Dreizehn
Joshua kam einen Schritt näher und nahm meine Hand. Unsere Finger verschränkten sich. Er führte mich zu einer alten Holzbank neben der Mauer, setzte sich und zog mich zu sich herunter. Ich lauschte dem heulenden Wind, während Joshua versuchte, die richtigen Worte zu finden. Ich ließ ihm Zeit. Ich wollte ihn nicht unter Druck setzen.
»Das war noch im Bunker. Wir waren seit über einem Jahr dort, und die Stimmung wurde jeden Tag schlechter.« Er schluckte. »Meine Schwester Zoe hatte Hunger. Das Essen wurde von einer Gruppe von Männern bewacht. Zoe ging zu ihnen. Wahrscheinlich sagte sie ihnen, wie hungrig sie war. Keine Ahnung.«
Ich wartete geduldig, bis er weiterredete. Die Erinnerungen an diesen Tag machten ihm schwer zu schaffen. Er drückte meine Hand noch fester.
»Jedenfalls schubste sie der Anführer dieser Gruppe von sich weg. Sie fiel hin. Mom hat das mitbekommen und ist auf sie zugerannt. Sie sagte irgendwas zu dem Mann, und dann fingen der Mann und seine Freunde an, sie zu schlagen und zu treten. Ich versuchte, sie aufzuhalten, aber es waren so viele. Niemand kam uns zu Hilfe. Alle hatten Hunger und keiner wollte Ärger. Als sich die Männer irgendwann beruhigten, hatte ich überall Beulen. Und meine Mutter war bewusstlos.«
Eine Träne rollte seine Wange hinunter.
»Sie ist nie wieder aufgewacht. Zwei Tage später war sie tot.« Er räusperte sich und fuhr mit der Hand über die Augen. Als er mich wieder ansah, wirkte er gefasst. Doch ich konnte deutlich den Schmerz in seinem Blick erkennen.
»Was ist mit ihrer … Leiche passiert?«
Joshuas Miene verdüsterte sich. Aus Trauer wurde Wut. »Die Männer, die sie getötet haben, trugen sie aus dem Bunker. Ich durfte nicht mitkommen. Sie haben mir nie gesagt, wo sie sie hingebracht haben.« Jetzt war seine Stimme seltsam ruhig. »Ich hätte ja nach ihrer Leiche gesucht, aber ich musste mich um Zoe kümmern. Sie war ja erst acht Jahre alt.«
Tränen verschwammen vor meinen Augen.
»Die Mörder haben ihre gerechte Strafe bekommen. Sie wurden von einer Gruppe Weepers angegriffen, als wir den Bunker schon verlassen hatten. Ich hab alles mit angesehen, aber ich hab ihnen nicht geholfen. Obwohl ich eine Waffe dabeihatte, die ich ihnen kurz zuvor geklaut hatte.«
Seine Stimme war kalt, fast bösartig. Er schloss die Augen und holte tief Luft. Es war furchtbar, was mit seiner Mutter passiert war, und ich hatte das dumpfe Gefühl, dass seine Schwester ein mindestens genauso schlimmes Schicksal erlitten hatte. Vielleicht half es ihm, wenn er nach dieser langen Zeit darüber redete.
»Und deine Schwester, Zoe?«
»Ich versuchte, sie zu beschützen. Außer mir war ja niemand mehr da. Wir waren ganz allein. Die anderen Überlebenden kümmerten sich nur um sich selbst. Ich wollte ein großer Bruder für sie sein, aber als die Weepers uns eines Nachts überfielen, habe ich sie im ganzen Durcheinander aus den Augen verloren. Ich hab nach ihr gesucht. Aber da waren so viele Leute. Dann hab ich gesehen, wie ein Weeper sie gepackt hat.«
Dass er so offen redete, ließ mir das Herz in der Brust schwer werden. »Der Weeper, den du am Hafen verfolgt hast?«
Joshua nickte. »Ich wollte zu ihr, wollte ihr helfen, doch plötzlich waren sie nicht mehr da. Dann, als die Weepers verschwunden waren, habe ich nach ihr gesucht. Ich habe nur einen Schuh von ihr gefunden. Einen Schuh mit Blut darauf.« Er zitterte, holte tief Luft und öffnete die Augen. »Ich dachte, sie wäre tot. Aber eines Tages, als ich auf der Jagd war, habe ich sie gesehen. Sie war eine von ihnen. Ein Weeper.«
»Bist du sicher, dass sie es war?«
Ich konnte mir Mia als Weeper mit milchigen blauen Augen und einer zähnefletschenden Grimasse einfach nicht vorstellen. Dann dachte ich an Dad. Ob er bereits dabei war, sich in einen Weeper zu verwandeln?
