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Vier

Ich setzte mich auf. Durch die Bewegung wurde mir noch schwindliger. Nach wie vor konnte ich nur verschwommen sehen. Vor mir stand jemand – einen kurzen Augenblick lang dachte ich, es wäre Dad, aber dieser jemand hatte keine roten Haare und war außerdem viel zu jung. Ich wehrte mich, als er mir aufhelfen wollte.

»Halt still, sonst lasse ich dich hier. Bald wird es hier von denen nur so wimmeln.«

Er hob mich hoch. Mit einem leisen Ächzen stand er auf, dann trug er mich durch den Supermarkt und aus dem Gebäude zu einem Auto.

»Mein Dad ...« Ich konnte nur mit Mühe sprechen.

»Kannst du stehen?«

Ich nickte betäubt und hielt mich an seinem T-Shirt fest, als er mich auf die Füße stellte. Dann legte er seinen Arm um meine Taille, um mich aufrecht zu halten, und ich legte meinen Kopf auf seine Brust.

Als er die Wagentür für mich öffnete, fiel ich buchstäblich auf den Beifahrersitz. Das Brummen des Motors ließ mich wieder zur Besinnung kommen.

»Mein Vater ist noch da drin«, sagte ich benommen.

Er schüttelte den Kopf und fuhr so schnell über den Parkplatz, dass ich in einer Kurve gegen die Wagentür geschleudert wurde. Ich war zu schwach, um mich wieder gerade hinzusetzen.

»Nein. Da ist niemand mehr drin. Nur zwei tote Weepers.«

»Aber mein Vater ...«, sagte ich, doch er unterbrach mich.

»Glaub mir, er ist nicht da drin.«

Ängstlich holte ich Atem. Die Hitze machte mich völlig mürbe. Mein Kopf schmerzte an der Stelle, an der ich ihn mir angeschlagen hatte, und ich war ganz benebelt. »Hier ist es so stickig. Können wir das Fenster runtermachen?«

Er schüttelt den Kopf. »Nein. Du blutest zu stark. Die sind wie Haie. Der Geruch von Blut zieht sie an, und dann verfolgen sie uns. Das Risiko kann ich nicht eingehen.«

Ich sah ihn böse an. »Woher willst du wissen, dass sie uns nicht sowieso schon verfolgen?«

»Das weiß ich eben«, antwortete er und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße.

Er fuhr mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit. Bei jeder Unebenheit in der Straße hob es mich so aus dem Sitz hoch, dass mein Kopf beinahe gegen die Decke knallte. Er holte alles aus dem Wagen heraus, und es gab auch keinen Verkehr, der uns hätte behindern können.

»Ist das das Auto, das vorhin auf dem Parkplatz gestanden hat? Der Lincoln. Warum hast du dort geparkt?« Ich lallte, als wäre ich betrunken.

»Ich war auf der Jagd. Dann hab ich Schüsse gehört«, antwortete er beiläufig.

Auf der Jagd? Vielleicht nach den Wildschweinen.

Ich holte tief Luft, aber das half mir auch nicht, einen klaren Kopf zu bekommen.

»Wo bringst du mich hin?«, fragte ich. Ich hatte die Augen halb geschlossen.

»An einen sicheren Ort. Du solltest ein bisschen die Augen zumachen. Du siehst fürchterlich aus.«

Ich starrte durch die Windschutzscheibe und lauschte dem Motorengeräusch. Meine Hände waren mit klebrigem Blut bedeckt. Dads Blut. Meine Kehle schnürte sich zusammen. Ich schloss die Augen, und sofort sah ich in meinen Gedanken, wie er zerfleischt und in kleine Stücke zerrissen wurde.

Dad.

Ich hatte ihn verlassen. Im Stich gelassen. Es war meine Schuld. Alles war nur meine Schuld. Ich schluckte schwer und kämpfte darum, nicht in Tränen auszubrechen.

