Kapitel 23

Mit der anbrechenden Dunkelheit erreichten Urs und Susanna den Ort Gersweiler, der ausgestorben und unheimlich wirkte. Keine Menschen begegneten ihnen, und selbst am Brunnen konnten sie niemanden entdecken. Von einigen Katen waren nur noch Ruinen übrig, die von Ranken und Gestrüpp überwuchert waren. Unversehrte Hütten dagegen schienen verlassen, denn weder drang Lichtschein aus den Stuben nach draußen, noch erklangen Stimmen aus dem Innern. Die Häuser wirkten unbewohnt und düster.

»Hier muss der lange Krieg, von dem mir mein Vater erzählt hat, heftig gewütet haben«, sagte Urs mit verhaltener Stimme und betrachtete mit gemischten Gefühlen die Umgebung.

Susanna legte beide Arme um Urs’ Leib und klammerte sich an ihn. Angst stieg in ihr hoch und schnürte ihr die Kehle zu. Hinter jedem Baum, hinter jeder Häuserwand vermutete Susanna einen Dämon, der sie, wie man ihr erzählt hatte, in die Zwischenwelt schleifen würde. Sie wissen, warum ich hier bin, fürchtete Susanna und kniff die Augen zusammen. Als keine Dämonen auftauchten, schaute sie sich tapfer um und versuchte sich einzureden, dass Karl Lauer und die Sonntag-Brüder sie mit ihren Geschichten nur hatten einschüchtern wollen.

»Wo steht dein Elternhaus?«, fragte Urs, der seiner Stimme nur mit Mühe einen ruhigen Klang geben konnte. Innerlich spürte er ein Zittern, denn als Susannas Arme ihn umschlangen, hätte er beinahe aufgehört zu atmen. Er ahnte, dass die Dunkelheit sie ängstigte, und strich ihr beruhigend über den Handrücken. »Sicher bist auch du froh, wenn wir endlich da sind«, sagte er und atmete ihren Geruch tief ein. »Bei Tageslicht sieht dein Heimatort gewiss freundlicher aus«, tröstete er sie.

Susanna schwieg, sodass er das Pferd anhalten ließ und sich zu ihr umdrehte. Mit schreckensbleichem Gesicht und bebenden Lippen saß sie hinter ihm und traute sich kaum aufzublicken.

»Was hast du? Schmerzt deine Wunde?«, fragte er besorgt.

Susanna schüttelte den Kopf.

»Dann bin ich beruhigt«, sagte er und lächelte, doch anscheinend konnten seine freundlichen Worte ihr nicht die Angst nehmen, denn sie starrte ihn aus großen Augen an.

»Jetzt schau nicht, als ob du einen Geist gesehen hättest«, mahnte er sie. »In welcher Richtung wohnen deine Eltern?«, fragte er und drehte sich wieder nach vorn, wobei er sich suchend umblickte.

Susanna konnte keinen klaren Gedanken fassen. Jedes noch so leise Geräusch ließ sie zusammenzucken. Kalter Schweiß sammelte sich auf ihrer Stirn. Auch spürte sie ein feines Rinnsal ihren Rücken hinablaufen. Am liebsten hätte sie Urs angeschrien, dass er umkehren solle. Doch wie konnte sie ihm das erklären? Genauso wenig wusste sie, wie sie ihm klarmachen sollte, dass sie nie zuvor in Gersweiler gewesen und dass ihre Familie ermordet worden war. Sie hatte sich in eine schwierige Lage gebracht und wusste nicht, wie sie da wieder herauskommen konnte.

»Susanna! Schläfst du schon?«, fragte Urs und drehte sich erneut zu ihr um. »Ich bin müde, und das Pferd muss versorgt werden.« Als er in ihre bangen Augen blickte, wusste er nicht, was er davon halten sollte, zumal sie stumm blieb. Seine gute Laune verflog, und er wurde ärgerlich. »Wenn du mir nicht sagst, wo deine Familie wohnt, lasse ich dich hier allein zurück.«

Selbst auf diese Drohung zeigte Susanna keine Reaktion. Sie starrte Urs nur an.

»Jetzt reicht es«, schimpfte er und stieg vom Pferd. Er nahm Susanna seinen Rucksack ab, den sie mit ihrem Beutel auf ihrem Rücken trug, und wandte sich zum Gehen.

»Mach’s gut«, sagte er und marschierte den Weg zurück, den er erst kurz zuvor entlanggeritten war. Auf halber Strecke blickte er sich besorgt um. Das Pferd stand an derselben Stelle, und Susanna saß immer noch steif darauf.

