Kapitel 4
Walter Hartmann betrat frühmorgens sein Geschäft. Er steckte den Schlüssel in die Hosentasche, atmete erst einmal tief ein und schloss dabei genießerisch die Augen. Das Aromagemisch von Butter, Schokolade, Vanille, Marzipan und vielem mehr war besser als jedes Parfum. Er liebte seinen Beruf als Konditor.
Mit wachsamen Augen durchschritt er den Verkaufsraum, immer auf der Suche nach Nachlässigkeiten des Personals. Aber heute war alles blitzblank und jedes Utensil stand an der dafür vorgesehenen Stelle. Er konnte sich trotzdem nicht beherrschen und fasste einige Teile an, um sie kurz zu verrücken und dann wieder auf ihren Platz zu legen.
Er war stolz auf seine Konditorei. Mit dem ersten richtigen Geld, das er verdiente, nach dem er seinen Lehrherrn beerbte, hatte er den ganzen Laden renoviert. Jetzt sah es so aus, wie er es sich vorgestellt hatte. Die Wände waren in lindgrün und rosa gehalten, Pastellfarben, die sich in den Buttercremetorten wiederholten. Hier und dort gab es Ornamente in kräftigen Beerentönen, mit denen er auch seine Obstkuchen dekorierte. Goldene Akzente hoben die fruchtigen Farben hervor und das Schaufenster war ein großartig geschwungener Bogen aus verschiedenen Scheiben. Der dunkle Holzfußboden knarrte an vertrauten Stellen und erinnerte ihn an herbe Schokolade und Nüsse. Alles wundervoll sauber, akkurat, exklusiv und teuer.
Er zog seine Weste zurecht, strich über den teuren Wollstoff seines Anzugs, befingerte liebevoll die goldene Kette, bevor er seine Taschenuhr aus der Westentasche holte. Er bewunderte sich selbst für seinen Geschmack, denn die Uhr war auf subtile Weise gleichzeitig luxuriös und elegant. Er klappte sie auf und wartete, bis der Sekundenzeiger die volle Stunde anzeigte.
Dann öffnete er die Seitentür, um das Personal einzulassen. Er selbst platzierte sich so, dass er dabei alle sehen konnte. Auch sie wurden einer gründlichen Musterung unterzogen. Ihre Uniformen mussten blitzblank und faltenlos sein. Dann begab er sich in sein Büro. Er hatte gerade den Mantel ausgezogen, da klopfte es. Frau Meier, seine erste Verkäuferin, trat zur allmorgendlichen Besprechung an.
„Was liegt an?“, fragte Walter Hartmann, wie jeden Tag.
„Nun, wir haben einige Bestellungen von Torten und Gebäck. Einiges ist gestern schon vorbereitet worden, das muss nur noch fertig gemacht werden. Aber wir werden wieder nicht alle Bestellungen von »Herzblut« erfüllen können.“
Walter nickte zufrieden und strich sich über den kahlen Kopf.
„Das ist gut so. Machen Sie sich keine Sorgen.“
„Da sind Herrschaften dabei, die so etwas nicht dulden wollen. Sie sind es nicht gewöhnt, dass man ihre Wünsche nicht erfüllt.“ Die Stimme der Frau war schrill und unangenehm.
Walter beugte sich nach vorne und sah die Frau an: “Ich sagte, machen Sie sich keine Sorgen! Überlassen Sie das mir. Was sollen die Herrschaften denn tun?“
Frau Meier nickte ängstlich. Sie respektierte ihren Chef, aber er war ihr unheimlich. Er hatte kein Haar auf dem Kopf, noch nicht einmal Augenbrauen oder Wimpern. Seine Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz erschienen. Wenn er wütend wurde, dann schien ein Feuer in ihnen zu lodern.
Zusammen mit seiner dunklen Hautfarbe hatte Frau Meier ihren Chef schon einmal heimlich mit dem Teufel verglichen.
Aber er machte diese wundervollen Torten, außergewöhnliches Gebäck und nicht zuletzt: Die Praline »Herzblut«. Frau Meier hatte die Praline noch nie gegessen. Walter Hartmann achtete streng darauf, dass niemand bei der Herstellung dabei war. Wenn die Angestellten morgens kamen, waren die Pralinen fix und fertig auf den Tabletts. Auch die Verpackung überwachte der Chef persönlich. Falls es einmal passieren sollte, dass eine Praline bei dem Vorgang zerbrach oder herunter fiel, dann kümmerte er sich höchstpersönlich um die Reste.
Es war alles sehr geheimnisvoll. Die Pralinen kosteten ein Vermögen – aber sie wurden ihnen aus den Händen gerissen. Die Kunden, vor allem Frauen, kamen immer wieder und wollten mehr. Sie versuchten es mit Bestechung und irgendwann auch mit Betteln oder Drohungen. Aber es gab nur eine begrenzte Menge, die in den direkten Verkauf ging. Alles andere lief über Bestellungen. Und die nahm nur der Chef persönlich an.
„Wissen sie was?“, hörte sie Walter Hartmann jetzt sagen. „Wir nutzen die Gunst der Stunde. Bis morgen habe ich genug »Herzblut« hergestellt, um damit den Bedarf kurz zu decken. Ich mache ihnen einen Bestellzettel fertig. Machen Sie den Lieferanten Feuer, damit wir heute Nachmittag alles da haben. Ich werde die Nacht durcharbeiten.“
Frau Meier erschrak. Das würde einen Ansturm geben! Vielleicht konnte man noch eine Verkäuferin einstellen? Sie traute sich aber nicht zu fragen.
„Ich mache noch die Torten fertig. Die nächsten Tage muss Heinz das aber machen. Wofür habe ich ihn schließlich eingestellt? Jetzt machen sie schon, hopp hopp, das Geschäft muss brummen.“
Walter Hartmann stand auf und fühlte sein Blut schneller durch seine Adern kreisen. Ja, so musste es sein. Mehr, mehr, er brauchte das, immer unter Druck, das gab einem das Gefühl, zu leben ... Wenn er fertig war mit backen, musste er aber einmal entspannen. Er ging in die Backstube und griff nach dem Lehrling, der sich erschrocken duckte.
„Geh zu Depuis. Sag der fetten Schnecke, ich komme. Er soll ja nicht wagen zu früh Feierabend zu machen. Ich möchte zwei – nein, drei Mädchen. Und alles, was ich sonst immer habe. Lauf!“
Der Lehrling hastete aus der Backstube, und Walter Hartmann sah sich um. Alles lief perfekt! Er rieb sich die Hände und pfiff einige Noten.
* * *
Es war spät geworden, gestern Abend. Nachdem die Aufregung über das Erscheinen der Blitzmänner abgeebbt war, teilten alle ihre Empfindungen beim Essen der Pralinen. Annabelle fand es irritierend, dass es den anderen Frauen offenbar wie ihr gegangen war. Die Gefühle waren so intensiv gewesen, dass sie es kaum ertragen konnte, dass die Anderen ähnliche gehabt hatten. Als hätte man etwas zutiefst Intimes mit völlig Fremden geteilt.
Es herrschte allerdings bei den meisten Frauen Einigkeit darüber, dass die Sopranistin außergewöhnlich gut gewesen war, und das Zusammenspiel der Musik mit dem Genuss der Praline erst diesen Gefühlsüberschwang verursacht hatte. Nachdem man sich artig bei Frau von Strebnitz bedankt hatte, waren einige Damen, einschließlich Johanna und damit auch Annabelle noch durch den Kurpark spaziert. Das war immer ein Erlebnis, auch zu dieser kalten Jahreszeit.
In anderen Städten waren die Parks an Flüssen nicht mehr begehbar. Dort schienen sich Verdorbene nachts zu treffen, um in den Æthernebeln dem unvorsichtigen Spaziergänger aufzulauern. Die Rheinauen waren beispielsweise ein Ort, an den selbst Blitzmänner nur sehr selten und schwer bewaffnet gingen.
In Baden-Baden hatte die Gegend um das Kurhaus aber eine märchenhafte Atmosphäre. In den Schleiern des Æthers, der hier ganz selten und nur sehr dünn zu sehen war, konnte man an manchen Tagen winzige Feen beim Tanzen beobachten oder überirdisch schönen Froschkonzerten lauschen. Das hatte allerdings auch dazu geführt, dass es immer sehr voll war und es im Park keinen Ort gab, an dem man wirklich allein sein konnte.
Die Damen zogen noch kichernd und plappernd in die Trinkhalle ein. Zu dieser späten Stunde waren trotzdem noch viele Menschen hier, um von dem heilkräftigen Wasser zu trinken. Die nach vorne offene Säulenhalle war an der Hinterseite mit prächtigen meterhohen Wandmalereien verziert, die die lokalen Sagen und Mythen illustrierten. Im Innenraum floss das Wasser aus mehreren Hähnen in Marmorbecken. Hier verweilten viele Kranke mit ihren Begleitungen, um immer wieder von dem Wasser zu trinken und um Genesung zu beten.
