Kapitel 2

 

... und dann hat er mich geküsst!“

Annabelle horchte auf. Bis jetzt hatte sie das Geplapper ihrer Freundin Johanna an sich vorbei rauschen lassen, und lieber das bunte Laub der Bäume des herbstlichen Kurparks bewundert, aber Küsse waren eindeutig etwas, wo man aufmerksam werden musste.

Wer hat dich geküsst?“, fragte sie nun neugierig.

Johanna lachte und erklärte: „Ach, Annabelle! Ich habe dich reingelegt. Niemand hat mich geküsst. Ich wollte nur, dass du mir endlich zuhörst. Obwohl küssen schön gewesen wäre, ich hätte nichts dagegen, du weißt schon, der Emil Hofstädter, den find ich wirklich fesch, von dem würde ich mich gerne küssen lassen, und ich glaube, er möchte das auch. Vielleicht auf dem nächsten Kurkonzert, was meinst du? Da könnten wir durch den Park spazieren, und wenn dann der Mond scheint, und ich mein rosa Kleid mit dem süßen Hut anhabe, du weißt doch, das mit den Röschen am Ausschnitt, ich habe Mama gesagt, ich brauche noch mehr von diesen Röschen ...“

Es gelang Annabelle nicht, den Sinn dieses Redeflusses zu erfassen. Sie mochte Johanna wirklich, obwohl sie nicht nur äußerlich völlig verschieden waren. Johanna war klein, zierlich und hatte goldblonde Locken. Sie war eine echte Prinzessin – im Geiste. Ihre Eltern waren zwar wohlhabend, aber nicht adlig. So oberflächlich das Mädchen auch manchmal war, sie war die Einzige, die es schaffte, dass Annabelle mit ihr ausging – zum Kaffeeklatsch, spazieren im Kurpark, Kutschfahrten zum Picknick aufs Land und was man sonst so unternahm als junges Mädchen von Stand. Und sie hatte etwas bei Johanna wiedergutzumachen, nach gestern Abend, daher hatte sie dem Treffen heute im Café des Hotels Steigenberger zugesagt.

Aber dieses ständige Gerede von Kleidern und Röschen ... Das war nichts für Annabelle. Rosen waren so langweilige Gewächse. Pflanzen dagegen, die giftig waren oder fleischfressend – das war etwas anderes.

Aber Annabelle, hör mal zu“, Johanna tippte ihr mit einem Fächer auf den Arm. „Du musst mitkommen! Das schuldest du mir, nachdem du mich gestern Abend im Park einfach im Stich gelassen hast.“

Annabelle nickte zögernd: „Wohin? Warum?“

Na, zu der Einladung der Freifrau von Strebnitz. Du musst mal wieder unter Leute. Es ist ein Kaffeeklatsch, und ganz viele Freundinnen kommen auch. Du musst dich mal wieder blicken lassen, sie fragen schon nicht mehr nach dir. Die von Strebnitz, die ist was ganz Feines, alter Adel. Sie schreibt, sie hätte es geschafft, für ihre Gäste dieses neue Konfekt zu erwerben, von dem jetzt alle sprechen. »Blutstropfen« oder so. Obwohl, das klingt ja widerlich, nein, so kann das nicht heißen, warte mal ... »Herzeleid«, nein zu traurig. Ach, mir fällt es schon noch ein.“ Johanna nickte über den Fächer jemandem zu. Annabelle drehte sich erst gar nicht um. Sie konnte sich die vielen Gesichter nicht merken.

Was ist denn daran so Besonderes?“ Alter Adel … das klang schon furchtbar vertrocknet.

Jetzt wurde Johanna ganz wichtig: „Alle reden darüber! Es ist dauernd ausverkauft. Aber alle sagen, es ist ein Genuss! Marie und Gertrud haben es schon probiert und geben furchtbar damit an.“

Ich verstehe nicht. Es geht um Gebäck?“ Annabelle kratzte die Reste ihres Kuchens auf dem Teller zusammen und Johanna runzelte leicht die Stirn: „Nicht um irgendein Gebäck! Eine Praline. Jetzt weiß ich es: »Herzblut« heißt sie. Sie soll sagenhaft gut schmecken. Und sie ist mächtig teuer! Die Leute stehen Schlange auf der Straße, aber nur wenige bekommen welche.“

Das klang doch spannend, dachte Annabelle: „Warum gibt es nur so wenig? Warum machen sie nicht mehr davon?“

Woher soll ich das wissen? Was du immer wissen willst.” Johanna lehnte sich wieder zurück und fächerte sich Luft zu. “Wichtig ist, dass die von Strebnitz behauptet, sie hätte welche, das ich eingeladen bin und ich dich mitbringen darf. Du kommst doch? Zieh dir dein hübsches grünes Kostüm an, das mit den Perlen am Saum. Oder kauf dir mal ein Neues. Ich mach dir auch die Haare, ich habe da in einer Zeitschrift wunderbare Frisuren gesehen, und du hast so schönes dickes Haar. Auf jeden Fall brauchst du einen neuen Hut. Vielleicht kommt der Emil ja auch und bringt noch seinen Bruder mit, wie hieß der noch mal ... Johann oder Johannes oder Josef?“

Annabelle interessierte sich kein bisschen für den Bruder von Johannas Verehrer, aber für diese geheimnisvolle Praline. Sie stimmte zu, mitzukommen.

 

* * *

 

Dr. Wendt, hier ist jemand wegen des Kindes.“

Der Arzt drehte sich um und sah einen großen Mann in Uniform im Flur stehen.

Er führte den Mann in sein Büro.

