandem, aber es ist wunderschön.«

»Ich vermute, es sind Gedichte.«

»Nicht ganz.«

»Aber Sie sind schon nahe dran.«

»Lieder?«

»Nein.«

»Los, Pater Pluche, lassen Sie sich nicht so lange bitten …«

»Also, genau das …«

»Genau was?«

»Nein, ich meine, apropos bitten …«

»Jetzt sagen Sie nicht …«

»Gebete, es handelt sich um Gebete.«

»Gebete?«

»Ach du liebe Zeit.«

»Aber sie sind nicht wie die anderen, die Gebete von Pater Pluche.«

»Ich halte das für einen ausgezeichneten Einfall. Ich habe immer schon bedauert, daß es an einem schönen Gebetbuch mangelt.«

»Bartleboom, ein Wissenschaftler sollte nicht beten, ein richtiger Wissenschaftler sollte nicht einmal daran denken zu … (stopp).«

»Im Gegenteil! Gerade, weil wir die Natur erforschen und die Natur nichts anderes ist als der Spiegel …«

»Er hat auch ein sehr schönes über einen Arzt geschrieben. Das ist doch auch ein Wissenschaftler, oder?«

»Was soll das heißen, über einen Arzt?«

»Es heißt Gebet eines Arztes, der einen Kranken rettet und sich in dem Augenblick, in dem jener geheilt aufsteht, unendlich müde fühlt.«

»Wie bitte?«

»Das ist doch kein Name für ein Gebet.«

»Ich habe doch gesagt, daß Pater Pluches Gebete nicht wie die anderen sind.«

»Aber sind sie denn alle so überschrieben?«

»Einige Überschriften habe ich kürzer gefaßt, aber dies ist doch der Grundgedanke.«

»Nennen Sie uns noch ein paar andere, Pater Pluche …«

»Aha, jetzt interessieren Sie sich auf einmal für Gebete, was, Plasson?«

»Ich weiß nicht … Es gibt das Gebet für ein Kind, das das ›R‹ nicht rollen kann, oder beispielsweise das Gebet eines Mannes, der in eine Schlucht fällt und nicht sterben will …«

»Das kann nicht wahr sein …«

»Na ja, dieses ist zwangsläufig sehr kurz, wenige Wörter nur … oder das Gebet eines Alten, dem die Hände zittern, so etwas eben …«

»Aber das ist ja außerordentlich!«

»Und wie viele haben Sie schon geschrieben?«

»Schon einige … sie sind nicht leicht zu schreiben, manchmal möchte man gern, aber wenn die Inspiration fehlt …«

»Aber so in etwa, wie viele?«

»Bis jetzt … sind es 9502.«

»Nein …«

»Aber das ist ja Wahnsinn …«

»Zum Teufel, Bartleboom, im Vergleich dazu ist Ihre Enzyklopädie nur ein Merkheftchen.«

»Wie machen Sie das bloß, Pater Pluche?«

»Ich weiß nicht.«

»Gestern hat er ein wunderschönes geschrieben.«

»Elisewin …«

»Wirklich.«

»Elisewin, bitte …«

»Gestern abend hat er eines über Sie geschrieben.«

Alle verstummen plötzlich.

Gestern abend hat er eines über Sie geschrieben.

Während sie das aussprach, sah sie keinen von ihnen an.

Gestern abend hat er eines über Sie geschrieben.

Sie schaute anderswohin, als sie es aussprach, und dahin drehen sich jetzt alle überrascht um.

Ein Tisch neben der gläsernen Eingangstür. Am Tisch saß ein Mann, eine erloschene Pfeife in der Hand. Adams. Keiner weiß, seit wann er da ist. Womöglich war er eine Sekunde zuvor erst gekommen, womöglich ist er immer schon da.

»Gestern abend hat er eines über Sie geschrieben.«

Alle verharren reglos. Nur Elisewin steht auf und geht auf ihn zu.

»Es heißt Gebet eines Mannes, der seinen Namen nicht nennen will.«

Aber mit Zartheit. Sie sagt es mit Zartheit.

