Kapitel 14

 

Annabelle kam langsam zu sich. Sie sah sich um. Sie hatte Schwierigkeiten zu fokussieren, ihre Augen schmerzten, so wie der Rest ihres Körpers. Undeutlich sah sie weiße Wände, ein Holzkreuz, eine Tür mit einem Fenster darin und Gitterstäben.

Sie versuchte sich aufzurichten und musste zu ihrem Entsetzen feststellen, das man sie festgeschnallt hatte. Lederriemen fesselten ihre Hand – und Fußgelenke und ein Bauchgurt fixierte ihre Mitte. Was war los? Oh nein, bitte bitte nicht, dachte sie verzweifelt. Aber sie wusste es eigentlich schon: Sie war wieder im Adlerhorst.

Sie hatte keine Ahnung, wie sie hierher gekommen war, und warum sie fixiert war. Warum ihr alles wehtat und sie hatte nur das dringende Bedürfnis, hier raus zu kommen. Sie konnte sich nicht beherrschen und versuchte sich aufzubäumen, loszureißen, weg, sie schrie und schrie …

 

* * *

 

Paul war mehrere Stunden geritten, bis er aufgab. Der Morgen graute schon. Als er zurück zum Haus kam, fand er Naumann im Stall bei Oberon.

Das Pferd ist vor Kurzem hier angekommen. Ohne Annabelle.“

Paul wurde bleich.

Er hat eine Wunde an der Seite, aber ich kann nicht erkennen, woher. Und sein Zaumzeug ist weg, er muss es irgendwo abgestreift haben.“

Der Wallach stand völlig erschöpft in seiner Box und regte sich kaum, als Paul ihn untersuchte.

Sollen wir einen Tierarzt kommen lassen?“, fragte er hilflos.

Naumann schüttelte den Kopf: “So schlimm ist es nicht.”

Paul streichelte das Pferd und verknotete seine Finger in der Mähne. Er fühlte sich absolut hilflos, ohne Plan.

Naumann sattelte Titania ab und sagte: “Ich habe Karl benachrichtigt. Er wird sicher bald hier sein.“

Danke.“

Paul ging ins Haus, um nach Frau Barbara zu sehen. Die war in der Küche und polierte weinend Besteck. Er machte Wasser heiß und setzte sich zu ihr. Sie sah ihn nicht an.

Hat Annabelle Ihnen gestern etwas erzählt?“, fragte er schließlich.

Die Hausdame schüttelte den Kopf.

Es gab einen Vorfall.“

Sie schniefte nur.

Meine Mutter hat sich geschnitten und Annabelle hat versucht, sie zu heilen. Ich hatte meiner Mutter nicht erzählt, dass sie das kann, meine Mutter wusste es nicht, es war einfach keine Zeit, ich glaube, niemand hat ihr je erzählt, warum Annabelle im Adlerhorst war. Mein Vater will sie mit solchen Dingen nicht belasten, und ich habe sie nicht viel gesehen in letzter Zeit. Es schien so eine gute Idee, das mit dem Essen, ich habe nicht nachgedacht, ich meine: Warum konnte ich nicht warten? Ich habe nur an mich gedacht und alles falsch gemacht.“

Er schüttete heißes Wasser auf die Teebeutel.

Sie ist ein gutes Kind“, begann die Hausdame mit leiser Stimme. “Aber sie weiß nicht, wie anders sie ist, ihr Vater hat das nicht zugelassen, in seinen Augen war sie richtig. Es ist nicht nur die Hand. Aber die Menschen sehen oft nur das Äußerliche. Verurteilen Sie Ihre Mutter nicht. Es ist nur menschlich.“

Ich liebe Annabelle.“

Und Ihre Mutter liebt Sie. Verurteilen Sie sie dafür nicht. Nicht jeder ist offen für Neues und bereit sich Herausforderungen zu stellen.“

Aber sollte sie nicht wenigstens mir zuliebe den Versuch machen?“

Das hat sie getan. Nach dem, was ich weiß, haben Sie ein böses Spiel mit ihr gespielt. Sie haben ihr dieses Treffen aufgezwungen und sie so genötigt, gute Miene dazu zu machen. Aber das war nicht recht: Ihre Mutter hätte Besseres verdient gehabt. Und Annabelle auch.“

Wir dachten, es wäre höchste Zeit. Wir wollten nicht noch lange warten.“

Ja, sie wollen alle nicht warten. Ihr denkt, ich hätte es nicht bemerkt, aber ich bin nicht blind. Ich habe nur für mich entschieden, nicht hin zuschauen. Annabelle war schon immer ungeduldig, und sie bekam von ihrem Vater auch meistens, was sie wollte. Und nun ist er nicht da, aber Sie sind da. Sie haben ihr gut getan, und deshalb habe ich es zugelassen. Ich habe die Augen zu gemacht, obwohl ich wusste, dass es nicht richtig ist.“

Ich werde sie trotzdem heiraten“, sagte Paul störrisch.

Sie sollen es aus den richtigen Gründen tun.“

Paul betrachtete die Hausdame, die noch immer bedächtig einen Löffel nach dem anderen polierte und wieder in den Besteckkasten legte.

Glauben Sie, dass ich es aus den falschen Gründen tue?“

Ich möchte mir nicht anmaßen, über Ihre Gründe zu urteilen. Ich bin mir nur nicht sicher über Annabelles Gründe. Sie sehen ihrem Vater so unfassbar ähnlich, dass ich den Gedanken nicht los werde, dass sie sich vielleicht über ihre Motive nicht im Klaren ist.“

Das schockierte ihn sehr. Er hatte über die Ähnlichkeit oft nachgedacht, und bei der Wahl seines Kostüms für den Maskenball auch damit gespielt. Aber er erinnerte sich an die erste Nacht in der Schurmhütte, als Annabelle ihm ihre Hand gezeigt hatte. Sie hatte an diesem Abend tief in ihn hinein geschaut, und was auch immer sie gefunden hatte, sie hatte sich für ihn entschieden. Er hatte in ihrem Gesicht gesehen, das sie ihn in diesem Moment nicht mit ihrem Vater verwechselt hatte.

