Kapitel 1
Drosera bulbosa, Sonnentau, fleischfressendes Wunder der Pflanzenwelt. Aus dem grünen Blatt sprossen unzählige winzige rote Stiele, an deren Ende jeweils ein glitzernder Tropfen hing, bereit, ein unvorsichtiges Insekt einzufangen und zu verdauen. Vorsichtig streifte Annabelle eine der winzigen Perlen auf einen gläsernen Objektträger, dann nahm sie mit einer Pinzette die vorbereitete hauchdünne Scheibe Fleisch und legte sie daneben. Sie verschwendete keinen Gedanken an die Schnecke, die dafür ihr Leben lassen musste. Im Gemüsegarten befand sich ein unerschöpflicher Nachschub.
Sie legte die hauchdünne Glasplatte auf die Präparate. Der Tropfen berührte das Fleisch und begann, es zu verdauen. Die Welt versank um sie herum, während sie die Schlacht der Enzyme beobachtete.
Als sie die Augen erhob und in die Realität zurückkehrte, erblickte sie ihren Laborkollegen Hans Zoller, der sich angestrengt die Stirn rieb. Sie überlegte kurz, ob sie ihn fragen sollte, was los war, wusste aber, dass er ihr gegenüber nie zugeben würde, nicht weiter zu kommen. Ab und zu ließ er sie an seinen Untersuchungen teilhaben, und es schien ihr fast, als habe er doch bemerkt, dass sie ein profundes Wissen über Zellbiologie besaß.
Herr Zoller war Pathologe und untersuchte hier entartete Zellen. Das pathologische Labor von Professor Schmidt war das größte in Baden-Baden und Annabelle war begeistert über die moderne Ausstattung. Sie durfte hier forschen, weil ihr Vater den Institutsleiter gut kannte und dieser Platz frei war. Das Studium von Giften war ihr Steckenpferd, sie hatte sich fast alles Selbst beigebracht. Irgendwann hatte ihr Vater aber die Nase voll gehabt, und ihr verboten, zu Hause weiter zu machen. “Wenn schon, dann machst du das richtig, und diese ganzen stinkenden toten Tiere kommen hier weg”, hatte er geschimpft und ihr jemanden besorgt, der ihr wissenschaftliches Arbeiten beibrachte.
Sie sah auf ihre Taschenuhr und notierte etwas. Herr Zoller starrte sie an, das spürte sie. Er war merkwürdig: Einerseits lehnte er es eigentlich ab, dass Frauen arbeiteten, und sagte ihr das auch immer wieder, andererseits schien er sie zu mögen, jedenfalls war er meistens herablassend freundlich. Sie fand ihn nett, auch wenn er sich wie jetzt seine rötlichen Locken raufte und rote Wangen bekam, wenn er sich aufregte, was er oft tat. Er hatte schon den ganzen Morgen an etwas offensichtlich Schwierigem gearbeitet und immer wieder seufzte und stöhnte er.
Sie drehte sich zu ihm: „Herr Zoller! Sie träumen!“
„Ja, ja“, grummelte er, wandte den Blick ab und rieb sich verlegen am Ohr.
„Was ist?“
„Nichts. Viel Arbeit.“ Annabelle wusste, dass heute Morgen eine Vielzahl an Proben gekommen waren, die Herr Zoller untersuchen sollte. Hans war ein guter Mitarbeiter, aber er mochte es nicht, gedrängt zu werden.
“Kann ich helfen?”
Er überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf: “Nein. Machen Sie mal mit Ihren Studien weiter.”
„Mach ich“, sagte sie achselzuckend und wandte sich wieder ihrem Präparat zu.
* * *
Annabelle öffnete ihre Haustür, wappnete sich und konnte so die stürmische Begrüßung ihrer Hündin Sissi heil überstehen. Die schwarze Zwergschnauzerhündin freute sich unbändig über die Ankunft ihres Frauchens, bellte und wuselte zwischen ihren Beinen herum, immer Gefahr laufend, sich in den Falten des Rockes zu verirren.
Sie entwirrte ihre Haare von dem verhassten Hut und zog sich die Haarnadeln aus der Frisur, als eine kleine dünne Frau mit schnellen Schritten aus der Küche kam und sie abfing. Die wasserblauen Augen ihrer Haushälterin waren zusammengekniffen, da sie zu eitel war, eine Brille zu benutzen, obwohl sie eine besaß. Sie musterte Annabelle kritisch und wedelte dann mit den Armen.
„Du hast wichtigen Besuch, zieh dich schnell um!“, flüsterte sie.
„Wieso? Wer ist es denn?“ Annabelle sah selten die Notwendigkeit ein, sich mehrmals am Tag umzuziehen.