»Pater Pluche glaubt, Sie seien Arzt.«

Adams lächelt.

»Nur manchmal.«

»Ich glaube aber, Sie sind Seemann.«

Still, die anderen alle. Versteinert. Aber sie verpassen kein Wort, kein einziges.

»Nur manchmal.«

»Und was sind Sie hier, heute?«

Adams schüttelt den Kopf.

»Nur jemand, der wartet.«

Elisewin steht aufrecht vor ihm.

Sie hat eine präzise, ganz einfache Frage im Sinn:

»Worauf warten Sie?«

Drei Wörter nur. Aber sie kann sie nicht aussprechen, weil einen Augenblick zuvor eine Stimme in ihrem Kopf ihr zuflüstert:

Frag mich nicht, Elisewin, frag mich nicht, ich bitte dich.

So bleibt sie regungslos vor ihm stehen, ohne etwas zu sagen, die Augen fest in die von Adams geheftet, die stumm wie Steine sind.

Stille.

Dann blickt Adams über sie hinweg und sagt:

»Die Sonne scheint ganz herrlich heute.«

Jenseits der Fensterscheiben haben sich alle Wolken klaglos aufgelöst, und die klare, blendende Luft läutet den aus dem Nichts auferstandenen Tag ein.

Strand. Und Meer.

Licht.

Der Nordwind.

Die Stille der Gezeiten.

Tage. Nächte.

Eine Liturgie. Eine versteinerte, wenn man genau hinschaut. Versteinert.

Personen wie die Gesten einer Zeremonie.

Etwas anderes als Menschen.

Gesten.

Die schleichende alltägliche Zeremonie saugt sie auf, verwandelt sie in Sauerstoff, zu einem engelhaften surplace.

Die perfekte Küstenlandschaft setzt sie im Stoffwechsel um, verwandelt sie in Figuren für seidene Fächer.

Mit jedem Tag unverwandelbarer.

Einen Schritt weit vom Meer aufgestellt, entstehen sie und vergehen gleichzeitig, und in den Hohlräumen einer eleganten Leere erhalten sie den Trost einer vorübergehenden Nichtexistenz.

Auf diesem Trompe-l’œil der Seele schaukelt das silberhelle Klingen ihrer Worte als einzige wahrnehmbare Kräuselung in der Ruhe des unbenennbaren Zaubers. 

 

»Sie glauben wohl, ich sei verrückt?«

»Nein.«

Bartleboom hat ihr die ganze Geschichte erzählt. Die Briefe, die Mahagonikassette, die Frau, die auf ihn wartet. Alles.

»Ich habe es noch nie jemandem erzählt.«

Stille. Abend. Ann Deverià. Die Haare gelöst. Ein bis auf die Füße reichendes langes weißes Nachthemd. Ihr Zimmer. Der Widerschein des Lichts auf den Wänden.

»Warum dann mir, Bartleboom?«

Er traktiert den Saum seines Jacketts, der Herr Professor. Es fällt ihm nicht leicht. Überhaupt nicht leicht.

»Weil ich möchte, daß Sie mir helfen.«

»Ich?«

»Sie.«

Es ist nun einmal so, daß manch einer sich großartige Geschichten aufbaut und womöglich jahrelang daran festhält, ganz gleich, wie verrückt und unwahrscheinlich sie auch sein mögen, er hält daran fest und Schluß. Und ist auch noch glücklich dabei. Glücklich. Es könnte immer so weitergehen. Dann, eines schönen Tages, zack, zerbricht etwas im Herzen des großartigen Phantasiegebildes, grundlos und unvermittelt zerbricht es, und du stehst da, ohne zu begreifen, wieso du diese ganze wunderbare Geschichte plötzlich nicht mehr in dir hast, sondern vor dir, als sei es die Verrücktheit eines anderen, und dieser andere bist du selbst. Zack. Manchmal genügt ein Nichts. Etwa eine Frage, die auftaucht. Das reicht schon aus.

»Madame Deverià, wie kann ich es anstellen, daß ich sie erkenne, die Frau, meine Frau, wenn ich ihr begegne?«

Wenn zum Beispiel eine derartige elementare Frage auftaucht aus den unterirdischen Höhlen, in denen man sie vergraben hatte. So etwas reicht schon aus.