Sie hatte sich ihm hingegeben! Er konnte es nicht zulassen, dass das entwertet wurde.

Wenn Annabelle wieder da ist, dann werden wir uns mehr Zeit lassen. Frau Barbara, wir werden Sie davon überzeugen, dass sie mich nicht heiratet, weil sie mich für ihren Vater hält. Das würde ich auch nicht wollen. In ein paar Monaten werden wir diese Ereignisse hoffentlich als eine schlechte Erinnerung zurück behalten. Vertrauen Sie mir?“

Frau Barbara sah ihn zum ersten Mal während des Gesprächs an. Dann schloss sie die Augen und bedeckte ihr Gesicht mit einem Taschentuch.

Finden Sie sie“, sagte sie weinend.

Er nickte. Dann stand er auf und ging in die Bibliothek, um auf Karl Burger zu warten.

 

Paul fasste gerade die Ereignisse des Abends für Karl zusammen, als es an der Tür klopfte. Ein Bote brachte eine Nachricht.

Paul nahm die Nachricht und öffnete sie. Er las sie und sah Burger entsetzt an: “Sie ist wieder im Adlerhorst!“

Was?“ Burger riss Paul die Nachricht aus der Hand.

Wir müssen sofort dort hin“, sagte Paul. Sein Kopf drehte sich. Die schlaflose Nacht machte es schwierig, klar zu denken.

Ja“, nickte Burger. „Wir nehmen das Automobil.“ Er ging, um Naumann Bescheid zu sagen.

Paul konnte daher nicht anders: Er musste es Frau Barbara erklären.

Er war froh, dass die von Burger bestellte Krankenschwester da war, denn die alte Kinderfrau nahm die Nachricht nicht gut auf.

Rufen Sie mir einen Arzt“, forderte die Pflegerin, und Paul richtete die Bitte an Naumann.

Dann brauste er mit Burger in den Schwarzwald hoch.

Burger fuhr die kurvigen Straßen in einem halsbrecherischen Tempo. Paul war froh um seine Schutzbrille und den dicken Mantel. Es war nicht möglich, sich zu unterhalten. Es war allerdings auch nicht möglich, die schlimmen Gedanken zu verdrängen, die immer wieder in seinem Kopf kreisten.

Als schließlich der Gebäudekomplex sichtbar wurde, beschlich Paul das Gefühl, das seine komplizierte Situation nun noch um einiges Schlimmer werden würde.

 

Nach langer Wartezeit wurden sie schließlich empfangen.

Major Götz“, begrüßte ihn Dr. Karl Burger ernst.

Dr. Burger, Herr Falkenberg.“ Der Mann füllte sie Schultern seiner Uniform bis zum Bersten aus. Paul war das beim ersten Mal nicht aufgefallen, aber heute bemerkte er es. Sie wurden wieder lange gemustert. Der Soldat trommelte mit den Fingern seiner rechten Hand auf einer Akte.

Wir haben Nachricht, dass das Fräulein Rosenherz sich hier befindet“, eröffnete Karl Burger das Gespräch. Der Major nickte. Er öffnete die Akte, um sie gleich wieder zu schließen. Es war eine leere Geste um Zeit zu gewinnen. Paul stand auf, er konnte nicht mehr sitzen.

Was ist mit ihr? Warum ist sie hier?“

Setzen Sie sich“, sagte der Major ruhig.

Paul sah zu Burger, der nickte. Widerwillig setzte er sich.

Ich fasse es Ihnen kurz zusammen: In den frühen Morgenstunden wurde das Fräulein bewusstlos neben einem schwer verletzten Mann gefunden. Sie war voller Blut und es ist zu klären, ob sie ihn angegriffen und ihm die Verletzungen zugefügt hat.“

Das ist doch Unsinn“, ereiferte sich Paul und wollte sich wieder erheben, wurde aber von Burger zurückgehalten.

Der Major betrachtete sie unter seinen buschigen Augenbrauen hervor.

Ist sie jetzt bei Bewusstsein?“, fragte Karl.

Sie kann sich nicht erinnern“, erwiderte der Major.

Und der Verletzte?“

Er ist noch nicht vernehmungsfähig.“

Stille. In Pauls Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander.

Ich will sie sehen!“, sagte er dann.

Der Major schüttelte verneinend den Kopf.

Bis wir sie verhört haben, darf niemand zu ihr.“

Wir müssen doch irgendetwas tun können!“, ereiferte sich Paul.

Ich muss Sie hier und jetzt davon unterrichten, dass wir bereits rechtliche Schritte geprüft haben, die die Vorfälle beim letzten Aufenthalt des Fräuleins untersuchen sollen.“ Karl Burger war ganz ruhig und selbstsicher.

Der Major presste die Lippen aufeinander.

Das ist Ihr gutes Recht.“

Falls wieder etwas Unrechtmäßiges geschieht, werden höchste Stellen eingreifen.“

Wir führen hier nur Befehle aus“, erinnerte ihn der Major sanft.

Fragt sich nur, wessen Befehle. Ich war lange genug selbst Soldat, Major Götz, um zu wissen, dass man einen Befehl auf unzählige Arten befolgen kann. Sie können Ihr Gewissen damit nicht reinwaschen.“

Der Major bekam eine steile Falte über der Nasenwurzel, dann legte er die flache Hand auf die Akte, als ob er sie zuhalten wolle.

