1

Über der Erde lag Nebel. Die Scheinwerfer der Autos ließen die Hochspannungsleitungen längs der Landstraße aufleuchten.

Es hatte nicht geregnet, doch die Erde war in der Morgendämmerung mit Feuchtigkeit getränkt, und als die Ampel rot aufblitzte, erschien auf dem nassen Asphalt ein verschwommener rötlicher Fleck. Der Atem des Lagers war über viele Kilometer hin zu spüren: Sich immer mehr verdichtend, liefen die Leitungsdrähte, die Landstraßen und Eisenbahngleise auf das Lager zu. Es war ein Raum voller gerader Linien, ein Raum voller Rechtecke und Parallelogramme, welche die Erde, den herbstlichen Himmel, den Nebel zerschnitten.

Langgezogen und leise heulten in der Ferne Sirenen auf.

Die Straße schmiegte sich an die Bahnlinie, und die Lastwagenkolonne, beladen mit Papiersäcken voll Zement, fuhr eine Weile mit fast derselben Geschwindigkeit neben dem endlos langen Güterzug her. Die Fahrer in den Soldatenmänteln sahen nicht zu den Waggons neben sich hinüber, zu den bleichen Flecken menschlicher Gesichter.

Aus dem Nebel tauchte der Lagerzaun auf – Stacheldrahtreihen, die zwischen Pfosten aus Eisenbeton gezogen waren. Baracken bildeten breite, gerade Straßen. In dieser Einförmigkeit kam die ganze Unmenschlichkeit des riesigen Lagers zum Ausdruck.

Unter den Millionen russischer Bauernhütten gibt es nicht zwei Hütten, die einander völlig gleichen, es kann sie auch nicht geben. Alles Lebendige ist einmalig. Zwei Menschen, zwei Heckenrosenbüsche können nicht identisch sein. Das Leben verdorrt dort, wo man mit Gewalt versucht, seine Eigenarten und Besonderheiten auszulöschen.

Mit aufmerksamem Blick verfolgte der grauhaarige Lokführer die an ihm vorbeiziehenden Betonpfosten, die hohen Masten mit den sich drehenden Scheinwerfern, die Betonwachttürme, auf denen hinter dem Rundlauf der Posten am schwenkbaren Maschinengewehr sichtbar wurde. Der Lokführer gab dem Gehilfen mit den Augen ein Zeichen, die Lokomotive pfiff den Warnton. Das elektrisch beleuchtete Schilderhaus tauchte vor ihnen auf, die Autoschlange am heruntergelassenen gestreiften Schlagbaum, das rote Stierauge der Ampel.

Aus der Ferne hörte man die Pfiffe des entgegenkommenden Zuges. Der Lokführer sagte zum Gehilfen: »Da kommt Kamerad Zucker, ich erkenne ihn an seinem frechen Ton. Er hat ausgeladen und fährt leer nach München.«

Der Leerzug begegnete donnernd dem zum Lager fahrenden Transport. Die zerrissene Luft knatterte, graue Lichtstreifen flimmerten zwischen den Waggons hindurch. Plötzlich schlossen sich die Landschaft und das herbstliche Morgenlicht aus den Fetzen wieder zu einem gleichmäßigen Gewebe zusammen.

Der Gehilfe des Lokführers holte einen Taschenspiegel heraus und betrachtete seine schmutzige Backe. Der Lokführer bat mit einer Handbewegung um den Spiegel.

Der Gehilfe sagte mit erregter Stimme: »Ach, Parteigenosse Apfel, glauben Sie mir, wir hätten zum Mittagessen zurück sein können und nicht erst um vier Uhr morgens und völlig erledigt – wenn diese Desinfektion der Waggons nicht gewesen wäre. Als ob wir das nicht bei uns im Depot hätten machen können.«

Der Alte war das ewige Gerede über die Desinfektion leid.

»Gib den langen Ton«, sagte er, »sie leiten uns nicht zur Nebenstelle, sondern direkt zum Hauptausladeplatz.«

2

Im deutschen Lager war Michail Sidorowitsch Mostowskoi zum ersten Mal nach dem Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale gezwungen, seine Fremdsprachenkenntnisse praktisch anzuwenden. Vor dem Krieg, als er in Leningrad lebte, musste er nur selten mit Ausländern sprechen. Jetzt erinnerte er sich wieder an die Jahre der Londoner und Schweizer Emigration; dort, in der Gemeinschaft der Revolutionäre, hatten sie in vielen Sprachen Europas gesprochen, diskutiert und gesungen.

Sein Pritschennachbar, der italienische Priester Guardi, sagte Mostowskoi, dass die Menschen im Lager sechsundfünfzig verschiedenen Nationalitäten angehörten.

Das Schicksal, die Gesichtsfarbe, die Kleidung, die schlurfenden Schritte, die Einheitssuppe aus Steckrüben und künstlichem Sago, den die russischen Häftlinge »Fischauge« nannten – all das hatten die Tausende von Barackenbewohnern gemein.

Für die Lagerleitung unterschieden sich die Menschen im Lager nach Nummern und nach der Farbe der Stoffstreifen, die auf die Jacke aufgenäht waren: rot bei den politischen Häftlingen, schwarz bei den Saboteuren, grün bei den Dieben und Mördern.

