LEBEN UND SCHICKSAL DES WASSILI GROSSMAN
UND SEINES ROMANS

Es muss Ende 1974 gewesen sein, da trat im Hof unseres Schriftstellerhauses (Moskau, Tschernjachowskowostraße 4) mein Nachbar auf mich zu, der Dichter und Übersetzer Semjon Israilewitsch Lipkin. Er druckste herum und fragte dann kryptisch: »Hätten Sie vielleicht die Möglichkeit, ein Manuskript in den Westen zu schleusen, es ist nicht von mir, aber sehr interessant …« Ich unterbrach ihn: »Grossman?« Er zögerte einen Augenblick und bejahte.

Hier muss ich meine Geschichte sogleich unterbrechen, weil sie Kommentare und Erklärungen erfordert. Erläutert werden muss, um welches Manuskript es sich handelte, warum Lipkin es aufbewahrte, wieso er es in den Westen schleusen und nicht in der russischen Heimat drucken lassen wollte und weshalb er sich mit seiner Bitte ausgerechnet an mich wandte. Manche Leser sollte ich auch noch daran erinnern, dass das geschilderte Ereignis in der Sowjetunion stattfand, wo damals ein totalitäres Regime herrschte, das alle Kunstgattungen, vor allem aber die Literatur, einer grausam harten ideologischen Kontrolle unterzog. Das Regime forderte von allen sowjetischen Schriftstellern, dass sie sich streng an die Methode des sogenannten sozialistischen Realismus hielten und das Leben nicht so darstellten, wie es in Wirklichkeit war, sondern so, wie es die kommunistische Führung gerne gesehen hätte. Viele Schriftsteller empfanden diese Forderung als Zumutung, sie versuchten, sie irgendwie zu umgehen oder dem Leser ihre Gedanken in Andeutungen zu vermitteln, das heißt, sie schrieben das eine und meinten etwas anderes. Diese Methode, die Gedanken des Autors weiterzugeben, hatte indes ein großes Manko. Wenn die Andeutungen zu sehr verschleiert waren, konnte sie der Leser nicht verstehen. Waren sie zu offensichtlich, verstanden sie nicht nur die einfachen Leser, sondern auch die kommunistischen Machthaber. Dann wurde der Autor vor irgendwelche ideologischen Instanzen geladen, wo man von ihm verlangte, dass er die Andeutungen beseitigen und das Buch verbessern, also de facto verschlechtern solle. Andeutungen sahen die sowjetischen Machthaber in allem, und deshalb waren viele Themen ganz verboten. Zum Beispiel durfte man in der Zeit, als dieser Roman geschrieben wurde, nicht nur keine sowjetischen Konzentrationslager beschreiben, sondern auch keine deutschen. Der Leser könnte bei der Beschreibung der deutschen Lager denken, bei uns gebe es ebensolche Lager, und der Autor, der die deutschen Lager beschreibe, meinte eigentlich unsere eigenen. Der Regisseur Michail Romm drehte den Film »Der gewöhnliche Faschismus« über die Kunst im Dritten Reich. Er wurde ins Zentralkomitee der KPdSU vorgeladen und gefragt: »Warum mögen Sie uns nicht?« In jedem Text suchten die sowjetischen Zensoren wachsam nach Anspielungen oder einem sogenannten Subtext. Sie hatten sogar den Begriff »unkontrollierbarer Subtext« erfunden, entdeckten also Andeutungen dort, wo es gar keine gab. Stellte aber ein Buch das sowjetische Leben ganz ohne Andeutungen, einfach offen und wahrheitsgemäß dar, dann hatte es praktisch keinerlei Chancen, in der Sowjetunion veröffentlicht zu werden, und sein Autor bekam große Schwierigkeiten. Leser, die eine Vorstellung von der sowjetischen Literaturgeschichte haben, möchte ich daran erinnern, welchen Repressionen Boris Pasternak ausgesetzt war, nachdem sein Roman Doktor Schiwago im Ausland erschienen war. Die Moskauer Zeitungen überschütteten ihn mit Beschuldigungen und Beleidigungen, nannten ihn einen Verräter und beschimpften ihn als Schwein und Laus. Seine Schriftstellerkollegen forderten auf einer Sonderversammlung Pasternaks Verbannung ins Ausland unter Aberkennung seiner sowjetischen Staatsbürgerschaft.