Nun, als ehemaliger Soldat verstehen Sie aber auch, dass ich nicht anders handeln kann. Und das ich noch viel zu tun habe. Sie werden benachrichtigt, wenn es neue Entwicklungen gibt.“

Karl Burger erhob sich und zog Paul mit.

Wie betäubt ging Paul hinter ihm her durch die Gänge, durch die Türen, die Gitter, die Mauern, immer weiter von Annabelle weg.

Wir können sie doch nicht hier lassen!“, versuchte er es noch einmal. Aber Burger startete den Motor.

Wir haben keine Wahl. Aber wir werden kämpfen!“

 

* * *

 

Man hatte ihr etwas Scheußliches zu trinken gegeben – wahrscheinlich Laudanum. Danach hatte sie lange geschlafen und wurde jetzt nur langsam wach. Dieser Geruch – sauber und dennoch abgestanden, voller alter Vorkommnisse und unruhiger Geister.

Das Nachthemd war steif und kratzig, sie trug keine Unterwäsche, keine Handschuhe. Die Geräusche waren verschwommen und verzerrt. Die Tür zu ihrem Raum war geschlossen und schützte sie. Ihre linke Hand sendete ihr die merkwürdigsten Empfindungen. Sie würgte von all den zersplitterten Resten menschlicher Verzweiflung, die sie spüren konnte.

Sie lag einfach nur da, atmete flach und versuchte sich zu beruhigen. Paul würde kommen – nein, vielleicht nicht, nach dem, was seiner Mutter passiert war. Oh Gott, sie schämte sich so. Nicht weinen ... Onkel Karl würde kommen, der hatte sie nie im Stich gelassen, Frau Barbara, warum waren sie noch nicht da?

Die Tür öffnete sich: Eine Frau kam herein, die ein paar Kleidungsstücke bei sich trug. Hinter ihr kam eine Nonne mit einer Waschschüssel. Sie wurde gewaschen, es waren noch Reste von braunem getrockneten Blut an ihren Fingernägeln. Die Frauen waren gründlich, sprachen aber nicht mit ihr. Eine Wache stand vor der Tür. Annabelle biss die Zähne zusammen und ließ alles mit sich geschehen.

Nachdem sie sie angezogen hatten, ein weißes steifes Kleid mit Schürze und Wollstrumpfhosen, und ihr einen Zopf geflochten hatten, führten die Frauen sie aus dem Raum. Die Wache übernahm und fasste sie am Arm. Sie gingen durch lange Gänge, und Annabelle versuchte, sich der Führung zu überlassen, aber sie hatte solche Angst! Ihre Zähne klapperten und sie fühlte sich ganz weich in den Knien. Wenn sie stolperte, dann wurde der Griff an ihrem Arm wie ein Schraubstock und sie wusste, dass sie einen blauen Fleck behalten würde.

Als sie vor einer grünen Tür anhielten, wurde Annabelle übel vor Angst und sie biss sich auf die Lippe, um nicht aufzuschreien. Sie schluchzte erleichtert, als die Tür sich in einen schmucklosen Raum mit einem Schreibtisch öffnete. Sie hatte den Raum mit der Wanne erwartet. Der Wachmann setzte sie auf den Stuhl. Dann postierte er sich wieder vor der Tür. Sie wartete und atmete schließlich wieder langsamer. Ihr Bauch war ganz leer, aber sie wollte nichts essen. Es war nur das gleiche Gefühl wie in ihrem Kopf. Der Effekt des Laudanums war jetzt nicht mehr zu spüren. Die Stille machte ihr zu schaffen. Der steife Stoff des Kleides juckte, aber wenn sie kratzte, dann brannte ihre Haut nur noch schlimmer.

Die Gedanken fingen an zu fließen: Was würde mit ihr geschehen? Was war gestern Nacht geschehen? Lebte der Mann oder war er doch gestorben? Wo war Oberon? Und was war mit Paul? Bei keiner der Fragen wollte sie bleiben, sie suchte aber vergeblich nach Trost. Stattdessen fand sie Wut: Welches Recht hatten sie, sie wieder hier festzuhalten? Sie hatte nichts Falsches getan! Sie hatte den Mann geheilt, zumindest hoffte sie das. Sie war bewusstlos geworden. Kurz vorher hatte sie sich sehr seltsam gefühlt, daran konnte sie sich noch erinnern – ihr ganzer Körper war heiß und kalt geworden, so wie sich ihre Hand manchmal anfühlte. Dann war es zu viel geworden, aber sie hatte ihre Hand nicht lösen können und war einfach weggeflogen ...

Die Türe öffnete sich hinter ihr. Annabelle erschrak und sah sich um: Der Atem stockte ihr im Hals, als sie die schwarze Maske eines Berichtigers erblickte.

 

So viele Fragen! Ihr war ganz schwindelig. Wie lange saß sie schon hier? Sie hatte immer wieder versucht, dem Mann zu erklären, dass sie nicht gefährlich war, und nichts mit dem verletzten Mann zu tun hatte, dass sie nur hatte helfen wollen, aber es war unmöglich gewesen. Er hatte immer wieder von ihr verlangt, eine Verfehlung einzugestehen. Er stellte sie und ihre grüne Hand als etwas Gefährliches dar, und brachte Annabelle dazu, dass sie sich schmutzig und elend fühlte.

Nachdem sie wieder geweint hatte, wurde der Mann plötzlich ganz freundlich und erklärte ihr die Regeln der Gesellschaft, wie man einem kleinen Kind die Regeln des Hüpfkästchens erklärte. Annabelle war auf eine seltsame Art dankbar gewesen, bis sie erkannt hatte, dass er ihr klarmachte, dass sie nicht dazugehörte, zu dieser Gesellschaft, und das sie das verstehen und akzeptieren sollte.

