Kapitel 29

Thomas und sein Sohn Johannes packten die Habseligkeiten des verstorbenen Elias zusammen.

»Was soll mit den Sachen der beiden Händler geschehen?«, fragte Johannes und zeigte auf die Säcke, die in einer Ecke standen.

»Welchen Handel betrieben sie?«, fragte sein Vater.

Johannes zuckte mit den Schultern und öffnete einige Beutel. Er zog Garne, Bänder und Borten heraus. In einem Sack fand er persönliche Dinge der toten Männer.

»Ich glaube auf dem Fuhrwerk Stoffballen gesehen zu haben«, sagte Johannes und steckte die Sachen zurück in die Säcke.

»Wir werden alles mitnehmen und auf dem Markt in Saarbrücken verkaufen«, schlug Thomas vor.

Johannes warf ein: »Ich befürchte, dass du Probleme mit den ansässigen Händlern bekommen wirst.«

Thomas nickte. »Ja, da könntest du recht haben. Aber es wird sich eine Lösung finden. Bring alles aufs Fuhrwerk, mein Sohn, und spann das Pferd an. Ich will endlich losfahren.«

Johannes schwang sich einen Sack auf den Rücken und verließ die Kirche.

»Was machen wir?«, fragte Markus, der verschlafen nach draußen gegangen war und Jeremias bei den Pferden antraf.

»Wir warten«, sagte Jeremias und fügte flüsternd hinzu: »Ich bin sicher, dass das Mädchen und der Bursche in der Nähe sind. Sobald wir ihnen die magischen Schriften abgenommen haben, werden wir mit der Schatzsuche beginnen. Ich bleibe hier draußen und passe auf. Du könntest Johannes helfen, die Säcke hinauszutragen, damit die beiden endlich verschwinden.«

Nachdem die Sachen auf dem Karren verstaut waren, ging Johannes zurück in die Kirche. »Wir können los«, sagte er zu seinem Vater.

»Ich möchte mich von meinem Bruder Elias verabschieden«, erklärte Thomas kraftlos und zögerte, nach draußen zu gehen. »Geh vor, mein Junge«, bat er seinen Sohn. »Ich werde dir gleich folgen.«

Johannes blickte seinen Vater zweifelnd an, der sich wie am Abend zuvor gegen die Kirchenwand lehnte und die Hände zum Gebet faltete.

»Ich warte am Grab auf dich«, sagte Johannes und ging hinaus. Thomas nickte stumm, denn er wurde erneut von der Trauer um den verstorbenen Bruder überwältigt. Kaum hatte Johannes die Kirche verlassen, schlug sich Thomas die Hände vors Gesicht.

»Gott, mein Gott«, flehte er, »steh mir bei, wenn ich der Frau von Elias und unseren Brüdern die Todesnachricht überbringe.« Er fürchtete sich vor der Heimkehr. Im Gebet hoffte er Trost und Kraft zu gewinnen, als von draußen laute Stimmen zu hören waren.

Susanna und Urs hatten die Kirche in einem großen Bogen umrundet und befanden sich nun hinter dem Gebäude, wo sie bestürzt auf die frischen Gräber blickten.

»Deine Freundin im Wirtshaus behauptete, dass die Kirche nicht mehr benutzt wird. Warum gibt es hier frische Gräber?«, fragte Susanna und schaute Urs herausfordernd an.

»Was willst du damit sagen?«, fragte er ärgerlich.

»Dass deine Freundin gelogen hat«, erklärte sie zornig. »Wahrscheinlich war alles gelogen, was sie uns erzählt hat.«

»Sie ist nicht meine Freundin«, presste Urs zwischen den Zähnen hervor. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen, da ihn Susannas bissiges Verhalten reizte.

Susanna zeigte auf die Gräber. »Hier wurden drei Tote beerdigt«, zählte sie und blickte zur Kirche. »Meinst du, dass Jeremias damit zu tun hat?«

»Woher soll ich das wissen?«, fragte Urs gereizt.

Susanna ging um die Gräber herum. »Kein Grabstein, kein Kreuz. Nichts! Hier liegen Verbrecher«, stellte sie fest und blickte an Urs vorbei, da sie einen Mann an der Kirchenmauer entlanggehen sah.

»Da kommt jemand. Es ist weder Jeremias noch Markus«, flüsterte sie Urs zu, der mit dem Rücken zur Kirche stand und den Burschen nicht sehen konnte.

»Was macht ihr hier?«, fragte Johannes erstaunt und musterte die beiden.

»Nichts«, sagte Urs und wandte sich ihm zu.

