Ergebnisauswertung

Ihre Majestät, Kunigunde die Erste saß in ihrer Küche und sortierte die Ergebnisse, Notizen und Dokumente des Observierungsteams, welche Dirk Loos bei ihr abgeliefert hatte. »A su a Sauhaufn«, schimpfte sie, »fufzeha Lidder Gliehwein hams gsuffn. Su a versuffne Baggaasch! Und die Zedderleswirdschafd kann iech edz aussordiern und a Ordnung neibringa! Do maani habbi mier wos ohdu.«

Die Internetrecherche von Dirk Loos zu »yìsi« hatte nichts eingebracht. Mit Treffern wie »Young Israel of Staaten Island«, die zu Sabbat-Feiern einluden, konnte Kunni ebenso wenig anfangen, wie mit dem ehemaligen südkoreanischen Politiker Sungjiae Yi Si-yeong. Auch die Internetseite »Yisi«, welche Gratisspiele anbot, sagte ihr nichts. Kunni blieb nichts anderes übrig, als auf die Ergebnisse der nächtlichen Beobachter zu vertrauen, welche in einem kataströsen, ungeordneten Haufen vor ihr auf dem Küchentisch lagen. »Häddn die Debbn vo Mannsbilder dees ned bro Dooch auf an großn Zeddl schreiben kenna?«, schimpfte sie vor sich hin, »die sen ja brunzdumm, so bleed dass schdossn!« Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Vielzahl unterschiedlich großer und kleiner Zettel in eine geordnete Chronologie nach Tag und Uhrzeit zu sortieren. Sie brauchte eine Stunde dazu. Dann teilte sie sich ein DIN-A3-Blatt in Wochentage und Uhrzeiten ein und begann mit dem ersten Eintrag.

Montag 20:47Uhr: Ankunft Kleinlastwagen Marke Mercedes Benz, Spedition Adam Kraftmeyer & Co., Augsburg, amtl. pol. Kennzeichen A-LR-1008, verlässt um 21:25 Uhr das Gelände.

Nach zweieinhalb Stunden war sie fix und fertig und total erledigt. Gerade schrieb sie ihren letzten Eintrag.

Freitag 22:15 Uhr: Scania-Lkw mit Anhänger, amtl. pol. Kennzeichen EMD-DD-907, Spedition Markus Kraft – Just in time ist immer fein – trifft ein. Verweildauer 38 Minuten. 22:59 Uhr: Toni Wellein verlässt die Firma.

Sie musste innerlich lachen. Sogar das bekannte Flensburger Erotikhaus Uhse-Maier war am Freitag mit einem Klein-Lkw vorgefahren. Ob die vielleicht neue String-Tangas und Push-Up- BHs angeliefert hatten? Oder möglicherweise interessante Sex-Spielzeuge – für die Retta? »Na jedenfalls is da auf der Nachd ganz schee was los«, sprach sie zu sich selbst, »an Besn dädi fressn, wenni wissn däd, was do drinn in der Lacherhall alles bassierd is! Ob der Toni dadsächli a Gifdbrieh do drinna lacherd odder verkaffd? Bloß, was kennerd dees sei? Wer kafd scho a Gifdbrieh? Insegdngifd? Raddzngifd? Dees machd doch kann Sinn! Dees gibds wuanders aa.« Kunni zermarterte sich das Gehirn, doch diesesmal machte es nicht PING. Am liebsten hätte sie sich in den Nächten selbst auf die Lauer gelegt, aber das ging nicht. Wenn sie ein paar Jahre jünger gewesen wäre, okay. Nein, sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Die Sache war viel zu gefährlich. Sie dachte an Johann Geldmacher, Hubsi und den Grottenmolch aus Waiblingen. Hier waren brutale Verbrecher am Werk, ohne Rücksicht auf Verluste. Die Polizei musste kommen, musste den Laden von vorne bis hinten auf den Kopf stellen. Wozu waren die denn da? Sie griff zum Telefon und wählte die Dienstnummer ihres Neffen. Das Freizeichen ertönte. »Hier spricht die Kriminalpolizei der Stadt Erlangen, Mordkommission, mein Name ist Sandra Millberger. Was kann ich für sie tun?«

»Hallo Sandra, iech bins, die Kunni, dem Gerald sei Dande, kennsd mi ja eh. Isser ned do, der Gerald?«

»Ja hallo, Tante Kunni, das ist aber schön, dass Sie anrufen. Wie geht es Ihnen denn?«, begrüßte Sandra sie überschwänglich.

»Gehd scho, bassd scho!«

»Ihr Neffe kommt gerade zur Tür herein. Er hatte beim Chef einen Termin. Einen ganz kleinen Moment, ich übergebe gleich den Hörer. Machen Sie’s gut, Tante Kunni.«

Es dauerte einen ganz kleinen Moment. Sandra Millberger hielt die Sprechmuschel zu und erklärte ihrem Vorgesetzten, wer am anderen Ende der Leitung wartete. Der Kommissar verdrehte die Augen zum Himmel, als er wahrgenommen hatte, wer ihn da sprechen wollte. Gestenreich wollte er die Annahme des Telefonats ablehnen, doch seine Assistentin ließ nicht locker. »Ja. Tante Kunni, ja Grüß Gott, so eine Überraschung, schön deine Stimme zu hören!«