Sie konnte das aber nicht verstehen, und noch weniger akzeptieren, und der Mann war schließlich wütend gegangen. Annabelle verspürte aber keinen Triumph, sie war zu müde und ausgelaugt. Sie wartete, dass man sie abholte und in ihre Zelle zurück brachte, aber es kam niemand. Lange saß sie allein in dem Raum und grübelte, bis sie das Gefühl bekam, das war auch eine Masche, um sie weich zu kochen. Sie stand auf und sah aus dem Fenster, aber da gab es nur eine andere Wand zu sehen.

Die Tür öffnete sich und sie zuckte zusammen. Ein ihr unbekannter Mann betrat den Raum und legte umständlich Hut und Mantel ab, bevor er sich umdrehte und sie ansah. Sie erschrak, denn er hatte nicht ein Haar auf dem Kopf, auch keine Augenbrauen, und seine schwarzen Augen blickten sie streng an.

Setzen Sie sich”, sagte er mit einer trügerisch weichen Stimme.

Wer sind Sie?”, fragte sie, und hoffte, dass er das Zittern in ihrer Stimme nicht hörte.

Er lächelte, ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte: “Vielleicht können Sie es ja erraten.” Er legte seine Hände vor sich auf den Tisch und flocht die Finger wie zum Gebet.

Annabelle schüttelte den Kopf: “Ich habe keine Lust, solche Spiele zu spielen. Vielleicht sind Sie von der Polizei, dann kann ich nur sagen: Ich bin unschuldig. Ich habe nichts getan.”

Nein, ich bin nicht von der Polizei. Aber ich sehe das anders: Sie sind schuldig, schon allein, weil Sie der Gesellschaft jahrelang vorgegaukelt haben, Sie wären normal. Das tut man nicht.” Er sprach auch mit ihr, als wäre sie ein kleines Kind, das seine Hände vor dem Essen nicht gewaschen hat.

Meine Hand ist nicht gefährlich. Ich habe doch schon oft erklärt, dass ich damit nur seltsame Empfindungen habe und Verletzungen heilen kann. Ich habe dem Mann nichts getan, ich wollte sein Leben retten. Die Frau ist vergiftet worden, in den Pralinen war nämlich …”

Er unterbrach sie: “Ja? Was war in den Pralinen? Ich bin gespannt. So weit ich weiß, sind es ganz normale Süßigkeiten.”

Es ist irgendetwas darin! Etwas Gefährliches, und der Konditor, Walter Hartmann, der hat es hineingetan, und …” Sie hörte auf, da sie zunehmend irritiert war, dass der Mann unablässig lächelte. Dieses Lächeln war furchtbar, nicht freundlich, sondern irgendwie böse, triumphierend und zutiefst beunruhigend. Sie rieb sich kurz die Augen und plötzlich durchschoss es sie wie ein Blitz. Sie sah den Mann an, der sie immer noch studierte, als wäre sie ein merkwürdiges Insekt.

Sie sind Walter Hartmann. Wie Ihre Schwester haben sie keine Haare, und ich sehe die Ähnlichkeit. Oh Gott ...”

Er saß immer noch ganz ruhig und beobachtete, wie sie vor seinen Augen die Fassung verlor. Sie schnappte nach Luft, bekam Panik und griff sich an den Hals. Was hatte er vor? Sie überlegte, aufzustehen, und die Wachen zu rufen, aber das würde nichts nutzen, sie war auf sich gestellt.

Was wollen Sie von mir?”, flüsterte Annabelle.

Ich wollte Sie einmal sehen, bevor ‒ nein, ich will nicht zu viel verraten. Sie haben mir ganz schön viel Unbehagen bereitet, und alles völlig unnötig kompliziert. Aber Sie müssen wirklich aufhören, solche Lügen über mich zu verbreiten”, sagte er, als ob er ihr einen netten Ratschlag gab. “Sie werden in Zukunft allerdings keine Gelegenheit mehr dazu haben. Ich habe etwas Besonderes für Sie vorbereitet, und danach werden Sie wahrscheinlich vergessen haben, sich in meine Angelegenheiten einzumischen. Falls nicht, kann ich auch dafür sorgen, dass Sie für immer eingesperrt werden.”

Annabelle vergaß fast, zu atmen.

Warum?”, brachte sie mit viel Mühe hervor.

Hartmann blinzelte, dann erhob er sich. “Weil es meine Bestimmung ist, und niemand mir im Weg stehen soll. Schon gar kein dummes Fräulein, das sich einbildet, über meine Pläne richten zu dürfen. Leben Sie wohl, Fräulein Rosenherz. Ich hoffe, wir werden uns nie wieder sehen.”

Er ging zu seinem Mantel, legte ihn an und griff dann nach seinem Hut. Annabelle überlegte fieberhaft, was sie ihm noch sagen konnte, aber es gab nichts, was ihr verwirrter Kopf hervorbrachte.

Als der Mann den Raum verließ, tauchte die Maske des Berichtigers wieder auf und sie schluchzte verzweifelt.

 

* * *

 

Burger lieferte Paul zu Hause ab.

Ich werde mit deinem Vater sprechen, geh du ins Bett.”

Paul hatte sich nicht gewehrt, und Karl atmete tief durch, bevor er klingelte. Es gefiel ihm nicht, was er tun musste, aber er wollte sich nicht mehr heraushalten.

