Kapitel 26

Markus wollte den beiden hinterhereilen, doch Jeremias hielt ihn zurück. »Wir wissen, wo wir sie finden werden«, sagte er und blickte zu der Stelle, wo das Mädchen und der Bursche zwischen den Bäumen verschwunden waren.

»Ach ja?«, fragte Markus aufgebracht. »Dann weißt du mehr als ich, denn ich habe keine Ahnung, wo das sein könnte.« Er spie die Worte förmlich aus und hieb mit der Faust gegen den Stamm des Baumes, neben dem er stand.

Jeremias’ Blick schweifte zu dem Bauern, der sie beobachtete. »Warum glotzt du so?«, fragte er mürrisch.

»Was wollt ihr hier?«, erwiderte der Alte.

Er schien keine Angst vor ihnen zu haben, obwohl er erkennen musste, dass sie vor nichts zurückschrecken würden.

Jeremias verschränkte die Arme vor der Brust und sagte an Markus gewandt, ohne den Blick von dem Alten zu nehmen: »Im Gasthaus hast du angegeben, als ob du wüsstest, wie wir den Standort des Schatzes in Erfahrung bringen könnten. Was jetzt?«

Markus nickte. Er stieß sich von dem Baum ab und ging auf den Bauern zu. »Du wirst uns verraten, wo die Stelle ist!«, befahl er mit frechem Grinsen.

Jeremias lachte fassungslos auf. »Das ist dein Plan?«

Der Bauer blickte zwischen den Männern hin und her und fragte erstaunt: »Welchen Schatz? Ich weiß nichts von einem Schatz.«

Markus packte ihn am Kragen und fluchte: »Du alter Kauz wirst mir sofort sagen, wo in eurem verdammten Kaff der Schatz vergraben liegt!«

Der Bauer hustete und würgte. »Wenn es einen Schatz in Gersweiler gäbe, wüsste ich das«, krächzte er.

»Es muss hier aber einen geben!«, erwiderte Jeremias und gab Markus ein Zeichen, den Mann loszulassen. Hustend schnappte der Bauer nach Luft. Jeremias’ Blick fiel auf den Enkel, der eingeschüchtert dastand und mit großen Augen den Streit der Männer beobachtete. Er ging auf den Knaben zu, packte sein Ohr und verdrehte es, sodass der Junge aufbrüllte.

»Lass den Jungen los!«, schrie der Bauer außer sich.

»Erst, wenn du mir alles über den Schatz erzählst.«

Als der alte Mann seinen Enkel wimmern hörte, traten ihm Tränen in die Augen. »Was seid ihr nur für Kreaturen?«, flüsterte er. »Lass ihn los, und ich werde euch alles sagen.«

Jeremias lächelte zufrieden. »Warum nicht gleich so?«, spottete er und stieß den Jungen zu seinem Großvater.

Der legte schützend den Arm um das schluchzende Kind und erzählte: »Vor mehr als hundert Jahren soll ein Mönch …«

»Verschone mich mit deiner Märchenstunde!«, brauste Markus auf, sodass der Junge zusammenzuckte und seine Ohren mit den Händen schützte. »Ich will nur wissen, wo wir diesen verdammten Schatz finden.«

Der Bauer strich seinem Enkel beruhigend über den Scheitel. »Wenn ihr den linken Feldweg aus dem Dorf hinaus nehmt und dem Berg hinauf folgt, kommt ihr linker Hand im Wald zu einem Pfad, der euch zur Aschbacher Kirche bringt. Dort müsst ihr nach dem Schatzgeist Ausschau halten. Er wird euch zeigen, wo er seinen Schatz vergraben hat.«

Markus’ Blick schien den Bauern zu durchbohren. »Wenn du weißt, wo der Schatz liegt, warum hast du ihn dir nicht schon längst selbst geholt?«

»Sehe ich aus wie ein Schatzsucher?«, knurrte der Alte.

»Wie sieht ein Schatzsucher aus?«, wollte Markus wissen.