Das würde ich niemals zulassen.
»Sie war es, da bin ich mir ganz sicher.«
»Immerhin lebt sie noch.«
Joshua erbleichte. »Findest du? Ich glaube, dass der Tod besser ist als das.«
Vielleicht hatte er recht.
»Was hast du dann gemacht?«
»Nichts. Ich konnte ihr nicht helfen, und ich konnte sie nicht töten. Hätte ich aber tun sollen.«
Ich wollte ihn umarmen, aber ich war mir nicht sicher, ob er das auch wollte. »Nein. Sie ist immer noch deine Schwester.«
Er sah so unglücklich aus. »Oh Gott, ich vermisse sie so. Ich will sie zurück.«
»Tut mir leid«, flüsterte ich.
Joshua schwieg eine lange Zeit und versuchte, die Fassung wiederzuerlangen. Ich wünschte, ich könnte ihn irgendwie trösten. Wenn sich Mom und Dad im Bunker gestritten hatten, war es immer leicht gewesen, sie wieder aufzumuntern. Ich musste ihnen nur sagen, dass sie sich schon wieder vertragen würden und dass alles gut werden würde. Aber nichts konnte Joshua seine Mutter und seine Schwester zurückgeben oder diese schrecklichen Erinnerungen auslöschen. Ich kam mir so hilflos vor.
»Ich denke nicht gerne über das alles nach. Es ist schon schlimm genug, dass ich davon träume«, sagte er und öffnete die Augen. Er legte den Kopf schief und starrte mich durchdringend an. Ich scharrte unruhig mit den Füßen, biss mir auf die Lippen und steckte die freie Hand in die Tasche.
»Soll ich dich mal herumführen? Na ja, vielleicht besser nicht, nachdem …« Er deutete auf das frisch zugeschüttete Grab und starrte danach auf den Boden.
Es dauerte einen Moment, bis ich verstanden hatte, was er meinte. »Aber nein. Ich glaube, wir können beide ein bisschen Abwechslung vertragen.«
Er grinste, und allmählich verschwand die Dunkelheit aus seinen Augen. »Okay. Dann los.«
Schon wieder so ein plötzlicher Stimmungsumschwung. Er wollte alles vergessen, soviel hatte ich bereits kapiert. Es war erst ein paar Tage her, dass wir den Bunker verlassen hatten, und schon hatte ich Erinnerungen, die ich auch am liebsten vergessen hätte. Und zwar für immer und ewig.
»Ich muss mir nur noch einen Pullover oder eine Jacke oder so was holen. Es ist ziemlich kalt hier«, sagte ich, deutete auf mein T-Shirt und stand auf. Ich hätte schwören können, dass seine Augen länger auf meine Brust gerichtet waren als nötig.
Joshua zog seinen Kapuzenpullover aus und hielt ihn mir hin, obwohl er selbst nur ein T-Shirt darunter trug, das die Muskeln seines Oberkörpers und seiner Arme betonte. Ich sah den Pullover stirnrunzelnd an.
»Jetzt nimm schon«, drängte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Dann frierst du ja.«
»Nein, nein, keine Sorge. Nimm.«
Ich nahm den Pullover mit einem gemurmelten Danke entgegen und zog ihn über mein T-Shirt. Er war noch warm und roch nach ihm. Wie ein herbstlicher Wald. Ich lächelte ihn verlegen an. Er griff nach meiner Hand und hielt sie fest. Es fühlte sich genau richtig an. Perfekt.