Dieser Skandal fand 1958 statt; zwei Jahre später brachte Wassili Grossman, ein bekannter sowjetischer Autor, das Manuskript seines Romans »Leben und Schicksal« in die Redaktion der Zeitschrift »Snamja«, etwa tausend getippte Seiten. Wadim Koschewnikow, der Chefredakteur von »Snamja«, las den Roman durch und wusste, dass er nicht gedruckt werden durfte. Es wurden darin praktisch alle Seiten des sowjetischen Lebens dargestellt: das Leben in der Armee, im Krieg, im Hinterland, in Freiheit und in den deutschen und sowjetischen Lagern. Das Lagerthema war damals noch, zwei Jahre vor Erscheinen von Alexander Solschenizyns »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch«, vollkommen tabu. Die Veröffentlichung von Grossmans Roman hätte unweigerlich einen Riesenskandal nach sich gezogen, dessen Opfer nicht nur der Autor selbst geworden wäre, sondern auch die Redaktion der Zeitschrift. Würde man den Roman aber nicht veröffentlichen, dann gelangte er ins Ausland, und die Geschichte mit »Doktor Schiwago« würde sich wiederholen. Zu Tode erschrocken, brachte Koschewnikow Grossmans Roman sofort ins Zentralkomitee der KPdSU, vielleicht sogar auch zum KGB, das spielt in diesem Fall keine Rolle. Von Bedeutung ist jedoch, dass das Manuskript dort, wohin Koschewnikow es gebracht hatte, gelesen und sofort richtig eingeschätzt wurde. Sogleich wurde alles getan, damit Grossman nicht dasselbe Schicksal widerfuhr wie Pasternak. KGB-Leute erschienen bei ihm, konfiszierten die Reinschrift des Manuskripts, die Entwürfe und Notizen, einfach alles, was auch nur den geringsten Bezug zu dem Roman hatte. Ein weiteres Exemplar wurde aus dem Safe des Chefredakteurs der Zeitschrift »Nowy mir«, Alexander Twardowski, beschlagnahmt, dem Grossman den Roman ebenfalls vorgelegt hatte. Bei den Stenotypistinnen, die den Roman abgetippt hatten, wurden nicht nur sämtliche Exemplare konfisziert, sondern auch das Durchschlagpapier, das zum Tippen verwendet worden war, und sogar die Farbbänder wurden aus den Schreibmaschinen entfernt. Alles wurde in Säcke gesteckt, plombiert und verschwand vermeintlich für immer.

Dieser Fall war sogar in der Geschichte der leidgeprüften sowjetischen Literatur einzigartig. Bis dahin war es natürlich schon vorgekommen, dass ein Autor verhaftet und alle seine Unterlagen wahllos oder gezielt eingezogen worden waren, doch hier wurde nicht der Autor verhaftet, sondern der Roman selbst. Er wurde nicht weggenommen, nicht beschlagnahmt, nicht konfisziert, sondern verhaftet wie ein lebendiger Mensch.

Das hatte es noch nie gegeben. Zum Vergleich möchte ich sagen, dass Boris Pasternak niemandem gegenüber die Existenz seines Romans verheimlicht hatte. Er gab ihn Freunden und potenziellen Redakteuren zu lesen, verschickte ihn per Post – auf die Idee, ihn zu verhaften, wäre damals niemand gekommen. Der Skandal entlud sich erst, nachdem »Doktor Schiwago« im Ausland erschienen war. Grossmans Roman stand das gleiche Schicksal und möglicherweise der gleiche Ruhm bevor, doch die Staatsmacht schob diesmal einem vergleichbaren Lauf der Dinge einen Riegel vor: Man verhaftete den Roman, ließ ihn verschwinden und tat so, als sei nichts geschehen. Pasternak hatte unter dem Skandal um »Doktor Schiwago« sehr gelitten und sich mit einem in die Falle gehetzten Tier verglichen (»Ich bin verloren, wie ein wildes Tier im Pferch«, begann er eines seiner Gedichte), doch Grossman erschien Pasternaks Schicksal wahrscheinlich beneidenswert. Ja, Pasternak wurde persönlich drangsaliert, doch sein Buch wurde noch zu seinen Lebzeiten gedruckt, in viele Sprachen übersetzt und brachte ihm Weltruhm und den Nobelpreis ein, Grossmans Tragödie blieb hingegen privat und wurde von der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen.

