Fünfzehn
Vogelgezwitscher und das vereinzelte Zirpen einer Grille waren die einzigen Geräusche um uns herum.
6 Tage und 4 Stunden seit dem Angriff der Weepers.
8 880 Minuten – doch mir kam es viel länger vor.
Joshua und ich hatten uns in die Weinberge verdrückt. Das war der einzige Ort, an dem wir ungestört Zeit miteinander verbringen, uns umarmen und küssen konnten. Es war unser ganz persönliches Safe-haven. Doch Sicherheit gab es nicht mehr, und in Safe-haven schon gar nicht. Wir mussten immer wachsam bleiben. Zumindest wurde Dad langsam wieder gesund. Karen sagte, dass es ihm immer besser ging.
Jeden Tag diskutierten wir darüber, ob wir Safe-haven verlassen sollten. Nachts lagen wir vor Sorge wach. Aber wo sollten wir denn hin? Hier hatten wir eine Heimat gefunden, und das war in dieser Welt ein seltener Glücksfall. Die Weepers waren überall. Sollten wir zulassen, dass sie uns von hier vertrieben? Dann würden wir als Nomaden enden und auf der Suche nach einer sicheren Zuflucht, die wir niemals finden würden, von einem Ort zum anderen ziehen.
Joshua hielt mich fester. Unsere Körper rückten noch enger zusammen.
»Sherry! Joshua!« Bobbys Schrei hallte durch die Stille.
Joshua zog sich mit einem Seufzen zurück. Ich öffnete die Augen. Am liebsten hätte ich meinen kleinen Bruder erwürgt. Wir hatten nur so wenig gemeinsame Zeit – jede Minute war kostbar. Mom bestand darauf, dass immer jemand bei uns war. Jede Wette, dass sie Bobby losgeschickt hatte, um nach uns zu sehen.
»Sherry! Joshua!« Die Rufe kamen näher.
»Wenn wir uns ducken, sieht er uns nicht«, sagte Joshua mit einem boshaften Grinsen. Ein verführerischer Gedanke.
Ich lachte. »Da kennst du Bobby schlecht. Der gibt nicht auf.«
»Sherry!«
»Wir sind hier!«, rief ich.
»Wo?«
Ich verdrehte die Augen, woraufhin Joshuas Grinsen noch breiter wurde. »Hier!«
Bobby erschien zwischen den Rebstöcken. Sein Gesicht glühte vor Aufregung. Dann runzelte er die Stirn. »Warum umarmst du meine Schwester?«
Wir traten einen Schritt voneinander zurück und ließen die Arme sinken. Joshua hatte die Situation viel besser im Griff als ich: »Das verstehst du nicht.«
Bobby öffnete schmollend den Mund. Ich hob eine Hand. »Was willst du?« Ungewollt schlich sich ein ungeduldiger Unterton in meine Stimme. Es war ungewiss, wann Joshua und ich uns wieder nahe sein konnten, und Bobby hatte diesen schönen Augenblick ruiniert.
Bobby blinzelte mich an. Dann wurde er wieder ganz aufgeregt. »Geoffrey hat das Funkgerät repariert und sogar eine Fernverbindung aufgebaut. Wir haben Stimmen gehört!«
Joshua und ich sahen uns an. Stimmen? Andere Überlebende?
Bobby wirbelte herum und rannte zurück. Joshua und ich folgten ihm.
Ich war völlig außer Atem, als wir im Wohnzimmer des Haupthauses ankamen, wo Geoffrey Dads Funkgerät auf einem Tisch aufgebaut hatte.
Als wir hereinstürmten, sah er auf und lächelte stolz. »Es funktioniert. Ich habe dasselbe gemacht wie sonst auch immer, und plötzlich habe ich Stimmen gehört. Leider habe ich sie wieder verloren, bevor wir Informationen austauschen konnten. Jetzt müssen wir abwarten, bis sie sich wieder melden.« Er drehte an den Knöpfen, aber aus dem Funkgerät kam nur ein Rauschen.
Da hörten wir plötzlich eine verzerrte Stimme. Sie war sehr undeutlich hinter dem ständigen Zischen, und ich musste mich konzentrieren, um sie zu verstehen.
»Hallo?«, sagte Geoffrey in das kleine Mikrofon und schwenkte die Antenne hin und her.
»Geoffrey?«, meldete sich eine männliche Stimme.