Einen Moment schwiegen beide, dann holte der Arzt eine Flasche aus seinem Schrank und zwei Gläser. Er bot dem Uniformierten ein Glas an, der nickte.

Kirschwasser“, informierte Dr. Wendt. „Selbst destilliert.“

Der Mann nickte wieder.

Sie tranken.

Was passiert mit ihm?“

Das darf ich Ihnen nicht sagen.“

Ich verstehe.“ Er verstand gar nichts.

Stille.

Werden sie ihn gut behandeln?“ Warum fragte er eigentlich? Er musste sich abgewöhnen, sich für solche Dinge zu interessieren.

Selbstverständlich.“

Seine Mutter hat es nicht geschafft.“ Dr. Wendt wünschte sich, den Fall möglichst schnell vergessen zu können.

Vielleicht besser für sie.“ Der Uniformierte saß ganz ruhig und gefasst da.

Der Mann, der sie gebracht hat, ist einfach verschwunden. Die Nonnen haben die Polizei gerufen.“

Das wissen wir. Wir kennen seine Identität inzwischen.“

Das Militär, dachte Dr. Wendt. War das die Lösung? Sollte er seine Fragen vergessen? Konnte man etwas ändern, oder musste man einfach damit leben? Wo war Gott in diesen Momenten? Was war aus der Welt geworden? Er dachte an den Kölner Dom, dessen Wasserspeier zu unnatürlichem Leben erwacht waren. Die Stadt am Rhein war voller Verdorbener.

Und wenn sie Fragen haben?“ Dr. Wendt hasste die Gespräche mit aufgeregten Verwandten.

Es wird niemand kommen. Falls doch, beantworten Sie die Fragen.“

Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen? Dass ihre Tochter und Ehefrau ein Monster ausgetragen hat und bei dessen Geburt von den unnatürlichen Auswüchsen aus dem Schädel des Kindes innerlich zerrissen wurde? Dass wir das Kind weggegeben haben, damit das Militär sich darum kümmert, weil wir Angst haben, dass es nachts die anderen Kinder auf der Säuglingsstation angreifen könnte?“

Der Arzt schenkte sich noch ein Glas ein und trank es in einem Zug.

Offiziell ist das Kind gestorben”, sagte der Uniformierte fest.

Der Arzt blickte dem Mann lange in die Augen. Er sah in ihnen Mitleid, aber auch Unnachgiebigkeit.

Er nickte.

Obduzieren Sie die Frau. Finden Sie heraus, wie das geschehen konnte”, forderte der Uniformierte überraschend.

Ich bin Geburtshelfer, kein Pathologe.“

Finden Sie einen Weg, wir bezahlen das und teilen Sie uns die Ergebnisse mit. Schicken Sie es ausschließlich zu meinen Händen. Es soll nicht zu Ihrem Schaden sein.“

 

* * *

 

Annabelle betrat das pathologische Institut an dem Tag nach dem Besuch des Anwalts mit zögerlichen Schritten. Sie durfte in dem Labor arbeiten, weil ihr Vater ein Arrangement mit dem Institutsleiter, Professor Schmidt getroffen hatte. Wie würde der reagieren, wenn er erfuhr, dass man sie gebeten hatte, ihren Vater für tot zu erklären? Sie musste ihm die Entwicklung aber erklären und hoffte, dass sie trotzdem weiter dort forschen durfte.

Ihr Laborpartner Hans Zoller war schon da und stand vorn über gebeugt an seinem Mikroskop. Als sie eintrat, schaute er auf und griff zu seiner Brille.

Guten Morgen, Fräulein Rosenherz“, sagte er und kam auf sie zu.

Guten Morgen, Herr Zoller.“ Er nahm ihre Hand und versuchte sich an einem Handkuss.

Lassen Sie das“, scheuchte sie ihn belustigt weg.

So kommen wir nicht weiter“, versuchte er zu necken und nahm ihr den Mantel ab.

Gut, dass wir nirgendwo hin müssen“, entgegnete Annabelle und zog ihren Laborkittel an.

Er grinste verlegen und ging zurück an seinen Arbeitsplatz, auf dem stapelweise Papiere und Präparate unordentlich herumlagen. Er schien immer noch viel Arbeit zu haben.

Sie wollte schon umdrehen, um den Professor zu suchen, da kam ihr eine Idee: „Herr Zoller, ich brauche Ihre Hilfe.“

Sein Gesicht hellte sich auf: „Nennen Sie mich endlich Hans, Fräulein Annabelle“, forderte er. “Was kann ich für Sie tun? Sie wissen, ich würde alles für Sie tun.“

Ich weiß, Hans. Darüber reden wir aber lieber ein anderes Mal.“ Sie hatte keine Ahnung, warum er ausgerechnet heute so forsch war. Sie hatte ihm nie Anlass gegeben, sie für etwas anderes zu halten, als eine wissensdurstige Biologin.

Hören Sie zu: Ich muss mit Professor Schmidt sprechen“, begann sie zu erklären.

Warum?“

Sie werden meinen Vater für tot erklären.“

Hans nahm die Brille ab: „Sie wollen aufhören?”

Was?“ Seltsame Schlussfolgerung. “Wie kommen Sie darauf?“

Na, wenn Ihr Vater tot ist, dann ...“

Ja?“ Sie ahnte, was er jetzt sagen würde.

Na, dann, ich meine, dann werden Sie doch, dann brauchen Sie doch, Sie können doch nicht ...“ Er gestikulierte wild mit den Händen.

Annabelle schüttelte grinsend den Kopf: „Nein, Hans. Ich muss nicht heiraten. Ich kann auch ohne Mann in meinem Leben.“

Aber warum?“ Jetzt setzte er die Brille wieder auf und musterte sie verwirrt.