Annabelle mochte die Stimmung der Trinkhalle nicht. Das Wasser schmeckte wie warmes Blut und wieder fand sie es schade, ihren Handschuh nicht ausziehen zu können. Dieser Ort hatte immer so viel zu erzählen. Andererseits hatte sie an diesem Tag schon genug starke Empfindungen gehabt, und überließ es den anderen Damen, eine Tasse zu trinken.
Danach hatte die Gruppe sich aufgelöst und sie war nach Hause gefahren.
Nun streckte Annabelle sich müde, während sie im Nachthemd und Morgenmantel die Treppe herunter tappte. Sie fühlte sich heute fast verkatert und ging barfuß, ohne nachzudenken in das Zimmer ihres Vaters. Sie kuschelte sich in seinen Lieblingsstuhl, ein weich gepolsterter Ledersessel, zog die Beine hoch und sah in den Garten hinaus.
Plötzlich ließ ein Geräusch sie zusammenzucken. Sie schreckte auf und sah sich um. Paul Falkenberg richtete sich hinter dem Schreibtisch ihres Vaters auf, und sie blinzelte, weil er eine seltsame Brille trug. Sie sah fast aus wie eine Fliegerbrille, mit Schutzkappen an den Seiten, neben dem linken Auge befanden sich noch mehrere Linsen, die man nach vorne klappen konnte. Er hatte nur ein Hemd an, seine Anzugjacke hing über einem Stuhl. Aber er trug Handschuhe und in der rechten Hand einen oberarmdicken Metallzylinder, an dem allerlei Knöpfe angebracht waren.
Sie hatte ganz vergessen, dass er nun jeden Tag hier war! Sie war noch nicht einmal richtig angezogen! Schnell versteckte sie außerdem ihre linke Hand im Ärmel des Morgenmantels.
„Guten Morgen“, grüßte er und schob die Brille in seine Haare. Damit sah er nun endgültig total wüst aus. Das erleichterte Annabelle, dann würde er ihren Aufzug vielleicht auch nicht so eng sehen. Paul Falkenberg legte den Zylinder auf den Tisch und zog eine weitere, scheinbar ganz normale Brille aus seiner Anzuginnentasche. Damit begutachtete er etwas Kleines, Glitzerndes, das er gefunden hatte. Er hielt es gegen das Licht, und Annabelle erkannte, dass es eine Glasmurmel war.
„Die gehört mir!“, rief sie erfreut aus. Sie hatte als kleines Kind gerne unter dem Schreibtisch zu Füßen ihres Vaters gespielt. Die Murmel musste schon seit ewigen Zeiten dort liegen.
Der junge Mann ging um den Tisch herum und gab ihr die Murmel, drehte sich weg und wollte wieder zum Schreibtisch gehen.
„Herr Falkenberg!“, fing Annabelle an. Dann stockte sie. Was wollte sie ihm sagen? Sie konnte ihm ihren Verrat nicht beichten. Sie hatte auch Angst, dass er es schon wusste. Sie wollte sich entschuldigen, fand aber keine Worte dafür.
„Ja?“ Er drehte sich nur halb zu ihr um und zog seine Brille ab.
„Danke für die Brosche. Sie ist sehr bewundert worden. Ich gebe Sie Ihnen nachher zurück.“
„Sie können sie gerne noch eine Weile behalten. Ich brauche sie nicht.“ Kam es ihr nur so vor, oder war sein Ton abweisend?
„Danke. Aber ich weiß nicht ...“
„Wir können darüber reden, wenn meine Arbeit hier getan ist.“ Er zog den seltsamen Handschuh aus und legte ihn auf den Schreibtisch. Seltsamerweise machte es ihr heute nichts aus, das er wieder den Arbeitsplatz ihres Vaters belegte.
„Kommen Sie gut voran?“, fragte sie neugierig.
„Ich verschaffe mir erst einen Überblick. Ich bin mir noch nicht sicher, welches System ich verwenden soll, um eine Ordnung in die Dinge zu bringen. Ich würde auch gerne jedes Teil fotografieren, ich befürchte allerdings, dass das zu teuer wird. Ich kann nicht besonders gut zeichnen. Wahrscheinlich muss ich dafür jemanden kommen lassen.“ Er sprach sehr schnell und blätterte in seinen Aufzeichnungen.
„Ich kann zeichnen.“
Paul Falkenberg sah sie nun doch an. Er zog die Stirn kraus. Annabelle wurde rot und wich seinem Blick aus.
„Ich meine, ich kann ganz gut zeichnen, aber wenn Sie lieber einen Profi kommen lassen möchten, dann kann ich das verstehen ...“
„Nein“, sagte er schnell. „Es ist nur – ich dachte, Sie hätten eine Arbeit?“
„Ja, hab ich auch. Ich kann mir die Zeit aber einteilen. Und ich kann Ihnen sicher über einige Fundstücke interessante Geschichten erzählen.“
Der junge Mann lächelte. „Ja, das wäre schön.“ Dann glitt sein Blick nach unten und ganz schnell weg.
Annabelle wurde heiß. Sie hatte definitiv zu wenig an.
„Ich mache mich dann mal fertig“, sagte sie hastig, und verschwand in ihr Zimmer.
Paul atmete heftig ein und aus und ging zur Terrassentür. Er schob sie weit auf und versuchte sich in der kühlen Herbstluft zu beruhigen. Hatte er tatsächlich gerade zugestimmt, mit Annabelle Rosenherz zusammenzuarbeiten? Hatte er den Verstand verloren? Es kam ihm so vor. Aber das Bild, wie sie dort in dem Sessel geträumt hatte, die langen Haare offen und über ihre Schultern fließend ... Nur mit einem Nachtgewand bekleidet, der Morgenmantel hatte auch nicht viel verborgen. Sie war so unschuldig und schön gewesen. Eine junge Frau, die sich nicht bewusst war, was ihre Erscheinung bei einem Mann anrichtete. Er hatte versucht, nicht hinzusehen, nicht zu reagieren, aber es war ihm letztlich unmöglich gewesen.
Wie sollte er jeden Tag mit ihr verbringen? Was sollte er mit all diesen Gefühlen machen, die ungewollt in ihm aufstiegen? Denn für ihn war klar, dass Annabelle jemand Besseren als ihn verdient hatte. Jemanden, der stark und selbstsicher war, der ihr die Welt zeigen konnte. Der mit der immer anwesenden mächtigen Figur ihres Vaters konkurrieren konnte. Keinen Bücherwurm, der in seiner Freizeit lächerliche Mechaniken zum Leben erweckte und die Welt nur aus Atlanten kannte. Nein, er war sicher nicht gut genug für Annabelle Rosenherz.
* * *
„Hallo Hans“, begrüßte Annabelle später ihren Laborkollegen.
Hans drehte sich um und nickte. „Hallo Fräulein Annabelle. Schön das Sie da sind.“
„Gibt es etwas Neues?“
Hans sah sie ernst an. „Professor Schmidt hat nach Ihnen gefragt. Sie sollen in sein Büro kommen.“
„Oh.“
„Ja, 'oh' ist richtig. Was haben Sie getan?“, fragte er vorwurfsvoll.
„Wie, was habe ich getan?“
„Professor Schmidt war mächtig sauer.“
Annabelle erschrak. Dann holte sie tief Luft und richtete sich auf: „Ich habe nichts Falsches getan.“
„Na dann“, Hans nickte kurz. „Gehen Sie das klären, aber schnell. Wir haben viel Arbeit. Es gibt noch einen weiteren Fall.“
„Was? Wie furchtbar!“ Sie legte Sissi in ihrem Körbchen ab und begab sich Professor Schmidts Büro.
„Herein“, ertönte es nach ihrem Klopfen.
„Professor Schmidt, Sie wollten mich sprechen.“
„Ah, das Fräulein Rosenherz.“ Der Institutsleiter stand auf, und sie zu begrüßen. Sie mochte ihn, er war immer nett zu ihr gewesen.
„Was gibt es denn?“
„Nun, ich bin aus dem Josefinenheim angerufen worden.“ Er sah sie über den Rand seiner Brille streng an.
„Warum?“, fragte sie beunruhigt.
„Sie haben dort herumgeschnüffelt, wie man es ausgedrückt hat.“
Annabelle machte eine abwehrende Handbewegung: „Was für ein widerlicher Vorwurf. Ich habe mich nach den Umständen des Todes erkundigt. Was ist denn daran so schlimm?“, verteidigte sie sich.