Bald darauf erkrankte Grossman an Krebs und starb noch vor seinem 60. Geburtstag einen qualvollen Tod. Er brachte ihn mit der Verhaftung seines Romans in Zusammenhang und sagte auf dem Sterbebett: »Sie haben mich im Torweg erwürgt.« Er meinte damit, man hätte ihn so erwürgt, dass niemand etwas davon bemerkt hätte. Niemand oder fast niemand kannte seinen Roman und wusste, warum ihn dieses Schicksal ereilt hatte. Ich habe viel darüber nachgedacht, zumal ich von Anna Samoilowna Berser, meiner (und Grossmans) Redakteurin, die den Roman gelesen hatte, nur begeisterte Lobesworte darüber zu hören bekam. Ich konnte nicht glauben, dass der Roman spurlos verschwunden war. Sollte Grossman wirklich so leichtsinnig gewesen sein und nicht dafür gesorgt haben, dass ein Exemplar des Manuskripts erhalten blieb? Ich wusste, dass Semjon Lipkin mit Grossman befreundet war, und mutmaßte, dass er etwas wusste, was wir nicht wussten. Als ich nun von ihm erfuhr, dass er das Manuskript hatte, freute ich mich mehr, als dass ich mich wunderte, und war sofort einverstanden, keine Mühe zu scheuen, um es in den Westen zu schleusen. Ich war dazu in der Lage, denn ich war gerade erst aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen worden und befand mich in der Situation eines Dissidenten, das heißt eines von der Staatsmacht verfolgten Menschen, der den nicht Verfolgten gegenüber den Vorzug besaß, dass er nichts mehr zu fürchten brauchte. Zudem hatte ich viele Freunde unter westlichen Journalisten und Diplomaten, auf deren Hilfe ich zählte. Ich nahm das Manuskript an mich, aber was sollte ich weiter tun? Es in der Form weiterzugeben, in der Lipkin es mir gegeben hatte, war schwierig – es war zu dick –, nicht jeder Journalist oder Diplomat würde sich bereitfinden, das umfangreiche Konvolut in den Westen mitzunehmen. Auch hatte ich Angst um dieses letzte Exemplar. Ginge es jetzt verloren, dann wohl für immer. Einfacher wäre es, einen Mikrofilm davon herzustellen und diesen zu übergeben, obwohl das Abfotografieren keine leichte Sache wäre, denn das Manuskript war die achte oder neunte Kopie auf dünnem Durchschlagpapier. Es musste außerdem rasch und gut gemacht werden, doch wer kam dafür in Frage? Ich lud jemanden ein, der ebenfalls Dissident war, in der Hoffnung, dass er ein zuverlässiger Mensch sei. Da hatte ich mich gründlich getäuscht. Er kam, machte ein paar Aufnahmen und rannte weg, weil er angeblich Wichtigeres zu tun hatte. Am nächsten Tag machte er wieder ein paar Aufnahmen und sagte, er müsse dringend die Stadt verlassen, komme aber in der nächsten Woche wieder und dann … Ich war entsetzt, denn es war mir klar, wenn der Geheimdienst etwas von