Hans, ich will das jetzt nicht mit Ihnen besprechen. Ich wollte von Ihnen nur wissen, ob es Ihnen recht ist, wenn ich weiterhin hier forsche.“ Sie wollte ihn auf ihrer Seite haben.

Warum soll es mir nicht recht sein?“ Hans war noch verwirrt. Dann leuchtete sein Gesicht auf. „Dann habe ich ja noch Zeit Sie zu überzeugen.“

Sie hatte keine Lust noch weiter über Männer und heiraten zu sprechen.

Der freut mich!”, sagte sie. “Ich habe eben gedacht, wenn Sie jetzt so viel Arbeit haben, dann brauchen Sie vielleicht meinen Platz, oder womöglich wird jemand Neues eingestellt, der Ihnen helfen soll, der meinen Platz braucht … “ Sie machte eine bedeutungsschwangere Pause. “Ich geh dann jetzt zu Professor Schmidt.“

Warten Sie bitte!“, hielt Hans sie auf. Er rieb sich die Hände.

Warum?“ Sie hoffte, dass er die Andeutung verstanden hatte.

Wenn Sie weiter hier bleiben wollen, dann könnten Sie sich wirklich nützlich machen. Schauen Sie sich bitte mal mein Präparat an und sagen mir Ihre Meinung.“

Gerne!“ Sie freute sich, dass der Groschen gefallen war. Es war ihr ziemlich egal, ob Hans nur wollte, dass sie nicht ging, weil er sie als Kollegin schätzte, oder ob er andere Absichten hatte. Hauptsache, er würde sich auch stark dafür machen, dass sie bleiben konnte.

Um was handelt es sich denn?“, fragte sie und beugte sich über sein Mikroskop.

Das ist Epithel der Speiseröhre”, erklärte er.

Sie stellte das Bild scharf und betrachtete die Schleimhautzellen durch die Okulare seines Mikroskops.

Ich sehe eindeutige Veränderungen, die auf eine Exposition von toxischen Stoffen schließen lassen. Das Plattenepithel ist schon durch zylindrische Zellen ersetzt worden. Es sieht aus, als wäre es durch eine Säure verursacht, könnte es Magensäure gewesen sein? Hatte die Person Sodbrennen?“ Sie sah hoch und begegnete Hans' verblüfftem Blick. Er schüttelte den Kopf.

Sie haben die Marsh'sche Probe gemacht?“, fragte sie dann.

Ja, Arsen scheidet aus.“

Was zeigt die Dragendorf Reagenz? Können Sie auch die anderen Alkaloide ausschließen? Es könnten eine Unmenge von Giften gewesen sein …” Annabelle ging im Kopf die vielen Möglichkeiten durch: Strychnin, Solanin, Ergotamin, Colchicin und viele mehr.

Die Dragendorf Reagenz ist mir ausgegangen. Ich muss sie erst bestellen.“ Annabelle sah ihn an und wunderte sich, dass Hans die einfachsten Nachweismittel nicht vorrätig hatte.

Was waren die Symptome?“

Das weiß ich nicht. Sie starb unter der Geburt, aber jemand scheint zu vermuten, dass es noch eine andere Ursache gab. Ich soll nun eine Vergiftung oder Infektion ausschließen.“

Aber das können wir nicht! Die Schleimhautprobe ist sehr auffällig. Es sieht nach Säure oder Gift aus.”

Ja, aber ich habe keine Ahnung, was das verursacht haben könnte. Fräulein Annabelle, ich könnte Professor Schmidt vorschlagen, dass Sie mir helfen. Dann ist das hier nicht nur Ihr Freizeitvergnügen, sondern richtige Arbeit.“

Sie war atemlos: Hans hatte eben zugegeben, dass sie etwas von Giften verstand, das war ein tolles Kompliment! „Hans, das ist eine wirklich gute Idee!“

Hans strahlte. „Ich geh gleich zu Professor Schmidt, dann brauchen Sie nicht gehen”, bot er an.

Ja, tun Sie das. Und bestellen Sie die Dragendorf Reagenz.” Sie sah noch einmal ins Mikroskop und dachte kurz nach. “Wo ist die Frau denn gestorben?“

Hans blätterte in der Akte: „Im Josefinenheim.“

Annabelle hielt inne und sah überrascht auf. „Sie war arm? Warum dann diese aufwendige Untersuchung?“

Nein, die war sicher nicht arm. Sie hatte weiche Haut und manikürte Fingernägel. Vielleicht sind die Eltern Ætherbarone.“ Klar, einer Tochter aus einem neureichen Haus würde man einen solchen Fehltritt zutrauen, den man mit einer geheimen Geburt verbergen musste. Ehrbare Frauen gebaren zu Hause, in ihrem Bett, in sauberer Bettwäsche, wo sie sich durch Hebammen gut versorgt wussten, und nicht in irgendeinem schmutzigen Krankenhaus.

Findest du das nicht seltsam?“, fragte sie.

Ist mir egal.“ Hans zuckte mit den Schultern. „Hauptsache jemand bezahlt.“ Er verließ das Labor.

Gestorben unter der Geburt“, las Annabelle im Bericht. Kein Name, nur eine Nummer, das war merkwürdig. Sie verstand immer noch nicht, warum man eine Untersuchung angefordert hatte. Es war nichts Ungewöhnliches, dass Frauen bei der Geburt starben. Trotz der durch Semmelweis eingeführten Hygienemaßnahmen war es immer noch ein riskantes Ereignis. Warum also wollte man es hier genauer wissen? Vielleicht war es doch nur Sodbrennen gewesen? Viele Frauen hatten das im späten Stadium der Schwangerschaft.