»Woran werde ich sie erkennen, wenn ich ihr begegne?«

Eben.

»Haben Sie sich denn in all den Jahren diese Frage nie gestellt?«

»Nein. Ich wußte, daß ich sie erkennen würde, das ist alles. Aber jetzt habe ich Angst. Ich habe Angst, nicht imstande zu sein, zu verstehen, und dann wird sie vorübergehen. Und ich werde sie verlieren.«

Er hat wahrhaftig die ganze Pein der Welt am Hals, der Professor Bartleboom.

»Erklären Sie mir, Madame Deverià, woran ich sie erkennen kann, wenn ich ihr begegne.«

Elisewin schläft im Licht einer Kerze und eines Mädchens. Und Pater Pluche unter seinen Gebeten und Plasson im Weiß seiner Bilder. Womöglich schläft sogar Adams, das jagende Tier. Die Pension Almayer schläft, geschaukelt vom Ozean Meer.

»Schließen Sie die Augen, Bartleboom, und reichen Sie mir Ihre Hände.«

Bartleboom gehorcht. Und sofort spürt er unter seinen Händen das Gesicht der Frau und ihre Lippen, die mit seinen Fingern spielen, dann den schlanken Hals und das Öffnen der Bluse, ihre Hände, die die seinen über ihre warme und samtweiche Haut führen und sie an sich pressen, um die Geheimnisse dieses unbekannten Körpers zu erspüren, ihre Wärme an sich zu ziehen, wieder zu den Schultern hinauf zu streichen, in die Haare und wieder auf die Lippen, auf denen seine Finger hin und her gleiten, so lange, bis eine Stimme sie festhält und in die Stille hinein schreibt:

»Schauen Sie mich an, Bartleboom.«

Das Nachthemd ist ihr in den Schoß gerutscht. Ihre Augen lächeln ohne jede Verlegenheit.

»Eines Tages werden Sie eine Frau sehen und all das spüren, ohne sie auch nur im geringsten zu berühren. Geben Sie ihr Ihre Briefe. Für sie haben Sie sie geschrieben.«

Tausend Dinge rauschen durch Bartlebooms Kopf, als er die Hände zurückzieht, sie aber weiter geöffnet hält, als würde alles vorübergehen, wenn er sie schlösse.

Als er das Zimmer verließ, war er dermaßen durcheinander, daß ihm schien, im Halbdunkel die unwirkliche Gestalt eines wunderschönen Kindes wahrzunehmen, das am Fußende des Bettes eng an ein großes Kissen geschmiegt dalag. Unbekleidet. Die Haut so weiß wie eine Meereswolke. 

 

»Wann willst du abfahren, Elisewin?« fragte Pater Pluche.

»Und du?«

»Ich will überhaupt nichts. Aber früher oder später einmal müssen wir nach Daschenbach. Dort sollst du dich behandeln lassen. Dies hier … hier ist nicht der richtige Ort, um gesund zu werden.«

»Warum sagst du so was?«

»Dieser Ort hat etwas … Krankhaftes an sich. Bemerkst du es nicht? Die weißen Bilder des Malers, die unaufhörlichen Messungen von Professor Bartleboom … und dann diese Frau, die zwar sehr schön ist, aber auch unglücklich und einsam, ich weiß nicht … gar nicht zu reden von dem Mann, der hier wartet … alles, was er tut, ist warten, weiß der Himmel auf was oder wen … Es steht alles … alles steht still, einen Schritt nur diesseits der Dinge. Es gibt nichts Wirkliches hier, verstehst du das?«

Elisewin schweigt und denkt nach.

»Und damit nicht genug. Weißt du, was ich entdeckt habe? Es gibt noch einen Gast hier in der Pension. Im siebten Zimmer, in dem niemand zu wohnen scheint. Nun, es ist nicht unbewohnt. Da ist ein Mann drin. Aber er kommt nie heraus. Dira wollte mir nicht sagen, wer es ist. Keiner von den anderen hat ihn je zu Gesicht bekommen. Das Essen wird ihm aufs Zimmer gebracht. Scheint dir das etwa normal?«

Elisewin schweigt.

