Baustelle

Raphael T. Eberle hatte ganze Arbeit geleistet. Die Baupläne lagen schon lange fertig in der Schublade. Der Genehmigungsprozess war lediglich eine kurze Formalität. Jeder wartete auf die Fertigstellung des neuen Lebensmittel-Frischemarktes. Fast jeder!

Die Bürgerinitiative »Röttenbach 21«, bestehend aus Tatjana und Hans-Dieter Rübensiehl, marschierte fast täglich vor der Baustelle auf und ab. Sie hielten selbstangefertigte Schilder in die Höhe: »Hier bauen die Mörder der Knoblauchkröte«, «Wir haben Kröten von Nöten!«

Vor vier Monaten waren sie angerückt, die Bagger, Planierraupen, Kräne und Radlader, begleitet von einer Horde tatendurstiger Bauarbeiter. Da wurden Vermessungen durchgeführt, Erde ausgehoben, planiert, Versorgungsleitungen und Rohre verlegt, Kies aufgeschüttet, betoniert, Stahlträger gesetzt, geschweißt, gemauert, Löcher gebohrt, Dachstühle gesetzt, Dachpappe ausgerollt, Fenster, Türen und Tore geliefert, Heizungs- und Klimaanlagen eingebracht, gefliest, Dächer gedeckt, gestrichen, Sanitärobjekte montiert, Hochregallager geliefert, Kühltruhen in Betrieb genommen, gesägt, gehämmert, gefeilt, gepflastert, Bäume und Büsche gepflanzt, Rasen gesät, Lampen montiert und Parkplätze asphaltiert. Dann war sie fertig, die vierzig Meter lange und fünfundzwanzig Meter breite Lagerhalle, welche auf ihren Stirnseiten von den längsten Lkw‘s befahren werden konnte. Der eigentliche Supermarkt stand der Lagerhalle an Größe und Modernität in keinster Weise nach und sah neben den eigentlichen Verkaufsräumen, eine separate Bäckerei mit integriertem Café, eine Metzgerei, einen Käseladen, sowie ein Fischgeschäft vor.

Draußen, etwas abseits von den Parkplätzen, wurden gerade achtzig feste Sitzplätze errichtet. Gleich daneben ein Abenteuerspielplatz für die Kinder. In der warmen Jahreszeit ein idealer Treffpunkt für Hausfrauen, um bei einem Pläuschchen Kaffee und Kuchen zu genießen. Die Lagerhalle und der Supermarkt waren durch einen breiten, überdachten Gang miteinander verbunden, in dem sich nun die Gabelstapler tummelten, um die Verkaufsregale rechtzeitig zur Eröffnung mit den leckeren Sonderangeboten zu füllen.

Oben, auf dem stumpfen Satteldach des Supermarktgebäudes, montierten Handwerker gerade eine riesige Leuchtreklame, die in der Nacht den grünen Schriftzug »Immer Frisch« weithin sichtbar machen sollte. Hinter der mächtigen Lagerhalle legten drei Gärtner eine gewaltige Menge an Rollrasen aus. Ihre Kollegen hatten sich auf dem gesamten Grundstück verteilt und pflanzten Büsche, Stauden und Bäume. Alles sollte zur Einweihungsfeier perfekt sein. Noch war es nicht soweit. Aber bald. Am 20. August sollte der Supermarkt seine Pforten öffnen. Zwei Wochen später, am 3. September, war eine bombastische Einweihungsfeier geplant. Es sollte ein richtiges Dorffest werden. Jeder der am Bauobjekt Beteiligten war hochgradig zufrieden: die Baufirmen, die Gemeindeverwaltung, der Investor und schließlich auch der Pächter der neuen Immobilie, die neue und bisher unbekannte Lebensmittelkette »Immer Frisch«. Diese wollte, so ging die Runde hinter vorgehaltener Hand, den Branchen-Platzhirschen das Fürchten lehren. Die Zeichen waren auf Expansion gestellt. »Qualität muss nicht viel kosten«, warb der neue Lebensmittel-Frischemarkt. Den Röttenbachern konnte dies nur recht sein. Sie hatten nichts gegen gute Qualität und günstige Preise.

Johann Geldmacher, der Geschäftsführer der benachbarten FORMA-Filiale, musste bei diesen Gerüchten nur milde lächeln. Wer war schon »Immer Frisch«? Niemand! Ein Nobody in der Branche! Wie sollte ein Nobody, wie »Immer Frisch«, den Marktführern das Fürchten lehren? Welche Einkaufsmacht hatte das neue Unternehmen denn? Vernachlässigbar! Geradezu lächerlich! Er freute sich heute schon auf den Tag, an dem der großspurige Konkurrent nebenan die Tore wieder schließen musste. Wegen Insolvenz. Wie lange sollte er ihnen geben? Ein halbes Jahr? Bei dem Geschäftsführer eher nur vier Monate. Danach hieß es schnell sein. Die neue Immobilie würde bestimmt für einen Apfel und ein Ei aus der Konkursmasse zu haben sein. Der FORMA-Filialleiter erinnerte sich seines einstigen Mitarbeiters, Toni Wellein, und lächelte in sich hinein. Ein Versager vor dem Herrn!

Noch ahnte Johann Geldmacher nicht, wie eng sein Schicksal mit dem kriminellen Engagement des neuen Wettbewerbers verknüpft sein sollte. Hätte er nur die geringste Ahnung gehabt, ihm wäre das Fürchten gekommen.