dem Manuskript wittern würde, käme er sofort, um es zu beschlagnahmen, und dann trüge ich die Schuld für sein endgültiges Verschwinden. Ich musste mich beeilen und machte mich daran, den Text selbst, mit meiner sowjetischen Kamera, Marke »Zenit«, zu fotografieren, wohl wissend, dass die Qualität des Films nicht gut werden konnte. Ich brachte ihn auf den Weg in den Westen, beschloss jedoch, sicherheitshalber noch eine zweite Kopie machen zu lassen. Wer käme dafür in Frage, und wo sollte es geschehen? Eine geeignete Person wollte mir nicht einfallen, die Frage nach dem Wo war hingegen leichter zu beantworten. Ich entschied, dass es unter den Dissidentenwohnungen keine sicherere gäbe als die von Andrej Sacharow, der Mitglied der Akademie der Wissenschaften war. Sacharow war zwar auch schon bei der Staatsmacht in Ungnade gefallen, doch sein weltberühmter Name hielt die Geheimdienstler damals noch ab, in seine Wohnung einzudringen. Ich brachte das Manuskript fort, holte es wenige Tage danach wieder ab und gab es Lipkin zurück. Nach dieser Aktion gelangten zwei Filme in den Westen, der von mir aufgenommene und der von Sacharow gemachte. Ich wartete auf das Ergebnis. Bald darauf erschienen in der fünften Ausgabe der Pariser Exilzeitschrift »Kontinent« einzelne, schlecht ausgewählte Abschnitte aus dem Roman. Das war alles. Ich verstand nicht, was los war. Dann bekam ich auf geheimen Wegen die Information, dass Wladimir Maximow, der Chefredakteur von »Kontinent«, die Bedeutung des Romans nicht erkannt, sich auf den Abdruck einiger, nicht gerade der besten Ausschnitte beschränkt und das ganze Buch dem amerikanischen Verleger Carl Proffer angeboten habe. Der hatte auch kein Interesse an dem Manuskript. Davon wusste ich nichts und wartete zwei Jahre auf das Erscheinen des Romans – vergeblich. Damals, 1977, bat ich Lipkin, mir das Manuskript noch einmal zu geben, fand einen zuverlässigen Berufsfotografen, und der fotografierte den Text in bester Qualität mit einer trickreichen selbstgebauten Vorrichtung. Anschließend lud ich eine gute Bekannte, die österreichische Slawistin Rosemarie Ziegler, ein, an deren Zuverlässigkeit ich keinen Zweifel hatte. Ich erklärte ihr, worum es ging, nämlich um einen großartigen Roman, den man nicht nur in den Westen schmuggeln, sondern für den man auch einen Verlag finden müsste. Diesmal brachte der österreichische Kulturattaché Johann Marte das Manuskript in den Westen. Er übergab es den russischen Emigranten Efim Etkind und Simon Markisch, die selbst Literaten waren. Sie entzifferten den Film und gaben das Buch im Schweizer Exilverlag L’Age d’Homme heraus. So erstand dieses Buch wie der Phönix aus der Asche.