»Warum steht ihr bei den Gräbern?«, fragte Johannes erneut und kratzte sich ungeniert am Kopf.

»Weißt du, wer hier beerdigt liegt?«, fragte Susanna.

»Ich wüsste nicht, was euch das angeht«, erwiderte er und kratzte sich am Hals.

Urs betrachtete das Gesicht des Burschen.

»Was glotzt du?«, fragte Johannes unwirsch.

»Ich vermute, dass das Flohstiche sind, die sich entzündet haben«, erklärte Urs.

Johannes nickte. »Diese gemeinen Ratten haben sie in die Kirche geschleppt«, schimpfte er.

»Ratten!«, jaulte Susanna und trat zwei Schritte zurück.

Urs kramte in seinem Beutel nach dem Tiegel mit der Ringelblumensalbe und reichte ihn dem Fremden. »Schmier dir die Paste ins Gesicht. Das hemmt die Entzündung«, sagte er und ging ebenfalls einen Schritt zurück. »Außerdem solltest du in Kamillensud baden. Das heilt und lindert den Juckreiz.«

Johannes zog die Augenbrauen kraus und schmierte sich die Salbe ins Gesicht. »Was bist du? Ein Heiler?«, fragte er und gab Urs den Tiegel zurück.

»Der beste«, prahlte Susanna.

In dem Moment trat jemand hinter ihr aus dem Gebüsch. Blitzschnell legten sich grobe Hände um Susannas Oberkörper und hielten sie gefangen. Sie schrie und versuchte sich aus dem Griff zu winden, doch da fühlte sie ein Messer an der Kehle.

»Hab’ ich dich endlich, du Miststück.«

»Markus!«, wisperte Susanna und blickte Urs entsetzt an.

»Was soll das?«, fragte Johannes und starrte auf das Messer. »Kennst du die beiden?«, fragte er Markus.

»Das geht dich nichts an! Verschwinde mit deinem Vater, dann wird euch nichts geschehen«, zischte Markus Johannes an.

Der Bursche ging einige Schritte rückwärts. Dann drehte er sich um und rannte zurück zur Kirche.

»Jeremias!«, brüllte Markus und ließ Urs nicht aus dem Blick. Als er sah, dass der Bursche einen Schritt auf ihn zu machte, ließ er das Messer aufblitzen und fauchte: »Komm näher, und sie ist tot.«

Erschrocken blieb Urs stehen. Markus lachte gehässig.

»Lass sie gehen«, forderte Urs ohnmächtig.

»Was willst du machen, wenn ich sie nicht gehen lasse?«, höhnte Markus und schrie erneut: »Jeremias!«

Susanna spürte die Spitze des Messers an ihrer Kehle und blickte Urs unter Tränen an. »Bring dich in Sicherheit. Du hast damit nichts zu tun«, wisperte sie.

»Ich lasse dich nicht allein«, sagte Urs. Hilflos stand er vor Susanna und ihrem Angreifer.

Als sie Jeremias aus der Kirche kommen sah, schrie Susanna Urs mit einer Stimme an, die sich zu überschlagen drohte: »Verschwinde endlich!«

»Susanna …«, wollte Urs erwidern, doch ihr Blick sagte mehr als Worte. Er drehte sich um und rannte in den Wald.

Jeremias kam lachend auf Markus zu, der noch immer das Messer an Susannas Kehle hielt. »Ich wusste, dass sie hier auftauchen würde«, feixte er und betrachtete die junge Frau vergnügt. »Ich grüße dich, Susanna. Es freut mich, dass Markus dich anscheinend nur leicht verletzt hat. Wäre schade gewesen, wenn er dich getötet hätte.«

»Mittlerweile finde ich das auch«, sagte Markus mit rauer Stimme dicht an ihrem Ohr.

Susanna kämpfte gegen die Tränen und rief zornig: »Was wollt ihr von mir?«

Jeremias schaute sie zweifelnd an. »Das weißt du! Ich habe es dir bereits gesagt.«

»Du kommst zu spät. Ich habe die magischen Schriften nicht mehr«, log sie.

Jeremias riss ihren Beutel an sich und leerte den Inhalt auf dem Boden aus. Als er die Schriften nicht fand, funkelten seine Augen sie böse an. »Wo sind sie?«, zischte er.

»Ich habe sie Urs gegeben, und der ist euch soeben entwischt«, frohlockte Susanna mit letzter Kraft, doch sie konnte an Jeremias’ Blick erkennen, dass er ihr nicht glaubte.