Er wartete im kleinen Salon bis Peter Falkenberg kam. Dr. Burger hatte sich nicht gesetzt und begrüßte den Anwalt ernst. Er überragte den Mann um einen ganzen Kopf. Diesen Größenunterschied wollte er nutzen, es kam ihm jetzt darauf an, die Oberhand zu haben.

Wie geht es Ihrer Frau?“, fragte er.

Sie hat sich einigermaßen beruhigt“, erwiderte Falkenberg.

Es war ein bedauerliches Missverständnis.“

Falkenberg zog die Augenbrauen hoch und sah weg. Er hatte Angst vor einer Konfrontation, wollte aber nicht einfach so nachgeben.

Das Fräulein hätte das nicht tun dürfen“, presste er hervor.

Was? Sie hat Ihre Frau geheilt!“

Das war nicht nötig. Es war nur ein kleiner Schnitt. Wir wollen mit so etwas nichts zu tun haben.“

Womit genau?” Er ließ den Anwalt eine peinliche Pause lang nach einer passenden Antwort suchen.

Sie sind sich schon über die Konsequenzen im Klaren, oder?“, fragte er dann, als keine kam.

Falkenberg sah ihn an, presste er die Lippen zusammen und ging zum Flaschenschrank. Er schenkte sich ein Glas ein. Burger verneinte, er wollte nichts trinken.

Welche Konsequenzen meinen Sie?“

Burger war genervt, dass er es wirklich aussprechen musste.

Nun, zunächst mal kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie unsere Interessen vertreten können, wenn Sie dem Fräulein nicht vertrauen, und Sie ihnen nicht vertrauen kann.”

Burger beobachtete den Mann. Das Prestige, einer der Vorstände der Stiftung zu sein, war dem Anwalt von Anfang an sehr wichtig gewesen.

Sie wissen, Paul ist entschlossen, Annabelle zu heiraten. Er wird das auch ohne Ihre Zustimmung tun.“

Peter Falkenberg trank sein Glas aus, stellte es ab und setzte sich. Er zündete sich eine Zigarre an. Schließlich nickte er mit zusammengepressten Lippen.

Was schlagen Sie vor?”, fragte er Burger.

Beruhigen Sie Ihre Frau und stellen Sie sich den Tatsachen.”

Burger setzte sich auch und rauchte eine seiner ägyptischen Zigaretten. Wie bei den Ureinwohnern, von denen die Tradition des Rauchens kam, bedeutete es auch hier einen Abschluss, wenn auch nicht Frieden. Zeit, den Anwalt von den neuesten Entwicklungen in Kenntnis zu setzen.

Annabelles ist erneut verhaftet worden.“

Peter Falkenberg reagierte erschrocken. Gerade eben noch hatte er noch damit gerungen, eine geringe Andersartigkeit bei seiner zukünftigen Schwiegertochter zu akzeptieren. Nun sollte er die weitere Ungeheuerlichkeit eines erneuten Gefängnisaufenthaltes auch noch verarbeiten! Er war skeptisch und unsicher, eine schlechte Kombination.

Burger musste einschreiten, bevor die Gedanken in die falsche Richtung schweiften: “Hören Sie, aber das bleibt jetzt unter uns: Falls auch nur der geringste Verdacht sich bestätigt, Annabelle könnte ihre Veränderung nicht im Griff haben und Schaden damit anrichten, dann schwöre ich hier und jetzt, dass ich sie aus dem Land bringe. Ich werde die besten Leute finden, um ihren Zustand zu verbessern und im schlimmsten Falle werde ich mit ihr dauerhaft im Ausland verbleiben.

So könnte Ihr Sohn Gelegenheit bekommen, sich unbeeinflusst von möglichen Schuldgefühlen oder Verpflichtungen, die er empfindet, zu entscheiden. Eine Trennung auf Zeit bringt häufig Klarheit.“

Falkenberg sah ihn an. Der Anwalt rang um eine rationale Entscheidung. Burgers Argumente schienen logisch und für alle Seiten akzeptabel. Der Anwalt schenkte sich noch ein Glas ein.

Burger stand auch auf und stellte sich vor ihn: “Sie müssen sich entscheiden. Die Zeit drängt.“

Falkenberg fand in seinem Glas offenbar eine Antwort. Er nickte. „Ich werde auch weiterhin nach bestem Wissen und Gewissen die Interessen des Fräuleins vertreten.“

Burger klopfte ihm anerkennend und erleichtert auf die Schulter. Das brauchte er nicht zu kommentieren.

 

* * *

 

Karl, ich muss etwas unternehmen, sonst drehe ich durch“, sagte Paul zu Burger am nächsten Tag. Karl hatte ihn zu sich nach Hause eingeladen, um über Handlungsmöglichkeiten nach zu denken. Sie saßen in Burgers Studierzimmer und grübelten.

Was schwebt dir denn vor? Wir können nicht einfach da oben hereinspazieren und sie mitnehmen.“

Je länger ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir, dass etwas nicht stimmt. Könnte es eine Falle gewesen sein? Was wissen wir denn über Depuis und Hartmann nun genau?“

Hast du mir nicht erzählt, der Russe hätte Geschäfte mit denen gemacht?“

Ja, er wollte aber erst Details erzählen, wenn wir sein Kind gefunden haben.“ Paul zog seine Taschenuhr aus der Westentasche und drehte sie in seinen Fingern.

Vielleicht erzählt er ja der Polizei Genaueres? Obwohl, die Polizei war bis jetzt nicht wirklich nützlich.“

Vielleicht reicht auch schon die Drohung damit.“

Wenn ich es recht überlege, wäre ich lieber vorsichtig. Was wissen wir denn über ihn? Vielleicht ist er ja auch so etwas wie ein Ganove. Wer weiß, ob die Geschäfte legal waren. Warum ist er nicht gleich mit der Sprache raus gerückt? Wir sollten versuchen, ihn mit vernünftigen Argumenten zu überreden.“

Karl und Paul legten sich eine Strategie zurecht und machten sich auf den Weg zum Hotel Brenner. Sie hatten Glück: Sergej Medwedew war anwesend und bereit mit ihnen zu sprechen.