Der Alte hob seinen Krückstock in die Höhe und zeigte auf Jeremias. »Ihm könnte der Dämon vertrauen«, flüsterte er mit heiserer Stimme.

Markus bekam eine Gänsehaut.

Urs ließ Susannas Hand nicht los und zog das Mädchen tiefer in den Wald. Erst als das Unterholz so dicht wurde, dass sie nur langsam vorwärtskamen, blieb er stehen.

»Ich kann nicht mehr«, japste Susanna und ließ sich zu Boden gleiten.

Urs gab ihre Hand frei und blickte sich aufmerksam um. Da er nichts Beunruhigendes entdecken konnte, setzte er sich zu ihr.

»Ich habe dir gesagt, dass uns dein Starrsinn in Gefahr bringen wird«, schimpfte er verhalten.

»Aber Dickerchen …«, jammerte sie.

»Ihm geht es gut«, versuchte Urs sie zu beruhigen und wollte ihr über die Wange streicheln.

Doch sie drehte den Kopf zur Seite und fauchte: »Rühr mich nicht an!«

Enttäuscht nahm er seine Hand fort und stand auf. Er ging einige Schritte zurück und lehnte sich gegen einen Baum, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Was mache ich hier?, überlegte er enttäuscht. Anscheinend mochte Susanna ihn nicht, konnte ihn wahrscheinlich nicht einmal leiden. Er fühlte sich ausgenutzt, nachdem sie ihm gestanden hatte, dass sie nur wegen der Schatzsuche wollte, dass er bei ihr blieb. Trotzdem hatte er gehofft, sie würde ihr Verhalten ändern.

Bei ihm war das anders. Ihn lockte weder Geld noch Gold. Urs fühlte etwas, das er zuvor nie gespürt hatte. Etwas, das er nicht in Worten ausdrücken konnte. Allein wenn Susanna ihn nur ansah, glaubte er, sein Herz würde zerspringen. Als er bei der Flucht ihre Hand ergriffen hatte, war das Blut durch seinen Kopf gerast, dass ihm angst und bange wurde. Urs seufzte leise. Wenn sie ihn nur einmal berühren oder danke sagen würde! Er dachte an seine Eltern, die in Sorge sein mussten, weil sich seine Ankunft in Trier verzögerte. Er mochte nicht an die Schelte des Vaters denken. Und seine Mutter! Sie würde sich wahrscheinlich große Sorgen machen, weil er so lange fortblieb. Urs riskierte so viel für Susanna, doch sie stieß ihn fort.

Er drängte die bedrückenden Gedanken zurück und dachte daran, wie Susanna sich im Wirtshaus gegenüber der Magd Anna gebärdet hatte. Sie hatte ihn wütend angefahren und war aus dem Gasthaus gestürmt, weil er nett zu diesem Mädchen gewesen war. Bei dem Gedanken an ihre wütende Miene blitzte ein Lächeln in seinem Gesicht auf. Vielleicht mag sie mich ja doch, träumte er.

Susanna blickte zu Urs, der ihr den Rücken zudrehte. Da sie sein Gesicht nicht sah, konnte sie nicht erahnen, was in seinem Kopf vorging. Sie wollte nicht von ihm berührt werden, aber es behagte ihr auch nicht, wenn er sie nicht beachtete oder alleine ließ. Die widerstreitenden Gefühle in ihrem Innern, die wie eine Welle hoch- und niederschwappten, verunsicherten sie und erschwerten ihr das Atmen. Sie war sich wohlbewusst, wie sehr es ihr missfiel, dass die Magd ihren Gefallen an Urs gezeigt und ihm ihre Brüste entgegengestreckt hatte. Am liebsten hätte sie der Magd in diesem Augenblick die Augen ausgekratzt. Wie kam dieses Weibsbild dazu? Aber auch über das Verhalten von Urs war Susanna verärgert gewesen, wie sie sich eingestand. Sein freundliches Benehmen der Magd gegenüber hatte sie geärgert. Sie musste sich widerstrebend eingestehen, dass sie sich an die Gesellschaft des Burschen gewöhnt hatte. Ich würde ihn vermissen, wenn er seinen Eltern folgt, dachte sie und hoffte, dass er lange bei ihr bleiben würde.