»Ja, ich bin’s. Ich hatte euch verloren.«
»Geoffrey, das ist jetzt sehr wichtig.« Der Mann klang gehetzt und verängstigt. »Wir müssen euch warnen. Sie haben uns verraten. Es …« Dann schnitt ihm ein lautes Rauschen das Wort ab.
Vielleicht hatte Joshua recht, und jemand wollte tatsächlich verhindern, dass wir miteinander kommunizierten.
Joshua sah so ratlos drein wie ich mich fühlte.
»Wer hat uns verraten?«, fragte ich und ließ mich in das Sofa fallen. Wir sahen uns frustriert an.
Larry, der in einem der Sessel saß, beugte sich vor und sah Geoffrey mit andächtiger Aufmerksamkeit an. »Ja, was soll das alles bedeuten?«
Joshua deutete auf den Lautsprecher. »Wer war das überhaupt?«
Geoffrey machte sich mit einem Schraubenzieher an der Rückseite des Funkgeräts zu schaffen. Er wirkte hochkonzentriert. »Simon. Er heißt Simon, hat er gesagt. Er lebt mit ein paar anderen in einer Zufluchtsstätte in Arizona. Mehr weiß ich nicht.«
Erschöpft lehnte ich mich gegen Joshua und wartete ab, was als Nächstes geschah.
Urplötzlich erwachte ich und riss die Augen auf. Ich war wohl eingeschlafen. Mein Kopf lag noch immer auf Joshuas Schulter. Marie und Emma saßen vor unseren Füßen auf dem Boden und unterhielten sich leise.
Ich setzte mich auf und versuchte, die Müdigkeit abzuschütteln. »Wie lange habe ich geschlafen?«
»Eine Stunde«, murmelte Joshua. »Aber du hast nichts verpasst. Nur das ständige Rauschen.«
Ich stand vom Sofa auf und streckte meine müden Muskeln. »Dann sehe ich mal nach meinem Vater. Sagt mir Bescheid, wenn was passiert.«
Joshua nickte mit halbgeschlossenen Augen. Larry war in seinem Sessel tief und fest eingeschlafen und schnarchte mit offenem Mund. Ich schleppte mich zur Vordertür. Als ich das Haus verließ, schlug mir kalter Wind ins Gesicht und vertrieb die Schläfrigkeit.
Ich ging zum Cottage hinüber. Selbst Joshuas Pullover half nicht gegen die Kälte. Wo war eigentlich die Sonne hin?
Karen saß auf einem Stuhl und las ein Buch. Sie sah kurz auf und lächelte, dann wandte sie sich wieder ihrer Lektüre zu. Mom saß auf der Bettkante und redete mit Dad. Mein Herz machte einen Satz – Dad war endlich aufgewacht!
Sein Blick fiel auf mich, und ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen.
»Sherry«, sagte er mit heiserer Stimme. Er hatte wieder etwas Farbe im Gesicht, hing aber immer noch am Tropf. Ich lief auf ihn zu, schlang die Arme um seinen Hals und drückte mich fest an ihn. Seine Berührung brannte auf meiner Haut; das Fieber hatte noch nicht nachgelassen. Er lachte krächzend und streichelte meinen Rücken. Ein paar Tränen quollen aus meinen Augen und liefen mir die Wangen hinunter. Ich löste mich von ihm und wischte sie mit dem Ärmel des Kapuzenpullovers ab. Er war aufgewacht und sah besser aus als zuvor. Ich war überglücklich.
Mom lächelte mich unter Tränen an und hielt Dads Hand.
»Ich bin sehr stolz auf dich«, sagte er.
Ich starrte ihn an. »W… Warum?«
Dad rollte mit den Augen. »Kannst du dir das nicht denken? Du bist doch ein cleveres Mädchen«, scherzte er mit schwacher Stimme. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, die mir vor einer Minute noch nicht aufgefallen waren. Fieber, Schweißausbrüche – waren das Symptome der Tollwut?
»Du bist sehr tapfer, Sherry«, sagte er, ganz der stolze Vater. Allerdings hatte er keinen Grund, stolz auf mich zu sein.
»Es war doch meine Schuld, dass dich die Weepers erwischt haben. Ich hätte sie aufhalten müssen. Ich habe dich doch nur begleitet, um dich zu beschützen. Ich habe versagt.« Meine Stimme zitterte.
»Red keinen Unsinn, Sherry«, ermahnte mich Mom kopfschüttelnd.