»Was ist denn das für ein Ort, wo Menschen zwar anwesend, aber unsichtbar sind oder ständig hin und her laufen, als hätten sie noch eine Ewigkeit vor sich, um …«

»Das, Pater Pluche, ist die Meeresküste. Weder Land noch Meer. Es ist ein Ort, den es nicht gibt.«

Elisewin steht auf. Sie lächelt.

»Es ist eine Welt der Engel.«

Im Hinausgehen bleibt sie noch einmal stehen.

»Wir werden abfahren, Pater Pluche. Ein paar Tage noch, dann fahren wir ab.« »Also, Dol, hör gut zu. Du mußt das Meer beobachten … Und wenn du ein Schiff siehst, sagst du mir Bescheid. Verstanden?«

»Ja, Herr Plasson.«

»Ausgezeichnet.«

Nun ist es so, daß Plasson nicht besonders gut sieht. Er sieht nah, aber er kann nicht weit sehen. Er behauptet, er hätte zuviel Zeit damit verbracht, Gesichter von reichen Leuten anzusehen. Das macht die Augen kaputt. Von allem anderen gar nicht zu reden. So kommt es, daß er Schiffe sucht und keine findet. Vielleicht findet Dol welche.

»Das kommt, weil sie weit draußen vorbeifahren, die Schiffe, Herr Plasson.«

»Und wieso?«

»Sie haben Angst vor den Fußstapfen des Teufels.«

»Was soll das heißen?«

»Felsen. Die ganze Küste entlang hier vor uns gibt es Felsen. Sie liegen unter der Meeresoberfläche, und man bekommt sie nicht immer zu sehen. Deshalb fahren die Schiffe weit draußen vorbei.«

»Felsen, die haben mir gerade noch gefehlt.«

»Der Teufel hat sie dahin gestellt.«

»Ja, Dol.«

»Wirklich! Wissen Sie, der Teufel wohnte da hinten, auf der Insel Taby. Nun, eines Tages nahm ein Mädchen, eine Heilige, ein Boot und ruderte drei Tage und drei Nächte, bis sie zu ebendieser Insel kam. Sie war wunderschön.«

»Die Insel oder die Heilige?«

»Das Mädchen.«

»Aha.«

»Sie war so schön, daß der Teufel, als er sie sah, zu Tode erschrak. Er versuchte, sie zu verscheuchen, aber sie bewegte sich um keinen Millimeter. Sie stand einfach da und sah ihn an. Bis es der Teufel eines Tages einfach nicht mehr dagegen aushaltete …«

»Aushielt.«

»Er hielt es einfach nicht mehr aus, fing an zu schreien und zu rennen, er rannte ins Meer hinein, bis er verschwand, und niemand hat ihn mehr gesehen.«

»Und was haben die Felsen damit zu tun?«

»Sie haben damit zu tun, weil bei jedem Schritt, den der Teufel beim Weglaufen machte, ein Felsen aus dem Meer kam. Überall, wo er einen Fuß hinsetzte, zack, kam ein Felsen hervor. Und jetzt sind sie immer noch da. Das sind die Fußstapfen des Teufels.«

»Schöne Geschichte.«

»Ja.«

»Nichts zu sehen?«

»Nein.«

Schweigen.

»Bleiben wir eigentlich den ganzen Tag hier?«

»Ja.«

Schweigen.

»Es gefiel mir aber besser, als ich Sie am Abend mit dem Boot abholen kam.«

»Laß dich nicht ablenken, Dol.« 

 

»Sie könnten ihnen ein Gedicht widmen, Pater Pluche.«

»Sie meinen, Möwen beten?«

»Ganz gewiß. Besonders, wenn sie im Sterben liegen.«

»Und Sie, Bartleboom, beten Sie nie?«

Bartleboom rückt die Wollmütze auf seinem Kopf zurecht.

