Kapitel 8
Eckart Schiffer saß wie gelähmt an seinem Arbeitsplatz und starrte auf die Papiere, die auf seinem Tisch lagen. Mit einer einzigen Handbewegung wischte er laut fluchend die Blätter von der Tischplatte, sodass sie durchs Zimmer segelten. »Hurensohn!«, brüllte er und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Dieser elende Mistkerl«, schimpfte er leiser und blickte zu den Schriftstücken, die verstreut auf dem Boden lagen.
Bis zum Morgen hatte Schiffer gehofft, den Vertrag abschließen zu können. Doch nun war er sicher, dass sich nichts von dem, was man ihm versprochen hatte, erfüllen würde. Seine Pläne waren zerstört, und er war mittellos geworden.
Schiffer vergrub verzweifelt sein Gesicht in den Händen, als die Tür geöffnet wurde und jemand die Stube betrat.
»Verschwinde«, zischte er zwischen seinen Fingern hindurch.
Da er nicht aufgeschaut hatte, wusste er nicht, wer an seinen Schreibtisch getreten war, bis eine Stimme bestürzt fragte: »Begrüßt man so Frau und Kind?«
Schiffer nahm die Hände vom Gesicht und blickte in die großen Augen seiner Tochter Marie. Sofort erhob er sich und ging um seinen Arbeitstisch auf sie zu, um sie zu begrüßen. Seine Frau Sophie hielt ihm zaghaft die Wange hin, auf die er einen Kuss hauchte.
»Warum liegen die Blätter auf dem Boden?«, fragte Sophie und zog eine Augenbraue in die Höhe.
»Der Wind hat sie vom Tisch geweht«, log Eckart und küsste den Scheitel seiner Tochter, die niederkniete, um die Schriftstücke einzusammeln.
»Der Wind?«, fragte Sophie zweifelnd und sah zum Fenster, das geschlossen war. Als Eckart ihrem Blick auswich, bestärkte sich ihr Eindruck, den sie bereits seit Tagen hegte. Ihr Mann, so hatte sie bemerkt, war ungewöhnlich nervös und gereizt.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
»Das geht dich nichts an«, erwiderte Eckart scharf, sodass Sophie zu Boden blickte. Sie wusste, dass er ihr nichts anvertrauen, sondern sie wegen ihrer Frage rügen würde. »Die Arbeit ist allein Angelegenheit des Mannes«, hatte er ihr bei ihrer Eheschließung klargemacht.
Schiffer war damals schon Pächter der Sulzbacher Saline und gut im Geschäft gewesen. Die Menschen brauchten Salz – erst recht, als der Krieg ausbrach und unzählige Soldaten ins Land kamen. Sogar den kaiserlichen Truppen, die zeitweise in der Grafschaft Saarbrücken einquartiert worden waren, wurden als Aufwandsentschädigung nicht nur Unterkunft, Holz und Talg für Lampen zugesagt, sondern auch Salz. Dadurch stieg der Salzverbrauch außerordentlich an, sodass zeitweise Mangel herrschte, zumal die meisten Männer an der Front dienten und kaum noch Salz abgebaut wurde. Doch nun war dieser unsägliche Krieg zu Ende, und die Menschen verrichteten wieder ihre Arbeit.
Alles schien wie früher – so glaubte Sophie und grübelte: Warum ist Eckart nur so übellaunig? Sie seufzte innerlich auf, denn sie traute sich nun kaum, ihre Bitte laut zu äußern, wegen der sie ihren Mann aufgesucht hatte.
Eckart schien ihre Zweifel zu spüren, denn er sah sie prüfend an und fragte: »Warum bist du gekommen?«
Sophie blickte auf und erklärte mit zaghafter Stimme: »Ich brauche Geld, um Mehl und Fett zu kaufen.«
Eckarts Augen wurden eine Spur dunkler, und er sog laut die Luft durch die Nasenflügel ein, wobei sich seine Schultern hoben. Sophie fürchtete, dass er jeden Augenblick losbrüllen würde, als die Tochter Marie ihre kleine Hand auf den Arm des Vaters legte und lächelnd sagte: »Ich habe alle Blätter eingesammelt, Vater.«
Schiffer blickte in die blauen Augen seiner Tochter, und sogleich schob sich das Antlitz des toten Bauernmädchens in seine Gedanken. Die Erinnerung ließ ihn unmerklich zusammenzucken. Wortlos bückte er sich zu seiner Tochter hinab und umarmte sie. Dann griff er in seine Jackentasche und zog eine Münze hervor, die er seiner Frau reichte.