„Der Arzt hat sich über Ihr Benehmen beschwert. Sie hätten ihn beleidigt.“
„Er war sehr unkooperativ!“
Der Professor nahm seine Brille ab: „Hören Sie, Fräulein Rosenherz. Ich habe zugestimmt, dass Sie Herrn Zoller bei seinen Untersuchungen helfen können, da ich weiß, dass Sie viel davon verstehen. Vielleicht mehr, als für Sie gut ist.“
Da war es wieder: So viel Wissen konnte man bei einer Frau nicht dulden. Bei einem Mann wäre man stolz auf seinen Ehrgeiz – bei einer Frau musste ja eine Schraube locker sein, dass sie sich nicht lieber mit Küche, Kinder und Kaffeekränzchen beschäftigte.
„Wie sollen wir denn mehr herausfinden, wenn wir nicht fragen dürfen?“, sagte sie ärgerlich.
„Liebes Kind, überlassen Sie das Fragen doch Herrn Zoller oder mir. Sie sind herzlich willkommen im Labor zu helfen, aber alles andere ist mir auch zu gefährlich.“
Annabelle stutzte. Wieso denn gefährlich?
„Es tut mir übrigens sehr leid mit Ihrem Vater. Wenn ich noch irgendwie helfen kann, zögern Sie bitte nicht.“ Der Professor erhob sich und brachte sie zur Tür.
„Ja, danke.“ Annabelle war bedient. Sie wollte erst mal nur weg von hier.
Wieder im Labor stürzte sie sich auf die neuen Gewebeproben, die Hans schon präpariert hatte. Es zeigten sich die gleichen Veränderungen.
„Wie ist sie gestorben?“ Annabelle hatte gelesen, dass es eine Frau war.
„Tja, der Pathologe sagt, sie ist verhungert.“
Annabelle sah Hans verblüfft an. „Verhungert? In Baden-Baden?
„Ja. Die Angehörigen versichern, sie habe genug zu essen bekommen.” Er las in der Akte. “Sie habe allerdings das Essen verweigert. Man habe sie schließlich gezwungen zu essen, aber ihr Körper magerte immer weiter ab.“
„Wie furchtbar. Kann ich sie sehen?“
„Was hat Professor Schmidt gesagt?“ Hans war vorsichtig.
„Ich soll nicht so viele Fragen stellen. Anschauen hat er mir nicht verboten”, sagte sie angriffslustig.
Hans kratzte sich am Kopf. Er war unsicher.
„Hans – bitte“, sagte sie und legte ihm ihre Hand auf den Arm.
„Ach, Fräulein Annabelle. Sie sollten sich nicht mit so etwas belasten”, sagte er abwehrend.
„Warum nicht?“
„Na, Sie haben doch niemanden, der auf Sie aufpasst, wenn Sie davon nachts aufwachen.“
Aha, davon träumte er also. Der große Aufpasser und Tröster in der Nacht.
„Hans, ich schlafe wie ein Stein. Und ich habe Sissi und Frau Barbara. Ich bin nicht allein.“
Er fasste nach ihrer Hand. „Sie machen sich über mich lustig“, sagte er und zog sie näher zu sich heran.
„Hans!“, rief Annabelle erschrocken. Seine Hand drückte ihre zu fest.
„Entschuldigung. Ich möchte nur ... Sie brauchen einen Mann, der sich um sie kümmert.“ Seine Augen irrten hin und her, in ihrem Gesicht, weiter unten, er atmete schneller.
Annabelle konnte es nicht glauben. Nun machte der auch noch Schwierigkeiten! Sie versuchte die richtigen Worte zu finden, um ihn einerseits zu beruhigen, andererseits ihm klarzumachen, was sie für ihn empfand – nämlich nichts. Er ließ sich nicht los, im Gegenteil, er drehte sie zu sich und zog sie näher zu sich. Seine Nähe war ihr plötzlich unerträglich, sie versuchte sich zu lösen, aber er hielt sie fest und beugte sich zu ihr hinunter.
„Ich glaube, die Dame ist mit Ihrem Benehmen nicht einverstanden“, ertönte eine kräftige Stimme von der Tür her.
Hans ließ sie schnell los und trat einen Schritt zurück. Annabelle schloss erleichtert die Augen und als sie sie öffnete stand Friedrich Falkenberg neben ihr.
„Alles in Ordnung?“, fragte er sie besorgt.
„Ja“, nickte Annabelle. Ihr Herz klopfte zwar immer noch wie wild, aber sie wollte jetzt kein großes Drama.
Hans stand wie ein begossener Pudel im Raum. Er hob die Hände, als wolle er etwas abwehren, drehte sich dann wortlos um und ging zu seinem Stuhl. Er stellte sich hinter den Stuhl, wie zum Schutz vor Friedrich. Der blieb allerdings völlig ruhig neben Annabelle und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Annabelle sortierte sich langsam wieder und wunderte sich: “Was machen Sie hier?“
„Nun“, sagte Friedrich Falkenberg. „Ich bin wohl hier, um Sie vor unerwünschten amourösen Absichten zu beschützen.“
Hans schnaufte laut und wehrte sich: “Ich habe dem Fräulein nichts getan.“
„Noch nicht. Aber Ihre Absichten waren klar.“
„Und was haben Sie für Absichten?“, murmelte Hans trotzig.
„Nun, jedenfalls habe ich nicht vor, die Dame zu kompromittieren. Es ist nicht anständig, ein Fräulein in einer Notsituation auszunutzen.“
Annabelle schüttelte verwirrt den Kopf und drehte sich unter seiner Hand weg. Notsituation? Was glaubte Friedrich Falkenberg eigentlich?
„Ich arbeite hier. Und ich bin nicht in Not“, sagte sie.
Friedrich Falkenberg schüttelte den Kopf: „Das sehe ich anders. Wie dem auch sei: Wir hatten für heute eine Verabredung.“ Annabelle wunderte sich, dass er sie hier im Institut gefunden hatte. Frau Barbara hatte wohl mal wieder einem Paar blauer Augen nicht widerstehen können, und ihren Aufenthaltsort ausgeplaudert.
„Ich habe erst später für Sie Zeit. Kommen Sie am Nachmittag wieder und dann bitte zu mir nach Hause.“
Friedrich Falkenberg sah etwas verwirrt aus, nahm es aber sportlich und verabschiedete sich. Annabelle hatte zwar das Gefühl, als ob noch etwas Unausgesprochenes zwischen den Männern passierte, aber es war ihr egal.
„Bringen Sie mich jetzt runter“, befahl sie Hans. Sie wäre zwar lieber allein gegangen, aber das wagte sie heute nicht. Eine Rüge pro Tag war genug. Der Pathologe war ein Ekel, der es fertigbrachte, sie gleich wieder rauszuschmeißen.
„Fräulein Annabelle, es tut mir leid. Es ist einfach mit mir durchgegangen.“ Hans sah aus, wie ein kleiner Junge, dem man seine Schokolade weggenommen hatte, und der nun versucht, sich wieder beliebt zu machen.
„Mir auch, Hans. Ich wünschte, Sie hätten das nicht getan. Ich schätze Sie sehr als Kollegen.“
Hans atmete tief durch. „Dann sind wir das auch. Kollegen.“ Er hielt ihr die Hand hin.
Annabelle schlug ein. Sie hatte nicht wirklich das Gefühl, als ob die Sache schon beendet wäre, aber sie wollte es für heute dabei belassen.
Während sie Hans in das untere Stockwerk folgte, wo die Kühlkammern waren, versuchte sie, sich nicht über Friedrich Falkenbergs Auftritt zu freuen. Es war aber schon toll gewesen, wie er da wie ein Ritter seine holde Dame vor den Übergriffen des Schurken beschützt hatte. Johanna würde sich darauf stürzen und diese Geschichte im Handumdrehen im Bekanntenkreis verbreiten. Umso wichtiger, dass sie nichts davon erfuhr. Und Frau Barbara würde auch eine Anweisung erhalten, in Zukunft etwas diskreter mit ihrem Aufenthaltsort umzugehen.
Hans öffnete ein Kältefach und zog den Wagen mit der Leiche heraus. Die Frau war unter einem Tuch verborgen. Annabelle deckte sie langsam auf. Erst das Gesicht, das schon erschreckend war, ausgemergelt, mit weit hervorstehenden Wangenknochen und tiefen Schatten unter den Augen, die durch die Leichenblässe noch dunkler aussahen.
Der Rest des Körpers war eine anatomische Studie darin, was geschieht, wenn kein Gramm Fett und fast gar keine Muskelmasse mehr vorhanden waren. Annabelle war entsetzt. Wie hatte es so weit kommen können? Die Präparate hatten auch hier die gleichen Schleimhautveränderungen wie bei der schwangeren Frau gezeigt, nur deuteten sie auf einen längeren Zeitraum hin. Die inneren Organe waren auch verändert, was aber durch das lange Hungern verursacht worden sein konnte.