»Es war nicht deine Schuld. Schließlich hatte ich die Schrotflinte. Ich hätte uns verteidigen sollen, stattdessen hab ich sie fallenlassen, als eine dieser Bestien aufgetaucht ist.« Allein beim Gedanken daran zuckte Dad zusammen. Er holte tief Luft und fuhr fort. »Ich dachte, dass sie dich umgebracht hätten, weil sie dich nicht mit zum Hafen geschleppt haben. Ich dachte, ich hätte das Versprechen gebrochen, das ich deiner Mutter gegeben habe.« Er sah Mom mit einem entschuldigenden Blick an.
Ich wartete den Moment des stillen Einverständnisses zwischen den beiden ab und starrte auf meine Hände. Ohne Joshuas Hilfe hätten die Weepers mich getötet. Das würde ich ihm niemals vergessen.
»Wie habt ihr überlebt? Das ist ein Wunder«, sagte Dad erstaunt.
Ich sah auf und lächelte. »Joshua hat mich gerettet.«
»Du trägst seinen Pullover.« Mom sah mich eindringlich an.
Ich spürte, dass ich rot anlief. »Es ist kalt.« Eine lahme Ausrede. Ich mochte, wie der Pullover roch. Mom und Dad tauschten vielsagende Blicke aus, deren Bedeutung ich gar nicht erst wissen wollte.
Dann wurde die Tür so heftig aufgestoßen, dass sie gegen die Wand krachte. Wir erschraken. Ich erwartete schon, einen Weeper im Raum stehen zu sehen, doch es war nur Joshua.
Karen sah ihn finster an und hob das Buch auf, das sie fallengelassen hatte. »Um Himmels willen, Joshua! Willst du, dass wir alle einen Herzinfarkt kriegen?«
Joshua beachtete sie gar nicht. »Über Safe-haven kreist ein Hubschrauber!«
»Was?«, fragten Karen und ich im Chor.
»Ich hab ein Geräusch gehört, und da hab ich ihn gesehen!«
Mir klopfte das Herz bis zum Hals.
»Kommt mit!«, drängte Joshua und rannte aus dem Zimmer, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Ich lief ihm nach und sah in den Himmel. Da entdeckte ich ihn. Ein dunkler Punkt am Horizont, der langsam größer wurde. Ja, der Punkt, den ich schon mehrere Male gesehen hatte, war zurück. Innerhalb von Sekunden schwebte er über uns. Es war ein Militärhelikopter. Er flog so tief, dass ich sogar die Soldaten erkennen konnte, die darin saßen. Ihre Gesichter waren unter schwarzen Gasmasken verborgen.
Es gab also doch noch andere Menschen. Das Militär. Wir waren gerettet!
Die anderen Bewohner von Safe-haven versammelten sich um uns und winkten wie wild. »Hierher!«, riefen wir.
Tyler riss die Augen auf und fing an zu zittern. Langsam sank er auf die Knie.
Ich sah zu Rachel hinüber, die neben ihm stand und den Hubschrauber anstarrte. Dahinter blieb Geoffrey wie erstarrt in der Tür des Haupthauses stehen und sah in den Himmel.
»Er wird nicht langsamer«, sagte Larry.
»Sie müssen uns doch bemerkt haben. Sie fliegen so tief! Da können sie uns doch nicht übersehen!« Karen starrte den Helikopter schockiert an. »Wir sind hier unten!« Sie sprang auf und ab.
Wir müssten sie irgendwie auf uns aufmerksam machen. »Wir brauchen eine Signalpistole!«, sagte ich.
Joshua stürmte an Geoffrey vorbei ins Haus, kam wenige Augenblicke später mit einer wuchtigen, kastenförmigen Pistole zurück und hielt sie über den Kopf. Gerade als er sie abfeuern wollte, warf sich Tyler auf ihn. Gemeinsam gingen sie zu Boden. »Geh runter von mir! Bist du übergeschnappt?«, rief Joshua. Er schubste Tyler von sich und sprang auf die Füße. Tyler blieb auf dem Rücken liegen und bedeckte die Augen mit den Händen. Was war nur los mit ihm?
Joshua drückte ab.
Ein Licht schoss in den Himmel, rotglühende Funken vor einem bläulichen Dunkelgrau. Dieses Signal war nicht zu übersehen. Trotzdem änderte der Helikopter weder seine Richtung, noch ging er tiefer. Er flog einfach weiter, als wären wir gar nicht da, obwohl uns die Soldaten doch bemerkt haben mussten.
