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Staub und Steine regneten unter meinen Füßen in die Tiefe. Ich hielte inne und sah nach unten. Ich hatte die Bergmitte erreicht. Die schmalen Felssimse führten von links oben nach rechts unten, und der Wüstenboden war ein schönes Stück entfernt. Meine Nase war bereits vom Felsstaub verstopft, ich nieste, hielt mich gut fest und putzte mir die Nase. Verdammter Staub!
Der Aufstieg selbst war nicht einmal besonders schwierig. Es gab keine der Probleme, mit denen ich es bei früheren Kletterpartien in die Gefahr zu tun gehabt hatte. Ich hoffte nur, daß es keine Augen gab, die mich beobachteten.
Viereckige, zusammengemauerte Steinblöcke kamen in Sicht. Die mußte ich vorsichtig umgehen. Vermutlich handelte es sich hier um ein vorstehendes Bauwerk, wahrscheinlich eine Verteidigungsstellung. Das Ziel, das ich im Sinn hatte, lag höher, viel höher.
Die Zwillingssonnen von Scorpio bewegten sich über den wolkenlosen Himmel. Ein Teil des zutagetretenden Felsens war im Licht glänzender Sandstein. Jenseits des ersten Bauwerks führte der Weg seitlich in die Höhe. Ich legte den Kopf in den Nacken und starrte nach oben. Das nächste Gebäude ragte direkt aus der Felswand. Hm. Anscheinend beschrieb der schmale Sims dort einen weiten Umweg. Ich schlug sofort eine andere Richtung ein und kletterte zentimeterweise steil nach links in die Höhe. Das brachte mich in die Schatten zurück, worüber ich dankbar war. Die Temperatur fiel beträchtlich.
Als ich an dem Bau vorbeikletterte, der ins Nichts ragte, kam ich zu dem definitiven Schluß, daß es sich um den Teil einer Festung handelte. Die Brustwehr war mit Zinnen versehen, und ein Stück weiter hinten gab es Plattformen voller Varter, deren Spitzen äußerst bedrohlich aussahen. Jeder Angriff auf diesen Ort würde schwere Probleme mit sich bringen und eine sehr blutige Angelegenheit werden.
Da es überall loses Geröll, Schieferstücke, Staub und von den Elementen verwitterte, losbröckelnde Steine gab, ging der Aufstieg nur langsam vonstatten. Es würde vor dem Gipfel bestimmt einen Zugang zu der Zitadelle geben – zumindest hoffte ich das, bei Djan!
Es gibt bei jeder Bergbesteigung einen Zeitpunkt, an dem sich der Geist vom Körper löst. Es macht sich ein euphorisches Wohlbefinden breit, das sich in keiner Weise störend auf die technischen Aspekten des Kletterns auswirkt. Während des Aufstiegs dachte ich zum erstenmal über eine Sache nach, die vermutlich fast alle an der Angelegenheit Beteiligten für lächerlich gehalten hätten. Ich, Dray Prescot, war fest entschlossen, Dokertys Prisma der Macht zu zerstören. Das war die Aufgabe, die vor mir lag.
Ja, doch andererseits – welches Recht hatte ich denn überhaupt, ein religiöses Symbol zu zerstören? Das Prisma wurde als heiliger Gegenstand betrachtet. Es war Dokerty geweiht. Ich war im Begriff, ein Sakrileg zu begehen. Dann rutschte mein Fuß ab, und ich mußte mich festklammern. Die Phantome der Philosophie verschwanden. Doch diese Frage war nicht völlig aus der Luft gegriffen, wie Sie noch hören werden, wenn es an der Zeit ist.
Eine Reihe von Vorsprüngen, an denen Hände und Füße Halt fanden – und die man wirklich nicht als sicher bezeichnen konnte, bei Krun! – führten schließlich zu einem Etwas, das man mit viel Humor als Weg bezeichnen konnte, der steil nach oben führte. Die Felswand war hier mit eingemauerten Ziegelsteinen verstärkt worden. Der schwarze Schatten, der über allem schwebte, entpuppte sich als zweistöckiger Wachturm.