Die Menschen verstanden einander in ihrer Sprachenvielfalt nicht, doch es verband sie das gleiche Schicksal. Fachleute für Molekularphysik und alte Handschriften lagen auf ihren Pritschen neben italienischen Bauern und kroatischen Hirten, die nicht einmal ihren Namen schreiben konnten. Der, der einst bei seinem Koch das Frühstück bestellt und die Haushälterin mit seinem schlechten Appetit in Aufregung versetzt hatte, und der, der gesalzenen Dorsch gegessen hatte, gingen nebeneinander mit klappernden Holzsohlen zur Arbeit und hielten sehnsüchtig Ausschau, ob nicht die Essensträger kämen, die »Kostrigi«, wie sie von den russischen Blockbewohnern genannt wurden.

Die Gemeinsamkeit im Schicksal der Lagermenschen war aus ihren unterschiedlichen Leben entstanden. Ob sich der Blick in die Vergangenheit mit einem Gärtchen an einer staubigen italienischen Straße verband, mit dem bedrohlichen Tosen der Nordsee oder mit dem orangefarbenen Papierlampenschirm im Haus der Führungskader am Rande von Bobruisk – bei allen Häftlingen war es dasselbe: Die Vergangenheit war schön.

Je schwerer das Leben eines Menschen vor der Inhaftierung gewesen war, umso eifriger log er. Diese Lüge diente keinem praktischen Zweck, sie diente der Verherrlichung der Freiheit: Ein Mensch außerhalb des Lagers konnte nicht unglücklich sein.

Dieses Lager galt vor dem Krieg als Lager für politische Straftäter.

Der Nationalsozialismus hatte einen neuen Typus politischer Häftlinge hervorgebracht – Straftäter, die kein Verbrechen begangen hatten.

Viele Häftlinge waren ins Lager geraten, weil sie in Gesprächen mit Freunden Kritik am Hitlerregime geübt oder einen politischen Witz erzählt hatten. Sie hatten keine Flugblätter verteilt, keinen Untergrundparteien angehört. Ihre Schuld bestand darin, dass sie all dies hätten tun können.

Die Inhaftierung von Kriegsgefangenen in politischen Konzentrationslagern war ebenfalls eine Neueinführung des Faschismus. Da gab es englische und amerikanische Flieger, die über deutschem Gebiet abgeschossen worden waren, und Kommandeure und Kommissare der Roten Armee, für die sich die Gestapo interessierte. Sie verlangte von ihnen Aufklärung, Mitarbeit, Beratung und die Unterschrift unter alle möglichen Deklarationen.

Im Lager befanden sich Saboteure – »Drückeberger«, die versucht hatten, eigenmächtig die Arbeit in Rüstungsbetrieben und auf militärischen Baustellen niederzulegen. Dass Arbeiter für schlechte Arbeit in Konzentrationslager eingesperrt wurden, war auch eine Erfindung des Nationalsozialismus.

Im Lager gab es Menschen mit fliederfarbenen Streifen auf den Jacken, deutsche Emigranten, die aus dem faschistischen Deutschland geflohen waren. Auch das war eine Neueinführung des Faschismus: Einer, der Deutschland verlassen hatte, wurde zum politischen Feind, auch wenn er sich im Ausland noch so loyal verhalten hatte.

Die Leute mit grünen Streifen auf den Jacken, die Diebe und Einbrecher, gehörten im politischen Lager zu den Privilegierten: Die Kommandantur stützte sich auf sie bei der Beaufsichtigung der politischen Häftlinge.

Auch die Macht der Kriminellen über die politischen Gefangenen war etwas Neues.

Es gab Menschen im Lager, deren Schicksal so seltsam war, dass man keine Farbe gefunden hatte, die einem solchen Schicksal entsprochen hätte. Doch auch dem indischen Schlangenbeschwörer, dem Perser, der aus Teheran gekommen war, um deutsche Malerei zu studieren, und dem chinesischen Physikstudenten hatte der Nationalsozialismus einen Platz auf den Pritschen, einen Napf trüber Wassersuppe und zwölf Stunden Arbeit auf der Pflanzung bereitgestellt.

Tag und Nacht waren die Massentransporte zu den Todeslagern, zu den Konzentrationslagern unterwegs. Die Luft war erfüllt vom Rattern der Räder, vom langgezogenen Pfeifen der Lokomotiven, vom Stampfen der Stiefel Hunderttausender von Lagerinsassen mit fünfstelligen blauen Nummern auf der Kleidung, die zur Arbeit gingen. Die Lager wurden zu Städten des Neuen Europa. Sie wuchsen und breiteten sich aus mit ihren Planierungen, ihren Gassen und Plätzen, ihren Krankenhäusern und Ramschmärkten, ihren Krematorien und Stadien.

Wie naiv und sogar gutmütig-patriarchalisch wirkten die an den Rand der Städte verbannten alten Gefängnisse im Vergleich zu diesen Lager-Städten, im Vergleich zu dem purpur-schwarzen Widerschein über den Krematoriumsöfen, dem Widerschein des Grauens.

Man hätte glauben können, zur Leitung der unübersehbaren Masse Unterdrückter wären riesige, beinahe millionenstarke Armeen von Aufsehern nötig gewesen. Doch das war ein Irrtum. In den Baracken erschienen wochenlang keine Männer in SS-Uniform. Die Gefangenen selbst hatten den Polizeischutz in den Lager-Städten übernommen. Die Gefangenen selbst sorgten für die innere Ordnung in den Baracken, sorgten dafür, dass in ihren Näpfen nur verfaulte und erfrorene Kartoffeln landeten, die großen, guten aber aussortiert und in die Versorgungsbasen der Armee geschafft wurden.