Frau Barbara drängelte die widerspenstige Annabelle die Treppe hoch: „Es ist der Anwalt, Herr Falkenberg, und er sagt, es ist wichtig!“
Annabelle erschrak und fügte sich. Frau Barbara frisierte ihr schnell wieder die Haare und ließ sie erst gehen, als das Korsett unter einem schlichten hellbraunen Kleid eng geschnürt war. Eine einreihige Perlenkette vervollständigte ihre Erscheinung als gute biedere Tochter eines reichen Mannes.
Mit einem mulmigen Gefühl betrat Annabelle die Bibliothek.
„Guten Tag, Herr Falkenberg“, begrüßte sie den Anwalt Peter Falkenberg, der es sich im ledernen Sessel ihres Vaters mit einer Pfeife und einer Tasse Kaffee gemütlich gemacht hatte.
Er stand auf um sie zu begrüßen: „Guten Tag, verehrtes Fräulein Rosenherz“, sagte er, und nahm ihre Erscheinung mit einem gefälligen Nicken zur Kenntnis. Annabelle konnte es kaum ertragen, den Mann wieder in den Sessel des Professors sinken zu sehen. Dieser Platz war nicht für Besucher! Sie setzte sich ihm gegenüber und faltete die Hände im Schoss. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte, während Herr Falkenberg ruhig einen Schluck seines Kaffees nahm und die Tasse dann klirrend wegstellte. Annabelle riss sich zusammen und wartete geduldig, obwohl es in ihr brodelte.
Dieser eingebildete, arrogante, bornierte Rechtsververdreher, dieses lange, dünne Exemplar Mann, das sich sicher einbildete mit seinem gewachsten und gedrehten Schnurrbart und dem verschluckten Stock wäre er das Ebenbild eines respektablen Mannes mittleren Alters ...
„Fräulein Rosenherz“, räusperte sich der Anwalt gewichtig.
„Ja?“
„Es wird Zeit, endlich eine Lösung für Ihre unglückliche Situation zu finden.“
Sie nickte: „Das wäre ja wunderbar!“
„Ja, in der Tat.“ Wieder machte der Mann eine lange, bedeutungsschwangere Pause. „Wissen Sie, es fällt mir nicht leicht, aber als Anwalt bin ich für solche Angelegenheiten zuständig. Auch und gerade für die unangenehmen Dinge.“
Annabelle fühlte Hitze aufsteigen und konnte sich kaum noch beherrschen, still sitzen zu bleiben. Warum rückte er nicht endlich mit der Sprache heraus?
„Herr Falkenberg“, begann sie, nur um sofort unterbrochen zu werden.
„Ich fasse einmal die Fakten zusammen: Ihre Mutter ist bei Ihrer Geburt gestorben. Ihr Vater ist seit mehr als einem Jahr verschwunden. Sie haben keine nahen Verwandten, die sich um Sie kümmern. Nach der gegebenen Gesetzeslage können Sie als unverheiratete junge Frau nicht so einfach frei über das Vermögen ihres Vaters verfügen. Ich mache meine Arbeit wirklich gern, aber es wäre alles leichter, wenn Sie nicht jede Ausgabe mit mir absprechen müssten. Das macht das Leben für Sie sicher schwierig.”
Nein, es war für sie nicht leicht, vom Wohlwollen eines ihr eigentlich fremden Mannes abhängig zu sein. Er schien doch ein wenig zu verstehen, wie es ihr ging.
“Haben Sie denn vor in nächster Zeit zu heiraten?”, fragte er und klopfte seine Pfeife aus.
Annabelle schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass der Anwalt die Frage nicht so meinte, aber sie musste fast lachen: Der einzige Mann, der infrage käme, wäre Hans Zoller, und der schied auf jeden Fall aus!
Peter Falkenberg nickte und fuhr fort: “Es ist jetzt ein Jahr vergangen in dem wir nichts von Professor Rosenherz gehört haben, und wir haben allen Grund zur Annahme, dass etwas Schlimmes passiert ist. Wir alle wissen, dass die Forschungen Ihres Vaters nicht ungefährlich waren, und er sich im Lauf der Jahre auch einige Feinde mit seinen unkonventionellen Meinungen gemacht hat. So unangenehm das für Sie auch sein dürfte, ich bitte Sie, darüber nachzudenken, Ihren Vater für tot erklären zu lassen.“
„Niemals.“ Das war undenkbar.
„Aber dann würden Sie alles erben.“
Annabelle versuchte, diese Aussage rational zu erfassen. Sie würde endlich selbst entscheiden können, was mit der umfangreichen Sammlung von archäologischen und kunsthistorischen Schätzen passieren würde, mit den Immobilien und dem Vermögen, welches ihr Vater im Laufe der Jahre verdient hatte. Sie würde frei entscheiden können, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienen, wo und wie sie leben würde. Bisher war ihr das verwehrt gewesen.
