Kapitel 12
Frau Barbara summte fröhlich vor sich hin, während sie packte. Sie freute sich nicht unbedingt auf den Winter im Schwarzwald, aber sie wollte bei Annabelle sein. Das arme Kind! Wie mochte es ihr wohl ohne sie gehen. Nur mit dem jungen Mann – allein ...
Frau Barbara war keine alte Jungfer, aber ihr einziger Mann war früh ins Grab gefallen. Sie hatte mehrere Fehlgeburten gehabt und nie wieder das Bedürfnis nach einem eigenen Kind verspürt, nachdem sie die Arbeit im Hause Rosenherz übernommen hatte. Aber sie kannte Leidenschaft, und sie wusste auch, das Annabelle ihre christlichen Werte nicht unbedingt teilte.
Als sie ihren Schützling gesehen hatte, so fremd, so zerbrochen, das hatte ihr sehr weh getan. Sie konnte nicht begreifen, was Annabelle angetan worden war. Sie schien äußerlich unversehrt, aber in ihrem Inneren war irgendetwas geschehen. Der junge Herr Falkenberg tat ihr gut, und Frau Barbara war dankbar, dass er sich um sie kümmerte. Über alles andere wollte sie nicht nachdenken.
Sie seufzte und schloss den großen Koffer. Was auch immer passiert war, im Gefängnis oder im Schwarzwald, konnte sie jetzt nicht mehr ändern, aber niemand konnte sie davon abhalten, so schnell wie möglich hinterher zu reisen und dort nach dem Rechten zu sehen. Sie griff sich ans Herz, das in den letzten paar Tagen manchmal schmerzte, aber sie hoffte, dass vorbei ginge, wenn sie erst in der Hütte wäre.
Sie hörte ein Geräusch und dachte zunächst an Sissi – es hörte sich an wie Krallen auf dem Parkett. Dann fiel ihr ein, dass der Hund ja bei Annabelle war. Sie drehte sich um und bekam einen mächtigen Schlag vor den Kopf. Bevor sie ohnmächtig wurde, sah sie ungläubig in ein behaartes Gesicht mit einer geöffneten Schnauze und riesigen Reißzähnen. Sie roch den üblen Atem der mannsgroßen Kreatur und verlor dann das Bewusstsein.
* * *
Als Karl die Stufen zum Haus seines Freundes emporstieg, war er in Gedanken versunken. Vor der Tür hielt er an und wollte klopfen, da bemerkte er, dass diese nur angelehnt war. Er sah genauer hin und erkannte, dass sie scheinbar gewaltsam aufgebrochen worden war. An der Tür selbst konnte man auf den ersten Blick nichts erkennen, aber der Holzrahmen mit dem Schloss war zersplittert. Erschrocken und alarmiert öffnete er die Tür langsam und vorsichtig.
Der Flur war leer. Im Eingang zur Bibliothek stand die Statue eines tibetanischen Tempelwächterhundes mit dem Kopf in Richtung des Raumes. Die Statue ging ihm bis zur Hüfte und war aus sehr schwerem Holz. Warum stand sie dort? Er schlich einige Schritte näher und sah einen Fleck auf dem Boden. Er bückte sich: Blut. Er verrieb die braunrote Flüssigkeit zwischen den Fingern, dann blickte er die Statue an, die ihm in dieser gebückten Position direkt ins Gesicht starrte. Vorsichtig fasste er dem Holzmonster ans Maul: Zähflüssig, klebrig, rot, Blut. Was zum Henker ...?
Er stand auf und blickte vorsichtig in die Bibliothek. Leer, kein Geräusch, ein kalter Wind zog herein. Die Terrassentür hing zersplittert in ihren Angeln, der schwere Sessel war umgestürzt, Blutflecke waren auf dem Boden.
Was war hier los? Wo war Frau Barbara?
Dr. Burger kehrte um und wollte zur Küche, als er doch ein Geräusch aus der Bibliothek hörte. Glas zerbrach knirschend. Vorsichtig schlich er den Gang zurück und zog dabei seinen Stockdegen auseinander. Als er hinter dem Tempelhund stand, erhob sich dieser plötzlich und machte einen riesigen Satz in den Raum hinein. Verblüfft folgte Karl ihm und sah zu seinem Entsetzen einen schwarzen zotteligen Wolfsmenschen, der den Tempelhund angriff. Seine riesigen Krallen rissen krachend lange Späne aus der Holzfigur, die ihn stumm mit ihren Zähnen attackierte.
Burger bemerkte, dass auf dem Fell des Monsters schon reichlich Blut klebte. Offenbar hatte die Holzfigur ihm im ersten Kampf schon ein paar Wunden zugefügt. Der Tempelhund kämpfte unheimlich still, während der riesige Wolf knurrte und bellte. Obwohl er schon schwer angeschlagen war, schaffte es der Hund, die Bestie aus dem Zimmer auf die Terrasse zu drängen. Der Wolfsmann sprang ein paar Sätze in den Garten, drehte sich um und sammelte sich. Mit einem mächtigen Sprung landete er auf der Figur, riss ihr brüllend den Kopf ab und schleuderte ihn in den Garten. Das unnatürliche Leben verließ die Statue und sie fiel um. Der Wolfsmensch rollte sich ab und wendete flink, um Karl anzugreifen, der den Kämpfenden nach draußen gefolgt war.
Er blickte entsetzt auf das Maul mit den riesigen Zähnen, in die bösartigen gelben Augen, dann erhob er seinen Degen und brachte sich in Position. Der Wolfsmann knurrte und sprang.
Dr. Burger versuchte den Degen zwischen den Rippen der Gestalt zu versenken, aber sie war zu schnell und die Wucht des Sprunges warf ihn um. Die Kreatur saß auf ihm und öffnete ihr Maul, um ihm in den Hals zu beißen. Er schaffte es im letzten Augenblick, sich zur Seite zu wenden und die Zähne des Wolfes gruben sich in seine Schulter. Während Burger spürte, wie die Kiefer der Bestie sein Schlüsselbein zermalmten, schlug er der Kreatur mit aller Kraft den Knauf seines Degens in die empfindliche Augenhöhle. Der Wolfsmann jaulte auf und ließ seine Schulter los. Diesen Moment nutzte Burger, um den stinkenden Körper von sich zu stoßen.
Er rappelte sich schnell auf, taumelte schmerzverzerrt ein paar Schritte rückwärts und dachte einen winzig kleinen Moment über Flucht nach. Die Vorstellung der Bestie in seinem Rücken ließ ihn aber erkennen, das stattdessen ein Angriff seine einzige Chance war. Er erhob den Degen und stellte sich dem rasenden Wolfsmenschen, der sich ihm auf zwei Beinen näherte, um ihn mit seinen Pranken zu umfassen. Burger blieb schwer atmend stehen und wartete ab. Er konnte es kaum ertragen still zu stehen, aber er hatte nur noch eine Chance, und dafür brauchte er all seine Kraft und viel Glück. Im letzten Moment machte er einen großen Ausfallschritt und trieb dem Biest die Klinge mit aller Kraft zwischen die Rippen. Aufbrüllend schlug der Wolfsmensch mit seiner Pranke gegen Burgers Waffenarm. Sie prallten aufeinander und Karl spürte die massiven Muskeln unter dem zotteligen Fell. Er schob den Degen mit ganzem Körpereinsatz immer tiefer in den Brustkorb seines Angreifers. Sie waren nun so nah, dass man von Weitem einen innigen Tanz hätte vermuten können. Der Wolfsmensch warf sich zur Seite und stieß Burger mit seinen Pranken von sich weg. Er traf dabei die verletzte Schulter und Burger wurde fast bewusstlos vor Schmerz, ließ aber den Degen nicht los. Der dünne Stahl der Klinge wurde verbogen und brach schließlich klirrend.
Burger verlor sein Gleichgewicht, taumelte rückwärts und ging zu Boden. Heftig blutend zog sich der Wolfsmann ein paar Meter zurück. Er schwankte und seine blutunterlaufenen Augen taxierten Burger, der hilflos auf dem Boden liegend einen weiteren Sprung erwartete. Er hatte dem Biest nichts mehr entgegenzusetzen. Die Zeit dehnte sich. Blutiger Geifer tropfte dem Wolfsmenschen aus der Schnauze. Er kauerte sich zusammen, hechelte, sammelte sich, fixierte Burger und setzte noch einmal zum Sprung an.