»Lüch ned!«, kam es beißend aus dem Hörer, »wenns nach dir geh däd, wär edz widder die Sandra am Telefon und solled mier a Gschichd vom Gaul derzähln. Horch zu, wasser der zum Soogn hab.« Dann legte die Kunni los, berichtete ihm von der Observierungsaktion, den nächtlichen Aktivitäten auf dem Gelände von »Immer Frisch«, ihren Vermutungen, erwähnte das Wort ›Gifdbrieh‹ und forderte ihn schließlich auf, endlich aktiv zu werden und mit einem großen Polizeiaufgebot die Lagerhalle und die Büroräume des neuen Supermarktes auf das Gründlichste zu untersuchen. Endlich kam er zu Wort, nachdem seine Tante mit ihrem Wortschwall geendet hatte. »Nein, Tante Kunni, so geht das nicht.« … »Tante Kunni, hör mir zu!« … »Nein, Tante Kunni, das ist gegen die Vorschriften!« … »Tante Kunni, ohne einen berechtigten Verdacht unterschreibt die Staatsanwältin niemals einen Hausdurchsuchungsbefehl!« … »Nein Tante Kunni, es hilft auch nichts, wenn du sie persönlich anrufst!« … »Nein Tante, das verbitte ich mir!«… »Ja, Tante Kunni, aber …« Der Kommissar hielt sich den Telefonhörer vom Ohr, raufte sich die Haare und zuckte hilflos mit den Schultern. Seine Assistentin lachte Tränen. »Ja, Tante Kunni, ich hör dir noch zu.« … » Ja, Tante Kunni, es tut mir leid.« … »Ich versteh dich schon.« … »Gut, in Gottes Namen und des lieben Friedens willen, ich komm morgen bei dir vorbei und hol mir die Unterlagen.« … »Ja, ich bring die Sandra auch mit.« … »Ja, ich geb ja zu, dass das verdächtig erscheint, aber…« … »Tante Kunni, ich muss jetzt Schluss machen. Also bis morgen, mach’s gut.« Gerald Fuchs knallte den Hörer wutentbrannt auf den Telefonapparat. »Irgendwann dreh ich ihr nochmal den Hals rum! Jetzt spielt die immer noch Detektiv! Stell dir nur vor«, wandte er sich an Sandra Millberger, »letzte Woche hat die eine ganze Rentnerband angeheuert und hat die Leute beauftragt, eine Woche lang nachts den Supermarkt zu beobachten und alles aufzuschreiben, was auf dem Gelände von »Immer Frisch« passiert. Und weil da anscheinend ein reger Anlieferverkehr stattgefunden hat, soll ich mit einem Überfallkommando anrücken und den ganzen Supermarkt, nebst Lagerhalle, auseinandernehmen. Bloß, weil meine Tante meint, das sei verdächtig. Es gibt seitens der näheren Anlieger weder eine Beschwerde wegen nächtlicher Ruhestörung noch sonst wie den kleinsten Hinweis auf eine kriminelle Handlung. Und meine senile Tante bildet sich ein, ich erscheine, wie die Pandora aus der Büchse, mit einem Hausdurchsuchungsbefehl, von der Staatsanwaltschaft unterschrieben. Das ist doch zum Verrücktwerden!« »Und wie bist du jetzt mit deiner Tante verblieben«, wollte Sandra Millberger schmunzelnd wissen.

»Ich musste ihr versprechen, dass wir morgen bei ihr vorbeikommen und uns ihre Observierungsunterlagen ansehen. Sonst hätte sie keine Ruhe gegeben.«

»Deine Tante hat einen starken Willen. Das gefällt mir an ihr.«

»Mir gar nicht«, meinte der Kommissar, »das ist manchmal ganz schön nervig. Übrigens, gibt es zwischenzeitlich irgendwelche Erkenntnisse, wo der Laptop von dem letzten Mordopfer abgeblieben ist?« »Überhaupt nicht. Fehlanzeige. Wir treten im Moment mal wieder ganz schön auf der Stelle.«

*

Die Kunni schimpfte wie ein Rohrspatz vor sich hin, nachdem sie das Telefonat mit ihrem Neffen beendet hatte. »Iech kanns scho nemmer hehrn! Vorschrifdn, nix als Vorschrifdn!. Iech scheiß auf die Vorschrifdn! Do lässd, bei Wind und Wedder, bei Regn und Käld, nachds a ganze Wochn lang den heißesden Dadord Deidschlands beobachdn, wassd ganz genau, dass wos ned in Ordnung is, schrabsd alles auf und sammelsd Beweise, und mid woos kummd die Bolizei? Mid Vorschrifdn! Der Leitmayr is do ganz annerschds. Der däd neihaua, dass die Fungn fliechedn! Meilieber! Der hulled si die Bärschli und däds verhehrn, dass singedn wie die Zeisich. Do kennin, mein Leitmayr! Der is aus an annern Holz gschnidzd!« Wutentbrannt griff sie zum Nordbayerischen Tageblatt. »Mid der sinnlosn Rumdelefoniererei kummsd ned amol dazu, dei Zeidung zu lesn«, schimpfte sie noch immer vor sich hin. Sie schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein und machte es sich am Küchentisch bequem.

»Iech kanns scho nemmer hehrn! Jedn Dooch schreibns ieber den Euro-Reddungsschirm und die Hilfsbageede fier die Griechn. Solln sis doch bleide geh lassn! Mier wär mei Deemarg aa viel lieber als der Euro.« Dann fiel ihr Blick auf eine Schlagzeile in der Regionalübersicht. »Flensburger Sexversand mit verbotenen FCKW erwischt (detaillierter Bericht auf Seite 16)«. Kunni griff sich den Regionalteil und schlug die Seite 16 auf

Wozu braucht Uhse-Meier FCKW?