Wie der Leser bemerkt haben wird, ist dieser Roman in der realistischen Tradition geschrieben. Es ist ein riesiges Werk, bei dessen Lektüre man unwillkürlich an »Krieg und Frieden« denkt. Und in der Tat, wie Tolstois großer Roman ist »Leben und Schicksal« von Grossman ein Epos. Wie bei Tolstoi sind die Kriegs- und Friedensszenen gleich wichtig. Die Handlung spielt in Moskau, in der tiefen Provinz, in der Etappe, an der Front, im Hauptquartier Stalins und im Führerhauptquartier Hitlers. Eine Romanheldin kommt in der Gaskammer eines deutschen Konzentrationslagers um, ein anderer Protagonist wird in der Lubjanka mit unmenschlichen Foltermethoden verhört. Wie ich oben schon sagte, sind fast alle Seiten des sowjetischen Lebens in diesem Roman beschrieben. Er zeigt die unterschiedlichsten Figuren – Wissenschaftler, Generäle, Soldaten, Männer, Frauen und Kinder. Liebe, Heldentaten, Verrat, alle menschlichen Qualitäten, Leidenschaften und Laster werden im Roman mit starker Bildkraft geschildert.

Der Autor dringt verblüffend tief in die Charaktere seiner Helden ein. Die Menschen werden in ihrer ganzen Nichtswürdigkeit und Größe gezeigt. Ein Mann verdächtigt seine Frau, ihn beim NKWD denunziert zu haben. Seine Frau hegt gegen ihren Geliebten den gleichen Verdacht. Der Kommandeur eines Panzerkorps verzögert die Ausführung von Stalins Befehl, um menschliche Verluste zu vermeiden, und riskiert dafür Kopf und Kragen. Eine andere Figur zeigt sich ungewöhnlich stark im Angesicht des Todes und begeht eine Schandtat aus Angst, kleine Privilegien zu verlieren.

Die sowjetische Literatur wurde (wie das ganze Land) von inkompetenten Leuten beherrscht, denen manchmal sogar die elementaren Bildungsgrundlagen fehlten. Doch sie besaßen ein animalisches Gespür dafür, das Lebendige vom Toten, das Wahre vom Unwahren zu unterscheiden. Und es ist überhaupt nicht verwunderlich, dass ihnen nach der Lektüre dieses Romans klar war, dass man ihn nicht frisieren und durch einzelne Streichungen, Hinzufügungen oder ein angeklebtes Happy End korrigieren könnte. Sie schätzten das Buch richtig ein und fanden keinen besseren Ausweg aus der Situation, als es zu schnappen und zu verstecken.

Um das beschlagnahmte Manuskript zurückzubekommen, klopfte Grossman an viele Türen, putzte in verschiedenen Instanzen die Klinken und wurde schließlich vom damaligen Chefideologen der Partei, dem zweiten Mann im Staat, Michail Suslow, empfangen, der bei den Schriftstellern »unser sowjetischer Goebbels« hieß. Suslow sagte Grossman, sein ideologisch schädlicher Roman werde frühestens in zweihundert Jahren gedruckt werden.

Suslow verschätzte sich um genau 180 Jahre, und ich freue mich, dass ich dazu beigetragen habe, diesen selbstsicheren Satrapen wenigstens von einer Illusion zu befreien. »Manuskripte brennen nicht«, hat ein Romanheld von Michail Bulgakow gesagt, und diese Behauptung kommt mir jedes Mal wieder in den Sinn, wenn ich an die Rettung von Wassili Grossmans Manuskript denke.

Ich muss allerdings sagen, dass dieser Rettungsakt unter Begleitumständen ablief, die heute komisch wirken.

Semjon Lipkin ließ mir das Manuskript beim zweiten Mal durch seine Frau Inna Lisnjanskaja zukommen. Ich wohnte im fünften Stock eines alten Hauses. Der Lift war auch alt und musste von Hand geöffnet werden. Inna aber wohnte in einem Neubau, wo sich die Aufzugtüren automatisch öffneten. An den neuen Lift gewöhnt, fuhr sie zu mir in den fünften Stock hinauf. Der Aufzug hielt an, die Türen öffneten sich nicht. Inna dachte, dies sei ein Kniff des KGB, um sie auf frischer Tat zu ertappen, und bekam einen Riesenschreck. Schließlich befreite sie ein Hausbewohner, der die Treppe hinunterging, und alles nahm ein gutes Ende. Doch danach blieb meine Frau Irina, als sie Lipkin das Manuskript zurückbrachte, im neuen Lift seines Hauses stecken und argwöhnte ebenfalls, dies sei ein Hinterhalt des KGB. Zwischen diesen beiden kleinen Abenteuern erlebte ich eines, das nicht ganz so klein war. Das Datum kann ich genau angeben, und Sie werden gleich verstehen, warum.