Peter Falkenberg hatte sie genau beobachtet und erklärte: „Es würde selbstverständlich ein Verfahren geben. Der Antrag muss vor Gericht genau geprüft werden. Wir müssten bezeugen, dass es genug Grund zu dem Verdacht gäbe, Ihr Vater wäre während einer seiner halsbrecherischen Expeditionen zu Tode gekommen. Ich habe diese Option durchdacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich unter einer Bedingung zustimmen würde.“ Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände vor der Brust.
Annabelles Herz klopfte wild. Natürlich würde es eine Bedingung geben! Wie hatte sie hoffen können, dass man sie, eine junge alleinstehende Frau, ohne Aussicht auf baldige Verheiratung und ohne Unterstützung von Verwandten, frei tun lassen würde, was ihr in den Leicht-Sinn käme? Annabelle war so wütend, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Sie hoffte, dass der Anwalt glauben würde, es seien Tränen um ihren Vater. Aber ihr Vater war nicht tot! Das konnte einfach nicht sein. Sie nahm ein Taschentuch und tupfte sich die Augen.
Der Anwalt beugte sich vor und sagte beruhigend: „Liebes Fräulein Rosenherz, es fällt mir so schwer wie Ihnen, über das mögliche Ableben ihres Vaters nachzudenken. Professor Rosenherz wird eine Lücke hinterlassen, die nicht viele Männer schließen könnten. Sie können wahrhaft stolz auf ihn sein.“
Was redete der da? Niemand würde ihren Vater ersetzen können! Und was wusste dieser Mann schon? Peter Falkenberg hatte erst kurz vor dem Verschwinden ihres Vaters die Geschäfte übernommen. Der Anwalt, dem sie jahrelang vertraut hatte, war verstorben und aus für Annabelle unerfindlichen Gründen hatte ihr Vater sich für diesen bornierten Schaumschläger entschieden. Aber ein Wutausbruch kam jetzt nicht infrage. So versteckte sie sich noch kurz hinter ihrem Taschentuch und nickte dann.
„Welche Bedingung wäre das?“
„Ich würde mir vorbehalten, die Sammlung Ihres Vaters zu einer Stiftung zu machen.“
* * *
Frau Barbara machte sich Sorgen. Während sie in der Küche auf den Hefeteig für die Dampfnudeln einschlug, musste sie sich immer wieder die Nase am Ärmel abwischen, weil sie die Tränen nicht unterdrücken konnte. Das arme Fräulein Annabelle! Wenn sie doch nur endlich jemanden finden würde, der sich um sie kümmerte! Wie gut, dass der Herr Falkenberg sich so anstrengte, aber Frau Barbara wünschte sich einen starken Mann an Annabelles Seite.
Dass der Herr Professor sich einfach so aus dem Staub gemacht hatte! Peng, knallte der Hefeteig auf die Arbeitsfläche. Sie hatte mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln so gut gewirtschaftet, wie es eben ging, aber nun ging so langsam das Bargeld aus. Peng, die Krämerin hatte sie heute Morgen verdächtig lange angeschaut, bevor sie die Einkäufe angeschrieben hatte. Peng, was sollten sie nur tun, wenn die letzte Mark ausgegeben war? Es musste eine Lösung geben, es ging doch nicht, das das Mädchen trotz des Reichtums ihres Vaters verhungern sollte, nur weil sie noch nicht verheiratet war!
Frau Barbara verschwendete keinen Gedanken an ihr eigenes Schicksal. Seit sie vor fünfzehn Jahren in den Haushalt gekommen war, eine verwilderte Siebenjährige und einen von allem weltlichen fernen Vater vorgefunden hatte, war ihr zum Nachdenken nicht viel Zeit geblieben. Das arme Kind hatte seine Mutter nie kennengelernt, diese war bei ihrer Geburt gestorben. Die Kindermädchen genügten entweder dem Professor nicht, oder sie machten das unkonventionelle Leben im Hause Rosenherz nicht lange mit. Frau Barbara hatte den Haushalt organisiert und das Kind aufgezogen. Annabelle liebte sie, der Professor hatte ihr irgendwann blind vertraut, und sie hatte dieses Vertrauen nie enttäuscht. Sie war sich bewusst, dass Außenstehende die Stirne runzelten über die Vorgänge im Hause Rosenherz, aber sie verteidigte ihre Schützlinge wie eine Löwin.
Wie sehr hatte sie gehofft, dass der Professor wieder eine Frau finden würde, aber er hatte seine Nase nur in Büchern oder war auf Reisen. Nun war er seit einem Jahr verschwunden. Er war schon früher lange weg gewesen, aber so lange nie, und er hatte sich immer gemeldet. Aber nach zwölf Monaten ohne ein Telefonat, Telegramm, einen Brief oder eine Postkarte wusste sie auch nicht mehr, was sie denken sollte.