Der dunkle Umriß eines in einer Rüstung steckenden Mannes beugte sich über die Brüstung.
»Wenda!« Seine Stimme, die mir »Wer geht da!« entgegenrief, klang heiser. Außerdem war er überrascht. Kein Wunder!
»Hai, Dom!« rief ich so freundlich nach oben, wie mir möglich war. »Ich bin hocherfreut, dich zu sehen. Möge Dokerty mich erlösen. Reich mir bitte deine Hand, denn ich kann mich nicht länger halten.«
Der kluge, durchtriebene Dray Prescot, das Plappermaul!
Er zielte mit dem Bogen und schoß.
Der Pfeil traf den Fels neben meinem Kopf, prallte ab und wurde ins Nichts geschleudert. Er machte dabei ein verdammt widerwärtiges Geräusch, das kann ich Ihnen sagen.
Hier hing ich nun an der blanken Felswand fest wie ein zur Schau gestelltes, aufgespießtes Insekt, und dieser Kerl schoß auf mich.
Keine empfehlenswerte Lage, bei Vox!
Nun gibt es viele Leute, die für die gute alte kregische Gewohnheit, ein regelrechtes Waffenarsenal mit sich herumzuschleppen, nichts als Hohn und Spott übrighaben. In dieser Situation erschien diese verächtliche Einstellung dumm. Ich trug keine Scheiden voller Terchicks hinter die Schulter geschnallt, konnte dem Schützen also kein Wurfmesser entgegenschleudern. Der Bogen ragte wieder über die Brüstung. Die Pfeilspitze war schwarz und sah verdammt spitz und scharf aus. Das Ding war garantiert mit tückischen Widerhaken versehen.
Er schoß. Diesmal saß der Pfeil genau im Ziel. In letzter Sekunde fuhr mein Braxter in die Höhe und wehrte das Geschoß ab.
Ein Stück unterhalb dieses teuflischen Wächters und seiner Pfeile gab es eine Tür im Mauerwerk des Wachturms. Ich holte tief Luft, machte einen gewaltigen, gewagten Sprung in die Höhe und verschwand aus seiner Sicht, noch bevor er den nächsten Pfeil einspannen konnte. Es kümmerte mich nicht, ob er weiterschoß oder nicht.
Ein über der Tür befindlicher Holzkran verriet, auf welche Weise sie Vorräte nach oben brachten. Die Axt öffnete mir die Tür, und ich taumelte hinein.
Eine Fackel flackerte qualmend an der primitiven Steinwand. Der Gang führte geradeaus zur gegenüberliegenden Tür. Ich steckte die Axt weg, zog das Schwert und setzte mich in Bewegung. Die Tür öffnete sich – und da stand er, stämmig und kompromißlos. Der Bogen war gespannt und zielte genau auf mich.
Der Pfeil zischte durch die Luft. Die Disziplinen der Krozairs von Zy bestimmten mein Handeln. Das Schwert fuhr ruckartig in die Höhe und wehrte das Geschoß rechtzeitig ab.
Der Wächter fluchte, irgendeinen Hokuspokus, der mit Dokerty zu tun hatte, und spannte den nächsten Pfeil ein. Ich wich gedankenschnell zur Seite aus. Es gelang ihm, noch zwei weitere Schüsse auf mich abzugeben, und beide Male schlug der Braxter die tödlichen Pfeile klirrend beiseite.
Dann hatte ich ihn fast erreicht. Er reagierte mit einer Schnelligkeit, für die ich sogar in dieser gefahrvollen Situation Bewunderung übrig hatte. Der Bogen fiel zu Boden. Er zog einen Dolch und stieß aus der derselben Bewegung heraus wild nach meinem Leib. Mein Unterarm zuckt abwehrbereit vor. Er traf den Arm des Kerls und zwang ihn beiseite, aber dessen wütender Schwung ließ ihn weiter in die Höhe schnellen – eine Bewegung, die von meinem Abwehrblock noch unterstützt wurde. Und so fuhr der Dolch mit gewaltiger Wucht nach oben. Er bohrte sich zwischen Kinn und Hals seines Besitzers. Drei Herzschläge lang standen wir da wie zwei Statuen.