Als ich mich wieder beruhigt hatte, drehte ich den Kopf, um das Profil des Jungen neben mir anzusehen. Er hatte hohe Wangenknochen und sonnengebräunte Haut. »Ich heiße Sherry.«

Er warf mir einen Blick zu. »Joshua«, sagte er mit einem kurzen Lächeln, dann reichte er mir ein altes Handtuch. »Um die Blutung zu stoppen.« Er wandte sich wieder der Straße zu, und ich drückte das Handtuch gegen meinen Kopf.

»Was ist mit meinem Vater passiert?«, fragte ich, obwohl ich es gar nicht so genau wissen wollte.

»Keine Ahnung. Ich habe seine Leiche nicht gefunden, also nehme ich an, dass sie ihn mitgenommen haben.«

»Ihn mitgenommen? Wohin denn?«

»Das weiß ich nicht genau. Es gibt mehrere Orte, wo sich die Weepers herumtreiben.«

»Weepers?«

»So nennen wir die Infizierten.«

Ich starrte ihn an.

»Weepers – weil es so aussieht, als würden sie weinen. Wenn du mal einen aus der Nähe siehst, weißt du, was ich meine.«

Vor meinem geistigen Auge erschien das Bild des toten Mutanten – nein: des Weepers.

»Aber wieso haben sie meinen Vater entführt?«

Er zuckte mit den Schultern. »Sie legen Vorräte an.«

»Vorräte?«

»Genau wie Eichhörnchen.«

Ich presste die Hand auf den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Nur. Nicht. Weinen. Ich schluckte und ließ die Hand wieder sinken. »Soll das heißen, dass sie Menschen fressen?«

Er nickte, ohne den Blick von der Straße zu wenden. Auf seinem Schoß lag eine Schrotflinte. »Ja. Wir sind leichte Beute. Die Menschen haben vergessen, wie man ums Überleben kämpft. Unsere Instinkte sind verkümmert. Die Weepers mögen leichte Beute.« Er verließ den Highway und bog in eine schmalere Straße.

»Aber waren das nicht mal selbst Menschen?«, krächzte ich.

Er sah mich an und lächelte traurig. »Das haben sie längst vergessen. Das Virus hat sie in Raubtiere ohne Gewissen verwandelt. Sie haben keine Erinnerung an das, was sie früher mal waren.«

Die Vorstellung, dass eine dieser Kreaturen meinen Dad auffraß, wollte mir nicht mehr aus dem Kopf. Blankes Entsetzen erfasste mich.

»Wir müssen ihn retten!«, rief ich.

Er sah mich an, beobachtete genau meinen Gesichtsausdruck, dann schüttelte er den Kopf. Verzweifelt streckte ich den Arm aus, um ins Lenkrad zu greifen, doch er schlug meine Hand beiseite. »Spinnst du?«

»Und wenn er noch lebt? Das ... ich darf das nicht zulassen!« Die Sorge um meinen Dad machte mich fast wahnsinnig. Und Mom? Wie sollte ich ihr das erklären? Sie würde mir niemals verzeihen. Dann durchzuckte mich ein neuer schrecklicher Gedanke, und ich begann zu hyperventilieren. Mom! »Meine Familie – ich muss zu meiner Familie. Sie sind noch in einem Bunker unter unserem Haus. Ich muss sie vor den Weepers warnen!«

Joshua machte keine Anstalten, langsamer zu fahren. »Jetzt können wir nicht zurück. Selbst wenn es uns gelingen würde, deinen Dad zu retten – und da will ich dir auf keinen Fall falsche Versprechungen machen –, es wird bald dunkel. Die Weepers sind nachtaktiv. Glaub mir, wenn sie im Dunkeln durch die Straßen ziehen, willst du nicht dabei sein. Sie riechen dein Blut, bevor du sie überhaupt bemerkst, und dann wirst du nicht mal mehr dich selbst retten können. Geschweige denn deinen Dad. Und was deine Familie angeht: Solange sie im Bunker bleiben, wird ihnen nichts passieren.«

Ich zitterte. »Aber mein Vater hat gesagt, sie sollen nach Überlebenden suchen, wenn wir bis morgen nicht zurück sind.«

Joshua runzelte die Stirn. »Also gut, pass auf. Wir müssen die Nacht außerhalb der Stadt verbringen. Morgen nach Sonnenaufgang können wir zurückfahren, um deinen Vater zu suchen und deine Familie zu holen.«

Ich hatte keine Wahl. »Okay«, erwiderte ich heiser.