Am 11. September 1977 – ich befand mich in der Lage eines Staatsverbrechers, der observiert wurde – verließ ich unser Haus, um das Manuskript beim Fotografen abzuholen, der es auf Mikrofilm aufgenommen hatte. Er wohnte am anderen Ende von Moskau. Ich stieg ins Auto ein und sah sofort, dass die Beschatter dicht hinter mir auffuhren, dennoch startete ich. Der grüne »Schiguli« und der graue »Wolga« rollten hinter mir her. Nachdem ich sinnlos durch die Straßen gekurvt war, kehrte ich nach Hause zurück und fragte meine Frau, ob ich nicht etwas für sie erledigen könnte. Sie bejahte. Ich nahm den Träger mit den leeren Mineralwasserflaschen Marke »Borschomi«, fuhr zum Getränkeladen bei der Metrostation Sokol und stellte mich dort in die Käuferschlange. Ein Teil der mich beschattenden KGBler schloss hinter mir auf, und die Schlange wurde deutlich länger. Ich brachte das Wasser heim und fragte, was es noch zu tun gebe. Meine Frau sagte: den Staubsauger zur Reparatur bringen. Ich nahm den Staubsauger und schaute im Auskunftsverzeichnis nach, ob sich in der Nähe meines eigentlichen Ziels eine Reparaturwerkstatt befände. Ich fand eine auf dem Kutusow-Prospekt und fuhr hin. Der »Wolga« und der »Schiguli« hefteten sich an meinen Wagen, mal hinter mir, mal neben mir. Ich überlegte die ganze Zeit, wie ich sie abhängen könnte, weil es mir nicht um den Staubsauger ging, sondern um Grossmans Manuskript. Sie abzuhängen war in der Tat fast unmöglich, weil sie Funk und jede Menge Autos und Personal zur Verstärkung hatten, ich dagegen war allein, ungeschützt und hilflos wie eine Schabe in einer Glasdose. Ich hatte jedoch einen Vorteil, ich konnte mein Leben aufs Spiel setzen, wozu sie nicht bereit waren. Als ich auf einer Mittelspur des breiten Prospekts auf den Triumphbogen zufuhr, sah ich, dass der Verkehr vor mir an der Ampel stoppte. Kaum hatte sie wieder auf Grün geschaltet, strömte mir bereits die Blechlawine auf der Gegenfahrbahn entgegen, doch ich riss das Lenkrad nach links herum und schnitt dem Gegenstrom im rechten Winkel die Fahrt ab. Bremsen quietschten, ein wildes Hupkonzert ertönte, ich fuhr in die gegenüberliegende Straße hinein, schaute in den Rückspiegel und bemerkte schadenfroh, dass der graue »Wolga« und der grüne »Schiguli«, heftig blinkend und ihre Verwandtschaft nicht mehr verleugnend, am Mittelstreifen ausharrten. Ihr Leben um des Triumphs des Kommunismus willen aufs Spiel setzen, wollten die Herrschaften dann doch nicht.

Die Straße, in die ich hineinraste, war leer und breit. Ich gab Gas, aber wie konnte ich wissen, dass parallel zum Kutusow-Prospekt die Kiewer Eisenbahnlinie verlief und alle Querstraßen Sackgassen waren? Ich hatte noch nicht das volle Tempo erreicht, da wurde die Straße schmaler, floss den Berg hinunter, bedeckte sich mit einem Dach und zog mich in ein unterirdisches Bauwerk hinein, vor dessen Tor ein verdatterter MP-Schütze stand. Es war offenbar eine Einrichtung des Militärs oder des KGB. Ich begriff, dass meine Einfahrt unvorhergesehene Folgen nach sich ziehen könnte, und wendete auf der Stelle (es war genug Platz) mit quietschenden Reifen (der Soldat konnte gerade noch den Mund aufreißen), raste hinaus, bog links ab in die Studentenstraße und hielt an, um zu verschnaufen und zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Das beklemmende Warten dauerte nicht allzu lange: Aus der Gasse bog ein schwarzer »Wolga« mit privater Nummer, zwei Antennen und einem vor Langeweile gähnenden Fahrer um die Ecke. Als er an mir vorbeifuhr, wandte er sich so ostentativ von mir ab, dass sein Interesse zweifellos mir galt. Mir war nun klar, dass es für mich kein Entkommen gab, ich ließ den Motor an und fuhr los. Meine Gefährten erwarteten mich auf dem Prospekt an der Ecke der Gasse und folgten mir aufs Neue, wechselten manchmal die Spur, blieben ein wenig zurück oder überholten mich. Vor dem Hotel Metropol stockte der Verkehr, und meine Begleiter verteilten sich folgendermaßen: Der »Wolga« hielt sich ein Stückchen rechts vor mir, der »Schiguli« ein Stückchen links hinter mir. In beiden Autos saßen jeweils vier Mann und alle mit Hut, wie ich mich erinnere. Keiner von ihnen schien mich zu beachten. Ich hupte die Mannschaft im »Wolga« an. Sie rührten sich nicht. Ich hupte wieder und wieder.