Plötzlich züngelte ein grüner Blitz an Burger vorbei und riss das Monster von den Beinen. Er blickte sich überrascht um und sah einen Uniformierten, der über den Lauf seines mechanischen Armes erneut zielte. Knurrend und heulend warf sich der Wolfsmensch zuckend hin und her, aber ehe er sich erholen konnte, traf ihn krachend ein zweiter Ætherblitz und er blieb endlich reglos liegen.
Aus dem Haus rannten nun mehrere Uniformierte und umkreisten mit gezogenen Waffen die gefallene Bestie. Als sie sich nicht regte, wurde sie gefesselt.
“Wie geht es Ihnen? Sie brauchen einen Arzt“, sagte der Uniformierte und half Burger vorsichtig auf.
“Ja, aber …“ Burger fiel Frau Barbara ein. “Es ist noch jemand im Haus.“
Der Uniformierte stützte ihn und befahl einem seiner Männer, im Haus nach zu sehen.
Sie fanden Frau Barbara bewusstlos in der Küche. Sie hatte einige üble Kratzer, schien aber sonst in Ordnung zu sein.
“Wir kümmern uns um sie“, erklärte der Uniformierte und gab weitere Befehle.
Die Blitzmänner transportierten inzwischen den Wolfsmann ab.
“Jemand hat uns die Kreatur gemeldet“, informierte ihn der blonde Leutnant der Truppe. “Ich darf mich vorstellen: Leutnant Falkenberg.“
“Friedrich Falkenberg? Der Bruder von Paul?“ Karl setzte sich stöhnend.
“Sie müssen Dr. Burger sein. Schön, Sie kennenzulernen. Ich hätte mir allerdings gewünscht, es wäre unter anderen Umständen geschehen.“
“Ja, das hätte ich mir auch gewünscht.“
“Ich bringe Sie jetzt in den Wagen. Wir fahren Sie in ein Krankenhaus.“
Burger ließ sich auf den Leutnant gestützt nach draußen bringen.
“Kümmern Sie sich um das Haus“, sagte er mit schmerzverzerrtem Gesicht.
“Ich lasse zwei Männer zurück, die es bewachen.“
Der Wagen fuhr los. Burger musste sich zusammenreißen, um nicht vor Schmerzen zu schreien. Er hatte eine Menge Blut verloren und ihm war schwindelig.
„Ich verstehe das nicht“, sagte Friedrich. „Warum rennt dieses Biest durch halb Baden-Baden und greift eine harmlose Frau an?“
„Ich glaube die Kreatur wurde geschickt. Und der Jemand, der dieses Biest hierher geschickt hat, wusste nicht, dass Annabelle nicht mehr hier ist, vermute ich. Ich befürchte, der Anschlag galt ihr. Was mir Kopfzerbrechen bereitet ist die Frage, wer dieses Monster hierhin geschickt hat und wie er das gemacht hat.“
Friedrich nickte: “Solche Mannwölfe habe ich schon oft gesehen. Manche sind mehr wie Tiere. Ich kann mir fast nicht vorstellen, dass man sie kontrollieren kann. Und hier in solchen Wohngegenden kommen sie eigentlich nicht vor.“
Dr. Burger räusperte sich verächtlich. „Ich weiß da nur ein Heilmittel.“ Er deutet auf Friedrichs Blitzmechanik. Friedrich grinste.
Burgers Schulter schmerzte höllisch.
“Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, um sich abzulenken.
“Sicher.“
„Was wissen Sie über Depuis?“, fragte Karl Burger dann.
„Den Franzosen? Nun, der ist der schlimmste Gauner Baden-Badens. Die fette Ratte sitzt an allen Strippen: Drogen, Prostitution, Erpressung, Diebstahl. Aber wir konnten ihm nie etwas nachweisen. Er ist echt clever und lässt immer andere für sich hängen.“
„Was tut er mit seinem Geld?“
Friedrich zog überrascht die Augenbrauen hoch: “Keine Ahnung! Seine Etablissements sind luxuriös, das kostet sicher Einiges. Und sein Anwesen ist auch eine Klasse für sich.“
„Glauben Sie, dass er weitreichendere Pläne hat? Ich meine, ist er machthungrig? Was treibt ihn an?“
Friedrich schüttelte den Kopf.
„Ich weiß nicht. Ich hatte noch nie mit ihm persönlich zu tun. Ein paar Kriminelle, die für ihn arbeiten, die haben echt Angst vor ihm. Ich habe mal so einen verhört. Der hat den Mund nicht aufgemacht.“
„Wir müssen herausfinden, wie er tickt.“
„Warum?“
„Weil ich befürchte, dass er und Hartmann etwas Größeres planen. Und Annabelle ihnen in den Weg geraten ist.“
Karl erzählte dem jungen Mann von seinem Verdacht, Hartmann habe mit seiner Praline einige wichtige Leute in der Hand. Die Vibrationen des Wagens ließen immer neue Wellen des Schmerzes durch seine Schulter fahren. Schnell redete er weiter.
„Die Damen futtern die Süßigkeit. Sie wollen immer mehr. Das bekommen sie aber nur von Hartmann. Sie werden krank, wenn sie es nicht bekommen. Sie bitten ihre Männer, ihren Einfluss geltend zu machen, um an die Praline zu kommen. Hartmann bittet zunächst nur um Gefallen und hat sie schließlich in der Hand. Dann gab es aber Tote, und Annabelle hat bei ihren Untersuchungen etwas herausgefunden. Deshalb war sie auf dem Maskenball, wurde dort in diesen Todesfall verwickelt und zum Adlerhorst gebracht. Dort hat sie eine Sonderbehandlung bekommen. Das war kein Zufall.“
„Aber wozu? Ich meine, mit Geld könnten die beiden doch einfach alles unter den Tisch kehren.“
„Ja, da haben sie einen Fehler gemacht. Sie haben wohl nicht damit gerechnet, dass Annabelle so viele Freunde hat. Wenn Paul nicht so hartnäckig gewesen wäre, dann wäre sie vielleicht immer noch dort oben, und wer weiß, was sie mit ihr anstellen würden.“
„Es ist also eine Drohung. Sie soll die Finger davon lassen. Aber wenn so viele Frauen gestorben sind, dann ist das doch keine Kleinigkeit. Das muss weiter untersucht werden.
Ich hab mich Paul zuliebe schon umgehört: Der Adlerhorst müsste eigentlich aus allen Nähten platzen. Seit Jahren werden alle gefangenen Verdorbenen dort untergebracht. Eine Sache habe ich dabei auch erfahren, deren Wichtigkeit mir erst jetzt klar wird: Der Hartmann hat einen Bruder, der dort schon seit Jahren lebt.“
„Aha! Das ist wirklich interessant. Können Sie darüber mehr herausfinden?“
„Ich bin nur Leutnant.“
„'Nur' ist gut!“
Friedrich war geschmeichelt. „Ja, sicher, aber verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin kommandierender Blitzmann in einer Spezialeinheit. Mich bei der normalen Verbrechensbekämpfung umzutreiben ist nicht so leicht. Wir sind eine kleine Truppe, die von den anderen oft mit Neid betrachtet wird.“
„Es ist wichtig, für Ihren Bruder.“
Friedrich hob die Augenbraue. „Na, ob mich das Mal gut motiviert ... Paul und ich, wir sind nicht gerade die besten Freunde.“
„Ihr sollt auch keine Freunde sein, sondern Brüder.“
Burger schloss die Augen und konnte nicht anders, als den Kampf noch einmal in Gedanken zu erleben. Er dachte an die unglaubliche Statue, die ihm und Frau Barbara wohl das Leben gerettet hatte.
Christian Sebastian, du gerissener Hund, dachte Karl Burger bewundernd. Das hatte sein alter Freund vor ihm geheim gehalten. Er hatte wohl einige der Rätsel gelöst, denen sie im Laufe der Jahre begegnet waren!
Später an diesem Tag saß Karl mit Peter Falkenberg wieder im Haus der Rosenherz. Der Anwalt hatte Feuer angemacht und ihnen einen Whiskey eingegossen. Er hatte auch die Handwerker organisiert, die die Terrassentür reparierten. Peter Falkenberg traute sich kaum, sich in dem bequemen Sessel zurückzulehnen, nach dem, was der Freund des Professors ihm berichtet hatte.