Die Gefangenen waren Ärzte und Bakteriologen in Lagerkrankenhäusern und Lagerlaboratorien, sie waren Hausmeister, die das Lagertrottoir fegten, sie waren Ingenieure, die Licht und Wärme im Lager regelten und für die Wartung der Lagermaschinen verantwortlich waren.

Die Kapos, die grausamen und rührigen Lagerpolizisten, die über dem linken Ärmel eine breite gelbe Armbinde trugen, die Lager-, Block- und Stubenältesten – sie hatten den gesamten Ablauf des Lagerlebens ihrer Kontrolle unterstellt, von allgemeinen Angelegenheiten des Lagers angefangen bis zu den allerprivatesten Dingen, die sich nachts auf den Pritschen abspielten. Die Häftlinge hatten Zugang zu den geheimsten Vorgängen des Lagerstaates – sogar zur Aufstellung der Selektionslisten und zur »Bearbeitung« der Untersuchungsgefangenen in den »Dunkelkammern« – kleinen Betonkäfigen. Wäre das Kommando verschwunden, dann hätten die Häftlinge wohl selbst den Hochspannungsstrom im Stacheldraht weiter fließen lassen, damit nicht alle auseinanderliefen, sondern weiterarbeiteten.

Diese Kapos und die Blockältesten dienten dem Kommandanten, und doch seufzten und weinten sie manchmal über jene, die sie zu den Krematoriumsöfen abführten … Allerdings trieben sie diese Gespaltenheit nicht bis zur letzten Konsequenz: Ihre eigenen Namen setzten sie nicht auf die Selektionslisten. Besonders schlimm erschien Michail Sidorowitsch, dass der Nationalsozialismus nicht volksfremd mit der Arroganz eines Junkers mit Monokel im Auge ins Lager trat. Der Nationalsozialismus lebte ganz selbstverständlich in den Lagern; er setzte sich nicht vom einfachen Volk ab, er machte volkstümliche Witze, über die man lachte, er war Plebejer und gab sich einfach, er kannte eben Sprache, Seele und Geist derer, denen er die Freiheit geraubt hatte.

3

Mostowskoi, Agrippina Petrowna, die Feldärztin Lewinton und der Fahrer Semjonow waren von den deutschen Soldaten, die sie in einer Augustnacht am Rande von Stalingrad gefangen genommen hatten, zum Stab der Infanteriedivision gebracht worden.

Agrippina Petrowna wurde damals nach einem kurzen Verhör freigelassen; der Dolmetscher hatte ihr, auf Anweisung des Feldgendarmen, einen Laib Erbsenbrot und zwei rote Dreißigrubel-Scheine zugesteckt. Semjonow teilte man der Gefangenenkolonne zu, die ins Stalag im Bezirk des Vorwerks von Wertjatschi transportiert werden sollte. Mostowskoi und Sofja Ossipowna Lewinton wurden zum Stab der Heeresgruppe gebracht.

Dort hatte Mostowskoi Sofja Ossipowna zum letzten Mal gesehen. Sie stand in der Mitte des staubigen Hofs, ohne Feldmütze, die Rangabzeichen waren von der Uniform abgerissen, und der düstere, hasserfüllte Ausdruck ihres Gesichts und ihrer Augen erregte in Mostowskoi Entzücken und Bewunderung.

Nach dem dritten Verhör trieben sie Mostowskoi zu Fuß zur Bahnstation, wo ein Güterzug mit Getreide beladen wurde. Zehn Waggons waren zur Beförderung junger Mädchen und Burschen abgestellt worden, die man zur Arbeit in Deutschland eingeteilt hatte – Mostowskoi hörte Frauenschreie, als der Transport abfuhr. Er wurde in ein kleines Dienstabteil in einem Waggon zweiter Klasse gesperrt. Der ihn begleitende Soldat war nicht grob, doch wenn Mostowskoi Fragen stellte, nahm sein Gesicht den Ausdruck eines Taubstummen an. Dennoch spürte man, dass er ausschließlich mit Mostowskoi beschäftigt war. So bewacht ein erfahrener Zoowärter schweigend und angespannt die Kiste, in der sich das ihm anvertraute Tier während der Bahnfahrt unruhig hin und her bewegt. Als der Zug über das Territorium des polnischen Generalgouvernements fuhr, kam ein neuer Fahrgast ins Abteil – ein polnischer Bischof, ein grauhaariger, hochgewachsener, schöner Mann mit tragischen Augen und vollem, jünglingshaftem Mund. Er begann sogleich, Mostowskoi von den Gewaltakten zu erzählen, die Hitler am polnischen Klerus verübt hatte. Er sprach Russisch mit starkem Akzent. Nachdem Mostowskoi auf die katholische Kirche und den Papst geschimpft hatte, verstummte er und antwortete auf dessen Fragen nur noch einsilbig und auf Polnisch. Ein paar Stunden später wurde er in Posen aus dem Zug geholt.