Sofort, nachdem das Wort über meine Lippen gekommen war, hatte ich Gewissenbisse. Joshua berührte kurz meine Schulter. »Heute können wir nichts mehr für sie tun. Deiner Familie wird schon nichts passieren. Bis jetzt hat der Bunker euch doch beschützt, oder nicht?«

Ich nickte. »Wir haben die letzten 1 141 Tage dort verbracht.« Dann würde ihnen auch eine weitere Nacht nichts zustoßen. Langsam löste sich der Druck auf meiner Brust, und ich konnte tief Luft holen.

»Du hast die Tage gezählt?« Er lächelte.

»Sonst gab’s da nicht viel zu tun.« Ich starrte auf meinen Schoß. Meine Jeans waren blutverschmiert. Dads Blut. Ich fuhr mit den Fingerspitzen über den groben Stoff.

»1 141 Tage sind eine lange Zeit.«

Ich sah ihn an. Während er redete, hatte er den Blick auf die Straße geheftet.

»Ich war 515 Tage in einem Bunker.«

Ich hob die Augenbrauen. »Du hast auch die Tage gezählt?«

Er verzog einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. »Ja.«

»Warum hast du deinen Bunker verlassen? Hat sich das Militär gemeldet?«

Er presste seine Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Das Militär ist nie wieder aufgetaucht. Bis auf diese nutzlose Warnmeldung hat man nichts mehr von ihnen gehört.« Sein Blick wanderte zu mir herüber. »Es war ein öffentlicher Bunker. Die Situation ist ziemlich schnell eskaliert.«

Er wandte sich wieder ab und starrte durch die Windschutzscheibe.

»Mein Vater und ich sind rausgekommen, weil wir nichts mehr zu essen hatten ...«, fing ich an, doch beim Gedanken an Dad ließen mich Schuldgefühle und Trauer verstummen. Die Anspannung hing fast greifbar in der Luft.

Joshua biss die Zähne zusammen. Ich starrte aus dem Seitenfenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Die Straße war mit kaputten, rostigen und vor Schmutz starrenden Autos übersät. Überall lag Müll herum. War Dad hier irgendwo und wartete auf meine Hilfe?

Wir fuhren langsamer und bogen in einen schmalen Feldweg, weg von der Küste und in die Hügel. Außer Joshua hatte ich bis jetzt kein anderes menschliches Wesen gesehen. Den Rest der Fahrt über schwieg er. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war so lange her, dass ich zum letzten Mal mit einem anderen Menschen geredet hatte. Wahrscheinlich war ich aus der Übung.

Als wir uns einer großen Villa näherten, setzte ich mich auf. Um das Hauptgebäude herum standen mehrere kleine Cottages. Anscheinend handelte es sich um ein ehemaliges Weingut. Auf den umliegenden Hügeln bogen sich die Rebstöcke unter der Last der Trauben. Der süßliche Geruch verfaulender Früchte erfüllte das Auto. Ein süßer Duft, süßer als alles, was ich in der letzten Zeit gerochen hatte. Wir fuhren durch ein geöffnetes Eisengatter. Das Anwesen wurde von einer mit Efeu überwachsenen Steinmauer umgrenzt, was mich an Bilder von Frankreich oder der Toskana erinnerte.