Wer konnte schon ahnen, was sich hier noch alles bewegen und zubeißen konnte. Die Statue des Tempelhundes lag immer noch zersplittert im Garten.
“Sind Sie sich sicher, dass Sie nicht besser im Krankenhaus aufgehoben wären?“, fragte er Burger, der mit einem dicken Verband um die Schulter im Sessel saß.
“Ich hasse Krankenhäuser. Leute sterben dort. Ich hoffe, dass ich niemals in einem Krankenhaus sterben muss. Sie organisieren mir eine Krankenschwester. Auch für Frau Barbara.“
Peter Falkenberg nickte.
“Ich möchte Ihnen etwas erzählen. Mein Freund Christian Sebastian und ich“, fing Dr. Burger an zu erläutern, „wir kennen uns seit unserer Studienzeit. Wir haben beide in Heidelberg zunächst Geschichte studiert. Später hat sich Christian Sebastian mehr für die Archäologie interessiert. Er war ein Ass in alten Sprachen, etwas, was mir überhaupt nicht liegt. In den Semesterferien haben wir immer auf irgendwelchen Ausgrabungen geschuftet.“ Er lachte kurz in sich hinein: Viele lustige Begebenheiten zogen an seinem inneren Auge vorbei.
„Aber er war ein rechter Bücherwurm. Wenn wir anderen abends tranken, hat er noch gelesen, oder Hieroglyphen abgeschrieben. Furchtbar. Manchmal war er da ein echter Spielverderber. Aber es gab nichts sonst für ihn. Er war überzeugt, dass die alten Kulturen uns viel lehren könnten.
„Karl“, sagte er immer, „wenn wir all das Wissen, das über die Jahre verschollen gegangen ist, noch hätten, wäre die Menschheit schon weiter.“ Ich fragte ihn immer, was er unter „weiter“ verstünde. Dann wurde er zum Träumer: eine Welt, in der die Menschen in Harmonie mit der Natur leben würden. Ich konnte mir darunter nichts vorstellen. Ich war jung, und Natur, das waren für mich Freunde und Feiern.“
Er grinste wieder, und trank seinen Whiskey aus, dann schenkte er sich nach.
„Wir haben uns dann ein paar Jahre aus den Augen verloren. Als ich ihn wieder traf, war er anders geworden, härter irgendwie. Ihm fehlten drei Finger an seiner rechten Hand, aber er hat mir nie genau erzählt, was passiert war.
Er hatte seinen Doktor in Archäologie gemacht und strebte nun die Professur an. Ich wusste, dass es ihm nicht um den Titel und das Prestige an sich ging, er brauchte es, damit sich ihm einige Türen öffneten. Seine Forschungen waren außergewöhnlich und er hatte Korrespondenzen mit der ganzen Welt.
Eine junge Frau war an seiner Seite: Josephine, Annabelles Mutter.” Karl zeigte auf ein Porträt, das hinter dem Schreibtisch hing. Peter Falkenberg hatte sich schon gedacht, dass das Annabelles Mutter war, die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen.
“Sie waren ein schönes Paar, und er liebte sie abgöttisch. Als sie bei Annabelles Geburt starb, hatten alle die schlimmsten Befürchtungen. Aber er riss sich zusammen und überstand den Schmerz, obwohl er zeit seines Lebens keine andere Frau mehr geliebt hat. Es gab nur noch sein Kind und seine Arbeit. Er tat alles ihm Mögliche für das Kind, auch wenn es bedeutete, dass er sie an die entlegensten Orte der Welt mitnahm. Als sie schließlich älter wurde, erkannte er wohl, dass es besser wäre, ihr ein Heim zu schaffen. Er hat einige Kinderfrauen in seinen Diensten verschlissen, bis er schließlich Frau Barbara fand.
Aber er wurde auch immer merkwürdiger und seine Forschungen wurden schließlich so abwegig, dass er seine Anstellung an der Universität aufgab. Er reiste nun noch mehr, und ich begleitete ihn oft.“
Wieder war das Glas leer und Burger schenkte sich nach. Peter Falkenberg erhob sich und ging ein paar Schritte durch die Bibliothek.
„Er sammelte und forschte wie ein Wahnsinniger. Wie ein Bluthund auf einer Fährte. Ich schützte ihn, organisierte die Expeditionen, machte all die Dinge, für die in seinem Kopf kein Platz mehr war.
Dann fing er an zu verschwinden. Erst nur ein paar Tage. Dann manchmal Monate. Wenn ich ihn zur Rede stellte, dann wich er aus. Schließlich kümmerte ich mich um mein Leben, und wir verloren uns aus den Augen. Ich versuchte ihn regelmäßig zu Annabelles Geburtstagen zu besuchen, ansonsten gingen wir unserer Wege.”
Karl machte eine Pause und schwenkte sein Glas.
“Als der Æther aufstieg und die Welt veränderte, sagte er zu mir: »Siehst du, Karl, ich habe es gewusst.«
Ich fragte ihn, was er denn gewusst hatte, und er antwortete: »Ich wusste, dass die Magie wiederkommt.« Ich lachte ihn aus, und war der Meinung, dass mein alter Freund nun endgültig den Bezug zur Realität verloren hätte.
Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.“
Peter Falkenberg trank einen Schluck. Der irische Whiskey sagte ihm sehr zu, aber er hielt sich zurück. Das war alles zu viel für ihn. Dennoch er verschloss seinen Mund und dachte bei sich, dass ja einer hier einen klaren Kopf behalten musste. Magie, ha! So ein Unsinn.
„Ich glaube“, sagte Dr. Burger plötzlich, „dass Annabelle und Paul in Gefahr sind.“
Peter Falkenberg stand neben einer riesigen afrikanischen Holzmaske und spielte nachdenklich an deren „Haaren“ aus Gazellenschweif.
„Es ist gut, das sie so weit weg sind“, sagte er.
„Sind sie das? Ich meine, sind sie weit genug weg? Ich habe mich erkundigt: Der Hartmann ist gefährlich. Er arbeitet mit Depuis zusammen. Als ich vorhin mit einigen meiner einflussreichen Freunde in höheren Stellen telefonierte, wurde mir klar, dass sie es irgendwie geschafft haben, sich eine Menge Macht und Einfluss in Baden-Baden zu ergaunern. Ich warte noch auf ein paar Rückrufe, aber ich habe ein schlechtes Gefühl. Dennoch ich gebe nicht auf.“ Er schloss die Augen und atmete tief.
Peter Falkenberg verabschiedete sich kurz danach, um eine Krankenschwester anzuheuern. Magie, so ein Unsinn!
* * *
Das Telefon klingelte. Burger schreckte auf. Er war in dem Sessel eingeschlafen. Seine Schulter und andere Körperteile, die er geprellt hatte, schmerzten höllisch. Mühsam stand er auf und ging in den Flur.
„Burger bei Rosenherz“, meldete er sich.
„Karl? Bist du das? Hier ist Wilhelm Scharenburg. Ich sollte dich unter dieser Nummer anrufen.“
Karl Burger freute sich. Scharenburg war ein hoher Beamter in Baden-Baden. Er kannte ihn noch aus Studienzeiten. Er wartete schon lange darauf, dass er sich meldete.
„Wilhelm, ich freue mich. Ja, ich bin es, Karl. Hör zu, ich brauche mal deine Expertise.“
Burger erzählte Scharenburg von seinem Verdacht.
Am nächsten Tag saßen sie zusammen beim Mittagsmahl im Restaurant „Zum Löwen“.
„Ich befürchte, du hat recht“, sagte Scharenburg und tupfte sich den Mund ab. Die Leberknödelsuppe war exzellent hier. Der große Mann mit dem Seitenscheitel und dem prächtigen Schnurrbart lehnte sich zurück und sah sich um. Dann sprach er leise aber deutlich weiter.
„Die Machtverhältnisse sind schwierig. Zunächst hat man ja die Verdorbenen wie normale Gefangene behandelt. Oder auch in Kranken- oder Irrenhäusern behandelt. Man dachte noch, es wäre Heilung möglich. Erst nach ein paar Jahren wurde der Zusammenhang klar. Der Æther, dieser Treibstoff des Wohlstands für einige von uns, ist für andere eine Seuche. Aber er ist nicht mehr wegzudenken. Was wäre mit all den Luftschiffen? Wie viel mehr Kohle bräuchten wir, um die Industrien anzutreiben und das Militär möchte auch nicht mehr auf seine neuen Waffen verzichten. Es werden täglich mehr Dinge, die mit Æther funktionieren.