Frau Barbara nahm schniefend ein Messer und teilte den Hefeteig in acht Stücke. Diese legte sie auf ein bemehltes Brett und deckte es mit einem Küchentuch zu. An einem warmen Ort sollten die Teigstücke aufgehen. Annabelle liebte Dampfnudeln. Mit Apfelkompott. Sie nahm ein Messer und begann die Äpfel zu schälen.
* * *
„Eine Stiftung?“, fragte Annabelle ungläubig.
„Ja“, bestätigte der Anwalt und stand auf. Er ging an der Terrassentür auf und ab, während er dozierte: “Sie werden selbstverständlich als Destinatär eingerichtet. Und wenn Sie darauf bestehen, könnten Sie auch im Vorstand sitzen. Aber das ist eine sehr trockene und langweilige Aufgabe für eine junge Frau. Wenn Sie erst monatlich eine gewisse Summe bekommen, müssen Sie sich nicht mehr um solche Formalitäten kümmern. Sie könnten dann tun und lassen, was Sie möchten. Sie haben ja verschiedene interessante Zeitvertreibe, wie ich gehört habe. Und Baden-Baden bietet für hübsche junge Fräuleins ja auch genug Zerstreuung.
Wir würden uns um alles kümmern. Die Sammlung muss katalogisiert und irgendwann vielleicht in ein anderes Gebäude verlegt werden. Stellen Sie sich das einmal vor: Die »Professor Christian Sebastian Rosenherz Stiftung«. Eine einmalige Sammlung kunsthistorischer und naturkundlicher Objekte. So stellen wir sicher, dass die Sammlung zusammenbleibt und nichts unter Wert verkauft wird.“
Gott bewahre mich vor einer Dummheit, dachte Annabelle. Er glaubt, ich habe keine Ahnung von dem Wert der Sammlung. Er merkt gar nicht, wie er mich demütigt. Er meint es wirklich gut.
„Ich brauche Bedenkzeit.“ Herzlichen Glückwunsch gratulierte sie sich selbst. Ruhig geblieben, Souveränität gezeigt.
„Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, das war etwas viel für mich.“
„Selbstverständlich“, sagte Herr Falkenberg erfreut. Er nahm überhaupt nicht wahr, wie es ihr wirklich ging. „Das verstehe ich voll und ganz. Ruhen Sie sich aus, wir besprechen dann in den nächsten Tagen die Formalitäten.“
* * *
Die Krankenschwester rannte den Gang entlang.
„Wo ist Dr. Wendt?“, fragte sie die anderen Schwestern und Nonnen. Einige zeigten den Gang entlang, andere schüttelten den Kopf. Schließlich fand sie den Geburtshelfer.
„Es ist soweit, aber Sie müssen dringend kommen!“
Der Geburtshelfer folgte ihr eilig. Schon von Weitem hörte er die Schreie der Gebärenden.
Im Zimmer angekommen überraschte ihn der Anblick des Blutes nach all den Jahren immer noch. Es sah immer nach so viel aus: Blut auf weißer Wäsche, auf grauem Boden ...
„Der Kopf ist fast raus“, sagte die Hebamme mit tonloser Stimme. Sie schaute dem Arzt nicht in die Augen. Sie sah das Kreuz an der Wand an und wandte sich dann ab um sich die Hände zu waschen.
Der Arzt fühlte unter dem Laken nach dem Muttermund. Er spürte den Kopf des Kindes, aber das, was seine Fingerspitzen ihm erzählten, konnte so nicht sein.
Als er nach zwanzig furchtbaren Minuten das Kind betrachtete, atmete er tief ein und sagte zu der Schwester: „Das bleibt unter uns.“
Die Schwester nickte mit vor den Mund geschlagenen Händen.
„Sie wissen, was Sie zu tun haben.“ Er wickelte das Kind so ein, dass man es nicht erkennen konnte. Der Säugling wimmerte.
Er gab der Schwester das Kind: „Schicken Sie mir eine andere Schwester zur Assistenz. Vielleicht kann ich sie retten.“
Er wandte sich der Frau zu und versuchte, seine Arbeit zu tun, ohne darüber nachzudenken.
* * *
Annabelle duckte sich unter einem tief hängenden Ast hindurch und trieb ihr Pferd in den Galopp. Einen kurzen Augenblick lang fühlte sie sich frei, nur sie, ihr Pferd und die Geschwindigkeit. Sie wusste, dass ihr Rappe Oberon zu weit schnellerem Galopp fähig war, aber hier in den Auen der Oos gab es immer wieder Spaziergänger, die einen in der Abenddämmerung erschrecken konnten.