Ich trat einen Schritt zurück und sah ihn an. Blut strömte ihm aus dem Mund. Seine Augen starrten wütend. Er krümmte sich zusammen und sank auf die Knie. Der Kopf fiel ihm auf die Brust, bis das Kinn gegen den Dolchgriff stieß.
Ich hatte ihn nicht töten wollen. Im Gegenteil, ich hatte ihm ein paar wichtige Fragen stellen wollen. Aber er hatte sich, im Prinzip, selbst getötet.
Also blieb mir nur eines zu tun.
Er war ein Apim, wie ich. Seine Uniform und die Rüstung, die durchaus brauchbar war, jedoch genügend prunkhafte Verzierungen aufwies, um die Vermutung zu rechtfertigen, daß der Wachtrupp, dem ihr toter Besitzer angehört hatte, einige Privilegien genoß, paßten mir einigermaßen. Wie gewöhnlich waren sie an den Schultern etwas zu eng; zweifellos würden sie bei der ersten Anstrengung in diesem Höllenloch zerreißen.
Sein Braxter war nur billige Massenware, auf keinen Fall Krasny-Arbeit. Garantiert würde er beim ersten richtigen Schlag entzweibrechen. Den Dolch herauszuziehen war unangenehm, aber unumgänglich. Die Uniform war überwiegend in Krapprot gehalten, die Rüstung ein Schuppenpanzer. Die einzelnen Schuppen waren größer, als es bei erstklassigem Material üblich gewesen wäre, und bestanden aus Bronze. Als ich die Pfeile untersuchte, stellte ich fest, daß die Spitzen wie vermutet aus Obsidian hergestellt worden waren. In einem Land, in dem Eisen und Stahl von zweifelhafter Qualität waren, verrieten Pfeilspitzen aus Feuerstein oder Obsidian eine Menge gesunden Menschenverstand.
Bei dem Bogen handelte es sich um keinen der großen lohischen Langbogen, es war nicht einmal ein gewöhnlicher Bogen, sondern ein zusammengeleimter Kompositbogen. Er schoß geradeaus und gut, wie ich bezeugen konnte, gleichgültig, was mein Kamerad Seg Segutorio dazu gesagt hätte.
Natürlich hatte ich keinen Augenblick lang vor, den Platz des Wächters einzunehmen. Der arme Kerl war tot und würde irgendwann aufgefunden werden. Ich mußte meine Mission erfüllen.
Meine abgelegte, rußgeschwärzte, angesengte Kleidung mit den Brandlöchern würde den verdammten Dokerty-Freunden ein hübsches Rätsel aufgeben, wenn sie sie fanden. Die Vorstellung bereitete mir Vergnügen. Schlechtes Cess für sie alle!
Die Rüstung hatte nur wenig Blut abbekommen, das ich mühelos mit meinen zerlumpten Sachen abwischen konnte. Dann ging es los!
Ich hatte starke Zweifel, daß ich in einem felsigen Berg wie diesem hier auf viele Geheimgänge stoßen würde. O ja, natürlich würde es ein paar geben. Schließlich war das hier Kregen. Aber es ist wesentlich einfacher, Geheimtüren und -gänge zu bauen, wenn man ein Gebäude von Grund auf errichtet. Diesen Fels zu durchbohren war harte Arbeit, deshalb würde es hinter den Wänden nur wenige Geheimgänge geben.
Trotzdem würde ich nach ihnen Ausschau halten, für den Fall aller Fälle.
Ich zog die Uniform zurecht, rückte das Schwert an die richtige Stelle und marschierte den Gang entlang. Die Tür am anderen Ende war verschlossen, aber unverriegelt.