Annabelle beschloss, sich die Frau anzuschauen und ging in den Keller, wo die Toten aufbewahrt wurden.

 

Zum Glück war der Herr des Kellers beschäftigt; der Chefsezierer mochte keine Frauen an seinem Arbeitsplatz. Sie huschte an seinem Büro vorbei zu den Kühlfächern. Im dritten Fach fand sie, wonach sie suchte.

Hans hatte recht, die Tote war sicher nicht arm gewesen. Die Haut war samtweich, die Haare gepflegt und seidig, die Hände wiesen keinerlei Hornhaut auf und waren sauber manikürt. Trotzdem war sie ein schockierender Anblick, wie sie da so lag, kalt und bleich. Annabelle hielt sich die Hand vor den Mund und atmete möglichst flach. Sie hasste den Geruch der Konservierungsmittel.

Das Gesicht der Toten war zwar kalkweiß aber unversehrt. Die Haare lagen aufgefächert auf dem Metall und die Augen waren geschlossen. Äußerlich gab es keine Anzeichen einer Vergiftung oder Infektion. Sie deckte die Tote weiter auf.

Der Bauch war ein Schlachtfeld. Das durch die Schwangerschaft stark gedehnte Gewebe lag nun schlabberig und faltig auf dem leeren Rückgrat. Alle inneren Organe waren entnommen und in gesonderte Gefäße getan worden. Der Schnitt des Pathologen war gerade und sauber, da die Frau ja auch schon tot war, als er geschah. Der Dammschnitt des Geburtshelfers dagegen war unsauber und zackig. Das Gewebe war mehr gerissen als geschnitten. Annabelle sah sich die Gebärmutter an. Kein schöner Anblick: Auch hier war scheinbar brutal zu Werke gegangen worden.

Annabelle hätte sich gern ihren Handschuh ausgezogen und so mehr über die Tote erfahren, aber sie konnte es nicht riskieren. Der Herr des Kellers war ein humorloser strenger Mensch, der sowieso nicht begeistert war, wenn sie hier auftauchte. Wenn er sie erwischte, wie sie mit ihrer grünen Hand an der Frau herumfingerte, würde er sie sicher nicht mehr dulden. Außerdem waren die Informationen ihrer Hand oft verwirrend, manchmal waren es vage Eindrücke, manchmal 'sah' sie sehr realistische Bilder und sie hatte keine Lust, ein Geburtstrauma nachzuerleben.

Annabelle deckte die Tote wieder zu und schob sie zurück in das Kühlfach. Sie sah sich die Gläser mit den anderen Organen noch an. Die sahen normal aus, jedenfalls soweit sie das beurteilen konnte. Sie kannte sich gut mit Zellen aus, ganze Organe waren eine andere Sache. Sie würde Hans bitten, noch mehr Zellen daraus präparieren zu dürfen. Jedes Gift hatte seine bestimmten Stellen, an denen es wirkte.

Der Formaldehydgeruch würde ihr wahrscheinlich noch den ganzen Tag folgen. Sie beeilte sich, dem bedrückenden Keller zu entfliehen.

* * *

 

Paul Falkenberg war überwältigt.

Sein Blick streifte von dem lebensecht ausgestopften Exemplar einer Löwin auf der Lauer über die unzähligen in Leder gebundenen Buchrücken, die Vitrinen, in denen farbenprächtige Schmetterlinge und andere Insekten ausgestellt waren, zu den Vasen und Statuen, Masken und Waffen, hin zu den verschlossenen Schränken, die weitere fantastische Schätze verhießen. Und dieser Raum, der über zwei Etagen ging, mit Leitern und Galerie war nur einer von vielen, allein in diesem Haus.

Er wusste, dass Professor Rosenherz noch ein Haus in Heidelberg besaß, eines in der Provence und mindestens eine Wohnung in Übersee. Wahrscheinlich hatte er auch noch Teile seiner Sammlung in seinem Büro in der Universität Heidelberg. Da würde er auch hinfahren müssen.

Paul war von seinem Vater geschickt worden, die Sammlung zu katalogisieren. Peter Falkenberg hielt er nichts von Kunsthistorikern, jedenfalls nicht als Beruf für seinen ältesten Sohn, aber er war in diesem Fall einmal ganz glücklich mit dessen Berufswahl. Gut, dass Paul noch einen Bruder hatte, der zum Militär gegangen war. Friedrich war so, wie nach der Meinung seines Vaters ein Mann zu sein hatte. Das war Paul nur recht, denn so hatte er Narrenfreiheit und er war seinem kleinen Bruder immer dankbar, wenn der sich ins Rampenlicht stellte.

Nachdem er sich sattgesehen hatte, suchte er nach einem Platz, von dem aus er mit der Arbeit beginnen konnte. Er räumte auf dem Schreibtisch ein paar Dinge beiseite und legte seine Kladde ab. Sie war sehr groß, denn in Erwartung des Umfangs der Sammlung wollte er nicht an Papier geizen. Er setzte sich auf den Stuhl und öffnete das Buch. Nein, er brauchte mehr Platz. Er nahm eine gerahmte Fotografie und wollte sie auf die Seite stellen, als sein Blick darauf fiel.

Abgebildet war eine sitzende junge Frau. Sie trug ein Reitkostüm und streichelte einen Zwergschnauzer, der auf ihrem Schoss saß. Ihre dunklen langen Haare trug sie offen, nur ein paar Strähnen aus dem Gesicht gesteckt. Sie lächelte in die Kamera und Paul fühlte, dass sie jemanden angelächelt hatte, den sie sehr mochte. Dies musste Annabelle Rosenherz sein und wahrscheinlich hatte ihr Vater hinter dem Fotografen gestanden.