Sie hatte heute außerdem eine Begleitung, die nicht so flott reiten wollte. Ihre Freundin Johanna Winkler trottete am liebsten im gemütlichen Schritt über die Allee, denn ihr ging es nicht um das Reiten, sondern um das Gesehen-Werden. Annabelle fand, mit 22 sollte man auch mal alleine ausreiten dürfen, aber das war unschicklich und meistens beugte sie sich.
Nebel stieg über der Oos auf – er leuchtete schwach grünlich vom Ætheranteil. Vielleicht sollte sie einfach hineinreiten und schauen, was passierte. Es gab Geschichten, dass man sich im Æthernebel wochenlang verirren konnte und wenn man herausfand, glaubte, es seien nur ein paar Stunden vergangen.
“Annabelle, warte doch“, hörte sie ihre Freundin rufen. Sie zügelte ihr Pferd und widerwillig tänzelte Oberon auf der Stelle, bis Johanna sie eingeholt hatte.
“Du weißt doch, dass ich Angst habe, wenn du so weit vorausreitest.“
“Wovor?“
“Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, aber selbst hier kann es Verdorbene geben, die uns angreifen könnten.“ Johanna deutete auf den Nebel.
Æther war gefährlich. Wer sich ihm zu lange aussetzte, wurde anders. Man nannte sie dann “Verdorbene“. Annabelle kannte keinen wirklich Verdorbenen persönlich, aber sie hatte viele Geschichten gehört. Frau Barbara sagte, nur die Schwachen und Ungläubigen würden durch den Nebel verändert, aber Papa hatte „Mumpitz!“ geschnaubt. Leider hatte er aber auch keine andere Erklärung gehabt.
Annabelle schien es manchmal, als wären die Spukgestalten aus den alten Geschichten und Märchen zum Leben erwacht. Man las in den Zeitungen von Mannwölfen, leichenfressenden Ghulen und fliegenden Scheußlichkeiten. Diese lichtscheuen Geschöpfe wurden erbarmungslos gejagt. Andere, die nicht so dramatisch verändert waren, wurden dennoch ausgestoßen und oft weg gesperrt.
In Baden-Baden war die Bedrohung noch nicht so allgegenwärtig wie in den Gegenden an größeren Flüssen. Æther und Wasser gehörten irgendwie zusammen. Wissenschaftler glaubten, dass Æther ein weiterer Aggregatzustand von Wasser sein könnte, wie Dampf, Eis oder Schnee.
Wie auch immer: Æther war äußerst nützlich. Er trieb Maschinen, Flugschiffe und Zeppeline, Eisenbahnen und Autos an. Mit Elektrizität gezähmt und raffiniert wurde er auch als Waffe eingesetzt. Er hatte die Welt verändert. Wie sehr, das konnte man noch gar nicht ermessen. Seit das Phänomen im Jahr 1900, also vor zehn Jahren, aufgetaucht war, gab es jeden Tag neue Nachrichten über seine Auswirkungen auf Menschen, Technik und Umwelt. Aber hier im Kurpark war es sehr unwahrscheinlich, einem Verdorbenen zu begegnen.
Annabelle schüttelte den Kopf und sagte: “Heute herrscht Tiefdruck, da gibt es nicht viel Æther, und die Oos ist nicht der Rhein. Du bist ein Angsthase.“
“Mir wäre trotzdem wohler, wenn wir woanders reiten könnten. Hier sind wir ja fast allein.“ Johanna sah sich ängstlich um. Die nächste Reitergruppe war doch tatsächlich mindestens 50 Meter entfernt!
“Gut so. Ich muss dir etwas erzählen.“ Annabelle berichtete ihrer Freundin vom Besuch des Anwalts.
“Oh, das wäre doch wunderbar, dann hättest du keine Sorgen mehr!“
“Aber ich wäre immer abhängig von den Stiftungsvorständen. Bis ich heirate.“
“Komm einfach öfter mit mir, dann finden wir dir schon einen guten Mann”, sagte Johanna fröhlich. “Ich kenne eine Menge gut aussehender Kandidaten, und wenn die erst von deiner Erbschaft hören, dann kannst du dich kaum noch retten vor Verehrern, das verspreche ich dir!”