»Urs heißt also dein Begleiter. Was ist er? Ein Priester? Ein Magier? Er muss besondere Fähigkeiten haben, wenn du ihn zur Schatzsuche mitbringst. Aber das ist jetzt einerlei. Gib mir die magischen Schriften. Wir haben bereits zu viel Zeit verschwendet.« Als Susanna nichts sagte, drückte Markus die Messerspitze tief in ihre Haut und ritzte sie an.

»Gib uns die verdammten Schriften«, fluchte er.

Susanna schrie auf und spürte kurz darauf, wie ihr das warme Blut am Hals entlanglief. Sie werden mich töten, dachte sie und schloss die Augen, als eine fremde Stimme entsetzt rief: »Herr im Himmel! Was macht ihr mit der Frau?«

Susanna sah auf und erblickte einen fremden Mann, hinter dessen Rücken der Bursche mit den Flohstichen sich zu verstecken schien.

»Halt’s Maul, Thomas! Das geht dich nichts an«, sagte Jeremias, ohne sich umzudrehen. Sein Blick war starr auf Susanna gerichtet.

»Ich lasse mir von dir nicht den Mund verbieten«, wehrte sich der Mann und tippte Jeremias mit dem Finger auf die Schulter.

»Mach das nicht! Fass mich nicht mit deinen Pestfingern an«, fauchte Jeremias, drehte sich um und stieß den Alten von sich. »Nimm deinen Sohn und verschwinde von hier. Dann wird euch nichts geschehen.«

Mit ungläubigem und verständnislosem Blick sah Thomas von Jeremias zu Susanna, die heftig keuchte.

»Wieso sagst du so was?«, fragte sie verstört.

»Was?«

»Pestfinger.«

»Sein Bruder ist an der Seuche gestorben«, erklärte Jeremias kalt und zeigte auf das Grab, als Thomas einen Schritt auf Markus zuging.

»Es wäre besser, du würdest auf Jeremias hören!«, brüllte Markus und lockerte dabei kurz seinen Griff.

Das nutzte Susanna sofort aus, um sich aus Markus’ Armen herauszuwinden. Kaum stand sie frei, richtete sie sich auf und trat ihm mit aller Kraft zwischen die Beine, sodass er stöhnend zu Boden ging. Sie sah, wie sich Jeremias auf sie stürzen wollte, als der fremde Mann sich ihm in den Weg stellte. Ohne zu zögern, streckte Jeremias ihn mit einem gezielten Schlag nieder.

Als der Mann auf dem Boden lag, schrie Johannes mit schriller Stimme: »Vater!«

Susanna aber hatte die Gelegenheit zur Flucht verpasst, denn Jeremias’ Hand schnellte nach vorn und bekam sie zu fassen. Mit einer fließenden Bewegung drehte er ihr die Arme auf den Rücken, sodass sie erneut gefangen war.

»Noch einmal entkommst du uns nicht«, sagte Jeremias zornig und zog sie dicht an sich.

Das Gesicht von Markus war puterrot, als er versuchte, auf die Beine zu kommen. Dabei hob er mühsam das Messer auf, das vor ihm im Laub lag. Wütend fuchtelte er damit vor Susannas Nase herum. »Du verdammte Hure«, presste er hervor und schlug ihr hart ins Gesicht, sodass ihre Lippe aufplatzte.

Johannes, der weinend am Boden bei seinem Vater kniete, fuhr hoch und schrie: »Wie kannst du es wagen?« Blind vor Tränen stürzte er sich auf Markus, der ihn abwehrte und dabei das Messer in den Leib des Jungen rammte.

Susanna brüllte auf, und der alte Mann am Boden schrie: »Johannes!«

Verdeckt von dichtem Buschwerk, stand Urs in sicherer Entfernung und beobachtete nervös die Szene. Mehrmals wollte er nach vorne preschen und Susanna zu Hilfe eilen, aber sein Verstand sagte ihm, dass er gegen die gefährlichen, bewaffneten Männer zu schwach war. Wenn ich meine Armbrust hätte, würde ich sie das Fürchten lehren, dachte er zornig, als er den fremden Mann erblickte, der sich Jeremias mutig entgegenstellte. Kurz keimte Hoffnung in Urs auf, und er wollte dem Alten schon zu Hilfe kommen. Doch als er sah, wie Jeremias den Mann zu Boden schlug, verließ ihn erneut der Mut.