Paul dachte in diesem Moment nicht darüber nach, ob Annabelle schön war oder eher von schlichtem Aussehen. Er fühlte sich durch ihren Anblick belebt, als ob sie ihn anschaute und gleich sagen würde: “Komm mit ausreiten!“ Sie würde ihn bei der Hand nehmen, und wie ein Sommerwind durchs Haus wehen, nach draußen, auf die Wiese ...

Was machen Sie da?“

Paul sah verdutzt auf. In der Tür stand die echte Annabelle, in Farbe, und überhaupt nicht leicht wie ein Sommerwind, eher wie eine steife Brise, die ihm gerade eiskalt ins Gesicht wehte.

Ich, äh ...“

Was erlauben Sie sich? Das ist der Schreibtisch meines Vaters. Stehen Sie sofort auf!“

Automatisch befolgte er den Befehl. „Entschuldigen Sie, ich ...“

Frau Barbara!“, rief Annabelle laut. Sie drängelte sich an ihm vorbei und riss ihm dabei das Bild aus der Hand. Sie roch nach Maiglöckchen und – Formaldehyd?

Die Haushälterin kam um die Ecke geschnauft.

Was tut dieser Mann hier?“, fragte Annabelle, und zeigte, immer noch aufgebracht, auf ihn.

Der Anwalt, Herr Falkenberg ...“, japste Frau Barbara und hielt sich am Türrahmen fest.

Ich bin Paul Falkenberg, Peter Falkenbergs Sohn“, ergriff nun Paul das Wort. „Mein Vater hat mich beauftragt, die Sammlung Ihres Vaters zu katalogisieren. Ich bin Kunsthistoriker.“ Er streckte die Hand aus und verbeugte sich leicht.

Annabelle sah ihn verdutzt an, dann gab sie ihm ihre Hand.

Das ist der Tisch meines Vaters“, sagte sie mit ärgerlich gerunzelter Stirn.

Ich weiß“, sagte Paul, der merkte, dass sich der Sturm gelegt hatte.

Sie müssen sich einen anderen Platz suchen.” Sie stand noch immer ganz steif vor ihm.

Ich werde mir ein Pult besorgen.“ Sie sah ihn nicht an.

Mein Vater ist nicht tot.“ Sie sagte das sehr fest, aber er spürte starke Emotionen dahinter.

Ich werde sorgfältig mit seinen Sachen umgehen“, sagte er beruhigend.

Jetzt schaute sie ihn an. Ihre Augen waren grün mit goldenen und braunen Punkten, und sie hatte ein paar Sommersprossen auf der Nase, einen hübschen Mund mit vollen Lippen und einen Hals und ein Dekolleté und …

Annabelle atmete tief ein, was das Dekolleté zwar noch hübscher machte, ihn aber daran erinnerte, dass er nicht zum Katalogisieren ihres Körpers da war.

Glauben Sie ja nicht, dass Sie hier unbeaufsichtigt sein werden. Die Herren vom Komitee glauben ja, sie können mit mir machen, was sie wollen, aber ‒“

Annabelle“, unterbrach Frau Barbara den Ausbruch, bevor Annabelle sich wieder in Rage reden konnte, „möchtest du dich nicht erst einmal ein bisschen frisch machen? Etwas essen, und dann können wir ja schauen, wo Herr Falkenberg arbeiten kann.“

Paul sah der Hausdame dankbar nach, wie sie Annabelle aus dem Raum bugsierte, und konnte dabei noch eine attraktive Rückansicht genießen.

 

* * *

 

Monsieur Depuis, Sie müssen ...“, der Junge, der unvorsichtigerweise in das Separee gestürmt war, wurde von großen Händen am Kragen gepackt und in die Luft gehoben.

Monsieur Depuis muss garnix“, bellte ihm sein Fänger feucht ins Gesicht. Mundgeruch schon beim Einatmen.

Monsieur Depuis saß indessen allein an einem Tisch und genoss sein Mittagessen. Essen musste in seiner Welt zelebriert werden. Man durfte es nicht nebenbei erledigen, oder gar dabei von Gesellschaft ständig mit Informationen abgelenkt werden, die man gar nicht brauchte. Wenn er Einladungen annahm, dann nie zum Essen. Er entschuldigte es mit einem sensiblen Magen.

Nein, Essen, und natürlich auch Trinken, das war eine Kunstform. Er verehrte Köche – falsch, er verehrte das Handwerk des Kochens. Köche waren leider häufig vulgär und grobschlächtig. In seinen Etablissements verschliss er Köche, wie ein Bauer seine Arbeitshandschuhe.

Er sah von seinem Teller auf. Er hatte den zweiten Gang noch nicht angerührt. Und er würde es nun auch nicht mehr tun. Er schob den Teller beiseite und sein Tischdiener räumte ihn sofort ab.

René“, flüsterte er. Der Diener blieb stehen und sah ihn an. „Isch möschte neue Escargots in dix minutes 'ier auf dem Tisch. 'eiß. Comprends?“

Oui, Monsieur.“

Dann faltete Monsieur Depuis die Hände über seinem umfangreichen Bauch und sah den Jungen an, der immer noch zehn Zentimeter über dem Boden baumelte und schon langsam blau im Gesicht wurde. Er nickte, und sein Leibwächter ließ den Jungen auf den Boden plumpsen.

Dix minutes – zehn Minuten.“

Der Junge keuchte ein paar Mal und rappelte sich dann auf.