Höchstadt an der Aisch – Polizei schnappt FCKW-Transport

Nicht schlecht staunten die Beamten der Landpolizei Höchstadt an der Aisch, welcher Fisch ihnen letzten Freitag spätabends ins Netz ging. »Es war eigentlich nur eine Routinekontrolle«, meinte Polizeimeister Karl Fröhlich, »wir haben den Wagen nur herausgewunken, weil der linke Scheinwerfer defekt war. Der Fahrer wirkte äußerst nervös. Also sahen wir uns auch seine Ladepapiere an und überprüften das Transportgut. Wir konnten uns nicht vorstellen, wozu der Flensburger Erotikversandhandel kaltgepresstes, türkisches Olivenöl brauchte. Der Fahrer konnte dazu ebenfalls keine Stellungnahme abgeben.« Was die Beamten dann fanden, hat mit Erotikartikeln so viel zu tun, wie Lady Gaga mit dem Papst. Die misstrauisch gewordenen Beamten überprüften die Ladung. Dabei stellte sich heraus, dass der Klein-Lkw schon seit Jahren verbotene und umweltschädliche Fluorchlorkohlenwasserstoffe geladen hatte. Der Fahrer verweigerte jegliche Aussage, wo er die schädliche Chemikalie geladen hatte und für welchen Zweck diese verwendet werden sollte. Der Pressesprecher von Uhse-Meier negierte jeglichen Zusammenhang zwischen dem konfisziertem FCKW und der Firma Meier-Uhse. »Der Fahrer ist zwar Mitarbeiter unseres Hauses, hatte aber für diesen Transport keinen Auftrag unseres Unternehmens. Wir vermuten, dass er die Fahrt aus Privatinteressen durchgeführt hat. Sollte dies der Fall sein, muss er mit schwerwiegenden, firmenseitigen Konsequenzen rechnen.« Der beharrlich schweigende Fahrer wurde in vorläufigen, polizeilichen Gewahrsam genommen. Die Landpolizei Höchstadt an der Aisch bittet aufmerksame Verkehrsteilnehmer um ihre Mithilfe. Wem in der Nacht von Freitag auf Samstag das Fahrzeug der Firma Uhse-Meier, Mercedes-Benz Kastenwagen, mit dem amtlichen Kennzeichen FL-BD-389 aufgefallen sein sollte, möge sich bitte bei der Landpolizei Höchstadt/Aisch oder bei jeder Polizeidienststelle melden. Hinweise werden, falls erwünscht, vertraulich behandelt.

Kunni las den Artikel ein weiteres Mal aufmerksam durch. Auf einem Foto war ein Mercedes-Kleintransporter zu sehen, auf dessen Seitenfläche der Werbespruch »Ob Gummisack, ob Plastikeier, alles gibt’s bei Uhse-Meier« zu lesen war. Sie griff sich aufgeregt ihre Auswertungsliste, fuhr mit dem rechten Zeigefinger auf »Freitag« und weiter auf »21:25 Uhr« und las Alfred Sprottenklees Eintrag:

Mercedes-Benz Kastenwagen des Flensburger Sexhauses Uhse-Meier, amtl. Kennzeichen FL-BD-389, fährt in die Lagerhalle ein. Kleintransporter verlässt das Grundstück um 21:48 Uhr. (Gibt es morgen Vibratoren im Sonderangebot? J)

»BINGO, edz hammers derwischd!« Kunigunde Holzmann stieß einen Jubelschrei aus. »Gifdbrieh! Habbis ned gsachd?«

Nun konnte er kommen, der Polizei-Oberschlaumeier, ihr Neffe Gerald Fuchs. Nun hatte sie die Beweise in Händen, nach welchen sie so lange gesucht hatte.

Freudig erregt griff sie zum Telefon und rief ihre Freundin Retta an. Noch ahnte sie nicht, dass der Tag noch weitere, schwerwiegende Enthüllungen bringen sollte. In zwei Stunden würde sich die Witwe Veronika Sapper bei ihr melden. Der Witwe Veronika waren auch noch ein paar Kleinigkeiten eingefallen.

Kleinigkeiten

Die trauernde Witwe Veronika dachte viel nach. Sie hatte ja nun Zeit. Immer wieder zermarterte sie sich ihr Hirn, wie es kommen konnte, dass sich ihr geliebter Hubsi quasi selbst vergiftete. Je öfters und je länger sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, dass dies nicht der Fall gewesen sein konnte. Kunnis und Rettas Worte und Einschätzungen geisterten ihr ebenfalls immer wieder im Kopf herum. Wie hatten die beiden sich ausgedrückt? »Jede Kleinigkeid kann wichdich sei. Dei Hubsi had doch alle Bilsn kennd, der had kaane Gnollnblädderbils in sein Korb nei. Im Lebm ned!«

In ihrem Herzen hatten sich noch immer große Schuldgefühle angesammelt, da sie ihrem Mann das tödliche Mahl zubereitet hatte. Sie hatte niemand mehr, der sie liebevoll ›Waggerla‹ nannte, keiner, der ihre Englischkenntnisse lobte. Ach, wie sie ihren Hubsi vermisste. Die Trauer und die Selbstvorwürfe waren es, welche ihr das Gehirn zerfraßen, und die Zweifel und die Wut, dass möglicherweise doch ein Dritter ihren Mann auf dem Gewissen hatte. Jeden Tag besuchte sie ihn am Friedhof und sprach mit ihm, bekam aber keine Antwort auf ihre stillen Fragen. Gerade mal zwei Meter von ihr entfernt lag er in seiner kalten einsamen Holzkiste. Sie betete für sein Seelenheil. Plötzlich war es ihr, als ob er ihr doch ein Zeichen gab. In ihren Gedanken erzählte er ihr noch einmal die Geschichte von der kaputten Klimaanlage in seinem VW-Golf. Sie sah ihn vor sich, wie er sich vor Lachen schüttelte und ihr erzählte, dass sein Auto ab sofort mit kaltgepresstem, türkischem Olivenöl gekühlt würde. Auch ihr entglitt ein leichtes Lächeln, als sie sich an die Geschichte erinnerte. Doch je länger sie darüber nachdachte, desto mehr gefror ihr das Lachen. Sie erinnerte sich an Kunni Holzmanns Worte:

»Naa, Veronika, dees is ned wurschd, ieberhabds ned, jede Kleinichkeid is wichdi.«

Auch, wenn sie sich lächerlich machte, sie beschloss Kunni von der Geschichte zu erzählen. Warum sollte sie ihr Hubsi gerade heute, am Grab, an diese Geschichte erinnert haben? Das war kein Zufall. Sie würde die Kunni anrufen, wenn sie vom Friedhof nach Hause kam.