Ja, ich bin schon oft in feindliche Festungen eingedrungen. Doch wie ich bereits ausgeführt habe, ist es jedesmal anders. Wer konnte wissen, was einen erwartete? Mir blieb nichts anderes übrig, als mich leise vorwärts zu bewegen, Augen und Ohren offenzuhalten und für alle lauernden Gefahren bereit zu sein.
Die Tür schwang auf, und ich wurde überrascht. Die untergehenden Sonnen warfen lange Schatten über ein Tal, das von Vegetation förmlich erdrückt wurde. An den Hängen auf der gegenüberliegenden Seite waren terrassenförmige Felder angelegt worden. Von der steinernen Plattform unter meinen Füßen schlängelte sich ein Weg aus festgestampfter Erde bis zum Waldrand, wo er sich verlor. Ich drehte mich um.
Über der Tür erhob sich die Hinterseite des Wachturms. Das erklärte, warum der Nachschub durch die tiefergelegene Tür an der Außenwand hineingebracht wurde. Ich wandte mich wieder dem Weg zu, als ich plötzlich im linken Augenwinkel einen merkwürdigen Lichtblitz wahrnahm.
Sofort sah ich mir das Mauerwerk genauer an. Die Steine waren grau und – nun ja, einfach nur Steine. Hier funkelte kein Licht. Seltsam!
Ich wandte mich in die andere Richtung, und derselbe türkisfarbene Lichtblitz flackerte in meinem rechten Augenwinkel auf.
Mir kam ein furchtbarer Gedanke; meine Hand umklammerte den Schwertgriff so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten.
Türkisfarbenes Licht!
Ich blieb völlig reglos stehen und beschattete meine Augen, als wollte ich in das bewaldete Tal unter mir hinabschauen. Dann ließ ich die Augen rollen und blickte langsam und vorsichtig zur Seite. Aus der Peripherie nimmt man oft Gegenstände wahr, die einem auf direktem Wege verborgen bleiben.
Da war ein türkisfarbener Glanz, er flackerte und war kaum zu sehen, aber er war da, eine Realität und keine Einbildung.
Aber nein! Er war nicht wirklich real, er stammte eigentlich nicht einmal aus unserer Dimension. Die Einzelheiten nahmen Gestalt an. Ja, bei Vox! Es war das Auge, dasselbe verdammte Auge, das mir schon einmal nachspioniert hatte.
So groß wie eine Orange, mit einem purpurnen Lid und einem weißen Tentakel versehen, der sich unter ihm zusammenrollte und wieder streckte. Es hing schwerelos mitten in der Luft.
Wir vermuteten, daß dieses Auge der Spionagemechanismus des Illusionszauberers San W'Watchun war, des Herrschers von Winlan. Winlan mit seinen Militärherrschern und geknechteten Sklaven war eine triste Nation oben im Nordwesten, ein Volk, das sich vom Rest Balintols absonderte. Warum in einer Herrelldrinischen Hölle überwachte der Rast mich, ausgerechnet hier und jetzt?
Ich hatte diesen unerfreulichen Gedanken noch nicht zu Ende geführt, als sich das purpurne Lid über das Auge schob – und es verschwand.
Ich holte tief Luft und sammelte mich. Was auch immer die Absicht des verdammten Auges gewesen war, es war fort und hatte etwas zu erledigen. Noch immer an der Kante der gepflasterten Plattform stehend richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den Pfad und den Wald.
Ich hob den Fuß, um den Pfad zu betreten.
Eine rauhe und unglaublich heisere Stimme ertönte. »Narr! Was glaubst du, was du da tust? Bist du betrunken? Oder hast du den Verstand verloren?«
Als die Stimme erklang, hatte ich den ersten Schritt schon getan. Mein Fuß, mein Bein, mein Körper und meine Nase krachten gegen ein festes und ausgesprochen hartes Hindernis – eine unsichtbare Barriere.