Wir hielten vor dem Hauptgebäude. Der ockerfarbene Putz blätterte von den Wänden. Auf dem Dach fehlten ein paar Tonziegel. Das Weiß der Fensterläden hatte sich in ein mattes Grau verwandelt, und zwei der Läden hingen gefährlich schief in den Angeln.

Ohne ein Wort zu sagen stieg Joshua aus und warf die Autotür hinter sich zu. Ich sah auf die kleine Uhr im Armaturenbrett. Die Fahrt hatte etwas über eine Stunde gedauert. Ohne Verkehr, ohne Ampeln, ohne Tempolimit. Nur wir und der Lincoln, der über tote Highways glitt. Los Angeles hatte sich in ein Stillleben verwandelt.

Ich stieg ebenfalls aus, musste mich aber an der Tür festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Joshua nahm mich beim Arm. »Fall nicht hin. Dein Kopf hat gerade erst aufgehört zu bluten. Hier lang.«

Er führte mich zum Hauptgebäude. Jedes Mal, wenn mein rechter Fuß den Boden berührte, brannte er wie verrückt. Die Kieselsteine in der Einfahrt bohrten sich in meine Sohlen, sodass mir der Schmerz von den Füßen bis hinauf in den Nacken fuhr.

»Wo sind wir hier?«

Die Sonne stand jetzt tief am Himmel, und mir wurde nicht mehr schwindlig, als ich zu Joshua aufsah. Er war fast einen Kopf größer als ich. Die Farbe seiner Haut erinnerte mich an den Honig, den Grandma immer gemacht hatte. Das Summen der Bienen und der Geschmack von hausgemachtem Honig hatten früher so selbstverständlich zum Sommer gehört wie Sonnenschein und Eis. Jetzt nicht mehr.

Vor 1 148 Tagen hat Grandma ihren Bienenstock aufgegeben. Damals hatte ich das Gefühl, dass sie nicht nur ihren Bienen Lebewohl gesagt hatte.

Er zuckte mit den Schultern. »Wir nennen diesen Ort Safe-haven. Außer mir leben noch ein paar andere Überlebende hier auf dem Weingut.«

Die Tür des Hauptgebäudes war aus dunklem Holz – vielleicht Eiche – und die kreuzweise darauf angebrachten Eisenbeschläge ließen sie fast mittelalterlich aussehen. Joshua öffnete sie mit einem altertümlichen Silberschlüssel, den er aus der Jeanstasche gezogen hatte. Der Blutverlust und der Nahrungsmangel hatten mir ordentlich zugesetzt. Ich wollte mich nur noch hinlegen, die Augen schließen und schlafen.

Im Haus war es etwas kühler als draußen, aber die Hitze machte mir nach wie vor zu schaffen. Die Eingangshalle war nur spärlich beleuchtet. Eine Holztreppe führte in den ersten Stock. Ein Teppich mit Blumenmuster bedeckte den Boden, und ein silberner Kerzenleuchter hing von der Decke. Der ehemalige Eigentümer musste ziemlich reich gewesen sein.

»Komm mit«, sagte Joshua. Er legte den Arm noch fester um meine Hüfte und führte mich zu einer Tür zu unserer Rechten. Sie führte in ein riesiges Wohnzimmer, das mit demselben Blumenteppich ausgelegt war. Hoffentlich hinterließ ich keine Blutflecken darauf.

Das ist deine größte Sorge?, fragte eine höhnische Stimme in meinem Kopf. Ich schüttelte ihn, um sie loszuwerden, aber das verschlimmerte meine Kopfschmerzen nur noch. Brennende Schweißtropfen liefen in meine Augen, und ich musste ein paar Mal blinzeln, um wieder richtig sehen zu können.

Eine Frau mittleren Alters saß in einem Sessel. Sie hatte den Kopf auf die Lehne gelegt und die Augen geschlossen. Auf ihrem Schoß lag ein geöffnetes Buch, und Bücherstapel und Papiere lagen zu ihren Füßen. In ihrem kurzen braunen Haar zeigten sich graue Strähnen, und sie hatte Falten um Augen und Mund. Weitere Sessel und ein Sofa standen um einen großen Kamin herum. Der Raum war blitzsauber, keine Spur von Staub oder Ruß. Man merkte sofort, dass er bewohnt war.