»Kunni Holzmann?!« Kunigunde Holzmann hatte den Telefonhörer abgenommen.

»Kunni, iech bins, die Veronika.«

»Ja, Veronika, dees is abber schee, dassd orufsd! Wie gehds der denn?«

»Ja, suweid ganz gud. Es is hald gor ned schee, wemmer su allans is. Abber su gänga hald die Gäng. Will ja aa ned immer bloß jammern. Grood kummi vom Friedhof hamm, und do habbi mier dengd, edz rufi mal bei dier oh, weil du gsachd hasd, iech solled aa amol ieber Gleinichkeidn nochdengn. Du wassd scho, wecher dem Hubsi sein rädslhafdn Tod. Und do is mer heid werkli a komische Gschichd eigfalln. Ehrlich gsachd, iech bin mer aa immer nu unsicher, ob is ieberhabd derzähln soll, weil die suwos vo banal is. Iech waas ned…!?«

»Nix gibds, Veronika. Iech mecherd die Gschichd scho gern hehrn. Und die Retta aa. Hosd grood Zeid? Dann kumm hald vorbei. Dring mer a Dässla Kaffee midanander. An Kuugn habbi sowieso immer dahamm.«

Fünfundzwanzig Minuten später stand Veronika Sapper vor Kunnis Haustür. Retta Bauer ließ sie ins Haus. Der Küchentisch war zum Kaffee gedeckt und in der Mitte stand ein appetitlicher Eierlikörkuchen. Die Kaffeemaschine spotzte heißes Wasser in den Kaffeefilter und entließ links und rechts heißen Dampf, der sich bis zur Decke hoch kringelte.

»Hogg di hie Veronika, der Kaffee is aa gleich ferdi«, sprach die Kunni und schnitt mit einem großen Tortenmesser den Kuchen auf. »Hasd a wenga Zeid miedbrachd, odder mussd scho bald widder geh?«

»Iech hab scho Zeid«, erwiderte die Veronika Sapper, »ward ja kaans mehr auf miech, daham. Do hoggi ja aa bloß allaans rum. Hab ja kaan mehr, um deni mich kümmern kann.« Ein paar stille Tränen schlichen sich aus ihren wässrigen Augen und kullerten über ihre rosigen Wangen.

»Less na raus!«, forderte sie die Retta auf, »mier kenna dees aa, aa wenns scho a Zeidlang her is.«

»So, edz werd abber erschd Kaffee drungn!«, bestimmte die Kunni und stellte eine große Warmhaltekanne auf den Tisch. »Do is Zucker odder Sießschdoff. Do habbi a aafache Milch und do is a Bärenmarke! Iech glaab, edz hammer alles. An Abflschdruudl habbi fei a nu.«

»Wenndsd nu a glaans Ligörla häddsd, dädi aa ned ›Naa‹ soogn”, meldete sich die Retta. »Wassd scho, su an Kaffeeligör. An Bäilies! Defferd aa a Dobblder sei!”

«Do däd I aa an nehma”, schloss sich die Witwe Sapper an.

Die drei Damen genossen den frischen Kaffee. Jede hatte bereits ihr zweites Stück Kuchen auf dem Teller liegen. Veronika und Retta kicherten immer mehr. Sie hatten bereits die halbe Flasche Kaffeelikör geleert. Veronika Sapper vergaß für den Moment ihre junge Trauer und fühlte sich seit Tagen nicht mehr so wohl wie im Beisein der beiden honorigen Damen. Dann war es Kunni Holzmann, welche auf die Sache zurückkam.

»So, Veronika, edz erzähl uns amol, was dier heid am Friehof eigfalln is. Was dier dei Hubsi do ins Ohr gflisderd had!«

»Iech waas werkli ned, obbi dees dadsächlich derzähln solled. Wohrscheinli lachder miech gleich aus.«

»Bei uns werd kaaner ausglachd, Veronika«, munterte sie die Kunni auf, »raus mid der Schbraach!«

»Na guud, wenner maand! Dees Ganze had si scho vor a boor Wochn abgschbield, als mei Hubsi nu glebd had. Godd sei seiner Söl gnädich! Jednfalls woar die Glimaanlaach vo seim alden VW-Golf scho des ganze Joahr ieber kabudd. Besser gsachd, sie had nemmer fungdionierd, weiler ka geeignedes Kiehlmiddl mer ghabd had. Den ganzn Summer hadder gsuchd. Abber alle Wergschdäddn, die er gfrachd had, ham gsachd, dass dees Kiehlmiddl, dess er fier sei Audo breicherd zwischenzeidlich verboodn sei, weils umweldschädlich is. Dees is nämlich FCKW und machd dees Ozonloch immer greßer. Dees wär zwoar mein Hubsi wurschd gwesn, abber weils verboodn is, hadder dees ieberhabd nemmer grichd. Dees had’s einfach nemmer gebn. Es däd zwoar a neis Kiehlmiddl aa gebn, ham die Wergschdäddn gsachd, abber dann häd mei Hubsi sei ganz Audo umbaua lassn missn und dees had si nemmer glohnd. Auf jedn Fall is mei Moo eines Doogs ham kumma und had iebers ganze Gsichd gschdrahld und glachd. Dann hadder mer derzähld, dassn der Toni Wellein a kaldgebressdes, dirgisches Oliefenöl in sei Glimaanlaach neigschüdd had und auf amol had die Gliemaanlaach widder fungdionierd. Dees haddn gscheid gfreid, und er had gmaand, do kennerd mer a guuds Gschäfd mid machn. Dann hadder aa was vo FCKW gsachd, abber dees had mer nix gsachd. Iech kenn bloß den FCN, den Glubb in Nemberch.« Veronika Sapper sah die beiden Witwen mit großen Augen an. »Dees woars scho. Gell, edz werder mi glei auslachn!?«

»Wu isn dem Hubsi sei Audo edz?«, wollte die Kunni wissen.