»Vermaledeit«, schimpfte Urs leise und drehte sich im Kreis, wobei er sich in die Haare griff. »Was ist nur mit diesem Weibsbild los?«, murmelte er und ging mit langsamen Schritten zurück.

Als er neben dem Pferd stand, senkte er die Stimme, um Susanna nicht zu erschrecken. »Erklär mir bitte, warum du mir nicht sagen willst, wo deine Familie wohnt. Ich würde jemanden fragen, wenn hier jemand wäre. Aber hier ist niemand. Dieser Ort scheint wie ein Geisterort zu sein«, scherzte er verhalten.

Als Urs von Susanna weggegangen war, wollte sie ihn anbrüllen, dass er bleiben solle. Aber sie brachte keinen Ton heraus. Die Angst vor den drohenden Dämonen, die Karl Lauer und die Sonntag-Brüder ihr eingejagt hatten, lähmte sie, sodass sie zu keiner Regung fähig war. Kaum hatte Urs sich einige Schritte entfernt, glaubte Susanna in der Dunkelheit rotglühende Augen zu sehen. Sie fürchtete, vor Angst einen Herzstillstand zu erleiden. Hastig griff sie in die Rocktasche und umfasste die Christophorus-Münze, die ihr der Bauer in Eppelborn als Schutzmedaillon geschenkt hatte. In Gedanken flehte sie den Heiligen um Hilfe an. Als sie jedoch erkannte, dass das vermeintliche rote Glühen die aufblitzenden Augen von Ratten waren, die in einer der vielen Ruinen herumflitzten, atmete sie auf, obwohl sie das Ungeziefer verabscheute. Da sie hoch zu Pferd saß, hatte sie keine Angst vor einem Angriff der abscheulichen Nager. Die meisten verschwanden so schnell in den Häusern, wie sie aufgetaucht waren. Doch eine setzte sich neben die Vorderhufe des Pferdes und schnupperte in der Luft. Als Schritte zu hören waren, verschwand das Tier fiepend zwischen den Mauern.

Susanna traute sich nicht, hinter sich zu blicken, und war erleichtert, als sie Urs’ Stimme wieder hörte. Dass er Gersweiler als Geisterort bezeichnet hatte, verstärkte Susannas Furcht und hielt sie gefangen, sodass sie nicht sprechen konnte. Die Erstarrung hielt sie fest umschlungen.

Urs sah ihr totenbleiches Gesicht, ihre weiten Augen und ihre verkrampfte Haltung. Sie gab ihm ein weiteres Rätsel auf, auf das er keine Lust hatte. »Ich bin umgekehrt, um dir die Möglichkeit zu geben, mit mir zu sprechen, doch anscheinend hast du dazu kein Verlangen. Soll ich dir was sagen, Susanna? Mir ist es jetzt einerlei, warum du nicht mit mir redest. Von mir aus können deine Eltern wohnen, wo sie wollen, ich will sie weder kennenlernen noch an einem Tisch mit ihnen sitzen. Ich werde mich jetzt erneut umdrehen und fortgehen. Doch dieses Mal, sei gewiss, werde ich nicht umkehren.«

Erst bin ich im Wald zu ihr zurückgegangen, weil sie nicht sofort mit mir gehen wollte, ein zweites Mal hier auf der Straße. Aber ein drittes Mal wird es das nicht geben, schimpfte er in Gedanken. Innerlich den Kopf schüttelnd, marschierte er los, als Susanna aus ihrer Starre erwachte und ihm hinterherschrie: »Meine Familie ist tot!«

Urs blieb ruckartig stehen und wandte sich zu ihr um. »Was hast du gesagt?«, fragte er ungläubig.

Wegen der Ratten wagte Susanna es nicht abzusteigen und ließ das Pferd sich wenden, sodass sie Urs anblicken konnte. »Meine Eltern, mein Bruder und meine kleine Schwester wurden vor einigen Wochen auf unserem Hof nahe Heusweiler ermordet«, wisperte sie.

Urs lief zu Susanna und half ihr vom Pferd. Sie klammerte sich bebend an ihn und weinte, sodass er sie an sich presste und sie umschlungen hielt.

»Heusweiler? Liegt der Ort in der Nähe?«, fragte er leise.

»Nein, er liegt im Köllertal, einen halben Tag Fußmarsch von hier entfernt«, schluchzte Susanna.