»Karen, ich habe jemanden mitgebracht. Sie braucht unsere Hilfe«, sagte Joshua. Er musste mich fast in den Raum zerren.

Plötzlich öffneten sich Karens Augen. Sie waren hellgrau und schienen sich direkt durch mich hindurchzubohren. Sie musterte mich von oben bis unten, dann stand sie so schnell auf, dass ich erschrak.

»Joshua!«, rief sie aus, legte eine Hand auf die Wange und öffnete erstaunt den Mund. »Was ist passiert?« Mit ein paar Schritten hatte sie uns erreicht. Ihr Lächeln war sehr beruhigend, und ich versuchte, zurückzulächeln, was mir jedoch nicht besonders gut gelang.

Gemeinsam halfen sie mir, mich auf das Sofa zu setzen. Ich ließ mich auf das weiche Leder fallen. Endlich tat mein Fuß nicht mehr so weh.

»Zwei Weepers wollten sie sich gerade zum Abendessen vornehmen, als ich sie gefunden habe. Sie hätten sie getötet, wenn sie nicht wie wild in die Gegend geballert hätte«, erzählte Joshua mit einem leichten Anflug von finsterem Spott.

Ich sah ihn an. Seine Augen funkelten, und es hatte wie ein Kompliment geklungen. Aber was wusste ich schon? Während der drei Jahre im Bunker hatten meine sozialen Kompetenzen ziemlich gelitten.

Karen drückte auf meinem Kopf herum. Der Schmerz riss mich aus meinen Gedanken und ich verzog das Gesicht.

Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Jede Menge Blut. Ein übler Schnitt. Das muss genäht werden.«

Ich stöhnte auf. Joshua kicherte und fing sich dafür einen wütenden Blick meinerseits ein. Was ihn nur noch mehr zu amüsieren schien. Sein Grinsen wurde breiter. Er hatte wirklich schöne Zähne, gerade und weiß. Ich fuhr mit der Zunge über meine eigenen Zähne.

»Keine Sorge. Karen weiß schon, was sie tut.« Er zwinkerte mir zu.

Karen verließ den Raum und kam mit einer kleinen Tasche zurück, aus der sie eine Nadel, Faden und Verbände nahm und alles auf den Beistelltisch neben dem Sofa legte. Ich kam mir schon fast wie in einem Operationssaal vor. Mit der Nadel in der Hand umrundete sie das Sofa und stellte sich hinter mich. »Beug dich vor.«

Ich gehorchte ohne zu zögern. So konnte ich zumindest die Nadel nicht sehen. Die Bewegung brachte meine Schläfen zum Pochen. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen.

»Rasierklinge.« Sie hielt die Hand auf, und Joshua legte eine kleine Rasierklinge hinein.

Ich drehte den Kopf und sah ihn verwundert an. »Was soll das denn?«

»Sie muss die Haare um die Wunde herum entfernen, damit sie sie nähen kann.«

»Solange sie mir keine Glatze schneidet.« Meine rotblonden Haare hatten mir eigentlich nie besonders gut gefallen, aber sie waren immer noch besser als gar keine.

»Steht dir vielleicht ganz gut«, sagte Joshua spöttisch.

Als ich wieder auf den Boden sah, verwandelte sich das Pochen in meinen Schläfen in ein ohrenbetäubendes Hämmern, das mir jeden Moment den Schädel zu spalten drohte. Mir wurde schwarz vor Augen und ich fiel vornüber. Joshua sprang hinzu und legte einen Arm um meine Schultern, um mich in Sitzposition zu halten. Er hatte einen festen Griff und einen warmen Körper. Er roch nach Kiefernnadeln und frischer Wäsche. Ich schloss die Augen und atmete den Geruch tief ein. Vielleicht vertrieb er ja die Kopfschmerzen.