Die Hartmanns wollen heute Abend im Salon feiern. Sie möchten Champagner, Frauen und sie … wissen … schon.“ Der Junge sah unsicher aus, ob er das richtig wiedergegeben hatte.

Depuis nickte. „Wie 'eißt du?“

Karl. Karl Schmitz.“

Weißt du, wer isch bin, Karl?“

Karl nickte noch unsicherer.

Bien. Was denkst du, Karl, wer ist wischtiger – isch, oder die Geschwister 'artmann?“

Karl dachte intensiv nach. Das fiel ihm sichtbar schwer. Er kratzte sich am Kopf und die struppigen Haare standen in alle Richtungen.

Du bist noch ein petit garcon. Wie alt bist du?“

Zwölf, Monsieur Depuis.“

Douze ans. Isch wusste nix – rien – von dieser Welt, als isch zwölf Jahre alt war. Isch wusste nix und war ein Nix.“

Depuis machte eine Pause um sich die Stirn abzutupfen. Die Unterbrechung seines Essens machte ihm zu schaffen.

Aber das ist 'eute anders. Die Geschwister 'artmann sind ein – comment ce dit – Fliegenschiss. Wenn sie es noch einmal wagen, misch beim Essen zu stören, schicke isch ihnen deinen Kopf zurück. Nun geh ab und sag ihnen, sie werden alles so finden, wie immer.“

Depuis faltete wieder die Hände vor der Brust und schloss die Augen.

Schmeiß ihn raus und besorg eine Kiste Kirschwasser. Où sont les escargots?“

 

* * *

 

Annabelle saß in der Küche. Sie fühlte sich ausgelaugt, ohne genau zu wissen, warum. Hans hatte ihr zwar direkt eine Menge Arbeit gegeben, aber das konnte es nicht allein sein. Sie löste ihren Zopf und spielte mit ihren Haaren.

Er ist doch ganz nett“, hörte sie Frau Barbara sagen, die am Gasherd herumfuhrwerkte.

Wer?“ Frau Barbara kannte Hans doch überhaupt nicht.

Na, der junge Herr Falkenberg.“

Annabelle trank einen Schluck ihres Tees. Nett? Was sollte denn „nett“ bedeuten? Im Moment war er jemand, der sich in ihre Privatsphäre gedrängt hatte. Wenn sie allerdings über ihren Auftritt nachdachte, tat es ihr ein bisschen leid. Der junge Mann konnte ja nichts dafür, dass sie für einen Moment gedacht hatte, ihr Vater wäre unbemerkt zurückgekommen und säße nun an seinem Schreibtisch, als wäre nichts geschehen. Der „junge Herr Falkenberg“ sah ihrem Vater auf den ersten Blick sehr ähnlich. Das gleiche widerspenstige braune Haar, immer ein bisschen zu lang. Die gleichen braunen Augen, die so warm und trotzdem eindringlich schauen konnten. Ein Gesicht, das, obwohl glatt rasiert, männlich aussah, entschlossen und dennoch sensibel.

Sie hatte sich ihm gegenüber schlecht benommen. Sie hatte einfach zu wenig Erfahrung mit so etwas. Sie seufzte. Frau Barbara stand hinter ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.

Es wird alles gut, Blümchen.“

Annabelle lehnte sich zurück und genoss es, dass Frau Barbara ihr über den Kopf streichelte, als wäre sie noch ein kleines Mädchen. Sie hatte sie einmal gefragt, warum sie sie Blümchen nannte.

Nun, mein Kind“, hatte Frau Barbara geantwortet. „Bellis heißt das Gänseblümchen – und du bist süß und klein, wie ein Gänseblümchen auf der Wiese.“

So fühlte sich Annabelle auch – sie interpretierte es aber anders: Sie war so unscheinbar wie ein Gänseblümchen auf der Wiese unter vielen anderen Gänseblümchen. Total unauffällig, sodass jeder darauf herumtrampelte. Sie wäre gerne etwas Auffälligeres, keine Rose oder Dahlie, aber vielleicht eine Passionsblume, die sie mit ihrem Vater in Mexiko gesehen hatte. Die Rankenplanze kletterte mit ihren prächtigen Blüten hoch empor und die Früchte schmeckten wunderbar, obwohl sie von außen wie ein brauner vertrockneter Ball aussahen: Schnitt man sie auf, verströmte das schleimige Innere einen verführerischen Geruch, und der Glibber schmeckte unvergleichlich süß und sauer zugleich. Sie wuchsen hier leider nicht, aber sie war stolz darauf in ihrem Gewächshaus eine zu haben, die immer wieder blühte, und manchmal auch Früchte trug.

Der Anwalt hat uns Geld angewiesen. So konnte ich erst mal viele Rechnungen bezahlen.“ Frau Annabelle nahm die Milch vom Herd und rührte Grieß ein.

Annabelle ging das alles zu schnell: „Ich muss eine Möglichkeit finden, selbst Geld zu verdienen.“

Kommt Zeit, kommt Rat“, beschwichtigte Frau Barbara.

Ach, du willst doch nur, dass ich heirate.“ Annabelle war angriffslustig und flocht sich den Zopf wieder.

Ich will, dass du glücklich bist.“

Der Zopf war zu fest geworden, und Annabelle löste ihn wieder: „Warum bin ich nicht wie die anderen? Die denken nur ans Heiraten. Ewig wird nur über alle verfügbaren Junggesellen geschnattert.“

Blümchen, dein Vater hat dir die Welt gezeigt. Du hast schon viele Dinge gesehen, die andere in vielen Leben nicht erfahren, und das macht dich anders.“

Das macht alles nur schwerer.“ Sie wickelte sich das Zopfband um die Finger und zog daran, bis es wehtat.