Annabelle schüttelte vehement den Kopf, sodass ihr Reitzylinder verrutschte: “Ich will aber nicht!“
“Sei doch nicht immer so schwierig! Wir haben viel Spaß! Wir gehen ins Café, oder bummeln auf der Allee, fahren ins Grüne und machen ein Picknick ...“
Annabelle hatte den Hut wieder zurechtgerückt: “Ich möchte lieber reisen, und forschen, und frei sein. Eure Vergnügungen sind immer so steif.“
“Also ich muss nicht weit reisen: Hier in Baden-Baden trifft sich doch die ganze Welt.“ Johanna winkte einer Gruppe junger Damen, die ihnen entgegenkamen, eine kichernde Horde auf lahmen Gäulen. Sie blieben kurz stehen und die Frauen tauschten in rasender Geschwindigkeit Informationen über die neuesten prominenten Besucher in der Stadt aus. Annabelle rechnete fast damit, dass Johanna sie bitten würde, sich der Gruppe anzuschließen, aber ihre Freundin ritt mit ihr weiter.
“Ach Johanna, Baden-Baden ist ja ganz nett, aber du hast das Meer noch nicht gesehen, die Sterne durch Palmwedel, oder die Pyramiden, Rom …“ Annabelle bekam Fernweh. Sie hatte das alles schon gesehen, aber sie war lange nicht mehr gereist. Ihr Vater hatte sie auf seine letzten Reisen nicht mehr mitgenommen.
Johanna schauderte: “Am Meer war ich aber schon einmal. An der Ostsee – oder war es die Nordsee? Es war so weit und das Salzwasser ist furchtbar zur Haut.“
Annabelle verdrehte die Augen. Es gab kaum zwei unterschiedlichere Menschen als Johanna und sie. Aber sie hatten einige Jahre gemeinsam eine Privatschule besucht, und unter all den Kindern war Johanna die Einzige, die immer freundlich zu ihr gewesen war. Sie hatte sie damals oft in Schutz genommen und Annabelle würde ihr das nie vergessen. Sie war so fremd gewesen unter all den kichernden Mädchen, aber Johanna hatte nie ein böses Wort auf sie kommen lassen, obwohl nicht einmal sie wusste, warum Annabelle ihre langen Handschuhe in der Öffentlichkeit nie auszog. Zumindest den der linken Hand.
Die Handschuhe verbargen, dass Annabelle selbst eine der Auswirkungen des Æthers zu spüren bekommen hatte. Sie war damals in den Sommermonaten mit ihrem Vater in ihrem Haus am Schurmsee oben im Schwarzwald gewesen. In dem einsamen Tal hatten sie ein wundervolles Refugium vor der neuen Welt. Ihr Vater konnte in Ruhe seine Aufzeichnungen aufarbeiten und Annabelle durchstreifte die Umgebung.
Nichts veränderte sich dort, nur die normalen Zyklen der Natur beeinflussten die Landschaft. Mit 16 Jahren veränderte sich Annabelles Welt aber rasant, innen und außen. Das Leben war schwierig geworden, und sie suchte daher immer wieder einen bestimmten Platz auf, an dem sie sich besonders wohl fühlte.
Bei einem ihrer Streifzüge durch den Wald war sie hier vorbeigekommen und hatte ihn entdeckt. Nichts zeichnete den Ort als etwas Besonderes aus, und doch war Annabelle stehen geblieben und hatte sich umgesehen. Sie hatte die merkwürdigsten Empfindungen erlebt: Ihre Ohren hörten ein leises Summen, ihre Nase roch einen unbekannten Duft, und ihre Augen schienen in allen Pflanzen und Felsformationen Gesichter zu sehen.
Sie befand sich an einem Hang, der mäßig steil war. Links von ihr war eine Felsformation. Annabelle musterte die moosbewachsenen Steine. Eine Quelle hatte hier ihren Ursprung und das Wasser bahnte sich murmelnd seinen Weg über den Waldboden. Vielleicht war es die Sonne oder einfach jugendliche Unbefangenheit, jedenfalls sah Annabelle den grünen Æther nicht, der dem Wasser entstieg. Aus keinem besonderen Grund hob sie einen faustgroßen runden Stein aus dem Bachbett auf, der ihr lose erschien. Sie musterte den Stein und entdeckte, dass er auf der Seite, die dem Fels zugewandt gewesen war, einen Riss hatte. Wie ein Ei, hatte sie gedacht und den Stein auf einen anderen geklopft. Er sprang auf und enthüllte sein Innenleben. Es war eine Geode. Sie hielt den Stein mit der linken Hand in die Sonnenstrahlen und betrachtete begeistert, wie die blauen Kristallspitzen das Licht brachen.
Später am Abend lag sie in ihrem Bett und bewunderte die Geode im Kerzenschein. Sie wollte sie ihrem Vater zeigen, aber der war beschäftigt. Sie wusste, dass sie warten musste. Manchmal war ihr Vater einfach nicht ansprechbar. Ihre linke Hand juckte. Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie damit an Brennnesseln gekommen war, oder sonst irgendetwas Giftiges angefasst hatte, aber es wollte ihr nichts einfallen.