Annabelle schüttelte entsetzt den Kopf: „Ich verstehe das nicht. Warum ist sie hier?“
„Die Angehörigen wollen wissen, ob sie krank war.“
Was verband die beiden Frauen? Sie waren unter ganz unterschiedlichen Umständen gestorben, aber beide zeigten Symptome einer Vergiftung. Sie hatten zu wenig Informationen.
„Hans, wir müssen mehr über die Frauen heraus bekommen.“
Hans nickte und deckte die Frau wieder zu.
„Aber wie?“, fragte er hilflos.
„Ja, wie? Vor allem, wenn mir sofort ein Maulkorb verpasst wird. Wissen Sie was? Ich könnte den Vorfall von vorhin vergessen, wenn Sie sich dafür starkmachen, dass ich weiterhin Fragen stellen darf.“
Hans sah sehr unglücklich aus, erklärte aber, er würde sein Bestes versuchen.
Annabelle beschloss, so schnell wie möglich die Familie der Toten zu besuchen. Sie würde sich nicht mundtot machen lassen.
* * *
Paul hörte das Klopfen an der Vordertür, ging aber davon aus, dass Frau Barbara schon aufmachen würde. Er untersuchte gerade ein Gemälde mit seiner stärksten Lupe. Er wollte es nicht glauben, aber es schien, als hätte Professor Rosenherz einen echten Gauguin hier hängen.
Es klopfte schon wieder – oder immer noch? Irritiert ging er in den Flur und rief nach der Hausdame. Als er keine Antwort bekam, öffnete er die Tür.
Vor der Tür stand ein Kutscher.
„Ich habe keine Kutsche bestellt“, versuchte Paul den Mann abzuwimmeln.
„Weiß ich“, erwiderte der Mann. „Ich bin wegen dem Fräulein da.“
„Fräulein Rosenherz? Die braucht auch keine Kutsche.“
„Ich soll ihr was ausrichten.“
„Sie können es auch mir sagen.“
Der Mann strich sich seinen buschigen Bart und sah sehr unentschlossen aus.
„Was gibt es denn so Wichtiges?“, fragte Paul.
„Naja, das Fräulein hat ausrichten lassen, sie würde gut bezahlen“, sagte der Mann bedeutungsschwanger.
Paul verlor langsam die Geduld. Was wollte der Mann?
„Nun rücken Sie schon mit der Sprache raus!“
„Bezahlen Sie mich dann?“
„Wofür!?“
„Na für die Information!“
„Welche Information?“
„Ich geh besser.“ Der Mann drehte sich weg und ging die Treppe herunter.
„Nein, bleiben Sie.“ Paul zog seine Geldbörse aus der Innentasche seiner Jacke.
Der Mann drehte sich wieder zu ihm, zögerte aber noch.
Paul seufzte: “Wie viel?“
Der Mann überlegte kurz: “Fünf Mark.“
Paul zog einen Schein heraus. Der Mann witterte seine Chance und sagte schnell: “So viel hat die Reinigung gekostet. Nochmal fünf Mark für den Verdienstausfall.“
Paul wusste, dass der Mann unverschämt war, und er hatte nicht den blassesten Schimmer, was das alles sollte, aber er zog einen zweiten Schein aus seiner Brieftasche. Er war neugierig geworden. Er behielt ihn allerdings in der Hand und sah den Mann erwartungsvoll an.
„Ja ... also das Fräulein ist beim Hotel Brenner eingestiegen. Naja, nicht selbst, einer hat sie getragen. Ich dachte erst, die schläft, und dann haben die gesagt, ich soll sie ins Josefinenheim bringen. Das kam mir schon komisch vor, und ich hab denen gesagt, wer bezahlt mich denn, und da haben die mir was gegeben. Ich dachte noch, es fährt bestimmt einer mit, und es ist auch einer eingestiegen, aber dann kam die reiche Dame und hat geschrien, da sind die vom Brenner mit der Dame schnell ins Hotel. Ich musste vom Bock und die Türe selbst zumachen, der Kerl hat sie festhalten müssen, und dabei seh ich, dass das Fräulein schwanger ist. Naja, ich habs mir schon fast gedacht, warum will man sonst ins Josefinenheim, und ich denk, hoffentlich schaff ichs noch rechtzeitig. Also hab ich dem Gaul die Peitsche gegeben und bin den Berg hoch. Hab mich schon geärgert, weil ich meinen Gaul nicht zuschanden treiben wollte, aber das Fräulein hat gejammert und auch mal geschrien, und ich hab noch nie was mit dem Kinderkriegen am Hut gehabt. Wenn meine Alte dran war, bin ich immer in die Kneipe und deshalb hab ich auch einen Wallach, weil bei den Stuten ...“
„Kommen Sie zum Punkt.“ Paul wurde ungeduldig. Die Geschichte war haarsträubend, und er hatte immer noch keine Ahnung, warum der Mann sie ihm erzählte.
„Nee, gibt keinen Punkt. Habs dann geschafft und der Kerl hat das Fräulein noch reingebracht. Bei Gott, die hat geblutet wie ein Schwein. Ich schau noch nach der Sauerei, da kommt der Kerl schon zurück und sagt nur: »Brenner«. Ich hab den noch zurückgebracht, dann wars das für mich an dem Tag. Der hat nur den normalen Preis bezahlt, ich glaub, der hat mich nicht verstanden, obwohl ich so gebrüllt hab. Bis ich die Sitze sauber hatte und die wieder trocken waren, konnte ich auch zwei Tage nicht fahren. Wenn ich es so recht überlege, fünf Mark ist wenig ...“
Paul dachte nach. So unappetitlich die Geschichte auch war, sie klang wichtig.
„Wie hieß das Fräulein?“, fragte er, um Zeit zu gewinnen.
„Weiß ich nicht.“ Der Mann streckte die Hand nach dem Geld aus.
„Können Sie die Männer beschreiben, die die Frau in die Kutsche gebracht haben?“
„Männer halt. Der eine war ein Angestellter vom Brenner, der andere ne finstere Gestalt, ich mein, vom Gesicht her. Feinen Zwirn hat der angehabt, das kann ich schwören.“
„Wie sah die Frau aus, die noch dabei war?“
„Na, das war eine richtige Dame. Die hatte einen Pelz und Schmuck. Feine Gesellschaft halt.“
„Das hilft mir nicht weiter.“ Paul untersuchte seinen Geldbeutel eindringlich. Der Kutscher leckte sich die Lippen und überlegte.
„Ach ja, wenn ich so überlege, die haben ausländisch gesprochen.“
„Ahh, welche Sprache?“
„Was weiß ich denn? Die Frau hat immer wieder das Gleiche gerufen. Hörte sich an wie: Lalu tebja, oder so.“
„Gut. Danke.“ Paul hatte das Gefühl alles Nützliche erfahren zu haben. Er bezahlte den Mann, der sichtlich beschwingt auf seinen Kutschbock kletterte und mit Sicherheit in der nächsten Kneipe einkehrte.
Jetzt blieb nur noch das Geheimnis, warum Annabelle das wissen wollte.
Einige Zeit später klopfte es erneut an der Haustür. Paul kam sich zwar ein bisschen blöd vor, aber als er wieder keine Schritte von Frau Barbara hörte, legte er seine Arbeit erneut beiseite und ging öffnen. Vor ihm stand ein Blumenstrauß. Ein riesiger Blumenstrauß, hinter dem der Bote fast völlig verschwand. Paul nahm den Strauß und gab dem Boten ein Trinkgeld. Die Arbeit hier geht ganz schön aufs Portemonnaie, dachte er verärgert. Er stand einen Moment mit den Blumen unentschlossen im Flur, dann ging er in die Küche. Dort war der Ofen ausgegangen und es war ungemütlich kalt. Er versorgte den Strauß, in dem er ihn in den erstbesten Topf stellte, den er finden konnte. Dann öffnete er den Gasherd und zündete die Flamme an. Das würde den Raum erwärmen, bis er den Kamin in der Ecke angefeuert hatte.
Da er solche Aufgaben normalerweise nicht erledigte, zu Hause hatten sie Dienstboten für so etwas, dauerte es eine ganze Weile. Der Ofen zog nicht, und als die Küche schon voller Qualm war, kam er erst auf die Idee, die Asche einmal abzurütteln. Als das erledigt war, loderte die Flamme schnell und hoch auf, und kurze Zeit später brannten die Scheite im Ofen. Er machte den Gasherd aus, nachdem er sich einen Tee gekocht hatte.