Was kann ich für Sie tun? Haben Sie mein Kind?“, fragte der große kräftige Mann mit der Adlernase. Er trug einen strengen Seitenscheitel und einen gut getrimmten Schnurrbart. Seine tadellose Haltung ließ auf eine militärische Ausbildung schließen, sein Anzug war gut geschneidert und seine Schuhe teuer.

Wir möchten noch einmal mit Ihnen über Ihre Geschäfte mit Herrn Hartmann sprechen“, begann Karl Burger.

Wir hatten eine Abmachung: Sie finden mein Kind und ich sage Ihnen, was ich für Geschäfte gemacht habe.“ Der Russe schien unnachgiebig.

Ich habe unsere Abmachung nicht vergessen. Bis gestern hatten wir auch einen Plan, wie wir Ihr Kind finden könnten. Aber es haben sich neue Umstände ergeben, die die Sachlage verändert haben.“

Erklären Sie mir, bitte.“ Der Russe hatte keinen starken Akzent, aber er vergaß ab und zu einige Worte.

Ihr Kind ist wahrscheinlich in einem militärischen Komplex der Adlerhorst heißt. Ich habe einige einflussreiche Freunde, aber es ist schwierig, dort hineinzukommen. Wir befürchten, es gibt verborgene Kommandostrukturen. Es scheint uns, als ob dort etwas passiert, was der Öffentlichkeit verborgen bleiben soll. Ich selbst war in einem Teil des Komplexes und kann Ihnen versichern, dass der gewaltige Ausmaße hat.“

Was soll ich da tun?“

Wir vermuten, dass Depuis und Hartmann irgendwie Teile des Adlerhorstes infiltriert haben. Wir sind uns nur nicht im Klaren über die Motive. Wir glauben, wenn Sie uns erzählen, was für Geschäfte Sie mit den beiden gemacht haben, könnten wir Klarheit gewinnen.“

Wieso soll ich Ihnen vertrauen?“

Zu Pauls Überraschung sprach Burger plötzlich Russisch. Paul hatte die Sprache nur oberflächlich studiert und verstand nicht alles, was gesagt wurde. Was er verstand, ließ ihn allerdings vermuten, dass auch Dr. Karl Burger nicht nur ein Gelehrter zu sein schien. Er hatte offensichtlich längere Zeit in Russland verbracht, denn er sprach in schnellem Russisch auf Medwedew ein. Der nickte verblüfft und Burger sprach wieder Deutsch.

Entschuldige“, sagte er. Paul schüttelte den Kopf und wischte die Unhöflichkeit mit einer Handbewegung weg.

Ich habe zuerst nur mit Jean Depuis Kontakt gehabt“, begann der Russe zu erklären. “Über verschiedene Kanäle ließ er mich wissen, dass er sehr an den neuen Technologien interessiert sei, die wir in Russland erforschen. Ich produziere Waffen. Ætherkanonen, um genau zu sein.

Er bot mir sehr viel Geld an. Erst, als ich die Lieferung hier her begleitete, lernte ich Herrn Hartmann kennen. Er scheint der Hauptgeldgeber zu sein. Alles war so legal, wie ein Waffenkauf eben sein kann.“

Sie erfuhren, dass Hartmann und Depuis wirklich viele Ætherkanonen gekauft hatten.

Wo sind die Kanonen jetzt?“

Der Russe zuckte mit den Schultern.

Ich habe sie mit einem Sonderzug nach Karlsruhe geliefert. Dort habe ich sie übergeben.“

Hat Ihre Frau Kontakt zu Hartmann gehabt?“ Paul hatte eine Idee.

Wir haben einmal zusammen gespeist. Aber sie mochte ihn nicht. Sie fand ihn unheimlich.“

Hat er ihr etwas geschenkt?“

Ja, er hat ihr immer wieder diese Praline zukommen lassen. Sie war verrückt danach.“

»Herzblut«.“

Da.“

Burger und Paul sahen sich an.

Was sind das genau für Kanonen?“

Bordgeschütze für ein Luftschiff.“

Er hat ein Luftschiff?“

Medwedew nickte. “Und es muss ein Großes sein.“

 

Wir müssen irgendetwas tun, Gustav“, wütete Dr. Burger später. Er hatte nach dem Gespräch mit dem Russen kurzerhand seinen alten Freund aufgesucht, allerdings ohne Paul.

Es ist nicht so leicht, wie du dir das vorstellst!“, hielt Wissel dagegen.

Karl schritt erregt durch den Raum: “Ich stelle es mir überhaupt nicht leicht vor! Was ich mir allerdings vorstelle, ist, was sie mit meinem Patenkind vielleicht schon alles gemacht haben. Und dann stelle ich mir vor, dass ich vielleicht allein mit meiner Elefantenbüchse dort oben mal für Ordnung sorge …“

Gustav Wissel hatte lang genug an verschiedenen Orten mit Soldaten zu tun gehabt und wusste solche testosteronbedingten Aussagen zu überhören.

Wir haben keine Beweise“, sagte er.