Nu iss erst mal.“ Frau Barbara stellte ihr einen Teller hin, nahm ihr das Band ab und flocht ihr schnell einen lockeren Zopf. Der Geschmack von Grießbrei beruhigte Annabelle. Die wohlige Wärme des Kohleofens, der in der Ecke vor sich hinbullerte und die Geräusche von Frau Barbara, die schon mit der Zubereitung des weiteren Abendessens beschäftigt war, all das entspannte sie.

Sie zuckte zusammen, als es an der Haustür klingelte. Frau Barbara machte auf und kam mit einem älteren Mann zurück.

Wir sind in der Küche, ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus“, plapperte Frau Barbara.

Nein, ich sitze gerne in Küchen und am liebsten in Ihrer. Da gibt es immer was zu essen. Liebe Annabelle!“ Der Mann verbeugte sich tief vor Annabelle, die aufsprang, um ihn zu begrüßen.

Onkel Karl!“, rief sie entzückt. Als der Mann sich aus der Verbeugung erhob, fiel sie ihm stürmisch um den Hals.

Na, na, Liebchen – vorsichtig mit einem alten Mann.“

Onkel Karl war eine imposante Erscheinung: groß und breitschultrig, muskulös, mit einem sonnengebräunten Gesicht. Um die von buschigen Augenbrauen überschatteten blauen Augen zeugten Falten von Leben, Lachen und Liebe. Ein mächtiger blonder Schnurr- und Backenbart und ein dichter Schopf aschblondes Haar mit von der Sonne gebleichten Strähnen betonten seine Vitalität. Annabelle kannte ihn fast nur in Khakis, mit hochgerollten Hemdsärmeln, die braun gebrannten Arme mit goldenen Haaren übersät, ein Gewehr über der Schulter, hohen Stiefeln – bereit, den Gefahren einer Expedition ins Unbekannte entgegenzutreten. Heute trug er einen dunklen dreiteiligen Anzug mit Halsbinde und Fedora. Auch darin war er ein Bild von einem Mann und gefiel Annabelle sehr gut.

Ich freue mich so, dich zu sehen! Du warst so lange weg! Noch länger als Papa! Wann bist du angekommen? Wie lange bleibst du? Wo warst du? Hast du mir etwas mitgebracht?“

Das sind aber viele Fragen auf einmal, Mädchen.“ Dr. Burger befreite sich und betrachtete Annabelle amüsiert.

Lass den Herrn Doktor sich doch erst einmal setzen. Ich mache Ihnen einen Kaffee“, schlug Frau Barbara vor.

Du siehst so braun aus“, observierte Annabelle. „Lass mich raten: Du warst auf Segeltour in der Ägäis.“

Ganz weit weg.“ Karl grinste amüsiert und wischte sich den breiten Schnurrbart.

Hmmm. Ägypten? Warst du wieder in Karnak? Mit Carter?“

Nein. Carter ist in Theben.“

Ach, erzähl doch einfach. Ich mag nicht mehr raten.“

Lass den Herrn doch erst mal Kaffee trinken.“

Ach Frau Barbara, Ihr Kaffee ist der Beste und in Ihrer Küche ist es wunderbar gemütlich.“ Der Mann schmeichelte der Hausdame schamlos, und sie freute sich sichtlich darüber. Annabelle liebte ihren Patenonkel Karl auch schon, seit sie ein kleines Kind war. Dr. Burger war ein langjähriger Reisegefährte ihres Vaters und sie war mit ihm schon auf Elefanten geritten, da konnte sie kaum laufen.

Karl Burger berichtete kurz von seinen Erlebnissen in Sumatra und versicherte Annabelle, dass er ihr Pflanzen und Samen mitgebracht hatte, dann wurde er ernst.

Wie geht es dir denn?“, wollte er wissen.

Ach, Onkel Karl, gut das du da bist. Papa ist schon lange weg, seit über einem Jahr und keiner weiß, wo er ist. Uns geht langsam das Geld aus, und ich darf nicht allein über Konten verfügen. Heute war der Anwalt da, dieser Falkenberg. Sie wollen, ach, wahrscheinlich haben sie schon, Papa für tot erklären und alles aus seiner Sammlung zu einer Stiftung machen. Es ist sogar schon ein Mann gekommen und hat sich einfach an Papas Schreibtisch gesetzt. Er macht einfach Schränke auf und katalogisiert alles. Aber das ist nicht richtig, Papa würde das nicht wollen! Er ist nicht tot. Das würde er mir nie antun!“ Nun weinte sie doch. Verflixt. Aber Onkel Karl hatte gute Nerven. Er gab ihr sein Taschentuch und wartete ab, bis Annabelle sich wieder beruhigt hatte.

Liebes Kind“, fing er dann gewichtig an.

Annabelle musste lachen. „Ich bin kein Kind mehr.“

Ja ...“, das musste Dr. Burger zugeben. Er kratzte sich verlegen am Kopf.

Liebe Annabelle, auch ich glaube nicht, dass dein Vater tot ist. Aber ich befürchte, dass deine Situation im Moment nicht viele Möglichkeiten bietet. Ich werde nur kurze Zeit in Baden-Baden sein, und wäre beruhigt, wenn ich dich versorgt wüsste.“

Die geben mir Geld. Von der Stiftung, also, ich meine, wenn die Stiftung dann gegründet ist. Aber dann gehört alles der Stiftung, und was, wenn sie es mir wegnehmen? Ich soll zwar im Vorstand sitzen, aber wer noch? Und stell dir mal vor, Papa kommt dann wieder und alles ist verändert, wie wird er darüber denken? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das gut findet.“ Annabelle nahm ihren Zopf nach vorne und kaute auf den Haarspitzen.