»Kauf nicht mehr als nötig«, ermahnte er Sophie und setzte sich zurück an seinen Arbeitstisch. Ohne ein weiteres Wort und ohne aufzublicken, sortierte er die Papiere.
Sophie wartete kurz und verließ dann mit Marie die Stube. Fast geräuschlos zog sie die Tür hinter sich ins Schloss.
Kaum waren Frau und Tochter gegangen, sackte Schiffer wie ein alter Mann in sich zusammen. Was habe ich nur verbrochen?, jammerte er in Gedanken. Nicht ich bin schuld, sondern dieser Markus, dachte er und beklagte den Umstand, dass er mit solch menschlichem Abschaum Geschäfte machte. Er kam zu dem Entschluss, dass seine Lage ihm keine andere Wahl ließ und nur ein Mann ihn retten konnte. »Ich hasse ihn«, flüsterte Schiffer. Doch er brauchte dringend Geld, und Jeremias war der Einzige, der wusste, wo der Schatz vergraben war. »Jeremias muss die magischen Schriften finden«, murmelte Schiffer und verließ die Stube.
–·–
Die Begegnung mit der jungen Frau ging Jeremias nicht mehr aus den Gedanken. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich sie schon einmal gesehen habe, grübelte er und lenkte sein Pferd den Hügel hinauf in Richtung Saarbrücken.
Markus, der ihn zum Arnoldschen Gehöft begleitet hatte, blickte ihn von der Seite an und fragte: »Worüber sinnst du nach?«
»Sie ist nie und nimmer die Frau des Totengräbers«, erklärte Jeremias nachdenklich.
»Was macht dich so sicher?«
»Mein Gespür«, sagte Jeremias und schaute Markus gereizt an.
»Ob du recht hast, wirst du erst wissen, wenn du den Friedhofsmann aufsuchst«, erklärte Markus und pfiff ungerührt ein Lied.
Jeremias zog ruckartig am Zügel, sodass sein Pferd sich aufbäumte und wiehernd stehen blieb. »Du hast recht! Ich muss mich selbst überzeugen. Reite zu Schiffer und warte dort auf mich.«
Markus nickte und lenkte sein Pferd in Richtung Sulzbach, während Jeremias seinem Wallach in die Flanken trat und den Weg zurückjagte.
In Kölln ritt Jeremias sofort zum Friedhof, wo er sein Pferd an den Holzpfosten des Eingangstürchens band. Als er einen jungen Mann erblickte, der gerade ein Grab aushob, ging er auf ihn zu.
»Wo ist der Totengräber?«, fragte Jeremias grußlos.
Der Bursche wischte sich den Schweiß von der Stirn und zeigte auf eine armselige Hütte am Ende des niedrigen Zauns. Jeremias wandte sich von ihm ab, als er fünf frisch aufgehäufte Gräber erblickte.
»Wer liegt dort?«, fragte er.
»Die Arnolds«, erwiderte der Junge und grub weiter.
»Sind das die Bauern des abgebrannten Hofs?«
Der Geselle des Totengräbers hielt mit seiner Arbeit inne und nickte. »Der Alte, seine Frau, zwei seiner Kinder und die Magd wurden hinterhältig ermordet.«
»Wer bist du?«, fragte plötzlich eine barsche Stimme hinter Jeremias.
Er drehte sich um und sah in die dunklen Augen eines hageren Mannes. »Bist du der Totengräber?«, fragte er, ohne zu antworten.
Der Mann nickte.
»Hast du eine Frau?«
»Was geht dich das an?«, fragte der Mann misstrauisch.
»Nichts! Ich will nur eine Antwort, dann bin ich wieder weg.«
»Es ist besser, wenn du sofort verschwindest«, erklärte der Totengräber, ohne auf die Frage einzugehen. Mit einem Fingerschnippen gab er seinem Gesellen ein Zeichen. Der Bursche verstand und hüpfte mit einem Sprung aus dem Erdloch. Wortlos stellte er sich hinter Jeremias, den Stiel des Spatens mit beiden Händen fest umfassend.
Jeremias spürte die Nähe des Jungen in seinem Rücken und hob beide Hände in die Höhe, um zu zeigen, dass er keinen Ärger wollte. »Bleibt ruhig! Ich bin schon weg!«
Als er sich umwandte, fiel sein Blick erneut auf die fünf Gräber, und er stutzte. »Du sagtest, zwei seiner Kinder? Wie viele Kinder hatte der Bauer?«
»Drei«, antwortete der Geselle und hob leicht den Spaten an.
Als Jeremias die Bewegung bemerkte, lächelte er ihm zu und ging zu seinem Pferd. Bevor er aufstieg, wagte er eine weitere Frage zu stellen: »Wer lebt noch?«
»Seine älteste Tochter«, erwiderte der Geselle zögernd und blickte den Totengräber unsicher an.