»No, wu werd’sn scho sei? In der Garaasch schdehd’s. Iech wolld’s scho herschengn. Kann ja nix damid ofanga! Hab ja kann Fiehrerschein. Kennder ham, wenners wold! Was solli denn mid dera aldn Gurgn machen?«

»Veronika, dees Audo blabd wu’s is. Zumindesd vorläufich, bis die Bolizei undersuchd had. Wenn dees schdimmd, was iech grood deng, dann hasd du mid deiner Gschichd grood an Umweldsgandal erschdn Ranges aufgedeggd.«

»Wergli?«, strahlte Veronika Sapper.

»Ja, und edz verschdeh iech aa, warum dei Hubsi umbrachd worn is«.

Veronika Sapper war außerordentlich stolz. »Dann solled iech eich vielleichd aa derzähln, was mier heid, am Nachmiddach passierd is, wie iech aufm Wech zu eich woar!?«

»Na zu!«, ermunterte sie die Kunni.

»Schdelld eich na vur, do laafi an der Haubdschdrass am Sauer‘s Biergardn endlang, gegenieber vo der Keiners Wirdschafd. Wie iech grood die Ringschdrass ieberkwern will, sehi driebn, auf der andern Seidn vo der Haubdschdrass, dem Welleins Toni sei Lin Sang schdeh, wies grod in den Zeidungskasdn vo dem Nordbayrischen Tageblatt neischaud. ›Viel Bilder kannsd do abber ned oschau, Lin Sang‹, habber mer dengd. Auf amol fängd die dees Schreia und Schimbfn oh. Auf Deidsch! ›Scheiße, Scheiße nochmal! Warum lässt sich dieser Idiot von Fahrer von den Bullen erwischen?‹ had’s gschria. Iech hob dengd, iech brech ab. Ja seid wenn kann denn die Deidsch? habbi mi gfroochd. Do brigsdder an ab und versuchsd middera Englisch zu redn, dabei verschdehd di uns. Do werd doch der Hund in der Bfanna verriggd! Su a Schlanga, a falscha! Schdehds driebn auf der annern Schdrassnseidn, liest Deidsch und fluchd Deidsch. Wenni ned aufn Wech zu eich gwesn wär, wäri nieber ganga zu iehr und häddera die Meinung gsachd.«

»Had die diech gsehgn?«, wollte die Kunni wissen.

»Na, iech deng ned, die woar ja viel zu viel mid sich selber beschäfdichd. Iech was goar ned, was die su arch aufgreechd had.«

»Abber iech waas dees, Veronika.«

»Wieso, hasd du die aa schimbfn gherd?«

»Na, abber iech waas wos glesn had”, lächelte die Kunni verschmitzt und fuhr fort:. »Schaud eich ner dees raffinierde Bridschla oh! Dees hassd«, folgerte die Kunni, »dass die alles verschdandn had, wos in Deidsch gred worn is, und dees kennd aa sei, dass ned amol iehr Freind der Toni dees waaß. Su a Schnalln, su a kieneesische! Iech glaab edz brauchi aa an Schnabs. Habd’der nu an iebrichglassn, an Bäilies?«

Beschlüsse

Nachdem Veronika Sapper gegangen war, rief Kunni Holzmann nochmals bei der Mordkommission Erlangen an. Erneut war Sandra Millberger am Apparat.

»Wu issern scho widder, der Gerald? Hoggder scho widder beim Scheff und dud schleima?«, wollte die Kunni wissen. »Sandra, sagsd deim Scheff, dassi zwischnzeidli waaß, dass der neie Subermargd mid verboodene Kemikalien handld und dass wecher dem Gschäfd wohrscheinli aa der Waiblinger Groddnmolch und der Hubertus Sapper umbrachd worn sen. Wenner wolld, kennder aa scho heid kumma und ned erschd morgen. Dann weri dem aldn Schlaumeier und Besserwisser amol was derzähln!«

Retta Bauer und Kunigunde Holzmann hatten gerade ihr Abendbrot beendet, eine riesige Portion Obatzn, mit frischem Bauernbrot aus der Hexenbäckerei, Radieschen und Silberzwiebeln, als draußen ein Polizeifahrzeug vorfuhr. Zwei halb leere Weizenbiergläser standen auf dem Küchentisch. Die Türglocke schlug an.

»Iech mach scho auf«, bot die Retta an.

Gerald Fuchs und Sandra Millberger standen vor der Tür. Sandra hielt ein kleines Veilchenstöckchen in der Hand.

»Für die Hausherrin!«, meinte sie und drückte der Kunni das kleine Blumenstöckchen in die Hand.

»Dees hädds fei ned braucht«, meinte diese, »is abber drodzdem schee! Gemmer ins Wohnzimmer! Wolld der aa nu weng an Obadzn hamm? Is nu gnuuch do. Geh Redda, schneid nu weng a Brod auf und schdell den Käs nieber, in die Wohnschduubn. A Bierla, a Gläsla Wein?«

»Mach dir keine Umstände, Tante Kunni! Wir sind hauptsächlich gekommen, um deinen neuesten Recherchen zu lauschen.«

»Du ned!«, erwiderte die Kunni. »Maansd iech waas ned, dass haubdsächlich die Sandra drauf drängd had, zu hehrn, was iech eich zu sogn hab. Abber lass mer dees! Hoggd eich erschd amol hie und essd was. Derweil kanni ja scho ofanga.«

Kunigunde Holzmann nahm auf einem der Stühle Platz und begann mit ihrem Bericht. Als Erstes erläuterte sie ihrem Neffen und Sandra Millberger, dass ihrer Meinung nach sich alles um den neuen Supermarkt drehe und hinter der biederen Geschäftsfassade in Wirklichkeit illegale Dinge abliefen. Soweit zu den Verdachtsmomenten, welche sie nunmehr auch beweisen, beziehungsweise wofür sie schwerwiegende Verdachtsmomente liefern könne. Dann erzählte sie den beiden von dem Kleintransporter des Flensburger Erotikversandhauses und dem alten VW-Golf von Hubertus Sapper. Ihr Neffe hörte kauend zu.