Wir schlenderten durch das enge Tor in den Garten. »Apfelbäume.« Er deutete auf eine Baumgruppe und führte mich in die andere Richtung. »Das hier ist das Gemüsebeet. Marie kümmert sich darum. Sie ist ziemlich empfindlich, was ihr Gemüse angeht, deswegen halten wir uns lieber davon fern.«
Als er über die verschiedenen Gemüsesorten redete, versuchte ich, aufmerksam zuzuhören, aber seine Nähe lenkte mich ab. Ein paar Hühner pickten auf der Suche nach Futter im Gras herum. Ein Hahn stolzierte in ihrer Mitte. Bei jedem Schritt wackelte sein roter Kamm. Misstrauisch beobachtete er mich. Vielleicht glaubte er, dass ich seine Hennen entführen wollte. Als er plötzlich loskrähte, zuckte ich zusammen und klammerte mich an Joshuas Arm.
Er lachte. »Du bist ganz schön schreckhaft.«
Ich sah ihn böse an. »Ich kann ja nicht ahnen, dass er plötzlich loskräht. Ich dachte, Hähne krähen nur bei Sonnenaufgang.«
»Unser Hahn kräht, wenn er Lust dazu hat – wie es echte Gockel halt so machen.« Ein Grinsen huschte über sein Gesicht.
Ich stieß ihn mit der Schulter an. »Du musst es ja wissen«, sagte ich grinsend und ließ meinen Blick über die angrenzenden Weinberge schweifen.
»Ich würde mir gerne mal das Weingut ansehen, okay?« Ich sah zu Joshua auf. Der Wind blies ihm das blonde Haar ins Gesicht.
Er starrte auf den Horizont.
»Ist es zu gefährlich?«, fragte ich.
Er hob das T-Shirt, sodass die Pistole zum Vorschein kam, die er sich in den Hosenbund gesteckt hatte – und sein braungebrannter, muskulöser Bauch. Eigentlich hätte mich der Anblick der Waffe beruhigen sollen – tat er aber nicht. Stattdessen widerte es mich an, in einer Welt leben zu müssen, in der man nur bewaffnet in seinen eigenen Garten gehen konnte. Ich seufzte.
»Was glaubst du, wann wird das endlich aufhören?«, fragte ich. »Was wird als Nächstes geschehen?«
Joshua schüttelte den Kopf. »Wir können nicht ewig so weitermachen – nach Essen und Benzin suchen, Weepers jagen, irgendwann ist das alles völlig sinnlos. Wir müssen irgendwas anderes machen, vielleicht neue Orte auskundschaften.«
»Du meinst, wir sollen Safe-haven verlassen?«
»Nein, das nicht. Eine Zeit lang möglicherweise. Um uns im Rest des Landes umzusehen.«
»Vielleicht sollten wir noch mal versuchen, mit den anderen Überlebenden Kontakt aufzunehmen?«
»Ja. Das wäre eine Möglichkeit. Wenn wir sie überhaupt erreichen können.« Er dachte nach. »Findest du es nicht auch komisch, dass die Funkgeräte alle zur selben Zeit ausgefallen sind?«
»Was meinst du?« Über die Funkgeräte hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht.
»Unser Funkgerät hat funktioniert, und wir konnten mit den anderen Überlebenden Kontakt aufnehmen. Und dann plötzlich nicht mehr. Und du hast mir erzählt, dass euer Funkgerät auch funktioniert hat, und auf einmal – pfft – nicht mehr. Das ist doch komisch. Als wollte jemand verhindern, dass wir untereinander Kontakt aufnehmen.«
»Aber wer? Es ist doch niemand mehr da.« Offensichtlich war ich nicht die Einzige, die langsam paranoid wurde.