Urs wandte sich Susanna wieder zu und sagte mit gleichgültiger Miene: »Lass uns weitergehen.«

»In welche Richtung?«, fragte sie und stand auf.

Er blickte den Weg zurück, den sie gekommen waren, und sagte: »Wir müssen uns links halten.«

»Wie willst du das wissen?«

»Weil das hübsche Mädchen im Wirtshaus uns diese Richtung gewiesen hat«, erklärte er.

Susanna presste ihre Lippen aufeinander, sodass sie sich zu einem dünnen Strich verengten. Sie verkniff sich eine Antwort und stapfte an ihm vorbei ins Gehölz.

Urs konnte sich ein Lachen nur mühsam verkneifen. Sie mag mich, jubelte er und folgte Susanna.

Die beiden Männer sattelten die Pferde aus der Saline. Das Schlachtross wollten sie am Strick mitführen. »Es ist stark genug, um das Geld und das Gold zu tragen«, frohlockte Markus und legte seinem Ross den Führstrick um.

Der Bauer stand da, den Arm um seinen Enkel gelegt, und wartete darauf, dass die beiden finsteren Gestalten verschwanden.

Als Jeremias aufsaß, sagte er zu dem Alten: »Auf dem Weg zum Wirtshaus habe ich auf allen Eingangstüren in Gersweiler ein rotes Zeichen erkennen können. Was hat das zu bedeuten?«

Der Bauer zuckte mit den Schultern. »Nichts. Es sind Kinderschmierereien!«, antwortete er.

»Den Bälgern würde ich den Arsch verschlagen, dass sie drei Tage nicht sitzen können«, schimpfte Markus.

»Da wären wir ausnahmsweise einer Meinung«, lachte Jeremias und ritt ohne ein weiteres Wort von der Koppel. Kaum hatte er den Weg erreicht, galoppierte er los. Markus tat es ihm nach.

Als sie nicht mehr zu sehen waren, schnaufte der Bauer laut aus. Sein Enkel blickte ihn an und fragte: »Warum hast du ihnen nicht die Wahrheit über die spiegelverkehrte Vier erzählt, Großvater?«

»Das geht sie nichts an«, antwortete der Alte.

»Und warum hast du ihnen nicht verraten, dass in der Aschbacher Kirche die Pestkranken lebten und deshalb niemand dort hingeht?«

»Das, mein Kind, werden sie früh genug selbst herausfinden«, sagte er mit einem listigen Grinsen im Gesicht. Zufrieden mit sich selbst, legte der Bauer seinem Enkel die Hand auf den Scheitel und ging mit ihm zu seiner Kate.

Susanna konnte Urs kaum folgen. Der Berg schien mit jedem Schritt steiler zu werden. »Wo bleibst du?«, rief er, da sie weit hinter ihm herschlich.

»Du springst wie ein Reh den Berg hinauf.«

»Wenn schon, dann wie ein Rehbock«, lachte er. Er wartete, bis Susanna ihn eingeholt hatte.

»Können wir einen Augenblick rasten?«, fragte sie und setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm, ohne seine Antwort abzuwarten. Erschöpft wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Sie hob ihre langen Haare an und strich sich die Haut darunter trocken. »Was würde ich darum geben, in einem erfrischenden Teich zu baden«, seufzte sie und roch an sich. »Auch müsste ich dringend meine Kleidung waschen.«

»Ja, das würde mir auch gefallen. Vielleicht haben wir Glück und kommen an einem Teich vorbei. Ich bin froh, dass wir wenigstens ein ausgiebiges Frühmahl hatten. Hier scheint es außer Bäumen nichts zu geben.«

»Wie kommt es, dass dich der steile Weg nicht anstrengt?«

»Wir Schweizer sind Bergmenschen und müssen tagaus, tagein steile Wege gehen. Außerdem bin ich ein Mann«, versicherte er ihr.