Mit der Tasse in der Hand sah er sich in der Küche um. Wo war Frau Barbara? Er hatte Hunger und sah vorsichtig in die Schränke und die Vorratskammer. Sie waren nicht gerade üppig gefüllt. Paul wurde klar, dass es sicher schwierig für Frau Barbara gewesen war, ohne den Professor zurechtzukommen.
Im Gegensatz zu Annabelle wusste Paul auch, dass das Geld, das die beiden von der „Stiftung“ bekommen hatten, in Wirklichkeit aus einer anderen Quelle kam. Die Stiftung war noch gar nicht rechtskräftig gegründet, und solange die Sammlung des Professors nicht katalogisiert war, konnte man sie auch nicht verwerten. Geld konnte man ja nur machen, wenn man Teile der Sammlung an ein Museum verlieh oder selbst ein Museum eröffnete. Aber das dauerte noch.
Auch sein eigenes Gehalt kam aus dieser mysteriösen Quelle. Paul glaubte zwar, dass sein Vater den Geldgeber kannte, aber das würde er ihm, Paul, nicht sagen. Über seinen Vater wollte er jetzt nicht nachdenken. Seufzend nahm er sich einen Apfel und begab sich wieder an seine Arbeit.
Er wollte den Schreibtisch ein wenig aufräumen, da fiel ihm der Name »Hertz« auf einem Brief auf. Er hatte selbst einiges von Heinrich Hertz gelesen, dessen Forschung über elektromagnetische Wellen hatte unter anderen dazu geführt, dass man entdeckte, das man Æther mit Strom zähmen konnte. Der Professor hatte einen umfangreichen Briefwechsel mit Hertz, in dem sie über die Natur des Æthers stritten. Professor Rosenherz postulierte, das Æther auch eine Welle wäre, deren Eigenschaften unterschiedlich war, je nach Herkunft und Komprimierungsgrad. Er schlug Hertz sogar vor, eine Maßeinheit des Æthers nach ihm zu benennen.
Paul war fasziniert und ganz ins Lesen vertieft, da hörte er Annabelles Stimme nach Frau Barbara rufen.
„Die ist nicht da”, informierte er sie, als sie in die Bibliothek stürmte.
„Huch!“ Das Fräulein erschrak. Sie vergaß wohl immer, dass er nun den ganzen Tag im Haus war. Sissi fand das toll. Sie fand Paul toll und tanzte um ihn herum. Paul kniete sich zu ihr herunter und knuddelte sie.
„Wo ist sie denn?“, fragte Annabelle verwirrt.
„Keine Ahnung.“ Paul schüttelte den Kopf. „Sie ist schon den ganzen Vormittag weg.“
„Merkwürdig. Sie hat mir nichts gesagt.“ Annabelle zerrte an ihrem Hut, aber sie schien eine Haarnadel vergessen zu haben.
„Es waren einige Leute hier“, erzählte Paul.
„Wer denn?“ Aus ihrer Frisur lösten sich einige Strähnen, und sie warf den Hut ungeduldig auf einen Stuhl.
Paul erzählte ihr von dem Kutscher. Ihre Augen leuchteten, während sie ihm gespannt zuhörte, und als er den Mann nachahmte, lachte sie sogar mehrmals laut auf.
„Was kann das für eine Sprache sein?“, fragte sie ratlos, nahm die Haarnadeln in den Mund und steckte sich die verirrten Strähnen auf.
„Ich vermute, es ist Russisch“, sagte Paul und verfolgte ihre Bewegungen fast hypnotisiert. Sie hielt mit den Armen über dem Kopf inne und sagte an ihren Haarnadeln vorbei: „Ja? Sie können Russisch?“
„Ich liebe dich.“
„Was?“ Annabelle stutzte, ließ die Arme sinken und sah ihn erschrocken an. Paul grinste.
Es klopfte.
Ohne ihm eine Chance zur Erklärung zu geben, öffnete Annabelle schnell die Tür.
„Hier bin ich: Bestellt und geliefert wie versprochen!“
Paul trat einen Schritt zurück. Was machte sein Bruder denn hier?
„Herr Falkenberg!“ Pause. „Kommen Sie doch herein.“
Friedrich trat ein, und als Annabelle die Haustür zu machte, konnte er seinen Bruder im Hausflur sehen und grinste breit.
„Hallo Friedrich“, begrüßte Paul seinen jüngeren Bruder. Selbstverständlich war der wieder in seiner Uniform unterwegs. Immer schneidig, immer auffällig.
„Was willst du hier? Und wer hat dich bestellt?“ Paul verstand die Welt nicht mehr. Es ärgerte ihn maßlos, dass sein Bruder hier war. Friedrich musste sich überall einmischen!
Friedrich lachte, und zeigte auf Annabelle, die ratlos zwischen den Brüdern stand. Wieder einmal fiel ihr auf, dass die beiden wenig gemeinsam hatten. Blond und braun, muskulös und schlank, charmant und zurückhaltend.
Paul sah sie an, Friedrich sah sie an.
„Ich habe ihn nicht bestellt.“ Warum hatte sie das Gefühl, sie müsse sich verteidigen?
„Wir haben eine Verabredung. Wollen Sie mich jetzt noch einmal abweisen?“ Friedrich grinste lausbübisch.
„Nein! Ach, gehen wir doch ins kleine Zimmer.“ Annabelle hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte. Normalerweise würde jetzt Frau Barbara sagen, dass sie einen Kaffee servieren wollte, und dann würde sie sie in ihr Zimmer scheuchen, um sich umzuziehen.
„Ich muss mich umziehen!“, brach es aus ihr heraus. „Nehmen Sie sich einen Likör, oder so.“ Sie wedelte hilflos mit der Hand in Richtung des Servierwagens mit Spirituosen.
Dann rannte in ihr Zimmer.
„Was machst du hier?“, fragte Paul seinen Bruder noch einmal, nachdem er sich tatsächlich ein Glas mit irgendeiner braunen Flüssigkeit eingeschenkt hatte.
„Sie ist süß, oder?“, grinste sein Bruder frech und warf sich in einen Sessel.
Paul trank entnervt einen großen Schluck. Mächtiger Fehler. Die Flüssigkeit brannte wie Feuer. Was war das? Er hustete und holte tief Luft. Mit Tränen in den Augen entzifferte er das Etikett. Es war ein schottischer Whiskey – cask strength. Den trank man normalerweise nicht pur, sondern mit Wasser verdünnt.
Als das Brennen im Hals zugunsten eines Feuerchens in seinem Magen nachließ, sah er zu seinem Bruder, der sich köstlich über ihn amüsierte.
„Sie ist nichts für dich“, befand Paul.
„Warum denn, Brüderchen? Hast du selbst ein Auge auf sie geworfen? Nein, Paul, du doch nicht. Weißt du denn überhaupt, was man mit einer Frau so redet? Oder macht? Wusstest du überhaupt, dass sie eine Frau ist? Ein süßes Fräulein, besser gesagt.“
Paul wollte sich nicht provozieren lassen. „Sag mir, was du vorhast.“
„Und wenn nicht?“
Es war fast unmenschlich schwer, nicht in das gleiche Verhaltensmuster wie immer zu verfallen. Paul hielt sich eigentlich für einen sehr ruhigen Menschen, aber sein Bruder brachte ihn im Nu zur Raserei und als Kinder hatten sie sich häufig geprügelt. Er beherrschte sich und trank noch einen Schluck.
Friedrich lachte und setzte nach: „Gib zu, du findest sie auch süß. Du hast ihr eines deiner Spielzeuge geschenkt.“
Paul sah Friedrich verblüfft an.
Der lachte lauter. „Dein Gesicht ist wunderbar!“
„Ach, lass mich doch in Ruhe.“ Paul stand auf und wollte gehen.
„Hör zu Paul: Ich tu ihr schon nichts. Ich gehe heute mit ihr aus, weil sie mir was schuldet. Dann hat sie eine Vergleichsmöglichkeit und kann sich entscheiden.” Friedrich sah selbstzufrieden aus. Paul zweifelte keine Sekunde daran, dass Friedrich seinen ganzen Sold des nächsten Jahres verwettet hätte: Für ihn gab es nur eine richtige Entscheidung, die das Fräulein treffen konnte.
“Ich sehe, dass du dich für sie verantwortlich fühlst”, sagte sein Bruder jetzt. “Aber das bist du nicht. Du bist für das ganze tote Inventar hier zuständig. Ich übernehme das Lebende.“
„Jetzt hörst du mir zu, Friedrich“, sagte Paul entschlossen. Einiges dieser Entschlossenheit hatte er einer schottischen Destillerie zu verdanken, aber er hatte die Nase voll: “Du geht mit ihr aus, du bringst sie nach Hause, und wenn ich das Gefühl bekomme, dass du sie nicht behandelt hast wie eine Königin, dann wirst du das bereuen. Sie hat viel durchgemacht, und es kommen sicher noch schwere Zeiten auf sie zu. Ich möchte nicht, dass du das ausnutzt.“
Friedrich sah seinen Bruder überrascht an. Dann nickte er.