Aber was ist mit denen, die ihn fördern? Sie werden zu oft allein gelassen, bleiben ungeschützt und haben keine Wahl. Sie bezahlen den Preis für unseren Komfort und Fortschritt.“
Dr. Burger nickte und war überrascht. Er hatte Wilhelm in der Studentenzeit als einen etwas weichlichen jungen Mann kennengelernt, der sich nie in den Vordergrund gespielt hatte. Seinen hohen Posten hatte er sicher durch harte Arbeit erreicht. Dabei konnte man sich aber oft keine Meinungen leisten. Hier dagegen zeigte sich ein Mann, der sehr wohl eine Meinung hatte, und sie auch eloquent vortrug.
Gleichzeitig wurde ihm wieder einmal klar, dass er sich selbst bisher kaum Gedanken gemacht hatte. Bei seinen Reisen hatte er viele Formen der Armut kennengelernt. Hier in Baden-Baden schien es keine zu geben, aber er hatte eben einfach nicht genau genug hingesehen.
„Wie auch immer“, fuhr Wilhelm fort. „Seit einigen Jahren hat das Militär einen großen Einfluss auf den Umgang mit den Verdorbenen genommen. Als man die ersten Soldaten in die Armutsviertel schickte, um dort die Aufständler zu fangen, oder als man die gefährlichen Verdorbenen über den Haufen schießen ließ. Hier in Baden-Baden ist das ja alles noch recht harmlos, will ich mal sagen. Aber weiter am Rhein, da gibt es Landstriche, die sind Sperrgebiet. Militärisch abgeriegelt, weil es zu gefährlich geworden ist, dort zu wohnen oder auch nur spazieren zu gehen.“
„Davon habe ich gehört. In Köln ist die halbe Innenstadt unbewohnbar.“
„Alle Städte, die am Rhein liegen, sind betroffen. In Karlsruhe ist der Hafen kaum benutzbar.“
„Umso wichtiger ist die Luftschifffahrt geworden. Da beißt sich dann die Katze in den Schwanz. Wir sind vom Æther abhängig.“
Wilhelm nickte. Die Kellnerin kam mit dem Hauptgang. Die Forelle sah köstlich aus. Dr. Burger war mit seinem Rahmgeschnetzelten mit Spätzle auch zufrieden. Er hätte die Forelle auch gar nicht mit einem Arm zerteilen können. Sie aßen eine Weile stumm.
„Um auf deinen Verdacht zurückzukommen“, sprach Wilhelm irgendwann weiter. „Ja, der Adlerhorst wird vom Militär betrieben. Und ja, er bekommt auch viel Geld von der Stadt. Und noch mal: Ja, ich bin mir nach gründlichem Nachdenken auch sicher, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zu geht.“
„Wilhelm, ich glaube, dass jemand Einfluss auf die Geschehnisse nimmt.“
„Hast du einen Verdacht?“
„Ich glaube, dass Depuis dahintersteckt.“
„Der französische Ganove? Was für ein Interesse sollte der haben?“
Karl schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Er arbeitet auch nicht allein. Ich glaube, er arbeitet mit dem Hartmann zusammen.“
Wilhelm zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Welchem Hartmann? Ich kenne keinen Beamten namens Hartmann.“
„Kein Beamter: Der Konditor.“
Wilhelm lachte. „Ein Bäcker?“
„Konditor. Er verkauft die Praline »Herzblut«.“
„Ja, davon habe ich schon gehört. Meine Frau erzählte mir neulich davon. Alle ihre Freundinnen schwärmen darüber. Luise hat leider die Zuckerkrankheit und darf so etwas nicht essen. Sie ist da sehr diszipliniert. Sie macht mich verrückt mit dem ganzen Gesundheitskram: Kneippen und Dampfbad und so. Ich meine, Therme? Jederzeit. Aber in kaltem Wasser herum stapfen wie ein Storch, das muss doch nicht sein.“
„Dafür siehst du aber auch blendend aus, Wilhelm“, zwinkerte Karl und prostete seinem alten Kollegen zu.
„Apropos Krankheit und Tod – was ist denn nun mit dem Rosenherz? Ich habe gehört, sie wollen ihn für tot erklären?“
„Ja, seine Tochter kann dann endlich erben. Aber sie ist noch alleinstehend. Obwohl“, Karl grinste, „ich bin mir da gerade nicht mehr so sicher.“
„Annabelle, hieß sie nicht so?“
Karl nickte.
„Es ist immer besser, wenn sich Männer um so etwas kümmern. Du lässt sie sicher auch nicht im Stich, oder?“
„Als ihr Patenonkel bin ich ja dazu verpflichtet. Aber ich tue es gerne. Es handelt sich auch um einen beträchtlichen Nachlass, da braucht sie Hilfe.“
Wilhelm winkte ab, als die Kellnerin nach einem Dessert fragte.
„Aber habe ich ihren Namen nicht sogar im Zusammenhang mit einem Todesfall gelesen?“
„Ja, sie wurde verdächtigt, eine Frau auf einer Festlichkeit umgebracht zu haben. Die Anklage ist fallen gelassen worden. Leider hat sie trotzdem vier Tage im Adlerhorst verbracht.“
Wilhelm sah ihn entsetzt an.
„Jetzt verstehe ich! Du hast ein ganz persönliches Interesse an den Vorgängen dort! Wie geht es ihr?“
„Ich hoffe gut. Sie erholt sich im Schwarzwald.“
„Karl, lass die Finger davon.“ Scharenburg wurde plötzlich sehr ernst.
„Wilhelm, ich muss. Sie haben sie gequält. Irgendetwas stimmt da nicht. Mein Freund Hirschmann vom Polizeipräsidium lässt sich verleugnen, seit ich ein paar Fragen gestellt habe.“
„Der Hirschmann ... ja, der hat kein Rückgrat.“
„Wilhelm“, beugte sich Karl nun über den Tisch zu seinem Freund. „Ich glaube, dass der Hartmann und der Depuis einige Strippen in dieser Stadt ziehen. Viel zu viele Leute haben Angst und reden nicht mit mir.“
„Aber was hat der Hartmann damit zu tun?“ Wilhelm verstand nicht. Er gestikulierte der Kellnerin: “Zwei Kirschwasser bitte!“
„Der Hartmann tut irgendetwas in die Pralinen. Es sterben Frauen, vorher werden sie abhängig. Sie werden süchtig nach dem Zeug. Damit hat er sie dann in der Hand. Wahrscheinlich sind viele hochrangige Beamte betroffen. Und dann treffen sie nicht mehr ihre eigenen Entscheidungen.“
Wilhelm nickte. „Wie Laudanum. Teufelszeug. Oder Opium.“
Sie bekamen ihre Schnäpse und kippten sie herunter. Dann bestellten sie noch einen und Kaffee.
„Lass uns besprechen, was du dir vorgestellt hast“, sagte Wilhelm, und Karl lehnte sich erleichtert zurück. Er hatte einen Verbündeten gefunden.
* * *
Walter Hartmann fühlte sich ausgelaugt. Er hatte die ganze Nacht Herzblut hergestellt. Schließlich hatte er Verpflichtungen. Heute Morgen hatte er dann ausschlafen wollen, aber ein Bote hatte seinen Besuch bei Depuis angefordert. Er hatte dennoch ausgiebig gefrühstückt und gebadet. Es gab Dinge, die waren einfach wichtig.
Nun saß er in Pelze eingehüllt in der Kabine seiner Kutsche und schaute hinaus. Schneeflocken fielen, die kleinen, die bei solchen kalten Temperaturen wie Nebel über die Straßen wirbelten. Er hasste es, sich so schlecht zu fühlen. Er hasste seinen Körper, wie er ihn in der Badewanne betrachtet hatte. Alles war zu klein und weich und braun.
Er wusste, dass das Leben, das er damit führte, eine Prüfung war. Gott, den er als einen rachsüchtigen Übervater spürte, wollte ihn testen. Er sollte erst später in seinem Leben die Früchte ernten. Jetzt war er noch dazu verdammt, in dieser unzulänglichen Hülle zu leben.