»Ich rasiere nur um die Wunde herum. Das sieht man gar nicht.« Karen tätschelte sanft meine Schulter, während sie mein Haar zur Seite schob. Dann spürte ich, wie die Klinge über meine Haut schabte.

»Jetzt wird genäht.«

Meine Schultern versteiften sich. Das würde unangenehm werden. Joshua hielt meine Hand. Sie war braungebrannt und stark, mit kurzen Nägeln. Seine Hand flößte mir Sicherheit ein. Wenn Joshua da war, konnte mir nichts passieren. Ich seufzte. Einen Augenblick später richtete er sich auf. »Ich sehe mal nach Geoffrey. Ihn wird bestimmt interessieren, dass wir einen Neuzugang haben. Er wird ausflippen.«

Ich beobachtete ihn, wie er den Raum verließ und versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Ohne ihn fühlte ich mich sehr verletzlich.

Als sich die Nadel in meine Haut bohrte, versuchte ich, nicht zusammenzuzucken. »Au.«

Karen drückte meinen Kopf nach unten. »Daran wirst du dich schon gewöhnen. Am Anfang hat Joshua auch immer herumgezappelt, wenn ich ihn zusammengeflickt habe. Nach ein paar Dutzend Wunden macht einem das gar nichts mehr aus.«

Ein paar Dutzend Wunden? Ich starrte das Blumenmuster auf dem Teppich an. »Warum muss er denn ständig genäht werden?«

Karen hielt kurz inne und seufzte. Ich nutzte die Gelegenheit, um tief durchzuatmen.

»Die Jagd ist gefährlich. Ich bin immer froh, wenn er nur mit einem Schnitt oder einem Bluterguss wieder auftaucht. Meine größte Sorge ist, dass er irgendwann überhaupt nicht mehr zurückkommt. Aber er will ja nicht auf mich hören. Er ist viel zu stur.«

Ich öffnete den Mund, um sie nach der Jagd zu fragen, aber sie redete weiter.

»In meinem anderen Leben war ich Krankenschwester, weißt du.«

»In deinem anderen Leben?«, wiederholte ich.

»So nennen wir die Zeit vor der Tollwut. Als das Leben noch schöner war.« Sie schwieg einen Augenblick lang. Als sie wieder zu reden anfing, klang es, als würde sie ein Selbstgespräch führen. »Schon komisch, dass wir das Virus immer noch ›Tollwut‹ nennen, obwohl es doch so viel tödlicher ist. In meinem anderen Leben habe ich viele Tollwutpatienten behandelt. Von denen hat keiner versucht, mich zu fressen

Ich nickte, obwohl ich ihr nicht ganz folgen konnte. Dann zuckte ich zusammen, als sie sich wieder an die Arbeit machte.

»Halt still.« Wieder machte sie eine Pause. »Joshua hat mir gar nicht gesagt, wie du heißt.«

»Sherry«, sagte ich leise. So sehr ich auch dagegen ankämpfte, meine schmerzende Kopfwunde und die Sorge um meinen Dad trieben mir die Tränen in die Augen.

»Schön, mal ein neues Gesicht zu sehen. Das schenkt mir Hoffnung.« Beim letzten Satz brach ihre Stimme. Sie räusperte sich. »Wie gesagt, ich war Krankenschwester. Und dank Joshua komme ich nicht aus der Übung. Mein Mann war übrigens Lehrer.«

»Ist er ...?« Ich verstummte, unsicher, wie ich die Frage richtig formulieren sollte.

»Er lebt. Er wohnt auch hier.«

Ich freute mich für sie. Schließlich hatte ich miterlebt, wie hart einen der Verlust eines geliebten Menschen treffen konnte. Nach Grandpas Tod war Grandma nicht mehr dieselbe gewesen.