* * *
Annabelle hatte Pauls Ausbruch gehört. Sie hatte nicht vorgehabt zu lauschen, aber sie hatte das Gespräch der Brüder auch nicht unterbrechen wollen. Nun stand sie im Flur und wusste nicht, was sie denken sollte. Das war ihr eindeutig zu viel Aufregung um ihre Person.
Sie hatte sich umgezogen und ein Kleid in einem gebrochenen weiß gewählt. Die Korsage war vorne geschnürt und darüber trug sie eine Bluse aus Spitze. Auch ihre Handschuhe waren weiß und die einzigen Farbtöne waren ihre Ohrringe, die in Grün- und Blautönen gehalten waren. Sie stellten stilisierte Libellenflügel dar, in ihrer Mitte blitzte ein Aquamarin. Aber sie kam sich albern vor, und hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, wenn sie das Zimmer mit den Brüdern betrat. Sie würde am liebsten wieder die Treppe hochrennen und sich in ihrem Zimmer einschließen.
Sie zuckte zusammen, als sich die Haustür öffnete und Frau Barbara eintrat.
„Da bist du ja!“, rief Annabelle erleichtert aus. „Wo warst du denn den ganzen Tag?“
„Ach Kind, ich war auf dem Bauernmarkt in Balg. Dort gibt es die besten Kartoffeln. Ich habe Vorräte eingekauft, und dort doch tatsächlich die Frau Markwart und ihre Schwester getroffen. Denk mal, der Sohn von der Frau Markwart hat endlich geheiratet, und da hat sie mich eingeladen zu einem Kaffee und wir haben die Zeit vergessen.“
„Wir haben Besuch“, flüsterte Annabelle und zeigte auf die Tür zum kleinen Zimmer.
„Wen denn?“
„Die beiden Falkenbergs.“
„Peter und Paul?“
„Nein, Paul und Friedrich.“
„Wer ist denn Friedrich?“ Frau Barbara legte schnell ab und schleppte ihren schweren Korb in Richtung Küche. Hinter ihr kam ein Junge mit einer Kiste voller Gemüse die Eingangstreppe hoch. Annabelle schloss die Tür hinter ihm und folgte den beiden.
Frau Barbara stand in der Küche vor dem Blumenstrauß.
„Wo kommt der denn her? Der ist ja wundervoll! Aber Kind, hättest du ihn nicht in eine Vase stellen können?“
„Ich wusste nicht, dass er da ist“, sagte Annabelle verdattert.
„Der braucht dringend Wasser. Hol doch mal die große blaue Vase. Und wer hat angefeuert? Warum stinkt es denn hier so nach Qualm?“
Annabelle verschwand lieber aus der Küche, bevor sie noch mehr herumkommandiert wurde.
Sie ging langsam in Richtung des Zimmers, in dem die Brüder sich aufhielten. Ihr spukte wieder Pauls Rede im Kopf herum, und dass er ihr zuvor gesagt hatte, dass er sie liebe. Sie wusste nicht, wie sie ihm in die Augen schauen sollte.
Als sie das Zimmer betrat, klopfte ihr Herz bis zum Hals. Zu ihrer Überraschung befand sich aber nur Friedrich in dem Raum. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und stand am Fenster. Annabelle bewunderte unwillkürlich seine breiten Schultern, die durch den Schnitt der Uniform noch betont wurden. Er drehte sich um und lachte sie an. Seine wachen blauen Augen ließen nichts von dem Streit erahnen, den er mit seinem Bruder gehabt hatte.
„Sie sehen atemberaubend aus!“, schmeichelte er ihr.
„Das klingt einstudiert“, beschwerte sich Annabelle, freute sie sich aber trotzdem. Sie hatte sich Mühe gegeben. Nur mit ihren Haaren war sie nicht zufrieden. Sie schaffte es nicht ohne Frau Barbara oder Johanna, eine angemessene Frisur aus dem Wust ihrer langen braunen Zotteln zu kreieren. So hatte sie sich einfach einen neuen Zopf geflochten, ihn hochgesteckt und mit einem verzierten Kamm geschmückt.
„Ich bin fast fertig. Wo wird es denn hingehen?“ Sie nahm eine Vase aus der Vitrine.
„Das verrate ich nicht.“ Friedrich nahm ihr die Vase aus der Hand. Sie ließ es geschehen und er folgte ihr wie ein Hund in die Küche.
„Wo ist ihr Bruder?“ Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass Paul nicht mehr in dem Zimmer gewesen war.
„Was weiß ich. Er ist immer so ein Miesepeter. Er versteht nichts von Spaß.“
„Aber Sie?“, fragte sie provokant.
Er grinste: „Sie sagen es mir heute Abend, wenn ich Sie hier wieder absetze.“
Sie betraten die Küche, wo Frau Barbara erschrocken den Salat in den Spülstein fallen ließ, als sie Friedrich in seiner Uniform erblickte.
Annabelle stellte Friedrich vor, der der erröteten Haushälterin einen Handkuss gab und ihre Küche lobte. Annabelle beobachtete neugierig, wie er es schaffte, ihre Hausdame mit ein paar Worten für sich einzunehmen. Sie wusste jetzt schon, was sie sich die nächsten Tage anhören durfte.
Der Strauß wurde arrangiert und gelobt und noch einmal bewundert, bis Annabelle die Nase voll hatte und sich schon mal ihren Mantel anzog, natürlich sofort unterstützt von dem ihr nachgeeilten Friedrich. Sie wurden von einer glücklichen Frau Barbara verabschiedet und gingen ein Stück die Straße entlang, wo Friedrich eine Kutsche heranwinkte.
Die Gaslaternen wurden gerade angezündet, während sie die Lichtenthaler Allee entlang fuhren. Annabelle war sich sicher, dass Friedrich Falkenberg sie ins Kasino führen würde. Sie liebte das Kasino, auch wenn sie nur selten spielte. Ihr Vater hatte es nicht gemocht, aber viele der Gäste, die er beherbergte, wollten dort im Schein der Kristallleuchter die Dame Fortuna herausfordern.
Aber bevor sie am Kasino ankamen, bog die Kutsche nach rechts auf die Kreuzstraße und dann in Richtung Augustaplatz. Dort gab es einen Stau, weil zwei Automobile ineinander gefahren waren. Die Automobilisten standen sich gegenüber und brüllten sich fäusteschüttelnd an. Die Droschken versuchten einen Weg um die Unfallstelle herum zu finden, aber die Pferde waren durch den Auflauf und die dampfenden Automobile erschreckt und wollten nicht weiter, schnaubten und stiegen, wieherten und schäumten. Die Droschkenkutscher schrien abwechselnd ihre Pferde und die Automobilisten an. Die Menge Schaulustiger, die sich versammelt hatte, verbesserte die Lage nicht.
Annabelle spürte, wie der Soldat sich aufrichtete und seine Aufmerksamkeit fokussierte.
Wie ein Spürhund witterte er den Geruch des Ereignisses. Seine Augen und Ohren ertasteten mögliche Eskalationen, sein Körper war angespannt, bereit zum Eingreifen. Sie merkte, dass er sich wegen ihr beherrschte, und legte ihm die Hand auf den Arm.
Er sah sie an, und sie nickte. Geschmeidig sprang er aus der Kutsche. Sie lehnte sich zurück und beobachtete, wie er mit einigen Sätzen und Befehlen die Menge zerstreute. Er war Herr der Lage, seine natürliche Autorität ließ die Menge sich teilen, die Gespräche verstummen und die Emotionen entspannten sich. Nachdem er noch geholfen hatte, die Automobile aus dem Weg zu schieben, kehrte er zu ihr zurück und gab dem Kutscher den Befehl zum Weiterfahren.
Er war nun völlig entspannt. Annabelle war fasziniert. So etwas hatte sie noch nicht erlebt. Ihrem Vater wäre die Verzögerung noch nicht einmal aufgefallen, möglicherweise wäre er mit ihr umgekehrt oder ausgestiegen, um zu Fuß weiter zu gehen. Aber Friedrich Falkenberg war in seinem Element gewesen und nun sah er sie zufrieden an. Völlig selbstverständlich legte er seinen Arm auf die Rückenlehne – und damit auch um sie. Sie spürte seine Wärme neben sich und fühlte sich sicher und geborgen.
Der Abend verging wie im Flug. Friedrich Falkenberg hatte einen Tisch in der eleganten Villa Lotzbeck bestellt. Kristallleuchter, Kerzenschein, flüsterleise Kellner, Klaviermusik und wunderbares Essen in prächtiger Umgebung. In solchen Restaurants konnte man sich nur wohlfühlen, denn alle waren so höflich und zuvorkommend, das es schwer wäre, sich nicht zu entspannen und einfach nur zu genießen.