Jeremias überlegte und lachte kurz auf. Ich wusste doch, dass ich sie schon mal gesehen habe, dachte er und schwang sich auf sein Pferd. Dann hob er die Hand zum Gruß und ritt davon.
Der Totengräber blickte nachdenklich hinter ihm her. Als der Fremde außer Hörweite war, befahl er seinem Gesellen: »Sollte er wiederkehren, schlägst du ihm den Spaten über den Schädel.«
–·–
Eckart Schiffer ging die Treppenstufen seines Wohnhauses hinunter und blickte zum Tor. Die Salzknechte der ersten Arbeitsschicht verließen die Umzäunung des Geländes durch das doppelflügelige Eingangstor, vor dem die Salzknechte der zweiten Schicht bereits warteten. Sie mussten außerhalb des Salzwerkes wohnen und das Grundstück nach ihrer Arbeit stets verlassen. Das »weiße Gold«, wie Salz auch genannt wurde, war für viele unerschwinglich und führte so manchen in Versuchung, sich heimlich die Taschen zu füllen, um das gestohlene Salz zu Geld zu machen. Das sollte somit unterbunden werden, um weiteren Schaden für die Pächter der Salinen abzuwehren. Sie hatten schon genug Verluste durch Überfälle von räuberischen Banden oder umherziehenden Soldaten erlitten. Seit Schiffer jedoch das Gelände der Saline mit einem hohen Holzzaun hatte umbauen lassen, wurden die Überfälle seltener. Seit kurzem verstärkten zusätzlich Palisaden die Umzäunung und hielten so das diebische Volk vom Gelände fern.
Schiffer ging zum Haus des Salzsieders und klopfte an die Tür, als einer der Salzknechte ihm zurief: »Er überprüft den Holzvorrat.«
Anstatt ihm für die Auskunft zu danken, blaffte Schiffer: »Hast du nichts zu schaffen?« Woraufhin der Knecht eiligen Schritts ins Siedehaus verschwand.
Schiffer marschierte über den Platz am Trockenhaus vorbei zum Sudhaus, hinter dem die Holzstämme aufgeschichtet waren. Schon von Weitem sah er den ernsten Gesichtsausdruck des Salzsieders und wusste sofort, was der ihm mitteilen würde.
Hans Müller blickte auf und erklärte mit sorgenvoller Miene: »Das Holz reicht bis nächste Woche, dann müssen wir neues kaufen.«
Müller wusste als Einziger, dass es nicht gut um die Saline stand. Schiffer hatte ihn vor einigen Monaten ins Vertrauen gezogen, als er den größten Fehler seines Lebens begangen hatte.
Damals war Eckart Schiffer einem Scharlatan aufgesessen, der sich als Salzfachmann ausgegeben hatte. Im Nachhinein musste Schiffer feststellen, dass dieser angebliche Fachmann von der Salzgewinnung ebenso viel Ahnung hatte wie er vom Brotbacken. Nämlich keine. Der Fremde hatte ihm für viel Geld Erdbohrungen versprochen, mit denen er eine weitere Solequelle erschließen wollte. Da Schiffer die wachsende Konkurrenz der lothringischen Salinen fürchtete, hatte er sofort eingeschlagen, ohne sich über den Mann kundig zu machen. Bei einer dieser Bohrungen durchstieß der selbst ernannte Salzfachmann jedoch eine Grundwasserader, die das salzhaltige Wasser mit Süßwasser verdünnte und es unbrauchbar machte. Als Schiffer den Schaden am nächsten Tag bemerkte, war der Mann mit dem Geld bereits über alle Berge.
»Der Holzpreis ist erneut gestiegen«, verriet Müller leise und riss den Pächter aus seinen Gedanken.
Schiffer nickte. »Ich weiß! Der Graf von Nassau-Saarbrücken will verhindern, dass der Wald, in dem er zur Jagd geht, weiter abgeholzt wird. Verwehren kann er uns das Holz nicht, schließlich gehört ihm die Saline. Aber er kann uns die Arbeit erschweren.«
»Was ist mit den neuen Verträgen, auf die du gehofft hast?«
Schiffer schüttelte den Kopf. »Sie werden das Salz aus den lothringischen Solequellen um Dieuze beziehen.«
»Verdammt«, fluchte Müller. »Das bedeutet das Ende.«
»Ich bin dabei, eine Lösung zu finden, damit es weitergeht«, verriet Eckart dem Mann. »Bis dahin müssen wir mit dem restlichen Holz haushalten und es nicht unnötig verschwenden«, ermahnte er seinen Siedemeister.