Die Zeit war noch nicht reif. Das sagte er sich jeden Tag. Er suchte nach den Zeichen, er bezahlte eine Menge Wahrsager dafür, ihm die Zukunft zu deuten, damit er den richtigen Zeitpunkt erfuhr. Jetzt war erst einmal seine Schwester dran. Er war gespannt, was aus ihr werden würde. Es schien ihm wie ein Geschenk, dass sie den Weg vor ihm ging, um ihn vorzubereiten. Sicher würde es grandios, und dann wäre sie ihm dankbar. Wenn er dann endlich auch so weit war, würden sie zusammen ihre wohlverdiente wundervolle Zukunft leben.
Einen kurzen Moment dachte er darüber nach, was er tun würde, wenn seine Schwester stattdessen eine Verdorbene würde. Die Möglichkeit bestand. Bei seinen Experimenten waren mehr Verdorbene als Nützliche herausgekommen. Nun, dann würde er eben allein regieren.
Er stieg aus der Kutsche, als diese vor Depuis Haus anhielt. Der Gockel hatte sich eine mittelalterliche Burg bauen lassen. Wie lächerlich! Aber als Hartmann durch die große Eingangstür ging und vor einem riesigen Kamin Platz nahm, in dem ein Feuer prasselte, über dem man einen Ochsen hätte braten können, da fühlte er sich tatsächlich ein wenig wie ein König. Er schloss wohlig die Augen und öffnete sie erst wieder, als er sich sicher war, dass Depuis ihm gegenüber saß.
Der hatte einen maßgeschneiderten Hausanzug aus lila Samt mit schwarzem Seidenfutter an. Hartmann fühlte eine Welle der Wut durch ihn hindurch fahren. Der Geck ließ ihn in aller Herrgottsfrühe durch die halbe Stadt kutschieren, und war noch nicht einmal angezogen? Hartmann bündelte diese Wut und steckte sie zur späteren Verwendung weg, dann lächelte er falsch.
„Depuis! An diesem schönen Tag hatte ich mit Ihrem Anblick nicht gerechnet!“
Jean Depuis zog eine Augenbraue hoch. Er war der humorloseste Mensch, den Hartmann kannte.
„Monsieur Hartmann, isch muss misch entschuldigen: Pardonnez mois, s'il vous plait.“
„Ja, ja, mein Guter. Was war denn so wichtig?“
„Es ist Verschiedenes. Thé?“
Hartmann nickte. Depuis bestellte Tee bei seinem Diener.
“Nun, zunächst ein Berischt von die gewünschte Angriff auf das Fräulein Rosen'erz, oder vielmehr ihre Kinderfrau. Der Mannwolf ist von den Blitzmännern gefangen worden. Isch 'abe aber ge'ört, das die Frau im Hospital war, und auch der neugierige docteur ist verletzt worden.”
“Das sollte doch reichen, um den Leuten einen Schrecken einzujagen.” Hartmann war zufrieden.
Depuis sah immer noch magenkrank aus, und trank einen Schluck Tee.
“Was ist denn noch?”
„Alors, isch 'abe Nachricht von der 'Griffon', äh, der 'Greif'. Sie ist testtauglisch.“
Hartmanns Gesicht erhellte sich. Na, das war doch einmal eine gute Nachricht!
„Hervorragend! Wann können wir einen Testflug machen?“
„Immédiatement! Mais – aber ...“
„Was?“
„Nun, wir müssen vorsichtig sein. Isch glaube, es ist nischt gut, wenn es so kalt ist.“
„Depuis, alter Freund“, lachte Hartmann ihn aus. „Haben Sie etwas Flugangst? Die 'Greif' ist für das Manövrieren unter den widrigsten Umständen konzipiert. Wir haben eine Menge Geld dafür ausgegeben, die besten Leute zu verpflichten: Schließlich ist sie für den Krieg gebaut. Wenn sie schon auf einem einfachen Testflug versagt, dann rollen einige Köpfe.“
„Wenn wir dann nischt tot sind.“ Depuis war nicht überzeugt.
Das reizte Hartmann nur noch mehr. Er würde es dem Gockel nicht ersparen! Schließlich sollte die 'Greif' der Schlüssel zu ihrer Zukunft werden. Eine Zukunft, in der der Freistaat Baden einen neuen, besseren Regenten bekommen würde, als diesen unfähigen Friedrich von Baden ... Ja, er hatte große Visionen, und er würde es mit oder ohne den Gockel schaffen! Falls dieser dabei auf der Strecke blieb ... man musste immer Opfer bringen!
„Sie erwähnten mehrere Neuigkeiten.“
„Ah, oui. Meine Informateurs haben mir berischtet, dass jemand sisch über den „Adler'orst“ um'ört.“
„Wer?“
„Der Bruder von dem jungen Falkenberg. Friedrich Falkenberg.“
„Und?“
„Er ist ein Blitzmann. Ein Lieutenant.“
Hartmann dachte nach. Dann nickte er.
„Das ist kein Zufall. Es schnüffelt noch jemand herum. Ein Dr. Karl Burger. Leider kennt er offensichtlich einige wichtige Leute hier in Baden-Baden. Das ist nicht gut.“
„Wie kommt dieser Burger dazu? Pourquois il le fait?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich könnte ein paar Telefonate führen. Wo steht ihr Apparat?“
* * *
Es war dunkel und kalt. Paul starrte in den Himmel. Zwischen den Wolken gab es nur einzelne Lücken, durch die die Sterne blitzten. Paul folgte den Flug seines Vogels. Es war ein toller Anblick. Unter dem Einfluss des elektrischen Spannungsfeldes leuchteten die Ætherschwingen grünlich irisierend.
Er war noch nicht ganz zufrieden mit der Konstruktion, aber er hatte zu wenig Material dabei. Trotzdem konnte er hier das Fliegen besser üben als in Baden-Baden, wo er immer weit herausfahren musste.
Plötzlich traf ihn etwas am Nacken. Er erschrak und fühlte dann, wie es ihm eisig in den Hemdkragen tropfte: Annabelle hatte ihm einen Schneeball an den Hals geworfen! Sie klaubte schon Schnee für einen weiteren Anschlag zusammen, was ihr aber schwerfiel, denn sie krümmte sich vor Lachen.
„Na warte!“, rief Paul und wollte das Käuzchen landen, um sich zu rächen. Sissi rannte ihm bellend um die Füße. Plötzlich blieb Annabelle stehen. Sie hielt eine Hand hoch und lauschte.
Nun hörte Paul es auch: Ein Pferd wieherte panisch. Er sah sich um. Auf der Wiese konnte er den weißen Körper von Titania erblicken, die aufmerksam mit angelegten Ohren zur anderen Seite der Koppel blickte. Er folgte ihrem Blick und lenkte sein Käuzchen dorthin. Im Licht des kleinen mechanischen Vogels erkannte er Oberon, der panisch in ihre Richtung galoppierte. Auf seinem Rücken saß etwas, ein schwarzer, unförmiger Schemen. Blut glänzte an der Flanke des Pferdes, dessen Augen das weiße zeigten.
„Lauf ins Haus“, sagte er zu Annabelle, die wie versteinert da stand.
Annabelle zögerte, befolgte dann aber seinen Rat und rannte zur Terrassentür. Sie sprintete durch das Wohnzimmer in das kleine Zimmer daneben. Dort stand der Waffenschrank ihres Vaters. Mit zitternden Händen suchte sie den Schlüssel in seinem Versteck im Rachen des ausgestopften Wildschweinkopfes. Dann holte sie ihr Gewehr raus. Zur Sicherheit steckte sie auch noch eine Pistole in die Tasche. Im Herausrennen überprüfte sie, ob die Waffe geladen war.
Oberon flog gerade mit einem mächtigen Sprung über den Zaun. Paul hatte den Arm mit dem Handschuh hoch erhoben und das Käuzchen flog genau auf Oberon zu. Auf seinen Rücken konnte Annabelle eine große, schwarze, geflügelte Gestalt erkennen, die sich mit langen Krallen im Fleisch des Pferdes festhielt. Sie legte die Büchse an und zielte.
Aber es ergab sich keine Schussmöglichkeit. Oberon buckelte und schlug aus. Als das Käuzchen an der Kreatur vorbei flog und diese blendete, kreischte sie grell auf und zeigte dabei ein Gebiss mit nadelspitzen Zähnen in einer Hundeschnauze. Das Wesen breitete seine Flügel aus und stieß sich vom Rücken des Pferdes ab. Annabelle schoss. Der Rückstoß der Waffe prallte schmerzhaft in ihre Schulter. Das Wesen schrie laut und taumelte im Flug. Oberon rannte wild buckelnd weg.