»Warum retten sie uns nicht?«, fragte mich Bobby, als ob ich die Antwort darauf wüsste.
»Hey, ihr Arschlöcher!«, rief Joshua. Der Hubschrauber wurde kleiner und kleiner, bis er wieder ein schwarzer Punkt am Horizont war.
»Vielleicht holen sie Verstärkung«, vermutete Marie und drückte Emma fest an sich.
Tyler kauerte mit dem Kopf zwischen den Knien auf dem Boden. Er zitterte am ganzen Körper und wippte vor und zurück, als hätte er völlig den Verstand verloren. Rachel stand hinter ihm und machte große Augen. Schwer zu sagen, ob sie schockiert war oder Angst hatte. Wenige Augenblicke später sah Tyler auf. Unsere Blicke trafen sich. Da wusste ich sofort, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.
Er krächzte etwas, doch da er seit Monaten kein Wort gesprochen hatte, fiel ihm das Reden schwer. Es klang ungefähr wie »Sie werden uns nicht retten.«
Die anderen starrten ihn gleichzeitig erschrocken und verwirrt an. Mich dagegen überkam eine düstere Vorahnung.
»Was hast du gesagt?«, fragte Joshua.
»Sie werden uns nicht retten.« Tylers tiefe, raue Stimme war so leise, dass ich die Ohren spitzen musste, um ihn zu verstehen.
»Was soll das heißen, sie werden uns nicht retten? Woher willst du das wissen? Das verstehe ich nicht, Tyler.« Karen ging zu ihm und legte eine Hand auf seine Schulter. Er zuckte zusammen, als ob sie ihn geschlagen hätte. Karen warf Larry einen bedeutungsvollen Blick zu. Offensichtlich dachte sie, dass Tyler nun endgültig den Verstand verloren hatte. Ich dagegen war mir ziemlich sicher, dass seine Worte nicht die eines Wahnsinnigen waren.
»Ich war da, auf der anderen Seite.« Er drückte eine Wange gegen das Knie und umklammerte seine Beine so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er sah völlig verloren aus und viel jünger, als er eigentlich war.
»Welche andere Seite?«, fragte ich sanft, um ihn nicht zu erschrecken.
»Auf der anderen Seite des Zauns.«
Larry fasste sich an den Nasenrücken und schob die Brille hoch. »Zaun. Kapier ich nicht. Welcher Zaun?«
Geoffreys Miene verfinsterte sich, als hätte er Angst vor dem, was Tyler als Nächstes sagen würde.
»Es gibt einen Zaun.« Tyler holte Luft. Er musste um jedes Wort ringen. »Ein Zaun, der uns und die Weepers umgibt. Er trennt uns … trennt uns vom Rest des Landes.« Er schluckte. »Hinter dem Zaun ist eine andere Welt. Eine Welt, in der das Leben weitergeht, als w … wäre nichts passiert.« Tyler zitterte immer noch, als würden ihm seine eigenen Worte mehr Angst machen als der Hubschrauber.
Das ergab doch keinen Sinn. Wie konnten sie da draußen in aller Ruhe einfach so weitermachen, wenn wir hier jeden Tag ums Überleben kämpften?
»Woher weißt du das?«, fragte ich.
»Nachdem ich den öffentlichen Bunker verlassen hatte, bin ich mit ein paar anderen auf der Suche nach Überlebenden durchs Land gezogen. Dann ist ein Hubschrauber über uns aufgetaucht. Sie haben auf uns geschossen. Ich wurde von einem Betäubungspfeil getroffen. Danach kann ich mich an nicht mehr viel erinnern. Ich hatte wohl das Bewusstsein verloren. Als ich wieder zu mir kam, war ich in einem Labor. An einen Tisch gefesselt. Auf der anderen Seite. Hinter dem Zaun.«
Einerseits hatte ich das Verlangen, mir die Ohren zuzuhalten. Ich wollte nichts mehr hören. Andererseits wollte ich so viel wie möglich darüber in Erfahrung bringen.
»Sie haben uns als Versuchskaninchen für den Tollwuterreger missbraucht. Sie sind alle gestorben.« Er schloss die Augen, als könnte er dadurch alles vergessen. Aber ich wusste genau, dass das nicht funktionierte. Sämtliche Erinnerungen, die ich so verzweifelt zu vergessen suchte, wurden nur noch lebhafter, wenn ich meine Augen schloss.