»Susanna, gib ihnen die magischen Schriften«, murmelte er vor sich hin und wusste doch, dass sie ihn nicht hören konnte. Schon wollte Urs die Schatzkarte den beiden gewalttätigen Gestalten als Tausch für Susanna anbieten, als ihm bewusst wurde, dass von Mördern kein Anstand zu erwarten war. Plötzlich hörte er einen Schmerzensschrei und blickte erschrocken nach vorn, wo er sah, wie Markus keuchend in die Knie ging. Als Urs erkannte, dass sich Susanna befreit hatte, reckte er wie beim Sieg die Arme in die Höhe und rannte einige Schritte auf sie zu. Doch dann musste er zusehen, wie Jeremias Susanna erneut gefangen nahm und Markus ihr heftig ins Gesicht schlug.

»Bàb«, kreischte Urs und schrie auf Deutsch hinterher: »Pass auf!« Er gab seine Deckung auf, um sich auf Jeremias zu stürzen, als er Zeuge wurde, wie der fremde Bursche mit dem Namen Johannes zusammenbrach und die Schreie seines Vaters und die von Susanna im Wald widerhallten. Wie angewurzelt blieb Urs hinter einem schützenden Baumstamm stehen.

Jeremias hatte die schrille Stimme von Urs gehört und in Richtung Wald geschaut, in den Susannas Begleiter verschwunden war. Als er wieder herschaute, blickte er auf den blutenden Burschen, der schreiend auf dem Boden lag. Als Jeremias das mit Blut besudelte Messer in der Hand von Markus sah, tobte er: »Du Narr, du dummer Narr!«

»Was kann ich dafür, wenn er mir ins Messer läuft?«, erwiderte Markus ohne ein Zeichen von Betroffenheit, kniete nieder und besah sich die Wunde. »Sie ist nicht tief. Er wird es überleben«, stellte er kaltblütig fest.

Thomas kroch zu seinem Sohn, der stöhnend auf dem Boden kauerte. »Es tut so weh«, winselte Johannes und krümmte sich.

»Halt durch, mein Junge«, flüsterte Thomas und nahm seinen Sohn in die Arme. Voller Zorn blickte er zu Markus auf. »Du Ungeheuer!«, schrie er und kam langsam auf die Knie.

»Ich habe euch gesagt, dass ihr verschwinden sollt«, brüllte Markus zurück und rieb das Messer an seinem Beinkleid sauber.

»Hilf ihnen auf das Fuhrwerk«, befahl Jeremias und blickte in den Wald, wo kurz zuvor der fremde Bursche gestanden hatte. »Verdammt«, fluchte er leise. Laut schrie er: »Bring uns die Schriften, und deiner Freundin wird nichts geschehen!«

»Hör nicht auf ihn. Er lügt!«, brüllte Susanna in der Hoffnung, dass Urs sie hörte.

Doch Urs war verschwunden. Als er hörte, dass die Wunde von Johannes nicht tödlich sei, war er tiefer in den Wald gerannt. Nur aus weiter Ferne hörte er noch, was Jeremias ihm nachrief und dass Susanna ihrem Peiniger widersprochen hatte. Doch weil Urs keinen Zweifel hatte, dass er die beiden Übeltäter nicht allein bezwingen konnte, rannte er den Bogen zurück zur Kirche, um auf diesem Weg ins Dorf zu gelangen. Er blickte ein letztes Mal zurück und schwor: »Ich hole Hilfe, Susanna, und ich werde dich befreien.«

Jeremias stieß Susanna vor sich her zur Kirche. In Gedanken war er bei dem fremden Burschen, der im Wald verschwunden war. Er wird, fürchtete er, in Gersweiler Hilfe holen. Ich muss ihn aufhalten. Er blickte sich nach Markus um, der den wimmernden Johannes auf die Ladefläche des Fuhrwerks legte.

»Es ist nur eine Fleischwunde«, versuchte Markus den Burschen zu trösten.

Thomas verabschiedete sich mit einem Fluch. »Verdammt seiest du! Gott wird dich dafür strafen«, prophezeite er Markus und schob ihn rüde zur Seite. Er drückte ein Tuch auf Johannes’ Stichverletzung und sagte: »Du musst es fest gegen die Wunde pressen, damit die Blutung gestillt wird.«

Keuchend drückte sich Johannes den Lappen gegen die Wunde, während sein Vater ihm Mut zusprach: »Halt durch, mein Sohn!« Dann wandte er sich an Susanna. »Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht helfen«, sagte er.

Susanna nickte und flüsterte: »Bring deinen Sohn zum Wundarzt! Mir wird nichts geschehen.«

Der Blick, mit dem Thomas Susanna zum Abschied bedachte, zeigte deutlich, dass er ihre Zuversicht nicht teilte.

Thomas setzte sich auf den Kutschbock, schnalzte mit der Zunge und ließ das Pferd antraben.