»Früher einmal habe ich gebetet. Dann habe ich das überdacht. In acht Jahren habe ich mir erlaubt, den Allmächtigen um zwei Dinge zu bitten. Ergebnis: Meine Schwester ist gestorben, und der Frau, die ich heiraten werde, bin ich noch nicht begegnet. Seitdem bete ich viel seltener.«

»Ich glaube nicht, daß …«

»Die Zahlen sprechen eine klare Sprache, Pater Pluche. Der Rest ist Dichtung.«

»Genau. Hätten wir nur ein bißchen mehr …«

»Machen Sie die Dinge nicht so kompliziert, Pater Pluche. Die Sache ist ganz einfach. Glauben Sie im Ernst, daß Gott existiert?«

»Nun ja, existieren scheint mir ein etwas übertriebener Ausdruck zu sein, aber ich glaube, daß es ihn gibt, das ja, auf eine ihm eigene Weise, glaube ich, gibt es ihn.«

»Was macht das für einen Unterschied?«

»Das macht einen Unterschied, Bartleboom, und was für einen. Nehmen Sie nur die Geschichte des siebten Zimmers … ja, die Geschichte mit dem Mann in der Pension, der sein Zimmer niemals verläßt und so weiter, ja?«

»Na und?«

»Niemand hat ihn je zu Gesicht bekommen. Er ißt, wie es scheint. Aber das könnte auch nur ein Trick sein. Es könnte auch sein, daß er gar nicht existiert. Eine Erfindung von Dira. Aber für uns gäbe es ihn trotzdem. Abends geht in dem Zimmer das Licht an, hin und wieder hört man Geräusche, ich habe doch selbst beobachtet, daß Sie immer langsamer gehen, wenn Sie da vorbeikommen und versuchen, etwas zu sehen und zu hören … Für uns gibt es diesen Mann.«

»Aber das stimmt doch gar nicht, und außerdem ist das ein Verrückter, ein …«

»Es ist kein Verrückter, Bartleboom. Dira sagt, er ist ein Gentleman, ein richtiger Herr. Sie sagt, er trägt ein Geheimnis mit sich herum, das ist alles, aber es ist ein ganz normaler Mensch.«

»Und das glauben Sie?«

»Ich weiß nicht, wer er ist, ich weiß nicht, ob er existiert, ich weiß nur, daß es ihn gibt. Für mich gibt es ihn. Und es ist ein Mensch, der Angst hat.«

»Angst?«

Bartleboom wackelt mit dem Kopf.

»Und wovor?« 

 

»Gehen Sie nicht zum Strand?«

»Nein.«

»Sie gehen nicht spazieren, Sie schreiben nicht, sie malen keine Bilder, Sie sprechen nicht, Sie stellen keine Fragen. Sie warten, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und warum? Warum tun Sie nicht, was Sie tun müssen, und Schluß damit?«

Adams blickt zu dem Kind auf, das, wenn es will, mit der Stimme einer Frau spricht, und in diesem Moment will es.

»An tausend unterschiedlichen Orten der Welt habe ich Pensionen wie diese gesehen. Oder auch: ich habe diese Pension an tausend verschiedenen Orten der Welt gesehen. Die gleiche Einsamkeit, die gleichen Düfte, die gleiche Stille. Die Menschen kommen dorthin, und die Zeit bleibt stehen. Für manch einen muß es ein Glücksgefühl sein, nicht wahr?«

»Für manch einen.«

»Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich dieses wählen: direkt vor dem Meer leben.«

Schweigen. »Direkt davor.« Schweigen. »Adams.« Schweigen.