Mostowskoi wurde unter Umgehung von Berlin ins Lager gebracht. Es schien ihm, als hätte er schon Jahre in dem Block verbracht, in dem die für die Gestapo besonders interessanten Gefangenen verwahrt wurden. Im Sonderblock herrschte kein solches Hungerleben wie im Arbeitslager, doch war es das leichte Leben von Versuchstieren, die Märtyrer werden sollten. Den einen ruft der Aufseher an die Tür – es stellt sich heraus, dass der Kamerad ihm den günstigen Tausch seiner Tabakration gegen die Essensportion vorschlägt, und befriedigt grinsend kehrt der Mann zu seiner Pritsche zurück. Den Nächsten ruft er genauso; der geht mitten aus einem Gespräch zur Tür, und sein Gesprächspartner braucht das Ende der Erzählung gar nicht mehr abzuwarten. Knappe vierundzwanzig Stunden später kommt ein Kapo zu der Pritsche, befiehlt dem Aufseher, die Lumpen einzusammeln, und irgendwer erkundigt sich beim Stubenältesten Keise, ob man die frei gewordene Pritsche belegen könne. Mostowskoi hatte sich längst an den ungeheuren Wirrwarr ihrer Gespräche gewöhnt: Man sprach von der »Selektion«, den Krematoriumsöfen, den Fußballmannschaften des Lagers: Die beste ist die der Moorsoldaten von der Pflanzung, die vom Revier ist auch nicht schlecht, die von den Küchen haben einen guten Stürmer, die polnische Mannschaft hat eine miserable Verteidigung. Die dutzend- und hundertfachen Gerüchte über neue Waffen und Zwistigkeiten unter den nationalsozialistischen Anführern waren gang und gäbe. Die Gerüchte waren immer schön und falsch – Opium für das Lagervolk.

4

Gegen Morgen hatte es geschneit, und der Schnee war bis zum Mittag liegen geblieben. Die Russen empfanden Freude und Trauer, Russland wehte zu ihnen herüber, breitete unter ihren armen, zermarterten Füßen sein mütterliches Tuch aus, bedeckte die Barackendächer mit reinem Weiß. Von weitem sahen diese ganz vertraut aus, wie im Dorf daheim.

Aber diese Freude, die für einen Augenblick aufgeleuchtet hatte, vermischte sich im Nu mit Traurigkeit, ertrank in Traurigkeit.

Der Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst, der spanische Soldat Andrea, kam zu Mostowskoi und sagte in gebrochenem Französisch, dass sein Kamerad, der Schreiber, einen Brief gesehen habe, in dem von einem älteren Russen die Rede war, dass der Schreiber ihn jedoch nicht habe lesen können, weil der Kanzleivorsteher das Papier an sich genommen habe.

»Auf diesem Papier steht wohl die Entscheidung über mein Leben«, dachte Mostowskoi und freute sich über seine Ruhe.

»Keine Sorge«, flüsterte Andrea, »wir kriegen es schon noch heraus.«

»Vom Lagerkommandanten?«, fragte Guardi, und seine riesigen Augen glänzten schwarz im Halbdunkel. »Oder vom Vertreter der Sicherheitshauptverwaltung Liss persönlich?«

Mostowskoi wunderte sich, wie verschieden Guardis Wesen bei Tag und bei Nacht war. Tagsüber redete der Geistliche über die Suppe, über die Neuankömmlinge, sprach mit den Nachbarn den Tausch von Essensportionen ab, schwelgte in Erinnerungen an das scharfe, mit Knoblauch gewürzte italienische Essen.

Die kriegsgefangenen Rotarmisten kannten seinen Lieblingsspruch »Tutti caputti«; wenn sie ihn auf dem Lagerplatz trafen, schrien sie ihm schon von weitem zu: »Papascha Padre, tutti caputti«, und lächelten, so als hätten ihnen diese Worte Hoffnung gemacht. Sie nannten ihn »Papascha Padre« in der Meinung, »Padre« sei sein Vorname.

Eines späten Abends zogen die im Sonderblock verwahrten sowjetischen Kommandeure und Kommissare Guardi damit auf, ob er denn wirklich das Gelöbnis der Ehelosigkeit eingehalten habe.

Guardi hörte, ohne zu lächeln, dem Kauderwelsch aus französischen, deutschen und russischen Brocken zu.

Dann sprach er, und Mostowskoi übersetzte seine Worte. Die russischen Revolutionäre seien ja auch um einer Idee willen in die Katorga und aufs Schafott gegangen. Weshalb also zweifelten seine Gesprächspartner daran, dass ein Mann um einer religiösen Idee willen auf die vertraute Nähe zu einer Frau verzichten könne? Solch ein Verzicht sei doch nicht vergleichbar mit dem Opfer des Lebens.

»Na, sagen Sie das nicht«, meinte der Brigadekommissar Ossipow.

Nachts, wenn die Lagerinsassen eingeschlafen waren, wurde Guardi ein anderer. Er kniete auf seiner Pritsche und betete. Es schien, als könne alles Leiden der Lagerstadt in seinen leidenschaftlichen Augen, in ihrer gewölbten, samtenen Schwärze versinken. Die Adern spannten sich unter der braunen Haut seines Halses an, als arbeite er angestrengt, sein langes, apathisches Gesicht bekam einen glückseligen, wenn auch schwermütigen Ausdruck und war zugleich von Entschlossenheit erfüllt. Lange betete er, Michail Sidorowitsch schlief unter dem leisen, schnellen Geflüster des Italieners ein und wachte gewöhnlich nach eineinhalb bis zwei Stunden wieder auf; dann schlief Guardi schon. Der Italiener schlief heftig, im Schlaf gleichsam seine beiden Wesenshälften, die des Tages und die der Nacht, verschmelzend, er schmatzte mit den Lippen, knirschte mit den Zähnen, ließ donnernd Winde fahren, dann sprach er plötzlich wieder wunderbar getragene Gebetsworte über die Barmherzigkeit Gottes und der heiligen Mutter Maria.

Niemals machte er dem alten russischen Kommunisten wegen seines Unglaubens Vorhaltungen, sondern fragte ihn oft über die Sowjetunion aus.