Wir schwiegen eine Zeit lang. Ich war wie erstarrt, und den anderen ging es nicht besser. Meine Finger fühlten sich taub an, und langsam breitete sich die Taubheit über meinen ganzen Körper aus. Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da hörte.
Mom ergriff als Erste das Wort. »Das würden sie niemals tun.«
Geoffrey verzog das Gesicht. »Doch, das würden sie«, sagte er mit unergründlicher Miene. »Glaubt mir. Als ich noch Wissenschaftler war, habe ich viel mitbekommen. So viel, dass ich meinen Glauben an die Menschheit fast verloren hätte.«
Karen ging neben Tyler in die Hocke. »Wie bist du von dort entkommen? Haben sie dich freigelassen?«
Ein ersticktes Lachen kam über seine Lippen. »Nein. Wenn man einmal im Labor ist, wird man nie wieder freigelassen. Ich bin geflohen. Tagelang habe ich mich in verlassenen Gebäuden versteckt. Dann habe ich den Zaun entdeckt. Die anderen Gefangenen hatten mir davon erzählt, aber ich habe ihnen nicht geglaubt. Dann hab ich einen Tunnel gefunden. Er war ziemlich baufällig, aber ich hatte keine Wahl.« Er erschauderte.
»Als ich auf dieser Seite des Zauns wieder rauskam, hatte ich starkes Fieber. Ich rannte und rannte, ohne anzuhalten. Dann weiß ich nichts mehr. Ich erinnere mich nur noch, wie ich hier aufgewacht bin.«
»Das tut mir so leid, Tyler.« Rachel ging ebenfalls in die Hocke und legte einen Arm um seine Schultern.
Ich konnte mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was Tyler durchgemacht hatte. Ich an seiner Stelle hätte das alles wohl nicht überlebt. Kein Wunder, dass er danach kein Wort mehr gesprochen hatte.
Larry schüttelte den Kopf. »Aber wieso haben wir keinen Handyempfang und kein Fernsehen? Wenn das Leben auf der anderen Seite des Zauns ganz normal weitergeht, dann hätten wir das doch mitbekommen, oder nicht?«
Ich nahm Joshuas Hand. Jetzt brauchte ich ihn mehr als je zuvor. Er sah mich an. In seinen Augen konnte ich erkennen, dass er Tyler glaubte.
Tyler zeichnete mit den Fingern eine lange Linie in die Erde zu seinen Füßen. Das Sprechen schien ihm inzwischen leichter zu fallen. »Die Regierung hat äußerst gründlich gearbeitet. Sie wollten sichergehen, dass niemand etwas über uns erfuhr und wir nur über den Zaun kamen, wenn sie es so wollten. Er wird von Minenfeldern, Selbstschussanlagen und Überwachungskameras gesichert.«
Larry nickte. Plötzlich hellte sich seine Miene auf, als hätte er soeben ein kniffliges Rätsel gelöst. »Also haben sie uns von der Außenwelt abgeschnitten und tun jetzt so, als würden wir nicht existieren. Die Regierung sendet Störsignale. Deshalb wurde auch der Funkverkehr unterbrochen.«
»Aber das hätte die Menschheit doch niemals zugelassen. Die Bevölkerung hätte sich dagegen aufgelehnt«, sagte ich. »Irgendjemand hätte die Regierung doch aufgehalten. Oder nicht?«
Geoffrey rieb sich die Schläfen. »Der Rest der Welt hält uns wahrscheinlich entweder für tot oder für infizierte Monster. Die Regierung hat die Bevölkerung manipuliert, und jetzt glauben alle, dass wir keine Menschen mehr sind.«
Langsam wurde uns die traurige Wahrheit bewusst. Niemand würde uns helfen. Joshua drückte sanft meine Hand. Eine tröstende Geste. Ich lächelte ihn schwach an, obwohl ich am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre.
»Aber wenn der Rest der Welt so weiterlebt wie zuvor, wieso haben wir dann nicht schon früher Helikopter oder Flugzeuge oder Schiffe gesehen?«, fragte er.
»Wir sind in einem Sperrgebiet. Es ist verboten, es zu überfliegen oder zu betreten. Das nennt sich ›verseuchte Zone‹. Ich habe das zufällig gehört, als ich im Labor war«, flüsterte Tyler, der immer noch die Brust an die Knie gezogen hatte.