Und die Waffen? Wo sind die Ætherkanonen, die der Russe Depuis verkauft hat? Wo ist das Schiff, für das er die Kanonen gekauft hat?“

Wir müssen da auf die Untersuchungen der Polizei warten.“

Karl Burger raufte sich die Haare: “Gustav: Macht es dich nicht auch wahnsinnig, dass du vielleicht keine Ahnung hast, was dort oben auf dem Adlerhorst wirklich passiert?“

Der General überlegte. “Karl, vielleicht hast du recht. Es erschütterte mich, dass ich mich sich so hinters Licht habe führen lassen. Offensichtlich weiß ich über die Vorgänge in diesem Komplex nicht so viel, wie ich eigentlich wissen sollte. Aber was stellst du dir vor?”

Gib mir ein paar Männer und lass mich nachsehen. Ich will nur wissen, dass es Annabelle gut geht. Ich hatte mit Scharenburg den Plan, eine Hygieneüberprüfung zu machen. Warum machen wir nicht eine offizielle Überprüfung der Sicherheit? Überzeugen uns vom Zustand der Mauern, der Klos für das Wachpersonal, der ordnungsgemäß geführten Journale für den Wachwechsel, den Zähnen der Wachhunde …“

Ich habe verstanden.“ Wissel nickte. “Gut. Aber es muss offiziell sein.“

Karl Burger nickte: “Danke Gustav.“

Keine Ursache.“

 

* * *

 

Annabelles Finger bluteten. Sie kratzte wie verrückt an ihrem Fenster den Kitt aus den Fugen. Vielleicht konnte sie ja eine der Scheiben einschlagen, und noch eine und die Holzleisten zerstören und dann die Gitterstäbe aus der Wand kratzen ...? Es war ihr egal, wie unwahrscheinlich das war. Sie hatte nur einen Gedanken – sie musste weg!

Das Gespräch mit dem Berichtiger war kurz gewesen. Er hatte ihr noch einmal einige Fragen zu dem Vorkommnis mit dem Verletzten gestellt, war dann abrupt aufgestanden und zur Türe gegangen. Die Tür war einen Spalt offen gestanden, sodass Annabelle mit anhören konnte, wie er zu jemandem draußen sagte: “Ohne Behandlung kann ich nichts machen. Sie wissen das. Es ist ja alles arrangiert.“

Sie konnte sich nur eine „Behandlung“ vorstellen. Das durfte nicht geschehen! Aber sie war hilflos, gefangen, und es war noch niemand gekommen, um sie zu retten. Sie hatte in ihrem Zimmer gewütet, bis zu erschöpft zusammengebrochen war.

 

Die Tür ging auf. Eine Schwester und der Wachmann.

Bitte“, wimmerte Annabelle entsetzt, „nicht! Lassen Sie mich doch gehen!“

Keiner antwortete ihr. Die Schwester sah sie an und Annabelle glaubte, Mitleid in ihrem Blick zu erkennen. Sie versuchte die Frau mit ihren Händen zu berühren, aber der Wachmann ging dazwischen. Beide sahen ihre blutigen Fingerspitzen und Annabelle ballte ihre Hände zu Fäusten. Ihr Herz klopfte wild. Sie wollte loslaufen, weg rennen, aber sie bekam keine Gelegenheit. Sie wurde durch Gänge geführt, Türen und Türen und Gitter und Schlösser, irgendwo ein Lachen, der Geruch nach Zimt, ach ja, es ist bald Weihnachten. Wie falsch das alles war! Das konnte nicht wahr sein, es musste jemand kommen und endlich erklären, das alles ein Fehler war, das sie unschuldig war, ganz normal, eine geliebte Tochter, eine geschätzte Mitarbeiterin, eine lebenshungrige junge Frau und vielleicht auch eine Braut.

Sie standen vor einer weiteren Schleuse. Die Schwester legte ihr einen Mantel um und zog sich selbst einen an. Dann betraten sie eine Gondel. Sie setzte sich um eine Kurve in Bewegung und Annabelle konnte erkennen, dass sie den Berg weiter hochfuhren. Wohin? Sie sah zurück auf den eingezäunten Komplex. Rundherum nur Wald. Hohe schwarze Tannen mit Schnee auf den Zweigen. Schließlich konnte sie das Ziel erkennen. Zunächst war es nur ein riesiger Platz, ein Plateau am Steilhang. Am hinteren Ende war ein gigantisches Tor in den Berg gesetzt. Die Gebäude, die rechts davon errichtet waren, sahen im Vergleich sehr klein aus. Alles war von einem riesigen mehrreihigen Zaun und Stacheldraht umgeben. Zwischen den Zäunen patrouillierten Wachen mit großen Hunden. Weiter rechts hinter den Gebäuden schien es noch weitere Anlagen zu geben, aber jetzt fuhr die Gondel in die Endstation ein.

Annabelle und ihre Wachen stiegen aus und wurden sofort von dem eisigen Wind angegriffen, der hier oben wehte. Sie schlug die Kapuze hoch und folgte den beiden. Sie führten sie zu den Gebäuden neben dem riesigen Tor. Je näher sie kamen, umso größer erschien es, Annabelle schätzte es auf über 50 Meter in der Höhe und wesentlich breiter. Was konnte dahinter sein?

Als sie das Eingangsgebäude betraten, war es wieder sofort unheimlich still. Nach dem Brausen des Windes in den Tannen kam einem die Ruhe wie Watte in den Ohren vor. Annabelles Bewacher meldeten sich mit leisen Stimmen an. Alles war auch hier steril und weiß.

Die Angst, die sie kurzzeitig vergessen hatte, kam wieder. Ihr Bauch verkrampfte sich und sie würgte. Ihr Atem ging schneller und sie schluckte immer wieder trocken. Wieder durchquerten sie endlose Gänge und Annabelle versuchte sich abzulenken, in dem sie durch die kleinen Fenster in den Türen schaute. Meist sah sie nichts, aber aus einem Fenster schaute ein Gesicht zurück. Es war seltsam glatt, als ob das Wesen sein Gesicht gegen die Scheibe drückte, aber Annabelle erkannte, dass es fast keine Nase hatte. Das Geschöpf öffnete leicht den spitzen Mund und eine lange gespaltene Zunge tastete die Scheibe ab. Erschrocken schaute sie schnell geradeaus.