Der Italiener nickte, wenn er Mostowskoi zuhörte, so als billige er die Erzählungen über geschlossene Kirchen und Klöster, über den riesigen Grundbesitz, den der Sowjetstaat dem Synod genommen hatte.

Seine schwarzen Augen ruhten traurig auf dem alten Kommunisten, und Michail Sidorowitsch fragte ärgerlich:

»Vous me comprenez?«

Guardi lächelte sein gewohntes Alltagslächeln, mit dem er über Ragout und Tomatensauce zu sprechen pflegte.

»Je comprends tout ce que vous dites, je ne comprends pas seulement, pourquoi vous dites cela.«

Die im Sonderblock untergebrachten russischen Kriegsgefangenen waren nicht von der Arbeit befreit, deshalb traf sich Mostowskoi nur in den späten Abend- und Nachtstunden zum Gespräch mit ihnen. Nicht zur Arbeit gingen General Guds und Brigadekommissar Ossipow.

Häufiger Gesprächspartner Mostowskois war ein seltsamer Mensch unbestimmbaren Alters, Ikonnikow-Morsch. Er schlief am schlechtesten Platz der ganzen Baracke, neben der Tür, wo er im kalten Durchzug lag und wo auch ein riesiger Kübel mit Ohrenhenkeln und schepperndem Deckel stand – die Latrine.

Die russischen Häftlinge nannten Ikonnikow-Morsch den »Latrinenalten«, hielten ihn für schwachsinnig und behandelten ihn mit geringschätzigem Mitleid. Er besaß eine unglaubliche Widerstandskraft, wie sie sonst nur Schwachsinnigen und Idioten eigen ist. Nie erkältete er sich, obwohl er die vom Herbstregen durchnässten Kleider nicht auszog, wenn er sich schlafen legte. Es schien, als könne tatsächlich nur ein Schwachsinniger mit einer solch klaren, hellklingenden Stimme sprechen.

Mit Mostowskoi schloss Ikonnikow-Morsch folgendermaßen Bekanntschaft: Er trat an Mostowskoi heran und schaute ihm lange schweigend ins Gesicht.

»Was hat der Genosse Gutes zu sagen?«, fragte Michail Sidorowitsch und lächelte spöttisch, als Ikonnikow in singendem Tonfall meinte: »Gutes sagen? Aber was ist gut?«

Diese Worte versetzten Michail Sidorowitsch in die Zeit seiner Kindheit, wenn der ältere Bruder aus dem Priesterseminar nach Hause kam und mit dem Vater ein Streitgespräch über theologische Probleme führte.

»Das ist eine Frage mit langem Bart«, sagte Mostowskoi, »darüber dachten schon die Buddhisten und die ersten Christen nach. Und auch die Marxisten haben sich nicht wenig angestrengt, eine Antwort zu finden.«

»Und, haben sie eine gefunden?«, fragte Ikonnikow in einem Tonfall, der Mostowskoi zum Lachen brachte.

»Unsere Rote Armee«, sagte Mostowskoi, »die ist gerade dabei, eine zu finden. Aber in Ihrem Tonfall schwingt, mit Verlaub, etwas Salbungsvolles mit, schwer zu sagen, was es ist – etwas Popenhaftes oder auch Tolstojanisches.«

»Wie sollte es auch anders sein?«, sagte Ikonnikow. »Ich war ja Tolstojaner.«

»Aha, da liegt der Hase im Pfeffer«, sagte Michail Sidorowitsch. Der sonderbare Mensch begann ihn zu interessieren.

»Sehen Sie«, sagte Ikonnikow, »ich bin davon überzeugt, dass die Repressalien, mit denen die Bolschewiken nach der Revolution die Kirche belegten, der christlichen Idee von Nutzen waren, denn die Kirche befand sich vor der Revolution in einem erbärmlichen Zustand.«

Michail Sidorowitsch erwiderte gutmütig: »Sie sind ja ein richtiger Dialektiker. Auf meine alten Tage ist es mir noch vergönnt, ein Wunder aus dem Evangelium zu erleben.«

»Nein«, konterte Ikonnikow düster, »denn für Sie heiligt der Zweck die Mittel, Ihre Mittel aber sind erbarmungslos. In mir sehen Sie kein Wunder, ich bin kein Dialektiker.«

»Ach so«, sagte Mostowskoi, plötzlich gereizt, »womit kann ich Ihnen denn sonst dienen?«

Ikonnikow, in der Pose eines Soldaten in Habtachtstellung, antwortete: »Lachen Sie mich nicht aus!« Seine Stimme klang tragisch. »Ich bin nicht zum Witzemachen zu Ihnen gekommen. Am fünfzehnten September vorigen Jahres habe ich die Hinrichtung von zwanzigtausend Juden gesehen – Frauen, Kinder, Greise. An dem Tag habe ich begriffen, dass Gott so etwas nicht hätte zulassen können, und mir wurde klar, dass es Ihn nicht gibt. In der heutigen Finsternis sehe ich eure Kraft, sie kämpft mit dem furchtbaren Bösen.«

»Na denn«, sagte Michail Sidorowitsch, »reden wir halt.«

Ikonnikow arbeitete auf der Pflanzung im Sumpfgebiet der zum Lager gehörenden Ländereien, wo ein System riesiger Betonröhren verlegt wurde, das den Fluss und die schmutzigen Bächlein, die die Niederung sumpfig machten, ableiten sollte. Die Arbeiter in diesem Bereich hießen »Moorsoldaten«; gewöhnlich wurden hier die Leute eingesetzt, die der Lagerleitung besonders missliebig waren.