Urs grübelte. Viele Fragen schwirrten ihm durch den Kopf, doch er wollte sie erst stellen, wenn sie sich beruhigt hatte. Als er spürte, dass ihr Beben nachließ und auch das Weinen aufhörte, fragte er: »Was in aller Welt willst du in Gersweiler?«

Susanna blickte ihn aus tränennassem Gesicht an. Sie wusste, dass sie jetzt nur die Wahrheit sagen durfte, und gestand: »Weil ich hier einen Schatz finden muss.«

Urs wusste nicht, ob er laut lachen oder verärgert sein sollte, da Susanna ihn anscheinend veralberte.

»Warum lügst du?«, fragte er und blickte sie zweifelnd an. Er hatte vorher noch nie jemanden wie sie getroffen und konnte sie nicht einschätzen. Zweifel kamen in ihm hoch, ob er ihr vertrauen konnte oder ob alles eine Lüge war. Er wusste nicht, ob es besser wäre, zu gehen, oder ob er doch bleiben sollte. Allerdings fühlte er sich zu ihr hingezogen, und er hatte das Bedürfnis, sie zu beschützen. Urs stöhnte innerlich auf.

»Ich lüge nicht«, brauste sie auf. »Mit dem Tod einer Familie spaßt man nicht«, sagte sie ernst und blickte ihm dabei fest in die Augen.

Urs forschte in ihrem Blick. Er glaubte ihr zwar, trotzdem war er verärgert: »Wir suchen uns ein Nachtlager, und dann erzählst du mir deine Geschichte«, forderte er mit entschlossener Miene.

Er sah, dass Susanna schwer schluckte, aber es war ihm einerlei. »Lass uns in die leer stehende Kate gehen«, schlug er vor, doch Susanna schüttelte den Kopf, denn sie dachte an die Ratten, die im Innern verschwunden waren.

»Ich würde lieber im Freien übernachten. Wir können dort drüben abseits des Weges das Lager aufschlagen«, entgegnete sie.

Urs nickte. »Ich suche Holz zusammen, mit dem wir ein Feuer entzünden können, das Ungeziefer und wilde Tiere von uns fernhält«, versuchte Urs zu spaßen. Susanna war jedoch nicht zum Scherzen zumute.

»Lass das Pferd auf der eingezäunten Koppel grasen. Zum Glück gibt es hier keine Bauern, die etwas dagegen haben könnten«, sagte er und zeigte ihr die Wiese.

Susanna führte den Wallach die Koppel entlang bis zum Gatter, das weit offenstand. Sie nahm ihm das Kopfgeschirr ab und presste kurz ihr Gesicht an seinen Hals. »Du bist der Beste«, murmelte sie und entließ ihn mit einem Klaps auf den breiten Hintern. »Friss dich satt, Dickerchen«, sagte sie, als ein Geräusch sie zusammenzucken ließ. Rasch schloss sie das Törchen und rannte zurück zu Urs.

Das brennende Holz knisterte und spendete Wärme, aber auch Geborgenheit. Obwohl die Luft nicht kalt war, hatte Susanna das Gefühl, ohne Feuer frieren zu müssen. Sie setzte sich auf die Decke. Urs, der auf einem dicken Holzstück saß und mit einem Stock in den Flammen herumstocherte, maulte: »Wir haben nichts mehr zu essen!«

»Ich bin nicht hungrig«, versicherte Susanna ihm sofort.

»Aber ich«, sagte er knapp und bedauerte es, dass er Armbrust und Pfeile beim Vater gelassen hatte. Er kramte im Rucksack nach Brot und Wurst, doch das meiste hatten sie unterwegs verzehrt. Es war nur noch ein Kanten Brot übrig. »Der muss für heute Abend reichen«, sagte er und brach ihn in zwei Teile. Eins reichte er Susanna, die jedoch den Kopf schüttelte.

»Ich habe wirklich keinen Hunger. Du darfst ihn essen.«

Urs ließ sich das nicht zweimal sagen und verschlang beide Hälften. »Jetzt fühle ich mich wohler«, seufzte er und blickte Susanna an, die zu Boden schaute.

»Es ist an der Zeit, dass du mir die Wahrheit sagst«, erklärte er.