Schließlich wurde ein Raum aufgeschlossen, und nachdem man ihr den Mantel abgenommen hatte, war sie wieder alleine.

 

Sie hatte geschlafen. Es hatte nichts anderes zu tun gegeben. Nachdem sie noch eine Weile angespannt gewartet hatte, merkte sie, wie erschöpft sie war. Ihr Körper hatte nachgegeben und sie war in eine schwarze Bewusstlosigkeit gefallen.

Irgendetwas hatte sie geweckt. Sie ging zur Tür und versuchte zu erkennen, was auf dem Gang passierte. Viele Leute liefen hin und her, Wachen und Schwestern, schnell, aufgeregt. Was hatte das zu bedeuten? Die Unwissenheit machte sie wahnsinnig. Sie ging zum Fenster und schaute hinaus. Durch mehrere Zäune konnte sie auf ein Gelände sehen. Dort bewegten sich dunkle Figuren im Schnee. Die Dämmerung hatte eingesetzt und man hatte Scheinwerfer angemacht, die das Gelände punktuell beleuchteten. Immer wieder rannten Gestalten durch die Lichtkegel. Geduckt, manchmal auf zwei, manchmal auf vier Beinen. Sie konnte nichts hören und hatte nicht den blassesten Schimmer, was dort passierte.

Ihre Hand brannte. Es war wie eine Verbrühung, die Haut war empfindlich wie rohes Fleisch. Für einen kurzen Moment übermannte sie Selbstmitleid und ein Schluchzen schüttelte ihren Körper, dann blickte sie wieder starr aus dem Fenster, um Ablenkung zu haben.

 

Sie holten sie am nächsten Morgen. Sie war schon wach, man kann nicht dauernd schlafen. Sie war stumpf und leer, aber als die Türe sich öffnete, wusste sie sofort, dass sie sie wieder dorthin brachten, an diesen furchtbaren Ort, und ihr standen vor Entsetzen alle Haare zu Berge. Sie ging mit, sie hatte keine Wahl. In einem Vorraum saß ein Arzt und untersuchte sie gleichgültig. Es roch nach Desinfektionsmitteln und etwas Scharfem.

Trinken Sie das aus“, befahl er barsch.

Annabelle erschrak und fühlte sich wie geohrfeigt. Sie hatte sich bis jetzt nicht gewehrt und verstand nicht, warum er so mit ihr sprach. Sie suchte seinen Blick, als er ihr ein kleines Glas reichte, doch er wandte sich ab. Sie zögerte kurz, aber die Frau neben ihr berührte sie am Arm und sah sie streng an. Da trank sie. Es war ein Beruhigungsmittel, sehr bitter. Sie fühlte seine Wirkung schnell: Die Welt wurde einerseits glasklar, aber wie bei ihrem Blick aus dem Fenster war man weit weg davon. Sinneseindrücke wurden in einzelne Komponenten zerlegt – ein Geräusch, das Rascheln des steifen Stoffes gegeneinander; ein Geruch, Alkohol?; die Strahlen der Lampe, wie Lichtpfeile versuchten sie, die Schatten zu durchdringen ...

Die Zeit dehnte sich, bis schließlich die Tür zum Nebenraum geöffnet wurde und Annabelle die Wanne von außen sah. Sie wurde in den Raum gedrängt und ausgezogen. Langsam schwoll das Entsetzen in ihr an, aber es blieb folgenlos, ihr Mund öffnete sich, ohne zu schreien. Sie öffneten eine Tür in dem Glaskasten, der um die Wanne gebaut war, und schoben sie hinein. Innen gab es Gurte, die man ihr um die Füße legte, während sie versuchte, mit ihren vielen Händen (warum hatte sie so viele Hände?) zu verhindern, dass sie festgeschnallt wurde. Aber es waren zu viele Hände, ihre und die anderen, die schoben und zogen und irgendwann lag sie auf dem Rücken und die Tür wurde geschlossen. Sie hörte ihren Atem laut keuchend von den Wänden widerhallen und ein Zischen, als schließlich der Æther in die Glaskabine geleitet wurde.

Der Æther wand sich in grünen Tentakeln auf dem Boden der Wanne entlang und berührte zunächst ihre Füße. Wie lebendig züngelten die Strömungen um sie herum und beim Kontakt mit ihrer Körperwärme erhoben sie sich und stiegen in die Luft. Immer höher und höher stieg der Pegel und ihre Füße und Unterschenkel brannten wie Feuer. Ihre Hand pulsierte unerträglich. Annabelle keuchte und schrie, dann verschluckte sie sich, aus Angst, beim Einatmen den Æther einzusaugen.

In ihrem Inneren wuchs ein enormer Widerstand, eine Kraft, die sie so nur bei der Begegnung mit der Otterfrau gespürt hatte. Aber wie lange könnte sie die Luft anhalten? Wie lange widerstehen? Wo war die andere Kraft, die sie gespürt hatte, die Wahl, die sie gehabt hatte?

Und als der Æther unerbittlich immer höher stieg, fühlte sie eine andere Wahl in sich aufsteigen: Einfach nachgeben, sich hingeben, gehen lassen, einatmen, aufsaugen ... Nicht mehr nachdenken über die Konsequenzen, was hatte die Otterfrau gesagt? Verdorben, ja, dann war das eben so, dann war sie eben ver- ...