Ikonnikows Hände waren klein; dünne Finger und kindliche Fingernägel. Er war lehmverschmiert und nass von der Arbeit zurückgekommen, ging zu Mostowskois Pritsche und fragte:

»Erlauben Sie, dass ich mich neben Sie setze?«

Er setzte sich, lächelte und strich sich, ohne seinen Gesprächspartner anzusehen, über die Stirn. Seine Stirn war irgendwie merkwürdig – nicht besonders groß, gewölbt, hell, so hell, als existiere sie getrennt von den schmutzigen Ohren, den Händen mit den abgebrochenen Fingernägeln und dem dunkelbraunen Hals.

In den Augen der russischen Kriegsgefangenen, Menschen von einfacher Herkunft, war er ein obskurer und unverständlicher Zeitgenosse.

Ikonnikows Vorfahren waren seit Peter dem Großen von einer Generation zur andern Geistliche gewesen. Erst die letzte Generation der Ikonnikows schlug einen anderen Weg ein; alle Brüder Ikonnikows erhielten, nach dem Wunsch des Vaters, eine weltliche Ausbildung.

Ikonnikow hatte am Technischen Institut in Petersburg studiert, war dann aber begeisterter Tolstoi-Anhänger geworden. Im letzten Studienjahr hatte er sein Studium abgebrochen und war als Volksschullehrer in den Norden des Permer Gouvernements gegangen. Er verbrachte ungefähr acht Jahre auf dem Lande, dann zog er nach Süden, nach Odessa, heuerte auf einem Frachter als Maschinist an, war in Indien, in Japan und lebte in Sydney. Nach der Revolution kehrte er nach Russland zurück und trat in eine bäuerliche Landkommune ein. Dies war schon lange sein Traum gewesen; er glaubte, dass die kommunistische Landarbeit zum Reich Gottes auf Erden führen werde.

Während der allgemeinen Kollektivierung hatte er Transportzüge gesehen, die mit den Familien enteigneter Großbauern vollgestopft waren. Er hatte gesehen, wie abgezehrte Menschen in den Schnee fielen und nicht wieder aufstanden. Er hatte »geschlossene«, ausgestorbene Dörfer mit vernagelten Fenstern und Türen gesehen. Er hatte eine verhaftete Bäuerin gesehen, eine abgerissene Frau mit abgearbeiteten, dunklen Händen, an deren Hals die Adern hervortraten – die Leute aus dem Konvoi betrachteten sie voller Entsetzen: Sie hatte, vor Hunger wahnsinnig geworden, ihre beiden Kinder gegessen.

In dieser Zeit begann er – ohne die Kommune zu verlassen – das Evangelium zu predigen und Gott um Rettung für die Opfer anzuflehen. Es endete damit, dass er eingesperrt wurde, doch stellte sich heraus, dass Elend und Schrecken der dreißiger Jahre seinen Verstand getrübt hatten. Nach einem Jahr Zwangsbehandlung in der Gefängnisnervenklinik kam er frei, zog nach Weißrussland zu seinem älteren Bruder, einem Biologieprofessor, und fand mit dessen Hilfe Arbeit in der technischen Bibliothek. Doch die düsteren Ereignisse hatten ihn für immer gezeichnet.

Als der Krieg begann und die Deutschen Weißrussland erobert hatten, sah Ikonnikow die Qualen der Kriegsgefangenen, die Judenhinrichtungen in den Städten und Dörfern Weißrusslands. Er verfiel wieder in eine Art hysterischen Zustand und flehte Bekannte und Freunde an, die Juden zu verstecken. Er selbst versuchte, jüdische Kinder und Frauen zu retten. Bald wurde er angezeigt und geriet, wie durch ein Wunder vom Galgen verschont, ins Lager.

Im Kopf des zerlumpten, dreckigen »Latrinenalten« herrschte das Chaos, er vertrat unsinnige, groteske Grundsätze einer Überklassenmoral.

»Da, wo Gewalt ist«, erklärte Ikonnikow Mostowskoi, »herrscht Kummer und fließt Blut. Ich habe das große Leiden der Bauern gesehen, die Kollektivierung aber wurde im Namen des Guten durchgeführt. Ich glaube nicht an das Gute, ich glaube an die Güte.«

»Wir werden uns, Ihrem Rat folgend, darüber entsetzen, dass Hitler und Himmler im Namen des Guten aufgehängt werden. Ohne mich – ich werde mich nicht entsetzen«, erwiderte Michail Sidorowitsch.

»Fragen Sie Hitler«, sagte Ikonnikow, »und er wird Ihnen erklären, dass auch dieses Lager um des Guten willen da ist.«

Während dieser Streitgespräche mit Ikonnikow schien es Mostowskoi, als wären alle seine logischen Argumente so wirkungsvoll wie Messerstiche, mit denen man einer Medusa beizukommen sucht.

»Die Welt ist zu keiner höheren Wahrheit gelangt als zu der, die ein syrischer Christ im sechsten Jahrhundert ausgesprochen hat«, wiederholte Ikonnikow. »›Verurteile die Sünde und vergib dem Sünder.‹«

In der Baracke lebte noch ein anderer alter Russe – Tschernezow. Er war einäugig. Der Wachsoldat hatte ihm das Glasauge zerschlagen, und die leere rote Augenhöhle gab seinem bleichen Gesicht etwas Grauenvolles. Wenn er sich mit jemandem unterhielt, verdeckte er die gähnend leere Augenhöhle mit der Hand.