Er war ein unterhaltsamer Tischpartner, wenn auch die Gespräche sich hauptsächlich um seine liebste Freizeitbeschäftigung, das Jagen, drehten. Er gab eine Anekdote nach der anderen zum Besten, und Annabelle amüsierte sich, denn er erzählte lebendig und lustig. Er vergaß auch nicht, ihr zwischendurch Komplimente zu machen. Als sie das zweite Glas Wein getrunken hatte, fand sie ihn unwiderstehlich. Das Leben schien so leicht, warum hatte sie es sich so schwer gemacht?
“Sind Sie schon einmal mit einem Luftschiff geflogen?“, fragte Friedrich.
“Selbstverständlich“, antwortete Annabelle. Ihr Vater war immer neugierig auf alle Neuheiten gewesen, und sie hatte die ein oder andere Jungfernfahrt mitgemacht. “Ich habe allerdings Höhenangst.“
“Ich liebe Luftschifffahrten. So über den Dingen zu gleiten ... Andererseits ist man da so weit weg vom Geschehen. Ich bin gerne in vorderster Reihe.“
Annabelle ließ ihren Löffel sinken: „Aber ist das nicht gefährlich?“
Er lachte: “Ja! Aber wir können ja die Verdorbenen nicht einfach frei herumlaufen lassen! Letzte Woche zum Beispiel kam eine Nachricht, dass in Oos ein Wesen herumgeistert, das mit den Hunden um die Wette heult, und ihnen dann die Kehle herausreißt. Wir haben zwei Nächte lang den Stadtteil durchkämmt, bis wir es in die Ecke getrieben hatten. Schließlich haben wir es auf frischer Tat gestellt. Der Hund hat es leider nicht überlebt.“ Er nahm begeistert einen Bissen seines Kuchens.
Annabelle schauderte. „Was habt ihr mit ihm gemacht?“
„Mit wem?“, fragte er mit vollem Mund.
„Na mit dem Verdorbenen!“
„Achso, ich dachte mit dem Hund. Naja, nachdem Heinz ihn geblitzt hat, haben die Berichtiger ihn aufgesammelt. Ich weiß allerdings nicht, was es da noch zu berichtigen gab. Dem waren Haare überall gewachsen, und Zähne hatte der ... Den hätten sie in einer Kuriositätenausstellung gebrauchen können. Und der hat nur noch geknurrt, da war nicht mehr viel Menschliches. Ich hätte ihm eine Kugel durch den Kopf gejagt, das wäre gnädig gewesen.“ Er sagte das ganz sachlich.
„Ja, aber wo wird so jemand hingebracht?“ Sie wollte, dass er ihr etwas über die Berichtiger erzählte.
Friedrich Falkenberg sah sie an. „Darüber sollte sich ein hübsches Fräulein nicht den Kopf zerbrechen.“ Annabelle merkte, dass es ihm leidtat, das Thema angeschnitten zu haben. Er hatte nur seine Rolle in dieser Geschichte herausstreichen wollen, um vor ihr anzugeben, damit sie ihn toll und stark fand. Aber das war eben ihr Problem: Sie dachte weiter als die meisten, sie wollte es wissen.
„Ach, Herr Falkenberg“, gurrte sie. „Ich will eben die ganze Geschichte wissen. Dann kann ich mir sicher sein, dass ich nachts nicht davon träume und mich beschützt fühlen.“
Für einen Moment hatte sie das Gefühl, dass Friedrich ihr auf die Schliche gekommen war. Sie war keine gute Schauspielerin. Sie berührte seine Hand mit ihrer rechten Hand und sah ihm in die Augen. Friedrich nahm ihre Finger und führte die Hand zum Mund.
“Ich würde immer gut auf Sie aufpassen”, behauptete er großspurig.
“Besser als Ihr Bruder?” Sie hatte keine Ahnung, warum sie jetzt an Paul gedacht hatte.
Er lachte und lehnte sich zurück. Sein Blick wanderte von ihr weg über die anderen Gäste im Raum.
Sie hatte keine Antwort bekommen und überlegte, ob sie ihn noch einmal bedrängen sollte. Dann ärgerte sie sich: Warum konnte sie nicht einfach den Moment genießen? Sie nahm noch einen Schluck Wein und versuchte sich der Stimmung hinzugeben. Sie saß hier mit einem gut aussehenden, starken Mann, der sie hofierte und mit Komplimenten überschüttete. Warum konnte sie sich nicht einfach entspannen? Was würde Johanna jetzt tun?
Friedrich seufzte und kratzte sich am Kopf. Offensichtlich suchte er nach einem Gesprächsthema. Dann leuchtete sein Gesicht auf: “Heute sind wir zum ersten Mal unsere Nachtmahre geflogen!“
Annabelle sah ihn fragend an.
„Ich habe mich bei den Nachtschatten beworben und bin getestet worden. Es ist eine neue Spezialeinheit. Wir haben da kleine Gleiter, mit denen wir fliegende Einsätze über Krisenherden ausführen können. Der Gleiter ermöglicht es, aus dem Flug direkt in den Nahkampf zu gehen. Das Gerüst ist ganz leicht und wird dem Körper angepasst. Die Flügel werden von Ætherkissen getragen. Es ist gigantisch, völlig lautlos. Wir sind heute das erste Mal wirklich geflogen. Ich bin aber sehr gespannt, wie es sich bei Nacht anfühlen wird. Das ist nicht leicht, und die Ersten haben schon aufgegeben.“ Er glättete selbstverliebt seine Uniform und reckte sein Kinn in die Höhe.
Annabelle war neugierig: “Das hört sich aufregend an. Wie sehen die Flügel aus? Wie bei einem Flughund oder doch wie ein Vogel?“
“Sie wollen es aber genau wissen.“ Er nahm einen Schluck Wein.
“Es interessiert mich halt. Das ist doch wichtig, schließlich ist das eine ein Gleitflieger und kann mit statischen Flügeln konstruiert werden, während das andere …“
“Halt, halt“, unterbrach Friedrich ihren Gedankengang. “So eine Diskussion könnten Sie mit meinem großen Bruder führen.“
“Ich bin aber mit Ihnen hier.“ Sie lächelte ihn an und er reagierte sofort.
“Sie sind zauberhaft.“ Er sah ihr in die Augen und sie vergaß ihre Gedanken über Flugmaschinen.
„Lassen Sie uns gehen“, sagte Friedrich dann abrupt und stand auf.
Er half ihr in den Mantel und sie hakte sich bei ihm unter. Zu Fuß gingen sie wieder zum Augustaplatz. Inzwischen war es völlig dunkel, nur noch wenige Spaziergänger tummelten sich unter den Gaslaternen. Es war kalt und sie war froh, ihren dicken braunen Mantel mit dem Pelzinnenleben angezogen zu haben. Sie kuschelte ihre Hände in ihren Muff.
„Was möchten Sie gerne noch tun?“, fragte er sie.
„Ich weiß nicht.“ Annabelle genoss es eigentlich sehr, an seiner Seite zu laufen. Wäre es nicht wunderbar, überlegte sie, immer so mit einem Mann gehen zu können? Friedrich bewegte sich so sicher und sie müsste ihm einfach nur folgen. Keine Entscheidungen mehr, kein Kampf, keine Sorgen? Sollte er die Antwort auf ihre Schwierigkeiten sein? Annabelle konnte sich die Reaktionen von Frau Barbara und Onkel Karl genau vorstellen. Friedrich war als Soldat mit Aussicht auf Karriere eine gute Partie, und mit seinem Charme würde er alle für sich einnehmen.
Andererseits: Heirat, Kinder, Käfig? Annabelle sah nach oben und betrachtete Friedrichs Profil. Woran dachte er gerade? Nicht an sie, das spürte sie. Er lotete die Nacht aus, die Möglichkeiten, die sich ihm noch boten. Wie würde er sie behandeln, wenn sie verheiratet wären? Würde sie weiter im Institut arbeiten dürfen? Sicher nicht. Die meisten Männer duldeten es nicht, dass ihre Frauen arbeiteten, wenn es nicht nötig war. Was würde aus Papas Sammlung, aus ihren Häusern? Und was, wenn er bei einem Einsatz umkäme? Das Leben eines Blitzmannes war gefährlich.
Aber das Wichtigste: Wenn sie ganz ehrlich war, fühlte sie, dass sie trotz allen guten Gefühlen nicht in ihn verliebt war. Sie nahm all seine tollen Eigenschaften durch eine was-wäre-wenn Brille wahr, so, wie Johanna ihn sehen würde. Ja, sie fühlte sich wohl bei ihm. Sie wünschte sich, in Gefahren so jemanden wie ihn an ihrer Seite zu haben, und sie konnte sich auch vorstellen, ihn zu küssen und von ihm aus einem brennenden Haus getragen zu werden.