Er sah zum Himmel auf. Etwas in seinem Blick ließ mich verstummen. »Das habe ich noch nie jemandem erzählt. Aber vor ein paar Wochen habe ich während der Jagd etwas Seltsames bemerkt.«
Mit einem Mal war ich mächtig stolz, weil er mir vertraute. Aber ich fühlte noch etwas anderes, das ich nicht genau einordnen konnte. Ich beugte mich vor. Vor lauter Neugier war ich ganz kribbelig. »Was denn?«
»Geoffrey hatte mich gebeten, nach Funkgeräten zu suchen, weil unseres den Geist aufgegeben hatte. Er wollte wieder Verbindung zu den anderen Überlebenden aufnehmen. Also bin ich zu einem Elektromarkt gefahren, von dem ich genau wusste, dass es dort noch welche gab. Aber sie waren weg. Ein Dutzend Funkgeräte, einfach so verschwunden. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst.«
»Weg?«
»Ja. Als ob sie jemand mitgenommen hätte.«
»Vielleicht andere Überlebende?« Doch so viele Überlebende gab es nicht mehr.
»Vielleicht.« Er klang nicht besonders überzeugt. »Als ich den Laden verließ, habe ich etwas am Himmel bemerkt. Es bewegte sich.«
»Ein schwarzer Punkt«, sagte ich. Mir wurde ganz komisch zumute.
»Ja.« Joshua sah mich an. »Hast du ihn auch gesehen?«
»Ein paar Mal. Keine Ahnung, was das ist.« Also hatte ich es mir doch nicht eingebildet.
Joshua starrte ins Leere.
Ich berührte seinen Arm. Er blinzelte und wandte sich mir zu. »Was glaubst du, was das ist?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht so genau.« Offenbar hatte er eine Ahnung, die er aber noch nicht mit mir teilen wollte. »Heben wir uns das für später auf«, sagte er plötzlich und nahm meine Hand. Von jetzt auf gleich war er wieder völlig verschlossen.
Er führte mich zum Hauptgebäude und an der Einfahrt vorbei in die Weinberge. Obwohl graue Wolken am Himmel hingen, war die Aussicht fantastisch. Bei so viel Schönheit war es einfach, die Schrecken dieser neuen Welt zu vergessen. Wir schlenderten durch eine Gasse zwischen den Rebstöcken. Hier war die Stille beruhigend – im Gegensatz zur Stadt, wo sie mich eher verunsicherte.
Als wir wieder zum Haus zurückgingen, wurde Joshua plötzlich langsamer. Ich sah zu ihm auf.
Er betrachtete mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, den ich noch nie an ihm bemerkt hatte. Ich konnte einfach nicht wegsehen. Langsam beugte er sich vor. Sein Gesicht näherte sich dem meinen.
Ich erstarrte.
Er wollte mich küssen.
Mein Herz klopfte so heftig, als wollte es gleich aus meiner Brust springen. Vielleicht hätte ich ihm entgegenkommen und mich auf die Zehenspitzen stellen oder zumindest meinen Kopf heben sollen, aber ich konnte einfach nicht mehr vernünftig denken. Er war mir so nahe.
Sein warmer Atem strich über meine Haut und meine geschlossenen Augen.
Ein paar Rebzeilen weiter raschelte etwas. Ich riss die Augen auf. Wir standen wie erstarrt da und sahen uns an, dann traten wir beide einen Schritt zurück. Meine Haut kribbelte vor Aufregung. Irgendetwas schlich durch die Rebstöcke. Joshua zog die Waffe und spannte die Muskeln an. Er wirkte hochkonzentriert. Ohne Vorwarnung packte er mich und zog mich hinter sich, um mich zu schützen.
Und wo ist deine Waffe? Auf dem Nachttisch, ertönte eine höhnische Stimme in meinem Kopf. Ich war so dumm.
Ein weiteres Rascheln ließ mich erstarren. Joshua ging es ähnlich. Es kam näher und näher. Joshua zielte mit der Pistole in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Etwas stürzte aus einem Weinstock hervor. Ich stieß einen ängstlichen Schrei aus und machte mich bereit, die Flucht zu ergreifen.
Joshua schoss – daneben.
Ein verschrecktes Huhn flatterte laut gackernd durch die Reben. Nur ein Huhn. Wir sahen uns an und brachen in Gelächter aus. Er ließ die Waffe sinken.
»Paranoia!«, rief er grinsend, doch mir war die ängstliche Wachsamkeit in seinen Augen nicht entgangen.
»Komm, gehen wir zum Haus zurück.«
Der Vorfall mit dem Huhn hatte uns eins gelehrt: Wir durften uns niemals sicher fühlen.