»Hören Sie auf zu warten. So schwer ist es nun auch wieder nicht, jemanden zu töten.« »Werde ich deiner Ansicht nach da unten sterben?«

»In Daschenbach?«

»Wenn ich ins Meer gesteckt werde.«

»Ach was …«

»Los, sag mir die Wahrheit, Pater Pluche, ohne Scherz.«

»Du wirst nicht sterben, ich schwor’s dir, du wirst nicht sterben.«

»Und wieso weißt du das?«

»Ich weiß es.«

»Uff.«

»Ich hab’s geträumt.«

»Geträumt …«

»Also hör zu. Eines Abends will ich schlafen gehen, schlüpfe unter die Decke, und als ich gerade das Licht löschen will, sehe ich, wie die Tür aufgeht und ein Junge hereinkommt. Ich dachte, es sei ein Kellner oder so was. Aber er kommt auf mich zu und sagt zu mir: ›Gibt es etwas, wovon Sie heute nacht gern träumen möchten, Pater Pluche?‹ Einfach so. Und ich sage: ›Von der Komtesse Varmeer beim Baden.‹«

»Pater Pluche …«

»Das war doch ein Scherz, klar? Nun gut, er sagt nichts, lächelt ein bißchen und geht raus. Ich schlafe ein, und wovon träume ich?«

»Von der Komtesse Varmeer beim Baden.«

»Richtig.«

»Und? Wie war sie?«

»Ach, nicht der Rede wert, eine Enttäuschung …«

»Häßlich?«

»Eine, die gar keine so gute Figur hat, wie es auf den ersten Blick aussieht, eine Enttäuschung … Jedenfalls … kommt der Junge jeden Abend zu mir. Er heißt Ditz. Und jedesmal fragt er mich, ob ich etwas träumen möchte. Also habe ich vorgestern zu ihm gesagt: ›Ich will von Elisewin träumen. Ich will von ihr als Erwachsener träumen.‹ Ich bin eingeschlafen und habe von dir geträumt.«

»Und wie war ich?«

»Lebendig.«

»Lebendig? Und sonst?«

»Lebendig. Frag nicht weiter. Du warst lebendig.«

»Ich … lebendig?« 

 

Ann Deverià und Bartleboom nebeneinander in einem an Land gezogenen Boot sitzend.

»Und was haben Sie ihm geantwortet?« fragt Bartleboom.

»Ich habe ihm nicht geantwortet.«

»Nein?«

»Nein.«

»Und wie soll es jetzt weitergehen?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, daß er hierherkommen wird.«

»Sind Sie glücklich darüber?«

»Ich sehne mich nach ihm. Aber ich weiß nicht.«

»Womöglich kommt er hierher und nimmt Sie für immer mit.«

»Reden Sie keinen Schwachsinn, Bartleboom.«

»Und warum nicht? Er liebt Sie, das haben Sie selbst gesagt, Sie sind alles, was er im Leben hat …«

Der Liebhaber von Ann Deverià hat endlich herausbekommen, wohin deren Ehemann sie verbannt hat. Er hat ihr geschrieben. Womöglich ist er in dieser Minute schon auf dem Weg zum Meer und zum Strand.

»Ich würde hierherkommen und Sie mit mir fortnehmen, für immer.«

Ann Deverià lächelt.

»Sagen Sie mir das noch einmal, Bartleboom. In genau demselben Ton, ich bitte Sie. Sagen Sie mir das noch einmal.« 

 

»Dahinten … dahinten ist es!«

»Wo dahinten?«

»Da … nein, mehr rechts, da, da ist es doch.«

»Ich seh’s! Bei Gott, ich seh’s.«

»Drei Masten!«

»Drei Masten?«

»Es ist ein Dreimaster, sehen Sie das nicht?«

»Drei?« 

 

»Plasson, seit wann sind wir eigentlich hier?«

»Schon immer, Madame.«

»Nein, ich frage im Ernst.«

»Schon immer, Madame. Im Ernst.« 

 

»Meiner Ansicht nach ist er Gärtner.«

»Wieso?«

»Er kennt die Namen der Bäume.«

»Woher wissen Sie das, Elisewin?«

»Ich muß schon sagen, die Sache mit dem siebten Zimmer behagt mir ganz und gar nicht.«

»Was stört Sie daran?«

»Ein Mann, der sich nicht zeigt, macht mir angst.«

»Pater Pluche sagt, daß er es ist, der Angst hat.«

»Und vor was?« 

 

»Manchmal frage ich mich, auf was wir eigentlich warten.«

Schweigen.

»Daß es zu spät ist, Madame.« 

 

Es hätte ewig so weitergehen können.