Aber er berührte ihre Seele nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, mit ihm alt zu werden, sich jeden Tag an seiner Gegenwart zu erfreuen. An ihm zu wachsen, mit ihm zu erfahren und zu erforschen. In die Geheimnisse der Welt einzutauchen. Sie brauchte jemanden, der die gleiche Faszination für die großen und die kleinen Dinge empfand, der stets neugierig war, der Fragen stellte, und sie auch beantworten wollte.
Für Friedrich war es genug, seinen Teil an der Aufgabe erledigt zu haben. Was danach geschah, interessierte ihn nicht. Er suchte lieber nach neuen Herausforderungen. Sie wollte traurig sein, für ihn, aber das war nicht nötig. Er war genug, so wie er war. In seiner Welt war er gut, und das reichte für sein Glück.
Auch Friedrich war in Gedanken versunken, und wieder einmal waren sie an der Allee angelangt, sahen sie Lichter der Trinkhalle an sich vorbeiziehen. Jetzt könnten sie noch ins Kasino gehen. Noch mal ausgelassen spielen, unter schönen und gut gelaunten Menschen sein, vielleicht tanzen ...
„Herr Falkenberg“, sagte sie und sah ihn an.
„Ja?“, fragte er, schaute nach unten, lächelte und sie sah in seinen Augen, dass er ganz weit weg gewesen war.
„Ich möchte nach Hause.“
„Fräulein Annabelle ...“, sagte er erstaunt.
„Nicht“, stoppte sie ihn.
Er hielt an, und schaute ihr noch einmal tief in die Augen, als ob er etwas darin suchte. „Ist es wegen Paul?“
„Ich weiß es nicht.“ Sie schüttelte den Kopf und wich seinen Augen aus.
„Verdammt. Das ist mir auch noch nie passiert”, fluchte er.
Annabelle zog eine Augenbraue hoch, denn nun fühlte sie es genau: Er war nur gekränkt, weil er dachte, gegen seinen Bruder verloren zu haben. Es ging ihm nicht um sie. Der ganze Abend war ein Automatismus gewesen, für ihn nur einer von vielen Abenden mit einer netten Frau.
Ihr fiel wieder ein, was Paul gesagt hatte. Zuerst das, was er zu Friedrich gesagt hatte, und dann das, was er zuletzt zu ihr gesagt hatte. Was sie die ganze Zeit verdrängt hatte, weil es zu überraschend gekommen war. Zu verwirrend.
Er hatte: “Behandle sie wie eine Königin“ und „Ich liebe dich“ gesagt.
„Es gibt immer ein erstes Mal“, sagte sie leise.
* * *
Katharina stürmte in die Konditorei. Sie drängelte sich durch die Kundschaft, die geduldig auf ihre Waren wartete, an der Kasse vorbei in den Hinterraum.
„Walter!“, rief sie laut, schon bevor sie die Tür zu seinem Büro öffnete.
Ihr Bruder sah von seinen Büchern auf. Katharina erschrak: Er sah schlecht aus. Sie wusste, dass ihr Bruder ein hässlicher Mensch war, ihre Freundinnen machten aus ihrer Abscheu ihm gegenüber keinen Hehl. Schon als sie noch Kinder waren wurde er nur selten geduldet – er sah zeitweilig aus wie eine fette braune Made, so kahl und teigig.
Aber heute hatte er zusätzlich tiefe Schatten unter den Augen.
„Was ist mit dir?“, fragte sie, verlor aber sofort das Interesse an ihm.
„Walter, ich brauche deine Praline.“
Walter nickte. Er kannte seine Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie sich damit etwas erkaufen musste. Sie lebte in einer Traumwelt. Sie hatte nicht den kleinsten Funken Talent, wollte aber unbedingt ein Star auf der Leinwand sein.
„Reicht nicht auch ein bisschen Geld?“ Er gähnte.
„Nein“, kreischte Katharina. Sie stampfte mit dem Fuß auf. Dann suchte sie einen Spiegel. Sie kontrollierte, ob ihr ausladender Hut noch richtig saß. Er war unfassbar schwer, mit all den Pfauenfedern und anderen Verzierungen. Und er musste schräg auf den Kopf sitzen. Ihre Friseurin hatte die Haare der Perücke kompliziert aufstecken müssen, um den Hut so zu platzieren, wie es nach der neuesten Mode richtig war.
Nachdem Katharina auch noch den Sitz ihrer Kleidung und des üppigen Schmuckes kontrolliert hatte, drehte sie sich zu Walter um.
„Ich muss eine Einladung zu einer Soirée bei Frau Glaser bekommen. Stell dir vor, sie hat Lalique eingeladen! Und sicher wird er seine neuesten Kreationen mitbringen. Ja, natürlich muss ich auch noch mehr Geld haben, ich sterbe sonst, wenn ich nichts von ihm kaufen kann. Aber Walter, ich brauche viel »Herzblut«, dann können sie mich nicht ablehnen.“
Walter verstand seine Schwester. Sie war unerträglich, oberflächlich und eitel. Aber er konnte nicht anders.
Katharina war drei Minuten vor ihm geboren, seine Zwillingsschwester. Zwei haarlose Würmer, die von der stark geschwächten Mutter kaum gepflegt wurden. Sie wuchsen gesund auf, allen Widrigkeiten zum Trotz. Ihre Umgebung ekelte sich vor ihnen und viele verachteten sie ganz offen. In dem kleinen Dorf am Kaiserstuhl kannte jeder jeden, und es gab viele Spekulationen, was ihre Eltern getan hatten, um so eine Strafe Gottes zu verdienen. Das schweißte die Zwillinge noch mehr zusammen. Sie waren sich einig gegen alle und jeden, und vor allem gegen ihren großen Bruder. Der hatte alles, was sie nicht hatten. Zum einen Haare, Augenbrauen und Wimpern, zum anderen ein angenehmes Wesen und viele Freunde. Man konnte ihn nur hassen!
Umso schlimmer für die Familie (zumindest einen Teil davon), als Georg einen schrecklichen Unfall hatte. In seinem unendlichen Gerechtigkeitssinn hatte er sich vor einen Freund geworfen, der von einem Blitzmann beschossen wurde. Die beiden waren nach einem Ausflug in einen Einsatz der Spezialeinheit geraten, und zu unrecht verdächtigt worden, ein junges Mädchen ermordet zu haben. Georg wurde schwer von einem Ætherblitz getroffen, und man hatte die Familie benachrichtigt, dass er nicht mehr gesund werden würde.
Die Familie war daran zerbrochen. Man war nach Baden-Baden umgezogen, weil es dort eine Spezialklinik gab, aber es erfolgte keine Besserung. Die Eltern gingen bankrott und mussten in der Ætherfabrik arbeiten. Walter hatte Glück. Er kam bei einem Konditor unter, der es gut fand, dass der Junge keine Haare hatte. So konnten auch keine im Gebäck landen.
Es stellte sich heraus, dass Walter ein begabter Konditor war. Er wurde zum Gesellen und schließlich zum Meister und übernahm nach dem Tod des Alten das Geschäft. Katharina wurde Putzmacherin. Aber sie war nicht fügsam und konnte sich schlecht beherrschen; nach der Lehrzeit wurde sie nicht übernommen. Sie schmarotzte noch eine Weile bei den Eltern, bis diese genug von ihr hatten. Walter nahm sie auf, da er auch immer noch keine Frau gefunden hatte, die es mit ihm aushielt. Das machte nichts. Er konnte es sich leisten, Frauen für seine Bedürfnisse zu kaufen, und war ansonsten froh, niemanden um sich zu haben, der dumme Fragen stellte. Katharina interessierte sich nur für sich und ihre eingebildete Karriere beim Film.
„Wie viel brauchst du denn?“, fragte er nun resigniert.
„Drei, nein, mach vier Dutzend.“
Walter seufzte. „Ich weiß nicht, ob ich noch so viel habe. Wir haben viele Bestellungen.“
„Mach nicht so ein Drama!“, fuhr Katharina ihn an. „Dann machst du halt Neue.“
„Ich muss erst Nachschub holen. Du weißt schon.“
Einen Moment wurde Katharinas Gesicht weich. Fast schien es Walter, als ob sie doch ein wenig Mitleid hatte. Dann verhärtete es sich wieder, und sie sagte kalt: “Dann ist das so. Wir haben es verdient.“
Ja, dachte Walter, das haben wir. Er strich seiner Schwester über die Wange, aber die drehte sich um und rief im Rausgehen: “Ich lass es nachher abholen.“