Eine verseuchte Zone. So wurde meine Heimat jetzt also genannt.
»Warum haben die anderen Überlebenden den Zaun nicht bemerkt?«, fragte Joshua.
»Hubschrauber patrouillieren am Zaun entlang. Wenn sie in der Nähe jemanden aufspüren, bringen sie ihn ins Labor. Genau wie mich«, sagte Tyler.
Geoffrey schloss die Augen und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er war leichenblass. Da fiel mir plötzlich auf, wie wenig er bisher dazu gesagt hatte. Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
»Du hast das gewusst?«, fragte ich.
Geoffrey erstarrte. »Ich wusste, dass sie vorhatten, einen Zaun zu errichten, aber ich hielt das für leeres Gerede. Ich hätte niemals gedacht, dass sie es wirklich tun würden. Und nachsehen wollte ich auch nicht – davor hatte ich zu viel Angst.«
Ich starrte ihn eingehend an, während Joshua ihn wütend anfunkelte. »Du weißt doch noch mehr.«
»Wie gesagt, ich habe als Wissenschaftler für die Regierung gearbeitet. Als die ersten Pläne zur Sprache kamen, das Sperrgebiet zu errichten und den Zaun zu bauen, wollten sie, dass ich sie dabei unterstützte. Zu dieser Zeit war meine Familie allerdings schon infiziert, und ich hätte sie nicht mitnehmen können. Also habe ich mich entschlossen, bei meiner Familie zu bleiben. Ich wusste ja nicht mal, ob ich nicht selbst infiziert war. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass sie uns wirklich im Stich lassen würden.«
»Die Regierung hat dich einfach fallen lassen?« Die Betroffenheit in Moms Gesicht war nicht zu übersehen. Wie konnte sie nach allem, was Tyler uns gerade erzählt hatte, noch schockiert sein? Das war mir schleierhaft.
»Ich wusste zu viel. Ich nehme an, sie haben mich nur deshalb nicht getötet, weil sie dachten, dass ich im Weeper-Territorium sowieso nicht länger als ein paar Tage durchhalten würde.«
Karen sah ihn finster an. »Wieso hast du uns das alles nicht schon früher erzählt?«
»Ich wusste einfach nicht mehr, was die Wahrheit war und was nicht. Ich …« Er schluckte. »Ich hatte Angst und machte mir Sorgen. Vielleicht hättet ihr mich gehasst und davongejagt. Es tut mir leid, das war sehr egoistisch von mir.« Niemand sagte etwas. Geoffrey ließ den Kopf hängen und wandte sich Tyler zu. »Was weißt du noch, Tyler?«
»Oregon, Kalifornien, Nevada und Arizona sind Teil des Sperrgebiets. Der Zaun verläuft entlang der äußeren Grenzen dieser Bundesstaaten und trennt uns vom Rest des Landes. Von hier aus gesehen ist der nächste Zaunabschnitt südlich von Las Vegas. Man kann ihn mit dem Auto in sechs Stunden erreichen.«
Joshua und ich tauschten Blicke aus. Wir waren beide fest entschlossen, den Zaun mit eigenen Augen zu sehen.
Tyler sah uns mit großen, flehenden Augen an, als hätte er unsere Gedanken gelesen. »Da dürft ihr nicht hin. Sie werden euch erwischen. Das ist euer Ende. Ihr werdet sterben. Genau wie mein Bruder.«
»Dein Bruder?« Mir blieb die Spucke weg. Jetzt kam gleich die nächste Horrorgeschichte, die sich unauslöschlich und für alle Zeit in mein Gedächtnis einbrennen würde.
Tyler fuhr mit den Fingern das Tattoo seines Namens auf seinem Handgelenk nach. »Mein Zwillingsbruder. Tyler. Er ist im Labor gestorben. Er hat es nicht geschafft.«
Karen war die Erste, die den lähmenden Schrecken überwand, der uns alle gepackt hatte. »Das tut mir leid. Aber wenn Tyler dein Zwillingsbruder war, wie ist dann dein Name?«
Tyler richtete sich auf und klopfte den Staub von sich ab. Jetzt schien er sich wieder vor uns zu verschließen. »Egal. Den gibt’s nicht mehr. Nennt mich einfach Tyler.«
Er ging ins Haus und ließ uns mit der Gewissheit zurück, dass alles noch viel schlimmer war, als wir gedacht hatten.