Er war ein Menschewik, der 1921 aus dem sowjetischen Russland geflohen war. Zwanzig Jahre hatte er in Paris gelebt und als Buchhalter in einer Bank gearbeitet. Ins Lager war er gekommen, weil er die Bankangestellten zum Boykott gegen die neue deutsche Verwaltung aufgerufen hatte. Mostowskoi ging ihm nach Möglichkeit aus dem Weg.

Dem einäugigen Menschewiken schien Mostowskois Beliebtheit sehr zu missfallen. Alle, sowohl der spanische Soldat als auch der norwegische Inhaber eines Schreibwarenladens oder der belgische Rechtsanwalt, suchten die Gesellschaft des alten Bolschewiken, alle fragten ihn aus.

Einmal setzte sich Major Jerschow, der unter den russischen Kriegsgefangenen das große Wort führte, zu Mostowskoi auf die Pritsche, rückte noch ein Stückchen näher an ihn heran, legte ihm die Hand auf die Schulter und redete schnell und heftig auf ihn ein.

Plötzlich sah sich Mostowskoi um; von seiner entfernten Pritsche aus beobachtete sie Tschernezow. Mostowskoi dachte, dass die Traurigkeit, die in dem sehenden Auge zu lesen war, noch viel schrecklicher war als das rote Loch, das an der Stelle des ausgeschlagenen Auges klaffte.

»Ja, Bruder, dir ist nicht froh zumute«, dachte Mostowskoi und empfand dabei keine Schadenfreude.

Es war natürlich kein Zufall, sondern geradezu ein Gesetz, dass alle ständig nach Jerschow Ausschau hielten. Wo ist Jerschow? Habt ihr Jerschow nicht gesehen? Genosse Jerschow! Major Jerschow! Jerschow hat gesagt … Frag Jerschow … Sie kamen aus den anderen Baracken zu ihm, um seine Pritsche herum war immer Betrieb.

Michail Sidorowitsch hatte Jerschow »Meister der Gedanken« getauft. Solche Meister der Gedanken hatte es auch früher schon gegeben, die der sechziger und die der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, es hatte die Narodniki gegeben und Michailowski, der auch wieder verschwunden war. Und nun gab es im Hitler’schen Konzentrationslager einen eigenen Meister der Gedanken! Die Einsamkeit des Einäugigen wirkte in diesem Lager wie ein tragisches Symbol.

Jahrzehnte waren vergangen, seit Michail Sidorowitsch zum ersten Mal in einem zaristischen Gefängnis gesessen hatte, sogar das Jahrhundert war damals ein anderes gewesen – das neunzehnte.

Jetzt erinnerte er sich daran, wie es ihn gekränkt hatte, dass ihm einige Parteiführer nicht die Fähigkeit zugetraut hatten, praktische Arbeit zu leisten. Er fühlte sich stark; jeden Tag spürte er, welches Gewicht seine Worte für General Guds, den Brigadekommissar Ossipow und den ewig deprimierten und traurigen Major Kirillow hatten.

Vor dem Krieg tröstete er sich damit, dass er als praxisferner Theoretiker kaum je mit dem in Berührung kam, was in ihm Protest und Missbilligung hervorrief – die Alleinherrschaft Stalins in der Partei, die blutigen Prozesse gegen die Opposition und der Mangel an Respekt vor der alten bolschewistischen Garde. Die Hinrichtung Bucharins, den er gut gekannt und sehr gern gehabt hatte, hatte ihn tief getroffen. Doch er wusste, dass er sich, falls er sich in einem dieser Kritikpunkte gegen die Partei stellte, auch, und zwar gegen seine Absicht, gegen die Sache Lenins stellen müsste, der er sein Leben verschrieben hatte. Manchmal quälten ihn Zweifel. Hatte er nur aus Schwäche, aus Angst geschwiegen und nur deshalb nicht offen gesagt, dass er mit alldem nicht einverstanden war? Vieles in der Vorkriegszeit war doch wirklich furchtbar gewesen! Oft erinnerte er sich an den verstorbenen Lunatscharski – wie gern würde er ihn wiedersehen. Man konnte sich mit ihm so gut unterhalten; eine Andeutung genügte, und schon verstand man einander.

Jetzt, in dem schrecklichen deutschen Lager, fühlte er sich sicher und stark. Er wurde nur ein diffuses Unbehagen nicht los. Auch hier gelang es ihm nicht, das einfache, klare, runde Gefühl seiner Jugend wiederzufinden und sich vertraut unter Vertrauten oder fremd unter Fremden zu fühlen.

Das lag nicht daran, dass ihn ein englischer Offizier einmal gefragt hatte, ob ihn die Tatsache, dass es in Russland verboten sei, antimarxistische Ansichten zu äußern, nicht daran gehindert habe, sich mit Philosophie zu befassen.

»Mag schon sein, dass es jemanden daran hindert. Aber mich, einen Marxisten, hindert es nicht«, hatte Michail Sidorowitsch geantwortet.

»Ich habe Ihnen diese Frage gestellt, eben weil Sie ein alter Marxist sind«, hatte der Engländer gesagt. Und obwohl Mostowskoi bei diesen Worten schmerzlich zusammengezuckt war, hatte er dem Engländer doch Rede und Antwort gestanden.

Es lag auch nicht daran, dass ihm Männer wie Ossipow, Guds und Jerschow manchmal zur Last fielen, obwohl sie ihm so nah wie Brüder waren. Sein Unglück war, dass ihm vieles in seiner eigenen Seele fremd geworden war. Schon in Friedenszeiten war es manchmal vorgekommen, dass er sich gefreut hatte, einen alten Freund zu treffen, doch am Ende ihrer Begegnung hatte er nur einen Fremden in ihm erblickt.