Sie hatte ihrem Vater die Geode in diesem Urlaub nicht gezeigt. Etwas anderes war geschehen, das den Urlaub unschön beendete. Annabelles Hand hatte noch ein paar Tage lang unangenehm gejuckt, es war manchmal wie tausend Ameisen gewesen, manchmal wie das Auftauen nach langer Kälte. Aber das war nicht so schlimm. Viel schlimmer war es, dass die Hand langsam grün wurde, und keine Seife die Farbe abwaschen konnte. Professor Rosenherz war nicht mit seiner Tochter in ein Krankenhaus gefahren, wie jeder andere besorgte Vater es getan hätte. Er hatte sich in sein Studierzimmer zurückgezogen, und ab und zu war er herausgestürmt, zu jeder Tages- und Nachtzeit, um die Hand noch einmal zu untersuchen, oder eine Salbe aufzutragen, oder etwas Unverständliches zu murmeln.
Manchmal hatte er seine Tochter dann ganz fest in den Arm genommen, und gedrückt, bevor er wieder verschwand. Annabelle wollte dann weinen, nicht wegen ihrer Hand, sondern wegen ihres Vaters, weil sie ihm Sorgen machte.
Sie waren nach Baden-Baden zurückgefahren, weil Professor Rosenherz dort eine größere Bibliothek hatte. Eine Zeit lang versuchte er noch verschiedene Dinge, aber dann hatte er wichtigen Besuch bekommen, war abgereist und wiedergekommen, hatte zu tun gehabt, und schließlich hatte Annabelle sich an das Tragen von Handschuhen gewöhnt.
Manchmal hatte sie nachts unruhige Träume, in denen sie durch einen Wald lief und lief. Sie wachte dann auf und wollte weg aus der Stadt, die kühle Waldluft atmen, um sich herum nur Grün sehen ...
Ihr Vater hatte ihr streng verboten, es jemandem zu erzählen. Im Laufe der Zeit war die Hand empfindlich für die unterschiedlichsten Eindrücke geworden, und Annabelle hatte sich oft gewünscht, den Handschuh ausziehen zu dürfen, um das zu erforschen, aber sie war vorsichtig. Ihr Vater verbot ihr nicht viel, und wenn er es tat, hatte er seine Gründe, also tat sie es nur sehr selten.
Sie sah hoch in den Schwarzwald und wünschte sich, ihrem Pferd den Kopf freigeben zu können. Oberon kaute ungeduldig an seinem Gebiss und Schaumflocken fielen von seinen Lippen zu Boden.
“Ich muss ihn einmal rennen lassen, Johanna.“
Johanna verkrampfte ihre Hände an den Zügeln: “Amalie ist nicht so schnell, das weißt du.“
“Ich drehe bald um und komme zurück. Es wird schon nichts passieren. Wenn du möchtest, kannst du auch schon zurück in den Kurpark reiten. Ich finde dich dann. Ich muss, Johanna.“ Oberon machte schon kleine Sprünge und Annabelle hatte Mühe ihn zu halten.
“Ich will aber nicht allein bleiben!“, jammerte Johanna.
Annabelle lenkte einen engen Kreis um ihre Freundin: “Dann komm mit.“
Aber Johanna drehte lieber um und folgte ein paar alten Damen auf ihren lahmen Stuten, die auf der Allee in Richtung Kurhaus trotteten.
Annabelle atmete tief durch und gab ihrem Pferd endlich den Kopf frei: “Lauf Oberon!“, flüsterte sie ihm zu, und hörte nur noch den Wind in ihren Ohren rauschen.
* * *
“Was wollte der Herr Falkenberg denn?“, erkundigte sich Frau Barbara später bei Annabelle. Die Dampfnudeln waren fertig und sie trafen sich in der Küche zum Abendessen.
“Ich soll Papa für tot erklären lassen”, sagte Annabelle und wunderte sich, dass sie es so leicht aussprechen konnte. Der schnelle Ritt hatte ihre Gedanken geklärt.
Frau Barbara aber ließ erschrocken den Löffel sinken.
Annabelle erklärte schnell: “Sie wollen, dass ich zustimme, dann kann Papas Sammlung in eine Stiftung umgewandelt werden. Ich soll Destinatär werden.“
“Was sollst du werden?“ Die Haushälterin hatte sich gefasst und öffnete den Deckel des Topfes mit einer Serviette.