Die schwarze Fledermauskreatur folgte dem Pferd. Oberon drehte sich um, stieg und schlug mit den Vorderhufen nach seinem Gegner. Paul rannte zu Annabelle und nahm ihr das Gewehr ab.
“Geh zum Haus“, schrie er sie an. Sissi rannte bellend auf die Kämpfenden zu. Oberon wendete blitzschnell und trat mit den Hinterhufen aus. Die Kreatur flatterte unentschlossen auf der Stelle und schwenkte dann weg, genau auf den bellenden Hund zu.
“Nein!“, schrie Annabelle, die sich umgesehen hatte.
Paul rannte los. Das Wesen streckte im Anflug seine mit langen und scharfen Krallen bewehrten Füße aus, um Sissi zu packen. Der Hund jaulte auf, als das Wesen ihn griff und hochhob, um mit seiner Beute davon zu flattern. Paul bremste nicht, sondern rammte den Lauf des Gewehres mit voller Wucht gegen den Kopf des fliegenden Albtraumes. Das Wesen ließ den Hund fallen und ging selbst zu Boden. Paul schlug noch einmal zu und hörte einen Knochen knacken.
Aber die Kreatur kümmerte sich nicht darum, flatterte fauchend noch einmal hoch und griff Paul an. Sie war fast so groß wie er, und er konnte erkennen, dass es einmal ein Mensch gewesen war. Der Körper war ausgemergelt und sehnig, seine Arme hatten sich zu Schwingen gewandelt, die versuchten, sich um ihn zu legen. Er ließ das Gewehr fallen, das ihm jetzt nichts mehr nutzte. Das Wesen bedrängte ihn im Handgemenge, die schwarzen ledrigen Schwingen peitschten seine Arme. Er sah in die gelben Augen, die nichts Menschliches mehr hatten; es hatte auch keine Nase mehr, nur Löcher mit einer Art Lappen davor.
Paul duckte sich und wich aus. Das Wesen schwang sich hoch und traf ihn mit einem klauenbewehrten Fuß. Erbarmungslos gruben sich die Krallen in seine Schulter. Der Angriff warf Paul um und er landete hart auf dem gefrorenen Boden. Sein Kopf dröhnte. Er versuchte sich mit seinen Armen vor den Krallen zu schützen, aber sie trafen ihn im Gesicht und an der Schulter. Es donnerte. Plötzlich ließ das Wesen von ihm ab, und Paul sah, dass Oberon zurückgekehrt war und mit gebleckten Zähnen nach dem Biest schnappte. Paul nutzte seine Chance, krabbelte rückwärts, von den stampfenden Hufen weg. Er stand auf und lief zu dem Gewehr, drehte sich um, legte an, zielte, und schoss.
Der Schuss peitschte laut über den See. Das Wesen kreischte wie ein Kind und flatterte hoch, in Richtung des dunklen Waldes. Oberon galoppierte hinterher. Paul hielt das Gewehr im Anschlag, verfolgte die Bewegung und schoss ein zweites Mal auf die flüchtende Kreatur. Das hatte er wenigstens vor, doch es löste sich kein Schuss. Er musste nachladen! Er sah sich nach Annabelle um, die wie festgewachsen das Geschehen beobachtete. Er rannte zu ihr und gab ihr die leere Büchse. Sie fummelte die Pistole aus ihrer Tasche und er ergriff sie dankbar.
Er drehte sich um und rannte über die Wiese, den Kämpfenden hinterher. Als er nahe genug war, versuchte er zu zielen. Es war schwierig, Pferd und Fledermaus waren in ständiger Bewegung. Paul wartete ab und schoss in einem günstigen Moment.
Die Kreatur taumelte und fiel dann reglos zu Boden. Oberon stieg und landete mit seinem vollen Gewicht auf der Kreatur. Dann trampelte er wild darauf herum.
Paul drehte sich um, lief zurück zu Annabelle und streckte ihr die Hand hin. Blut lief über seine Finger, es sah in der Dunkelheit schwarz aus. Annabelle nahm seine Hand. Ihre Knie zitterten. Es war plötzlich so still, und man konnte in der Dunkelheit kaum etwas erkennen. Oberon wendete sich schließlich ab und trottete in Richtung Stall.
Paul drehte sie weg: “Geh bitte ins Haus und hole eine Laterne. Ich möchte nachsehen, ob es tot ist.“ Seine Stimme war fest und bestimmt.
Annabelle tat, was er sagte. Er nahm die Laterne und sah sie kurz an. Er hatte einen üblen Kratzer im Gesicht, über seiner Augenbraue und an der Wange. Das Blut lief herunter und er hatte es mit dem Ärmel zu einer noch schlimmeren Sauerei verwischt. Annabelle erschrak, auch über seinen Gesichtsausdruck. So hatte sie ihn bis jetzt noch nie gesehen.
Er ging langsam zu dem dunklen Hügel, der die Kreatur war. Eine Weile stand er mit schussbereiter Pistole neben ihr, dann trat er einmal dagegen, aber sie rührte sich nicht mehr.
Er sah hoch zu seinem Käuzchen und aktivierte das Armband, das er immer noch trug. Der Vogel kreiste über ihnen und wartete auf Anweisungen. Er landete die Maschine vor der Terrassentür und ging mit Annabelle zu Sissi. Der Hund lebte noch, hatte aber einige schlimme Verletzungen. Paul gab Annabelle die Laterne und nahm den Hund.
Als sie am Haus ankamen, sagte sie nur: “Oberon.“ Er nickte und sie lief zu ihrem Pferd.
Nachdem sie sich um Oberon gekümmert hatte, seine Wunden ausgewaschen und ihn in den Stall gebracht hatte, verband sie Sissi so gut es ging. Als der Hund schließlich erschöpft einschlief, kümmerte Annabelle sich um Pauls Wunden. Das Fledermauswesen hatte ihn übel an der linken Schulter erwischt. Die Wunden am Kopf und der Wange erwiesen sich zum Glück als oberflächlich.
Sie säuberte die Verletzungen, als auf einmal die ganze Ungeheuerlichkeit der Situation auf sie einstürzte. Ihre Hände fingen an zu zittern und aus ihren Augen liefen Tränen wie Wasser. Sie konnte nicht mehr weitermachen und setzte sich weinend. Paul nahm sie etwas hilflos in den Arm und wartete geduldig, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
„Ich bräuchte da noch einen Verband“, sagte er leise.
„Mein Gott, Paul“, sagte Annabelle gequält, „was war das?“
Sie fing an, einen Verband um den Oberarm zu wickeln. Es sah nicht besonders gut aus, aber sie steckte es einfach fest und setzte sich dann auf den Rand der Badewanne.
„Es wollte dich töten, oder?“
Paul schüttelte den Kopf: “Ich weiß es nicht. Es hat ja zunächst Oberon angegriffen. Und auch Sissi. Vielleicht war es nur auf Beute aus. Aber wir werden es wohl nie erfahren.“
Annabelle verbarg ihr Gesicht in den Händen. Dann sagte sie leise, ohne ihn anzusehen: “Das hätte mir auch geschehen können.“
„Was?“ Paul verstand nicht, aber er wollte das nicht hier diskutieren.
Er schob Annabelle aus dem Bad ins Wohnzimmer. Dort setzte er sie in ihren Lieblingssessel und warf ein paar Scheite Holz aufs Feuer, öffnete den Spirituosenschrank, griff nach der erstbesten Flasche und goss zwei Gläser voll. Es war nicht leicht, mit nur einem Arm. Aber der andere hatte angefangen, bei jeder Bewegung zu schmerzen.
Annabelle sah ins Feuer. Sie nahm abwesend das Glas und trank einen großen Schluck. Der Alkohol brannte in ihrem Hals und sie hustete.
„Was war das?“, keuchte sie.
Paul probierte: “Ich befürchte, es ist Slibowitz.“
„Warum befürchtest du das?“
„Slibowitz macht einen sentimental. Man fängt an traurige Lieder zu singen und möchte mit Bären tanzen.“
Annabelle lachte. Sie konnte nicht anders, und es klang ein wenig hysterisch, aber sie hatte überhaupt kein Schutzschild mehr, und dieser trockene Witz traf sie unvorbereitet.