»Wie lange seid ihr schon hier in Safe-haven?«

Karen überlegte mit gespitzten Lippen. »Etwas über ein Jahr.«

»Über ein Jahr?« Wie hatten sie sich so lange gegen die Weepers zur Wehr gesetzt? Dad und ich hatten ohne Hilfe ja nicht mal ein paar Stunden durchgehalten.

»Es ist nicht leicht, aber wir halten zusammen«, sagte Karen.

Dass sie es geschafft hatten, in dieser neuen Welt so lange zu überleben, war ein tröstlicher Gedanke. Vielleicht hatte ja auch meine Familie eine Chance.

»Wie viele Menschen leben hier?« Ich schaffte es, beim Sprechen den Kopf ruhig zu halten. Ich lernte schnell – obwohl mein damaliger Klassenlehrer da wohl anderer Meinung gewesen wäre.

»Joshua, mein Mann Larry, Geoffrey, Marie und ihre Tochter Emma, und Tyler, obwohl wir nicht wissen, ob das sein richtiger Name ist. Wir nennen ihn Tyler, weil dieser Name auf sein Handgelenk tätowiert ist.« Sie ließ mein Haar sinken und klatschte in die Hände. »Fertig.«

»Warum wisst ihr nicht, wie er wirklich heißt?«

Karen ging um das Sofa herum und setzte sich neben mich auf die Armlehne. »Tyler spricht nicht. Ich glaube, er erinnert sich nicht an allzu viel. Als Joshua ihn gefunden hat, war er in ziemlich schlechter Verfassung.« Sie schluckte hörbar und sah aus dem Fenster. Die Sonne verschwand hinter den Hügeln.

»Hast du sonst noch Verletzungen, um die ich mich kümmern sollte?« Sie sah mich von oben bis unten an.

Ich nickte. »Ein paar blaue Flecken, aber das wird schon wieder. Mein rechter Fuß tut weh. Ich bin beim Weglaufen in eine Glasscherbe getreten.«

Ein brennendes Schuldgefühl durchfuhr mich. Wäre Dad noch hier bei mir, wenn ich nicht weggelaufen wäre?

Karen ging in die Knie. Vorsichtig zog sie mir den Turnschuh und die blutgetränkte Socke aus. Als sie die feuchte Baumwolle von meiner Haut stülpte, verzog ich das Gesicht. Mit ernster Miene untersuchte sie meine Fußsohle. »Das muss auch genäht werden«, sagte sie mit einem bedauernden Lächeln. Ich atmete tief durch die Nase ein, legte meinen Kopf auf die Lehne und schloss fest die Augen.

Karen arbeitete vorsichtig und schnell. Trotzdem taten die Stiche verdammt weh. Es war viel schlimmer als das Nähen der Kopfwunde.

»Seid ihr die einzigen Überlebenden? Hat das Militär mit euch Kontakt aufgenommen?« Ich hatte Angst vor der Antwort.

Karen schüttelte den Kopf. Sie verband meinen Fuß und setzte ihn vorsichtig auf dem Boden ab. Ich entspannte mich.

»Nein, das Militär hat nur diese Warnung gesendet. Allerdings hatten wir Kontakt mit zwei weiteren Gruppen von Überlebenden hier in Kalifornien. Leider können wir mit unserem Funkgerät keine Fernverbindungen aufbauen. Daher wissen wir nicht, ob es im Rest des Landes noch weitere Überlebende gibt. Aber inzwischen hat das Funkgerät den Geist aufgegeben, und wir hören überhaupt nichts mehr.«

Es gab also weitere Überlebende. Ich spürte, wie sich die Muskeln in meinen Schultern wieder entspannten. »Weißt du, ob sich die Tollwut über Nordamerika hinaus ausgebreitet hat? Wie können wir denn das Militär kontaktieren?«

Sie sah mich an. »Oh, Sherry. Es gibt kein Militär mehr. Die Tollwut hat alles vernichtet.«