Es ist nicht deine Aufgabe, darüber nachzudenken. Dein Vater hätte bessere Vorkehrungen für so einen Fall treffen müssen. Wenn er wiederkommt, wird sich schon ein Weg ergeben. Es geht jetzt erst mal um deine Zukunft, und auch um die Gegenwart.“

Was soll ich deiner Meinung nach tun?“ Sie sah ihn hoffnungsvoll an.

Nun, das ist letztlich deine Entscheidung.“ Onkel Karl nahm einen Schluck Kaffee und sah sie abwartend an. Annabelle hatte das Gefühl, das er es ihr nicht leicht machen wollte.

Alle wollen, dass ich heirate. Das wäre das Einfachste, dann würde sich mein Mann um alles kümmern.“ Sie pustete sich empört einige Haare aus der Stirn.

Wer ist denn alle?“

Na, die Gesellschaft. Der Anwalt. Und Frau Barbara.“

Die klapperte im Hintergrund mit Töpfen. Sie war immer sehr eingeschüchtert von Dr. Burger und mischte sich nicht in das Gespräch ein.

So, so.“ Immer noch sah er sie so merkwürdig an.

Du nicht?“, fragte sie hoffnungsvoll.

Willst du denn?“

Nein!“ Das wusste sie genau. “Wen denn auch?”

Na, dann ist die Entscheidung doch ganz leicht, oder?“ Er sagte das aber so, dass sie immer noch nicht wusste, was er gerne von ihr gehört hätte.

Onkel Karl! Mach es mir doch nicht so schwer! Ich will ja das Richtige tun, aber ich weiß nicht, was das ist.“ Warum sagte er nicht einfach, was er sich vorstellte?

Kind – ich möchte nur, dass du glücklich wirst. Eine Heirat macht viele Frauen glücklich. Aber ich befürchte, nein, ich weiß, dass du nicht wie viele Frauen bist.“

Ich könnte arbeiten.“ Frau Barbara seufzte im Hintergrund laut.

Was denn?“, fragte Onkel Karl zweifelnd.

Du weißt ja, dass ich in dem pathologischen Institut bei Professor Schmidt forschen darf. Mein Laborkollege Herr Zoller hat mir beigebracht, wie man wissenschaftlich arbeitet. In manchen Dingen bin ich sogar besser als er, also ich weiß viel mehr über Gifte zum Beispiel, und wie sie auf Zellen wirken. Ich bin jetzt seine Assistentin und soll sogar Geld dafür bekommen.”

Hm.“ Onkel Karl zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch langsam aus.

Was? Ist das nicht gut?“ Sie setzte sich aufrechter hin, und sah ihren Onkel auffordernd an.

Möchtest du denn dort arbeiten? Für immer, meine ich.“

Annabelle dachte nach und senkte dann den Blick: „Wenn ich ganz ehrlich bin, nein. Es würde mich verrückt machen, jeden Tag das Gleiche machen zu müssen. Pathologie ist langweilig. Aber es wäre erst einmal eine Möglichkeit, Geld zu verdienen.“

Zwischen Dr. Burgers Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet.

Annabelle“, sagte er schließlich. „Ich werde mir über deine Situation Gedanken machen. Wir finden eine Lösung. Ich muss jetzt leider noch zu einem anderen Termin.“

Er stand auf und legte Annabelle seine riesige Hand auf die Schulter. Sie legte ihre Hand auf seine und zog Kraft aus der Berührung.

Du musst bald wieder kommen! Frau Barbara kocht bestimmt gerne für dich.“

Das tu ich, versprochen.“

 

* * *

 

Ich spiele nicht mit diesem Kretin!“, kreischte Katharina nicht sehr damenhaft.

Liebes Fräulein Hartmann: Der Kretin gehört aber zum Drehbuch! Was wäre der Glöckner von Notre Dame ohne den Glöckner?“

Katharina Hartmann funkelte den Regisseur an. Das alles hier war eine Zumutung! Sie hatte alles gegeben, vor allem Geld, viel Geld. Die könnten diesen blöden Film doch überhaupt nicht produzieren, ohne ihr Geld! Und nun stand sie hier, mit zerzausten Haaren, einem zerrissenen Kleid und sollte mit einer ekelhaften, unansehnlichen und verwachsenen Kreatur zusammenspielen.

Ich bin nicht blöd!“, zischte sie. „Ich habe das Buch gelesen. Aber muss es denn ein echter Buckliger sein? Ist das vielleicht gar ein Verdorbener? Ich ekle mich vor ihm.“

Es kümmerte sie gar nicht, dass der Bucklige direkt neben ihr stand. Sie sah hochnäsig zu ihm herunter, schnaubte dann angewidert und stolzierte vom Set.

In ihrer Garderobe schimpfte sie mit ihrem Mädchen und nahm sich zum x-ten Mal vor, endlich jemanden anzustellen, der wenigstens einen Hauch Ahnung von der neuesten Mode hatte. Sie befahl ihr, die Perücke sorgfältig zu bürsten und ließ sich das Gesicht neu schminken. Endlich war sie umgezogen, frisiert und bewunderte sich im Spiegel.

Ihr wurde plötzlich klar, dass die Esmeralda die völlig falsche Rolle war! Haare, schwarz wie Ebenholz, Lippen rot wie Blut, eine Haut weiß wie Schnee: Sie musste Schneewittchen sein! Und dann konnte der Regisseur ihretwegen sieben verdorbene Zwerge anschleppen, sie würde zum Anbeten schön sein. Das musste sie sofort ihrem Bruder erzählen.