Sie nickte. »Was willst du wissen?«

»Alles!«

Susanna atmete tief ein und aus, starrte ins Feuer und berichtete von dem Verbrechen an ihren Familienangehörigen. Urs war erschüttert über das, was Susanna erlebt hatte. Er dachte an seine Familie und vermisste sie. Während sie so genau wie möglich schilderte, wie sie vor noch gar nicht so langer Zeit bei der Rückkehr auf den elterlichen Hof ihre ermordeten Angehörigen gefunden hatte, hielt sie immer wieder inne, da sie mit den Tränen kämpfte. »Der Rauch brennt in meinen Augen«, flüsterte sie und versuchte zu lächeln. Urs wusste, dass die Erinnerung sie schmerzte, und sagte kein Wort. Susanna ließ nichts aus und berichtete von Jeremias, der Schatzkarte, der Familie Sonntag in Eppelborn und auch von ihrer Muhme und ihrem Vetter Arthur. Sie blickte auf und erklärte: »Deshalb ist es wichtig, dass ich den Schatz finde. Ich will meinen Vetter zu mir holen und mit ihm von hier fortgehen.«

»Das ist sehr löblich«, erklärte Urs. »Aber warum hast du mich und meine Familie belogen?«

Susanna zögerte einen Augenblick, doch dann klärte sie Urs über sein Geburtsdatum auf. Weil er am selben Tag wie der Herr Jesus Geburtstag habe, glaube sie fest daran, was sie von Karl Lauer erfahren hatte: Ein Schatzsucher, der am Christfest geboren wurde, könne Totengeister erlösen.

Als Urs das hörte, sprang er von seinem Platz auf und ging einige Schritte am Feuer auf und ab.

»Unglaublich!«, murmelte er und fragte: »Wenn ich dich richtig verstanden habe, glaubst du allen Ernstes, dass du mit meiner Hilfe den Schatz leichter heben kannst, weil ich angeblich fähig bin, Geister zu erlösen?«

Susanna nickte. »So hat man mir erzählt.«

»Unfassbar«, murmelte er. »Das muss Gottes Wille sein!«

Nun blickte Susanna ihn fragend an. »Wie meinst du das?«

Urs ging zu seinem Beutel, holte sein Buch hervor und setzte sich zu Susanna ans Feuer. Er legte sich das Buch auf die Knie und fuhr sich mit den Händen über die Oberarme, als friere er.

»Ist dir kühl?«, fragte Susanna, der es mittlerweile am Feuer zu heiß geworden war, weshalb sie ein Stück abrückte.

»Nein, es ist alles bestens. Ich bin nur aufgeregt«, sagte Urs und lächelte verlegen. Er wollte nicht zugeben, dass sein Herz raste und er kaum ruhig sitzenbleiben konnte. Auch seine Knie zitterten, sodass er die Fersen fest in den Boden pressen musste.

»Warum bist du so aufgeregt?«, fragte sie und zog ihre Stirn kraus. »Das, was ich dir erzählt habe, ist tragisch, aber nicht aufregend.«

Urs räusperte sich und zeigte auf das Buch. »Ich habe erst vor wenigen Tagen über solch eine Schatzsuche in diesem Buch hier gelesen.«

Susannas Augen weiteten sich. »Wie kann das sein?«, fragte sie und senkte furchtsam ihre Stimme.

Er zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich habe die Seiten nur überflogen, da es mich nicht neugierig machte. Ich bin nämlich fest der Meinung, dass nur Gelehrte wie Paracelsus, der diese Schriften verfasst hat, zum Schatzgräber geboren sind. Ich wusste nicht, dass das, wie du erzählst, jeder kann.«

»Nicht jeder kann einen Schatz finden«, fauchte Susanna. »Du hast mir anscheinend nicht richtig zugehört. Nur mit den richtigen Werkzeugen und Schriften wird man zum Schatzgräber.«

»Reg dich nicht auf! Ich habe dir zugehört, aber nicht alles verstanden«, murrte er.

»Wer war dieser Paracelsus?«, fragte Susanna entflammt, da sie ihrem Ziel anscheinend greifbar nahe gekommen war. Mit leuchtenden Augen blickte sie Urs an und wartete gespannt darauf, was er ihr erklären würde.

»Er war ein berühmter Arzt, der als Theophrastus Bombastus von Hohenheim geboren wurde, doch genannt hat er sich Paracelsus. Er lebte vor über einhundert Jahren und war Arzt, Naturforscher und Philosoph. Er soll weit gereist sein, um sein Wissen zu erweitern. Mein Oheim schenkte mir das Buch zum Abschied, und seitdem lese ich täglich darin.«

»Was berichtet er über die Schatzsuche?«, fragte Susanna und streckte sich vor dem Feuer aus.