»Damid is eindeidich bewiesn, dass der Toni Wellein mid verboodene Kemiekalien handeld. Und deswegn sooch iech numal: Dees Lacher gherd undersuchd! Außerdem, dees kanni abber nunni beweisn, sen die illegaln Gschäfdli, die do anscheinds in an greßern Schdil ablaufn, aa der eigendliche Grund, dass der Johann Geldmacher umbrachd worn is. Der muss dena auf die Schlich kumma sei. Dees hassd abber, dass der Waiblinger Groddnmolch aa zu dene Verbrecher ghörd had, genau wie der Toni Wellein.«

»Warum wurde dann der Gustav Haeberle ebenfalls ermordet, wenn er in dieses Komplott mit eingebunden war?« Das wollte dem Kommissar nicht einleuchten.

»Wos waaß iech«, antwortete die Kunni, »a bisserla wos missesd du scho aa rausfindn. Wozu bisdn bei der Kribo? Abber aans soch iech dier: Deng ned bloß an den Waiblinger Groddenmolch! Deng aa an den Hubsi Sapper, der had si nämli ned allaa vergifd. Der is vergifd worn. Der woar ja gwasi a Midwisser, vo der Gschichd mid dem FCKW.«

»Meinen aufrichtigen Respekt, Tante Kunni. Ich muss mich bei dir entschuldigen. Wir werden nun Folgendes tun: Morgen früh nehmen wir uns den Fahrer von Uhse-Meier nochmals vor und drehen ihn kräftig durch die Mangel. Ich werde ihm auf den Kopf zusagen, wo er das FCKW geladen hat. Außerdem soll die Veronika Sapper sich morgen zur Verfügung halten. Ich werde ihr zwei Spezialisten schicken, welche die Kühlflüssigkeit in dem alten VW-Golf ihres verstorbenen Mannes untersuchen werden. Sollte sich ergeben, dass es sich dabei tatsächlich um die verbotene Chemikalie handelt – und ich habe keinerlei Zweifel daran – werde ich unserer Staatsanwältin sofort einen Hausdurchsuchungsbefehl zur Unterschrift vorlegen. Aber zuerst müssen wir uns Gewissheit verschaffen. Das leuchtet euch hoffentlich ein?«

»Endlich hasd amol was Gscheids gsachd! Iech hab scho langsam an deim Verschdand zweifld«, gab sich die Kunni zufrieden. Sandra Millberger lächelte vor sich hin.

»Noch eins, Tante Kunni Jetzt ist Schluss mit euren Ermittlungen! Keine Jagd auf den oder die Mörder. Das ist zu gefährlich. Das übernehmen nun wir. Es scheint ja alles auf diesen Toni Wellein hinzuweisen. Der Mann ist gefährlich! Versprichst du mir das?«

»Mier wern uns vo dem Toni ganz weid fernhaldn, gell Retta?«, versprach die Kunni ihrem Neffen. Dann erzählte sie ihm noch von ihrer Beobachtung in Pommersfelden und zeigte ihm die Fotos, welche die Buchstabenfolge ›yìsi‹ auf dem Stamm der Buche zeigten.

Mordauftrag

Tang Kelin wurde zeitnah informiert. Für ihn war klar, dass der FCKW-Handel aufgeflogen war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der festgenommene Fahrer dieser Sexfirma singen würde wie eine Lerche. Da gab er sich überhaupt keiner Illusion hin. Nun galt es, diese Zeit für eine bestmögliche Schadensbegrenzung zu nutzen. Innerhalb von zehn Minuten führte er drei Telefonate und hatte alle Lieferungen, welche an den Supermarkt unterwegs waren, gestoppt.

Dann griff er erneut zum Telefon und wählte eine Nummer, die genauso geheim war, wie der Tresorcode von Fort Knox.

Im fünfunddreißigsten Stockwerk des 374 Meter hohen Central Plaza, an der Harbour Road im Stadtteil Wanchai North in Hongkong, klingelte ein gläsernes Telefon.

»Wei!?« Lu Bing, der Drachenkopf der Sun Yee On-Gruppe nahm den Hörer persönlich ab. Dann lauschte er. Durch die getönten, raumhohen Außenfenster sah er hinab auf die weitläufigen Hafenanlagen Hongkongs. Emsig fuhren die zigarrenförmigen Fährschiffe zwischen Kowloon und Hongkong Island hin und her und spuckten die Passagiere aus ihren Bäuchen, wie ein Ameisenbau seine Bewohner. Der einzige Unterschied war, dass die Menschen in den hektischen Straßen der Stadt, in den Appartementstores oder in den nahegelegenen U-Bahnstationen der MRT verschwanden. Lu Bing befehligte die Sun Yee On-Gruppe, welche der geheimnisvollen Organisation der Triaden, der chinesischen Mafia, angehörte. Die Triaden operieren weltweit. Waffenhandel, Schutzgelderpressungen, Rauschgifthandel, Mord, Korruption, Totschlag, Prostitution, Geldwäsche und Menschenhandel gehören zu ihren bevorzugten Geschäftsfeldern. Wegen ihrer außerordentlichen Brutalität und Rücksichtslosigkeit zählen sie zu einer der weltweit gefürchtetsten Verbrecherorganisationen, welche weder Verrat noch schwerwiegende Fehler verzeiht.