»Pah! Mein Bruder Johann war auch ein Mann, aber er hätte ebenso geschnauft wie ich.«

Urs bemerkte ihren traurigen Gesichtsausdruck, als sie von ihrem Bruder sprach. Um sie abzulenken, setzte er sich zu ihr und erzählte: »Ich habe dir berichtet, dass ich aus der Schweiz komme.« Sie nickte, und er erzählte weiter: »Wir lebten im Kanton Uri.«

»Kanton?«, fragte sie.

»Die Kantone sind kleine Staaten, die zusammen unser Land bilden. Uri ist einer der ältesten Kantone und liegt inmitten der Schweiz. Unser Land ist geprägt von hohen Bergen, auf deren Gipfel selbst im Sommer Schnee liegt. Die Hänge sind für unsere Kühe gutes Weideland, aber der Sommer ist kurz. Und die Winter sind hart, ebenso wie unser Leben in den Bergen. Es ist karg und einsam, denn die Gehöfte der Bauern liegen weit verstreut auseinander. Mein Vater will für uns ein besseres Leben. Deshalb werden wir künftig in der Stadt Trier leben, in der es alles gibt und wo wir nichts entbehren müssen.«

»Wirst du dort als Heiler arbeiten?«

Urs schüttelte den Kopf, und sein Blick wurde starr.

»Mein Vater will, dass ich die Familientradition weiterführe und Soldat werde.«

»Aber warum? Du hast die Fähigkeit zu heilen. Sieh nur, wie fachkundig du meine Wunde versorgt hast«, sagte sie und hob ihren Kittel über der Hüfte an.

Urs lächelte schüchtern. »Ich weiß, Susanna. Ich war selbst überrascht, wie gut deine Verletzung in der kurzen Zeit verheilt ist.«

»Ich wäre vermutlich gestorben, wenn du mich nicht im Wald gefunden hättest. Das muss dein Vater wissen«, sagte sie.

Urs blickte sie überrascht an, denn er hätte nie vermutet, dass sie seine Begabung anerkennen würde.

»Meinen Vater wird das wenig beeindrucken. In der Berufswahl ist er stur. Ich hoffe auf meinen Oheim Bendicht, seinen Bruder. Er wird uns schon bald nach Trier folgen und meinen Vater hoffentlich umstimmen können.«

»Dann ist noch nicht alles verloren«, flüsterte Susanna und lächelte Urs zaghaft an.

Sein Herz schien Purzelbäume zu schlagen, und das Blut schoss ihm ins Gesicht. Er räusperte sich und stand auf. »Wir müssen weiter«, sagte er, und Susanna nickte.

Sie erreichten einen breiten Weg, den sie überqueren mussten, da auf der anderen Seite ein Pfad zur Aschbacher Kirche führte. Aufmerksam blickten sie sich um, als sie Pferdeschnauben hörten. Sogleich stieß Urs Susanna zurück in den Wald und zog sie in den Schutz einer Hecke. Schon preschten Jeremias und Markus an ihnen vorbei. Susannas Herz schlug ihr bis zum Hals, denn sie sah, wie Markus Dickerchen mit sich führte. Am liebsten wäre sie ihnen hinterhergerannt.

Urs schien ihre Gedanken zu ahnen, denn er umfasste ihren Arm. »Komm schnell! Sie werden sicher gleich zurückkommen.«

»Wie willst du wissen, dass auch sie zur Kirche wollen?«, flüsterte Susanna.

»Das weiß ich nicht, aber ich vermute es. Sie wissen, dass du den Schatz heben willst, und den wollen sie auch, also werden sie sich im Ort kundig gemacht haben, wo er vergraben liegt. Wir müssen auf der anderen Seite des Weges sein, bevor sie womöglich merken, dass sie zu weit geritten sind«, sagte er und zog Susanna weiter.