Die Insassen der anderen Autos schauten mich bereits erstaunt an, endlich drehten auch die »Wolga«-Insassen ihre Hüte. Ich zeigte dem Fahrer, er solle sich nicht unnütz verstecken, sondern mir hinterherfahren. Dann blinkte ich lange den Fahrer des »Schiguli« an und bedeutete ihm dasselbe. Zu meiner Verwunderung gingen sie auf meinen Vorschlag ein und formierten sich, nachdem wir in den Marx-Prospekt eingebogen waren, um. Doch zunächst fuhren sie nicht hinter mir her, sondern parallel rechts und links von mir. Wir erreichten den Platz, auf dessen gegenüberliegender Seite das KGB-Gebäude stand (heute Sitz des FSB) und in dessen Mitte die Statue des Gründers des sowjetischen Geheimdienstes aufragte, nach dem der Platz benannt war, Felix Dserschinski. Hier fand ein Spektakel statt, das sich für einen Hollywoodfilm geeignet hätte. Unmittelbar vor meinem Kühler tauchte ein Verkehrspolizist auf, fuchtelte mit dem Stock und pfiff auf seiner Trillerpfeife. Ich dachte, diese Bewegungen seien auf mich persönlich bezogen, gleich würde ich aus meinem Wagen geholt und ins KGB-Gebäude abgeführt werden, doch sogleich fielen mir die Worte eines Freundes ein: »Du überschätzt deine Bedeutung, alter Knabe.«

Der Milizionär riegelte den Verkehr ab und rannte dabei geschäftig herum. Weshalb er das tat, war nicht klar. Ich schielte zu meinen Begleitern hinüber, alle – die vier rechts und die vier links – schauten stur geradeaus. Plötzlich kam von der Metrostation her eine seltsame Prozession auf den Platz zu: hochrangige Miliz- und KGB-Beamte – Generäle und Oberste – sowie graue Zivilisten. Diese zumeist älteren, dicken Männer hielten Kränze mit Schleifen vor dem Bauch und zogen zu dem Denkmal Dserschinkis, wobei sie ihre andächtigen Gesichter hoben und senkten, als seien sie sich der Tatsache gewiss, dass dieser von seinem Sockel aus ihre devote Ehrerbietung zur Kenntnis nehme. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, und erfuhr erst zu Hause, dass das Land den 100. Geburtstag des ersten Tschekisten feierte. Deshalb erinnere ich mich an das Datum.

Sobald die Delegation den Platz überquert hatte, winkte der Milizionär mit dem Stock und pfiff, ich fuhr weiter, meine Begleiter blieben mir auf den Fersen, aber jetzt verheimlichten sie ihre Rolle nicht mehr, sondern bemühten sich, sie auf jede Weise zu zeigen. Der »Schiguli« überholte mich und fuhr vor mir her, der »Wolga« blieb hinter mir, und so stellten sie die Stärke meiner Nerven auf die Probe. Der Wagen vor mir bremste scharf, der hintere fuhr bedrohlich dicht auf. Sie machten mir Angst, aber ohne großen Erfolg, weil es nicht das erste Mal war und ich mich schon langsam daran gewöhnt hatte.

Was das Manuskript betrifft, so holte ich es am nächsten Tag ab und schleuste es, trotz der intensiven Beschattung, in den Westen. Meine Verfolger aßen also umsonst das Brot des Staates und verfuhren umsonst das staatseigene Benzin. Auch ihr eisernes Idol half ihnen nicht, dafür wurde es 1991 vom Platz entfernt.

Wladimir Woinowitsch

April 2007