“Nutznießende. Wir würden dann regelmäßig Geld von der Stiftung bekommen.“
“Das wäre doch schön.“ Frau Barbara nahm Annabelles Teller. “Die Aussicht auf ein regelmäßiges Einkommen wäre erleichternd.“
“Aber Papa ist nicht tot. Das glaube ich nicht. Er würde mich nicht einfach so allein lassen.“
Frau Barbara entgegnete: “Ach Kind, niemand wusste ganz genau, was dein Vater machte und wo er war. Er hat schon immer ein Geheimnis darum gemacht.“
Annabelle hatte ihren Vater ihr halbes Leben lang begleitet. Sie konnte sich erinnern, dass sie als kleines Mädchen mit ihm in Ägypten bei Ausgrabungen war und im Wüstensand gespielt hatte. Sie waren mit immer kleiner werdenden Schiffen zu den Kleinen Antillen gefahren, weil ihr Vater dort Einheimische über ihre Religion befragt hatte, während Annabelle lernte, aus Maniok kleine Kuchen zu backen. Sie hatten die Pyramiden der Mayas bestiegen und pilgerten in Europa den Jakobsweg. Christian Sebastian Rosenherz war nicht nur Archäologe, sondern auch Anthropologe, Religionswissenschaftler, Kunsthistoriker und ein Liebhaber von Literatur gewesen. Viele Reisen hatte er aber allein gemacht, und viele Menschen, mit denen er zu tun hatte, kannte Annabelle nicht.
“Warum hat er mich nicht mitgenommen?“, grübelte sie traurig.
“Vielleicht wusste er schon, dass diese Reise gefährlich würde.“ Frau Barbara war natürlich ganz froh darum gewesen, nicht mehr reisen zu müssen, als der Professor sich entschloss, Annabelle auf eine Privatschule zu schicken. Annabelle war immer behütet gewesen, und das nicht nur von Frau Barbara. Sie hatte Lehrer gehabt und andere Menschen, die sich um die Häuser und Gärten kümmerten, um die Pferde im Stall und später die Automobile.
“Er liebte dich, das weißt du, auch wenn er nicht da war. Manchmal war er ja sogar nicht da, wenn er anwesend war.“ Frau Barbara hielt Annabelle das Apfelmus entgegen.
Annabelle schüttelte den Kopf: “Was nutzt mir das jetzt? Ich fühle mich so allein. Ich will mir nicht vorstellen, dass er nicht mehr zurückkommt.“
“Das musst du aber. Ich weiß, er hat dich immer verwöhnt und du konntest in seinen Augen nichts falsch machen, und dieses Vertrauen solltest du jetzt nicht enttäuschen. Ich werde immer für dich da sein, und vielleicht findest du auch bald einen starken Mann, der dich beschützt und dann solche Entscheidungen für dich trifft.“
Annabelle rollte mit den Augen: “Den ich dann heirate und mit ihm glücklich bis ans Ende meiner Tage lebe?“
“Genau.“ Die Haushälterin goss Vanillesoße über die duftenden Hefeklöße.
“So ein Unsinn! Das ist doch hier kein Märchen! Wen sollte ich denn heiraten? Vielleicht sollte ich eine Anzeige im Badischen Tagblatt aufgeben: »Für baldige Verheiratung zuverlässigen Kandidaten gesucht. Erbin eines großen Vermögens, das in altem aber wertvollem Plunder angelegt ist, sucht starken Beschützer, der ihr sagt, was sie zu tun hat. Interessenten melden sich bitte bei Frau Barbara Weinberg.«” Das war angriffslustiger herausgekommen, als Annabelle es beabsichtigt hatte. Sie löffelte sich geräuschvoll Apfelmus neben die Dampfnudel.
Jetzt richtete sich Frau Barbara auf und sah sie streng an: “Ich meine es doch nur gut! Annabelle, du gehst einfach zu wenig aus, wie sollst du denn auch einen guten Mann kennenlernen? Triff dich doch wieder öfter mit Fräulein Johanna, die kennt sich in der Gesellschaft aus.“
“Wieso glaubst du denn, dass ich das will? Ich will kein Anhängsel eines Mannes sein, das sich nur dafür interessiert, welches Kleid sie zu welchem Anlass anziehen kann, und welchen Hut sie dazu tragen sollte. Ich will für mich selbst entscheiden, ich will reisen, ich will lernen, und ich will …“ Jetzt hatte sie Tränen in den Augen und ärgerte sich darüber. Sie stach mit ihrer Gabel in den unschuldigen Kloß auf ihrem Teller und rührte Vanillesoße und Apfelmus zusammen.
“Alles wird gut“, beruhigte sie Frau Barbara und reichte ihr ein Taschentuch. “Es ist eine schwere Entscheidung. Aber wir haben sie zu lange hinausgezögert. Ich bin mir sicher, du wirst deinen Weg auch ohne deinen Vater gehen.“
“Habe ich denn eine Wahl?“, fragte Annabelle schniefend.
“Man hat immer eine Wahl. Und jetzt iss, sonst wird es nicht nur kalt, sondern eiskalt.“