Paul grinste und kippte sein Glas in einem Zug in sich hinein. Auch er keuchte kurz auf – das waren ein paar Prozente mehr, als er gewohnt war. Trotzdem er stand auf und holte die Flasche.
„So, nun noch mal: Was hätte dir auch passieren können?“
Annabelle zog die Beine hoch und legte ihre Arme darum.
„Ich hatte eine Wahl, da in dem Wasser, bei der Otterfrau. Sie sagte mir, ich hätte diesen schlechten Æther in mir. Und ich wusste, ich hätte ihn behalten können, ich hätte ihn in mich rein lassen können. Er hatte die ganze Zeit an mir genagt, in mir pulsiert, aber ich ließ ihn nicht.
Weißt du, als ich in dieser Wanne lag, und er mir in alle Poren drang, in meinen Mund, meine Ohren, und, naja, du weißt schon wo noch ... Da war ich ausgeliefert. Ich konnte mich nicht wehren. Aber ich habe es irgendwie geschafft, dass er zwar in mir war, aber mich nicht völlig durchdringen konnte. Und dann habe ich ihn als Kugel ausgespuckt.“
„Die liegt jetzt im Schlafzimmer auf dem Tisch.“
Annabelle nickte. „Ich glaube, wenn ich es nicht ausgespuckt hätte, sondern zugelassen hätte, dass es mich durchdringt, dann wäre ich so etwas geworden, wie dieses Wesen dort draußen.“
„Ein Verdorbener.“
Das Wort traf sie wie eine Kugel. Sie wusste, dass Paul sie ansah. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, nickte aber. Der Slibowitz erreichte ihr Gehirn. Sie spürte die Wichtigkeit dieser Wahl nachträglich wie ein Band um ihre Brust. Es engte sie ein und ließ sie kaum atmen. Sie war sich zu dem Zeitpunkt damals dessen nicht bewusst gewesen, aber nun spürte sie, dass sie kurz davor gewesen war, es zuzulassen. Sich selbst aufzugeben: Der Æther hatte ihr Vergessen versprochen, sie hatte eine wilde, ungezähmte Kraft gespürt, aber auch Brutalität und Grenzenlosigkeit.
„Aber du bist es nicht geworden. Stattdessen wirst du meine Frau.“ Paul sagte das ganz ruhig und sicher.
Annabelle atmete tief ein, und das Band um ihre Brust zersprang. Diese Worte bedeuteten ihr so viel: Auch wenn sie vor Kurzem noch wild entschlossen gewesen war, nicht zu heiraten, so hieß dieses Bekenntnis von Paul doch letztlich, dass er sie wollte, obwohl sie ein Monster hätte werden können.
Sie sah zu ihm und begegnete seinen braunen Augen. Wie Samt umfing dieser Blick sie, lud sie ein, hieß sie willkommen. Sie entfaltete sich von ihrem Sessel und setzte sich behutsam auf seinen Schoß.
Er hielt sie ganz lange einfach nur im Arm, während er sich die Flasche Slibowitz zu Gemüte führte. Seine Schulter schmerzte wie ein Höllenfeuer, aber der Schnaps brannte dagegen. Sie sprachen nicht mehr, beobachteten nur das langsam sterbende Feuer. Als er genug hatte, um trotz der Schmerzen schlafen zu können, steuerte er sie ins Bett.
Als er am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich merkwürdig. Ein Teil seines Körpers erinnerte sich an den Kampf, schmerzte noch, hatte blaue Flecke und Prellungen. Aber an seinem Oberarm spürte er nur Wärme, als hätte jemand eine Wärmflasche dort platziert.
Er bewegte sie vorsichtig und spürte keinen Schmerz. Dann öffnete er die Augen und schaute hin: kein Verband? Er sah noch Blutreste, und als er mit der Hand die ehemalige Wunde berührte, spürte er Verdickungen wie Narben.
Er sah sich um: Annabelle war schon aufgestanden. Langsam brachte er sich auch in die Vertikale – ohhh, keine gute Idee. Sein Kopf berichtete ihm von der Flasche serbischen Feuerwassers, die er zur Schmerzbekämpfung getrunken hatte. Er atmete tief durch und beschloss es zu ignorieren. Was er nämlich nicht ignorieren konnte, war die Flüssigkeit, die nun ihren Weg aus seinem Körper wieder heraus verlangte.
Nachdem er der Natur ihren Lauf gelassen hatte, zog er sich etwas über und suchte Annabelle. Er fand sie bei Sissi. Der Hund lag in seinem Körbchen und hatte auch keine Verbände mehr. Als er den Raum betrat, hob die Hündin den Kopf und sah ihn an. Dann schaute sie zu Annabelle, die in ihrem Sessel saß und schlief. Ihre grüne Hand lag ohne Handschuh auf der Decke, die sie sich über die Beine gelegt hatte. In der anderen Hand hielt sie die Geode. Ihre Finger schlossen sich nur leicht darum, und die blauen Kristalle blitzten auf, als Paul die Schlagläden öffnete.
Annabelle blinzelte im Sonnenlicht. Es schockierte Paul, wie sehr er diese Frau liebte, genau so, wie sie jetzt da saß, mit offenen zerzausten Haaren und diesem freudigen Ausdruck im Gesicht, den Tag willkommen heißend und begrüßend. Er konnte nicht anders: Er zog sie hoch und küsste sie, auf diesen Mund, und diese Nase, und diesen Hals, und dann war da noch der Duft ihrer Haare ... Glück.
„Guten Morgen, Glöckchen“, murmelte er in ihr Ohr.
„Glöckchen?“, kicherte Annabelle etwas atemlos. Sie war noch nicht richtig wach und fühlte sich von seiner Leidenschaft etwas überrollt.
„Du riechst nach Maiglöckchen“, sagte Paul.
„Stimmt! Und du riechst nach Pflaumenschnaps.“
Paul sah sie entsetzt an.
„Wie geht es dir?“, fragte sie, redete aber weiter ohne seine Antwort abzuwarten. „Ich bin aufgewacht und habe mich erinnert, dass ich ja deinen Knöchel schmerzfrei massieren konnte. Ich musste es einfach versuchen. Du hast so fest geschlafen, du sahst echt süß aus. Du hast auch kaum geschnarcht. Mein Papa hat geschnarcht wie ein Bär, schrecklich.
Naja, ich habe den Verband abgemacht und es einfach probiert. Und, hör zu, das Tollste: Im Dunkeln hat die Geode angefangen zu leuchten, und ich habe sie in die andere Hand genommen, und dann war es wie ein Strom. Und dann bin ich zu Sissi, und dann zu Oberon, aber danach war ich echt fertig, und bin einfach hier eingeschlafen. Ist das nicht fantastisch? Ich kann heilen! Das ist unglaublich!“
Sie hatte sich von ihm gelöst und war zu ihrem Hund gelaufen, um ihm zu beweisen, dass die Wunden des Tieres verschwunden waren.
„Kannst du auch Kopfschmerzen heilen?“, fragte er etwas gequält.
„Na, du hast fast die ganze Flasche Schnaps getrunken!“ warf sie ihm vor.
„Ich war auf tagelange Schmerzen eingestellt! Du hättest diese Idee auch früher haben können.“
„Wir frühstücken, ich habe einen Bärenhunger. Dann geht es dir bestimmt besser.“
So war es auch.
Annabelle summte. Sie fühlte sich lebendig, wach, frisch und glücklich. Sie schürte das Feuer im Kachelofen und freute sich über die sanfte Wärme, die er ausstrahlte. Paul hatte sich noch einmal hingelegt um seinen Kater loszuwerden, aber sie war nicht müde.
Sie las den Brief ihres Vaters noch einmal. Die Vorstellung, dass er diesen Brief mehrmals geschrieben hatte, über die Jahre hinweg, machte sie ein wenig sentimental. Ihr Vater hatte viel mit ihr geredet, über alles Mögliche. Aber es hatte eben auch einiges gegeben, worüber sie nicht gesprochen hatten, nicht sprechen konnten.