Ihre Gründungsgeschichte geht bis in das 17. Jahrhundert zurück, als sich Widerständler gegen die verhasste Qing-Dynastie zu Geheimbünden zusammentrafen. Mit Übernahme der Macht durch die Kommunisten im Jahr 1949 verlegten die Triaden ihren Hauptsitz nach Hongkong und setzten ihre verbrecherischen Geschäfte nach dem Dai-Lo- und dem Sai-Lo-Prinzip aus der britischen Kronkolonie heraus fort. Das Prinzip ist einfach und effektiv: »Dai-Lo«, der große Bruder, gibt Aufträge und Schutz; »Sai-Lo«, der kleine Bruder, erweist Loyalität und gibt Geld.

Lu Bing lauschte aufmerksam seinem Gesprächspartner, ohne ihn zu unterbrechen. »Unsere Vertrauensperson in Deutschland hat kläglich versagt.«, hörte er. »Das ist unverzeihlich. Ich denke, im Moment ist sie noch keiner Gefahr ausgesetzt, dass ihre Identität auffliegt. Aber das kann in ein paar Tagen anders aussehen. Dann stellt sie eine Gefahr für uns dar. Wir müssen sie zum Schweigen bringen. Schnell und für immer. Bevor eine Verhaftung erfolgt. Diese Person weiß zu viel über uns. Wir können es uns nicht leisten, mit unserem Namen im Detail in diese Sache hineingezogen zu werden. Können Sie die Sache für uns übernehmen?«

Lu Bing ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Ich werde die Angelegenheit meinem Stellvertreter übergeben und mit unserem Weihrauchmeister reden. Wir werden dir helfen. Vergiss aber nie, dass du uns etwas schuldest.«

Hausdurchsuchung

Am übernächsten Tag, nachdem Sandra Millberger und Kommissar Fuchs bei Kunigunde Holzmann zu Gast waren, fuhren sie mit einem Großaufgebot an Polizeifahrzeugen, früh morgens um acht Uhr, vor dem Immer-Frisch-Supermarkt vor. Toni Wellein und Lin Sang hatten gerade die Zugänge zum Supermarkt aufgesperrt.

Die Untersuchung der Kühlflüssigkeit in Hubertus Sappers Wagen zeigte eindeutige Ergebnisse: Bei dem Kühlmittel handelte es sich um FCKW R12. Die gleiche Analyse ergab sich, nachdem das kaltgepresste, türkische Olivenöl aus dem Fahrzeug von Uhse-Meier untersucht worden war. Carmen Prell, die zuständige Staatsanwältin unterschrieb den Hausdurchsuchungsbefehl, ohne mit der Wimper zu zucken oder eine Rückfrage zu stellen.

Der Fahrer des Flensburger Erotikunternehmens brach unter der Last der eindeutigen Anschuldigungen sein Schweigen und bestätigte »Immer Frisch« als den Ladeort der Ware. Sein Arbeitgeber habe mit der Angelegenheit nichts zu tun, bestätigte er. Vielmehr habe er auf eigene Rechnung gehandelt, in der Hoffnung, die verbotene Chemikalie gewinnbringend, auf eigene Rechnung, weiter verkaufen zu können.

Sandra Millberger und Gerald Fuchs schritten entschlossen auf den Eingang des Supermarktes zu und hielten dem total verblüfften Toni Wellein den Hausdurchsuchungsbefehl unter die Nase. Der flippte total aus.

»Schbinnd iehr edz? Was solln nach dees? Lassd mer mei Ruh, iech hab ka Zeid fier eiere Schbäßli, iech muss ärwern!«

»Sehr geehrter Herr Wellein«, reagierte Sandra Millberger energisch, »mit Spaß hat das absolut nichts zu tun. Es besteht der Verdacht, dass in diesem Supermarkt Handel mit der verbotenen Chemikalie FCKW betrieben wird. Ob diese Verdachtsmomente begründet sind oder nicht – genau dies möchten wir herausfinden. Wir fordern Sie, auch in Ihrem Interesse, zur offenen Mitarbeit auf. Bitte geben Sie unseren Beamten jedweden Zugang zu allen Büro-, Lager- und Verkaufsräumen.«

Kommissar Fuchs gab seinen Beamten ein Zeichen. Dutzende von Polizeibeamten fielen wie die Heuschrecken über die gesamte Supermarktanlage her.

»Bitte händigen Sie unseren Beamten sämtliche Schlüssel zu Ihrem Zentrallager aus!«, setzte die Assistentin ihre Ansprache an den Supermarktleiter fort. »Sollten Sie sich weigern, sehen wir uns leider genötigt, das Lager gewaltsam zu öffnen. Damit nicht genug. Wie Sie dem Hausdurchsuchungsbefehl eindeutig entnehmen können, sind wir auch berechtigt, Ihren Privatwohnsitz einer Durchsuchung zu unterziehen. Ich muss Sie deshalb auffordern, Ihre Lebenspartnerin anzuweisen, uns zu Ihrem privaten Wohnheim zu begleiten und uns freien Zugang zu Selbigem zu gewähren.«

Toni Wellein begehrte auf das Heftigste auf und beschimpfte die Beamten auf das Wüsteste. Es half nichts. Schließlich bat er seine chinesische Freundin, die Polizeibeamten zu ihrem Haus zu begleiten und ihnen freien Zugang zu ermöglichen.

Die Polizei wurde an beiden Orten sehr schnell fündig. Das als Olivenöl deklarierte FCKW stapelte sich eimerweise bis an die Decke eines durch eine Stahltüre gesicherten Lagerraumes. In Toni Welleins Schreibtisch stießen die Beamten auf einen dicken Stapel an Spediteurübernahmebescheinigungen, Frachtbriefkopien und Abholscheinen. Daraufhin wurden sämtliche Computer und Büroakten konfisziert und in Pappkartons abtransportiert. Toni Wellein wurde vorläufig festgenommen.