Urs blätterte in dem Buch, bis er die Seiten fand. »Hier habe ich es«, sagte er erfreut und las vor. »Hier steht, dass Paracelsus zwei Arten von Schätzen unterscheidet. Solche, die von Menschen versteckt wurden und leicht zu finden sind. Und jene, die Naturgeister verborgen haben und die von ihnen bewacht werden.«

»Mein Schatz soll von einem Mönch vergraben worden sein, der aus Habgier nicht teilen wollte. Demnach müssten wir ihn leicht finden. Erklärt Paracelsus, welche Rolle Naturgeister spielen?«

Urs las nach und nickte. »Er spricht von Undinen, den Geistern des Wassers, von Salamandern, den Geistern für das Feuer, von Gnomen, die die Geister der Erde sind. Und dann gibt es noch die Sylphen. Das sind, schreibt Paracelsus, seelenlose Geister der Luft, die die Schätze bewachen. Er schreibt weiter, dass die Schätze der Naturgeister deshalb schwer zu heben sind, weil sie die Geldgier der Menschen erahnen.« Urs blickte nachdenklich vom Buch auf. »Das trifft auf dich nicht zu – denke ich.«

»Ja, das denke ich auch«, erklärte Susanna. »Ich will den Schatz nicht aus Gier. Ich will den Schatz, damit ich mit Arthur ein neues Leben beginnen kann.«

»Darf ich deine magischen Schriften sehen?«, fragte Urs.

Susanna nickte und zog das Heftchen aus ihrem Ausschnitt.

Vorsichtig faltete Urs die Blätter auseinander, las die Zeilen und faltete sie wieder zusammen. »Das, was in deinen Schriften steht, lehnt Paracelsus ab«, erklärte er und reichte sie Susanna.

»Was lehnt dieser Mann ab?«, fragte sie und steckte sich das Heftchen zurück in den Ausschnitt.

»Das Beschwören, das Zeichnen magischer Kreise, die Zuhilfenahme der Wünschelrute, das lehnt der Meister ab.«

Susanna starrte Urs ungläubig an. »Er lehnt meine magischen Schriften ab?«, flüsterte sie.

Urs nickte.

»Dann sind sie also wertlos?«

Urs zuckte mit den Schultern. Susannas Blick wanderte in die Flammen, die das Holz fast vollständig aufgefressen hatten. Die Nachricht bestürzte sie. »Wenn dieser Paracelsus recht hat, dann waren alle Mühen und Gefahren umsonst. Meine Eltern und meine Geschwister hätten nicht sterben müssen, und ich hätte mich nicht in Gefahr bringen müssen. Wir hätten Jeremias die Schriften überlassen können und nichts verloren«, wisperte sie. Tränen liefen ihre Wangen hinab.

Urs setzte sich neben sie und wollte tröstend den Arm um ihre Schultern legen, doch sie stieß ihn von sich. »Geh fort«, schrie sie und schob ihn aufgebracht von sich weg. »Du bist schuld! Warum erzählst du mir das? So werde ich den Schatz nie finden.«

Urs zog erschrocken den Arm zurück und sagte: »Vielleicht irrt sich Paracelsus. Obwohl er ein Gelehrter war, kann er unrecht haben. Schließlich sagte er nicht, dass magische Schriften falsch sind, er lehnt sie nur ab. Warte, ich lese dir vor, was er über die Schatzsuche schreibt.« Er nahm sein Buch auf und suchte die Stelle. »Man soll die Sterne beobachten und graben, wenn der Mond in Stier, Steinbock und Jungfrau geht. Er bezeichnet Orte, die Angst erregend wirken oder an denen sich Geister zeigen, als gut geeignet für die Schatzsuche. Auch sagt er, dass er die Arbeit mit der Wünschelrute für eine unsichere Kunst hält. Mehr schreibt er nicht, und deshalb wissen wir nicht, ob der Mann recht hat«, versuchte er sie zu trösten. Er überlegte und fragte Susanna: »Sagten die beiden Bauern aus Eppelborn nicht, dass sie sich über die Schatzsuche schlau gemacht haben? Sie gaben dir den Rat, die nötigen Werkzeuge zu besorgen. Warum vertraust du nicht ihnen?«

Susanna blickte Urs an. »Ja«, murmelte sie schließlich. »Ich pfeife auf deinen Gelehrten, den ich nicht kenne, und vertraue Karl Lauer, dem Oheim und dem Bauern Sonntag. Morgen werde ich mir die Werkzeuge besorgen und mit der Schatzsuche beginnen.«

»Und ich werde dir dabei helfen«, erklärte Urs und blickte sie fest entschlossen an.

»Du wolltest morgen deiner Familie nach Trier folgen«, wandte Susanna abwehrend ein.

»Ich weiß, aber meine Eltern werden sicher verstehen, wenn ich dich in deiner Lage nicht allein lasse.«

Nachdenklich kaute Susanna auf der Innenseite ihrer Wange. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen sollte.