»Glaube mir, dass ich nur so viel Holz zum Heizen benutze, wie wir tatsächlich benötigen. Wir nehmen zu Beginn des Siedevorgangs ausschließlich Reisig, und erst später legen wir Klafterholzscheite nach. Aber wir brauchen heftiges Feuer, damit die Sole eingedampft wird. Ist die Temperatur zu niedrig, können die Salzknechte den Schaum der schädlichen Fremdsalze nicht ausreichend abschöpfen …«
»Ist ja gut«, unterbrach Eckart den Siedemeister mürrisch. »Du musst mir nicht den Vorgang des Störens beschreiben. Den kenne ich. Trotzdem spart so viel Holz ein, wie ihr könnt. Jeder Tag, den wir durcharbeiten, zählt! Ich hoffe, dass ich heute bereits eine Lösung finden werde.«
Müller holte tief Luft. »Im Grunde wissen wir beide, dass die Tage der Sulzbacher Saline gezählt sind.«
Da sah Schiffer einen Reiter durchs Tor kommen und ahnte, wer das sein konnte. Er klopfte Müller aufmunternd auf die Schulter und orakelte: »Noch ist nicht aller Tage Abend!«
Kurz vor seinem Haus erkannte Eckart, dass nicht Jeremias, sondern Markus sein Pferd an dem Eisenring in der Hauswand anband.
»Wo ist Jeremias?«, fragte er besorgt, da er annahm, dass etwas schiefgegangen war.
»Bleib ruhig«, höhnte Markus. »Er musste einen kleinen Umweg machen, wird aber sicher schon bald hier sein.«
»Umweg?«, fragte Schiffer.
»Er soll es dir selbst sagen. Hast du ein Bier? Mir klebt die Zunge am Gaumen.«
Schiffer bat den Burschen nur widerwillig ins Haus und gab ihm zu trinken.
»Habt ihr das gefunden, weswegen ihr zum Hof geritten seid?«, wollte Schiffer wissen und vermied es, zu viel Wissbegierde zu zeigen.
Markus setzte sich herausfordernd hinter Schiffers Arbeitstisch auf den Stuhl und legte die Füße auf die Tischplatte. »Was sollten wir deiner Meinung nach finden?«
Schiffer wusste, dass der Bursche ihn ebenso wenig mochte wie er ihn. Er wusste aber auch, dass Markus gefährlich war und vor nichts zurückschreckte. Jeremias hatte ihm verraten, dass Markus während des Krieges unter seinen Söldnerkameraden wegen seiner Unbarmherzigkeit gefürchtet gewesen war.
»Verschwinde von meinem Stuhl«, sagte Schiffer und versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Wenn ich jetzt nicht klar Stellung beziehe, wird Markus nicht aufhören, mich zu reizen, dachte er und blickte den Burschen mit betont furchtlosem Gesichtsausdruck an. Als Markus nicht sofort aufsprang, stieß Schiffer beherzt die Füße des Burschen von der Tischplatte.
»Hoho«, lachte Markus. »Da scheint einer mutig zu sein. Oder sollte ich lieber ›leichtsinnig‹ sagen?«
»Komm her, du Mistkerl, und ich werde dich grün und blau schlagen!«, forderte Schiffer ihn heraus.
Markus stand auf und kam um den Tisch herum. Als Schiffer nicht zurückwich, schien er zu zögern.
In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Jeremias kam herein. Er erkannte sofort die Lage und knurrte: »Was soll das? Kann man euch nicht allein lassen, ohne dass ihr euch gegenseitig an die Gurgel gehen wollt?«
»Nimm deinen Kettenhund an die Leine«, zischte Schiffer und setzte sich an seinen Tisch.
Jeremias funkelte Markus verärgert an. Mit einem Kopfnicken gab er ihm zu verstehen, dass er verschwinden solle. Als Markus aufbegehren wollte, beschied er ihm: »Ich werde dir später alles erklären.«
Nachdem die Tür hinter Markus ins Schloss gefallen war, schnaubte Schiffer: »Ich will den Burschen hier nie wieder sehen!«
»Halt die Schnauze, Schiffer! Du bist nicht in der Lage, mir Befehle zu erteilen.«
»Hast du die magischen Schriften gefunden?«, fragte Schiffer und überging die Drohung. Als Jeremias den Kopf schüttelte, spürte Schiffer, wie Übelkeit in ihm aufstieg.
Jeremias sah das totenbleiche Gesicht des Pächters und griente. »Mach dir keine Sorgen! Ich weiß, wen wir deshalb fragen können!«, verriet er und lachte verächtlich über Schiffers erstaunten Blick.