Seine Freundin erlebte ebenfalls einen Alptraum. Die Beamten durchsuchten jede Schublade, jeden Schrank, jede Kommode. Dabei nahmen sie keine Rücksicht, ob sich darin persönliche Wäsche oder andere private Gebrauchsgegenstände befanden. Sie schmissen ihre sämtliche Unterwäsche auf die Betten. Gustav Haeberles Laptop fanden sie unter ihren BH’s. Lin Sang war sofort klar, dass das Spiel aus war.

Endlich zogen die Polizeibeamten ab. Laptops, private Büroordner und privaten Schriftwechsel hatten sie mitgenommen. Zwischendurch rief Toni an und teilte ihr mit, dass er vorläufig festgenommen worden war. Er hoffte so schnell wie möglich wieder auf freien Fuß gesetzt zu werden. Seinen Anwalt hatte er bereits angerufen. Sie solle sich keine Sorge machen. Alles werde wieder gut.

Lin Sang griff heulend zum Telefon und rief Tang Kelin an. Er hörte ihr aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen, und versprach ihr sofort zu helfen. In dreißig Minuten würde er sich wieder melden. In der Zwischenzeit solle sie sich ruhig verhalten und eine Reisetasche mit dem Nötigsten packen. Lin Sang fand keine Ruhe. Wie ein Tiger im Käfig lief sie im Wohnzimmer auf und ab. Nervös und ängstlich dachte sie daran, dass die deutschen Polizeibeamten jederzeit zurückkehren könnten, um auch sie zu verhaften. Mit zitternden Fingern griff sie sich eine von Tonis Marlboros, die auf dem Tisch lagen. Sie musste husten, als sie den Rauch inhalierte. Seit mehr als fünfzehn Jahren hatte sie nicht mehr geraucht. Eine viertel Stunde später lagen bereits vier Zigarettenkippen im Aschenbecher.

DasTelefon klingelte. Es war Tang Kelin.

»Lin Sang, hör zu! In circa zweieinhalb Stunden wird ein Mitarbeiter unseres Konsulats in München an deiner Wohnungstür klingeln. Er fährt einen schwarzen Audi A6 mit Münchner Nummer. Vertraue ihm und folge seinen Anweisungen. Er wird dich aus der Gefahrenzone bringen. In zwei Tagen bist du mit neuen Papieren wieder in Schanghai. Jetzt gilt es, Nerven zu bewahren! Behalte einen klaren Kopf. Keep cool, Mädchen! Die deutsche Polizei wird einige Zeit brauchen, um die Computercodes zu knacken. Niemand wird dich in der Zwischenzeit verdächtigen.«

Nach dem Telefonat ging es ihr gleich viel besser. Es klang alles so vernünftig und logisch, was Tang Kelin ihr am Telefon sagte. Sie würden sie rausholen! In zwei Tagen war sie wieder zuhause und hatte eine Menge Geld auf ihrem Konto. Andererseits, zweieinhalb Stunden konnten sehr lange sein, wenn man mit den Nerven am Ende war. Sie nahm ihre Reisetasche erneut zur Hand und packte nochmals um. Zweimal Unterwäsche, zwei Blusen, eine Jeans und eine Baumwollhose, einen Blazer, eine leichte Sportjacke, zwei Paar Schuhe, eine Strickjacke, Socken, Toilettenartikel. Sie war nervös. Rauchte noch eine Zigarette. Musste schon wieder auf die Toilette. Noch eineinhalb Stunden. Die Zeit kroch dahin. Scheißleben. Sie dachte nach, wie sie in diese missliche Situation geraten war. Tang Kelin hatte sie damals überredet. Er wollte unbedingt eine chinesische Vertrauensperson vor Ort haben. Er misstraute den Ausländern. Weder diesem hässlichen Menschen aus Waiblingen, ihrem Toni schon gleich gar nicht. Toni hatte sie am Anfang ja noch gereizt. Das war in Schanghai. Ein attraktiver Mann. Aber hier, in diesem deutschen Kaff – furchtbar. Sie brauchte nur an diese entsetzliche Veronika Sapper zu denken! Ihr ganzes Leben hier war beschissen. Ihr deutscher Freund zeigte sein wahres, provinzielles Gesicht. Außerdem zeigte es sich immer mehr, dass er ein einfacher, um nicht zu sagen eigentlich primitiver Mensch war. Viel Geist war bei ihm nicht vorhanden. Ständig musste sie mit ihm schlafen. Zum Schluss dachte sie nur noch an das Geld, welches sie verdienen würde. Mit ihm in die Kiste zu steigen, bereitete ihr in den letzten Wochen schon erhebliche Ekelgefühle. Vielleicht ist es ganz gut, dass der Handel mit dem FCKW jetzt aufgeflogen ist, dachte sie. Wenn alles gut geht! Wenn sie unbeschadet nach Schanghai zurückgekehrt war.

Sie sah erneut auf die Uhr. Noch fünfzehn Minuten. Besser sie ging nochmals pinkeln, bevor sie gleich unterwegs musste. Sie wusch sich die Hände. Sie hörte, wie die Türglocke anschlug. Gott sei Dank, das nervenaufreibende Warten hatte ein Ende. Ihr Retter aus München war da. Überpünktlich! Sie spülte die Toilette, griff sich ihre gepackte Reisetasche, eilte zur Tür und riss sie auf.

Wie von einer Gummiwand zurückgeworfen, wich Lin Sang zurück. Zwei alte Damen standen vor der Wohnungstür und lächelten sie an. Sie kannte die beiden. Was wollten die denn von ihr? Sie standen da, mit einem freundlichen »Ni Hao« auf den Lippen.

Wo blieb ihr Retter aus der Not, der Mann mit dem Audi A6 und dem Münchner Kennzeichen?