Sie blickte nach oben zu einem Portrait ihrer Mutter, das an der Wand hinter seinem Schreibtisch hing. Wie immer suchte sie zunächst nach Ähnlichkeiten mit ihrem Spiegelbild. Früher hatte sie ihre Mutter wunderschön gefunden, und sich selbst eher schlicht. Heute war ihr klar, dass sie ihrer Mutter sehr ähnlich sah: Die gleiche Nase mit ein paar Sommersprossen (der Maler hatte diese selbstverständlich nicht abgebildet, aber ihr Vater hatte ihr davon erzählt), die gleichen grünen Augen, eine hohe Stirn und ein entschlossenes Kinn. Dennoch schien ihre Mutter uneinholbar vollendet zu sein, während Annabelle sich noch unfertig und naiv fühlte.
Im Gegensatz zu ihrem Vater war ihre Mutter keine Präsenz in ihrem Kopf. Wenn überhaupt eine weibliche Stimme in ihrem Kopf sprach, dann war das Frau Barbara. Annabelle hätte jetzt gerne mit jemandem gesprochen, von ihren Entdeckungen erzählt und das wundervolle Geheimnis geteilt. Sie glaubte fast platzen zu müssen über die Entdeckung, was den Zauber zwischen Mann und Frau ausmachte. Aber bei dem Gedanken, es Frau Barbara zu beichten, wurde sie fast rot. Und ob sie es Johanna erzählen sollte …? Schon wurde es wieder schwierig. Es gab so viele offene Fragen.
Sie wollte auch über das Erlebnis im Adlerhorst sprechen. Sie war so wütend über das, was ihr angetan wurde, was dort mit vielen Verdorbenen geschah. Und dann die toten Frauen. Sie musste sich doch kümmern, hinter das Geheimnis der Substanz kommen. Eine Heilung für die Betroffenen finden. Vielleicht konnte sie mit ihrer Hand auch etwas tun?
Sie musste etwas tun und stand auf. Draußen war es ungemütlich grau geworden. Sie wünschte sich, sie könnte einfach so in den Wald laufen, aber sie wollte Paul nicht schon wieder beunruhigen, und sie hatte jetzt ein bisschen Angst, das sich noch so ein Monster hier herumtrieb.
Ihr fielen die Schlagläden ein, die sie immer zumachen sollte. Was sollte das? Nun gut, sie waren aus Holz und boten Schutz vor Eindringlingen und dem Wetter, aber vielleicht war da noch mehr. Sie öffnete die Terrassentür und begutachtete den dazu gehörigen Schlagladen. Ihr fiel nichts Besonderes auf. Man zog sie von innen zu und verriegelte sie dann. Als sie das probehalber tat, fühlte sie in ihrer linken Hand ein Prickeln. Sie sah genauer hin, aber man konnte nichts erkennen. Sie machte die Augen zu und fühlte nur. Vor ihrem inneren Auge entstand ein Bild von silbernen Adern, die das Holz durchzogen und ein komplexes Muster bildeten. Eine Spirale, oder ein Labyrinth? Sie konzentrierte sich, und als sie die Augen öffnete, konnte sie das Bild ganz schwach leuchten sehen. Wunderschön, aber auch beängstigend. Was war das? War das Magie?
Sie fröstelte und öffnete die Läden wieder, hakte sie an der Wand ein und schloss die Tür. Als sie sich umdrehte, stand Paul hinter ihr.
“Hast du mich erschreckt.“
“Das war nicht meine Absicht. Was machst du da?“
“Ich habe die Schlagläden untersucht. Da ist etwas. Ich konnte es mit meiner linken Hand spüren. Aber man kann es fast nicht sehen.“
Paul zog sie an sich und küsste sie.
“Du Hexe“, murmelte er.
“Paul, jetzt nicht“, wehrte sie sich kichernd.
“Warum nicht?“ Seine Hände wanderten an ihrem Rücken herunter.
“Weil …“ Sie konnte kaum denken. Es tat so gut ihn zu spüren, er war so warm und weich, aber auch fest und glatt unter dem Hemd, kratzig an seiner Wange und fordernd mit seiner männlichen Präsenz.
“Wir könnten doch noch einmal …“, flüsterte er und küsste ihre Ohrmuschel.
Annabelles Haare stellten sich auf und sie erschauerte bis zu den Zehenspitzen.
“Paul … hör zu …“
“Jetzt?“ Seine Hände wanderten über ihre Pobacken.
“Ja, jetzt.“
Annabelle nahm sein Gesicht in ihre Hände und schaute ihm in die Augen: “Ich will nach Baden-Baden zurück.“
“Jetzt?“, stöhnte er.
“Morgen früh.“
Paul nickte erleichtert. Dann lächelte er und zog auffordernd eine Augenbraue hoch. Sein Griff um ihre Pobacken wurde fester und sie spürte sein Begehren deutlich an ihrer Hüfte.
“Dann will ich jetzt noch einmal ins Bett.“
Er küsste sie lange, dann hob er sie schwungvoll hoch und trug sie ins Schlafzimmer, wo er sie abstellte und die Verschnürungen an ihrem Kleid löste.
Annabelle fingerte an den Knöpfen von Pauls Hemd herum. Es war nicht leicht, sich zu konzentrieren. Sie fühlte seinen Mund an ihrem Hals und mit jedem Kuss lief ein Schauer über sie. Sie seufzte leise und war geneigt, einem widerspenstigen Knopf Gewalt anzutun. Endlich sprang er auf und sie schob das weiche Flanellhemd über seine Schultern.
Sie liebte seine glatte Brust und presste beide Handflächen gegen die festen Muskeln. Dann ließ sie die Hände an seinen Seiten nach unten wandern und küsste ihn dabei über seinen Brustwarzen. Sie standen noch vor dem Bett und liebkosten sich im Stehen. Paul machte sich in ihren Haaren zu schaffen, löste den schweren Zopf, und kämmte ihn mit seinen Fingern aus, bis die Haare ihr locker über die Schultern flossen.
Dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und hob es zu seinem hoch. Sie sah ihm neugierig in die Augen und schien in ihnen zu versinken, als er sie küsste. Sein Kuss war fordernd und leidenschaftlich. Annabelles Finger suchten Halt auf seinem Rücken, als ihre Knie weich wurden. Er löste seine Hände von ihrem Gesicht und raffte ihr Kleid hoch. Seine Finger streiften dabei ihre Oberschenkel und sie stöhnte leise.
Paul unterbrach den Kuss, um das Nachthemd über ihren Kopf zu ziehen. Annabelle war nun bis auf dicke Wollsocken ganz nackt. Ihre braunen Brustwarzen verhärteten sich sofort und er berührte sie kurz mit der Zungenspitze. Annabelle warf ihren Kopf in den Nacken und atmete scharf ein. Sie drängte sich gegen ihn um mehr Berührung zu haben, ihn ganz an sich, von oben bis unten zu spüren.
Die Zeit schien stillzustehen, der nächste Kuss war tief und forschend, sie rieben sich aneinander und atmeten schnell. Annabelle spürte eine Bewegung in ihrem Inneren, ein Verlangen, wie ein Sog, eine Leere, die gefüllt werden wollte.
Paul stöhnte und wühlte in ihren Haaren. Er löste sich von ihr und drückte Annabelle zurück auf die Decke. Bei ihrem Anblick schluckte er trocken, beugte sich zu ihr hinunter und begann, ihre Oberschenkel mit kleinen Küssen zu bedecken. Sie lachte und zog ihn weiter nach oben, bis sie schließlich beide ganz auf dem Bett lagen. Auf seine Unterarme gestützt sah er auf sie herunter.
Dann hörte jegliches Denken auf und ihre Beine öffneten sich, um ihn aufzunehmen, und er eroberte sie, langsam und beharrlich, einen Rhythmus aufbauend, bis sie sich in seinen Rücken krallte und aufschrie. Er spürte ihren Höhepunkt und ließ den letzten Rest an Zurückhaltung fahren. Ihr Orgasmus war ein Sog, aufnehmend, annehmend.
Er wartete noch einen Moment, bevor er sich zurückzog. Annabelle schmiegte sich an ihn und genoss seine Wärme, ihre Hand fühlte sein Herz wild pochen und sich langsam beruhigen. Er küsste sie zärtlich und spielte mit ihren Haaren.
“In Baden-Baden können wir das erst einmal nicht mehr tun“, bemerkte sie bedauernd. “Wie kann man etwas so schnell vermissen, von dem man bis vor Kurzem noch nicht einmal wusste, wie wundervoll es ist?“
Paul nickte nur. Die Aussicht auf das Leben in Baden-Baden gefiel ihm gerade überhaupt nicht.