Aber was tun, wenn das, was heute fremd war, in ihm selbst lebte, Teil seiner selbst war? Sich selbst konnte man nicht belügen, sich selbst konnte man nicht aus dem Weg gehen.

In den Gesprächen mit Ikonnikow brauste er auf, behandelte ihn grob und spöttisch, schimpfte ihn Tölpel, Waschlappen, Schlappschwanz. Aber obwohl er sich über ihn lustig machte, bekam er doch wieder Sehnsucht nach ihm, wenn er ihn lange nicht gesehen hatte.

Darin bestand vor allem der Unterschied zwischen den Gefängnisjahren seiner Jugend und der heutigen Zeit.

In der Jugend, im Kreis der Freunde und Gleichgesinnten, war Alles vertraut und verständlich gewesen, jeder Gedanke und jede Ansicht des Feindes dagegen fremd und ungeheuerlich.

Aber jetzt, auf einmal, erkannte er in den Gedanken eines Fremden das, was ihm Jahrzehnte zuvor teuer gewesen war, und das Fremde wiederum kam auf manchmal unerklärliche Weise in den Gedanken und Worten der Freunde zum Vorschein.

»Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich schon zu lange auf der Welt bin«, dachte Mostowskoi.

5

Der amerikanische Hauptmann lebte in einem Einzelverschlag der Sonderbaracke. Er durfte am Abend die Baracke verlassen und bekam Sonderverpflegung. Es hieß, dass Schweden seinetwegen eine Anfrage gestellt habe – Präsident Roosevelt habe beim schwedischen König ein gutes Wort für ihn eingelegt.

Der Hauptmann hatte dem kranken russischen Major Nikonow einmal eine Tafel Schokolade gebracht. Die russischen Kriegsgefangenen in der Sonderbaracke interessierten ihn am meisten. Er versuchte, mit den Russen ein Gespräch über die deutsche Taktik und über die Ursachen für die Misserfolge im ersten Kriegsjahr zu führen.

Oft fing er mit Jerschow ein Gespräch an und vergaß, wenn er in seine klugen, ernsten und zugleich lachenden Augen blickte, dass der russische Major kein Englisch verstand.

Es kam ihm merkwürdig vor, dass ein Mensch mit solch intelligentem Gesicht einfach nichts verstand, nicht einmal ein Gespräch über Themen, die sie beide stark bewegten.

»Verstehen Sie denn wirklich kein Wort?«, fragte er bekümmert.

Jerschow antwortete ihm auf Russisch:

»Unser verehrter Sergeant beherrschte alle Sprachen, außer den fremden.«

Und dennoch verständigten sich die russischen Lagerinsassen mit den Menschen der verschiedensten Nationalitäten in einer Sprache, die sich aus Lächeln, Blicken, Schulterklopfen und eineinhalb Dutzend verballhornten russischen, deutschen, englischen und französischen Wörtern zusammensetzte. Sie sprachen über Kameradschaft, Mitgefühl, Hilfe und über die Liebe zu ihrem Heim, zu Frau und Kindern.

»Kamerad, gut, Brot, Suppe, Kinder, Zigarette, Arbeit« und dazu noch ein Dutzend Wörter, die im Lager entstanden waren: Revier, Blockältester, Kapo, Vernichtungslager, Appell, Appellplatz, Waschraum, Flugpunkt, Lagerschütze – das genügte, um etwas besonders Wichtiges im einfachen und komplizierten Leben der Lagermenschen auszudrücken.

Es gab auch russische Wörter – rebjata, tabatschok, towarischtsch –, die die Gefangenen aus aller Herren Länder benutzten. Das russische Wort dochodjaga aber, das dem deutschen »Muselmann« entsprach, fand Eingang in den Sprachgebrauch der Lagerinsassen aller sechsundfünfzig Nationalitäten.

Mit einem Sortiment von eineinhalb Dutzend Wörtern ausgestattet, war das große deutsche Volk in die Städte und Dörfer eingedrungen, die vom großen russischen Volk besiedelt waren, und Millionen russischer Frauen, Greise und Kinder in den Dörfern und Millionen deutscher Soldaten verständigten sich untereinander mit Wörtern wie matka, pan, ruki wjerch, kurka, jaika, »kaputt«. Nichts Gutes kam bei dieser Verständigungsweise heraus. Aber dem großen deutschen Volk genügten diese Wörter bei den Taten, die es in Russland vollbrachte.

Doch ebenso wenig Gutes kam dabei heraus, wenn Tschernezow versuchte, mit den russischen Kriegsgefangenen ein Gespräch anzufangen, obwohl er in den zwanzig Jahren der Emigration die russische Sprache nicht vergessen hatte, sondern sie ausgezeichnet beherrschte. Er konnte die sowjetischen Kriegsgefangenen nicht verstehen, sie mieden ihn.

Und genauso konnten sich auch die sowjetischen Kriegsgefangenen untereinander nicht einigen; die einen waren eher bereit zu sterben, als ihre Meinung zu ändern, die anderen spielten bereits mit dem Gedanken, in die Wlassow-Truppen einzutreten. Je mehr sie redeten und stritten, umso weniger verstanden sie einander. Später schwiegen sie nur noch, voller Hass und Verachtung füreinander.

In diesem Schweigen von Stummen, in diesem Reden von Blinden, in diesem von Grauen, Hoffnung und Verzweiflung zusammengeschweißten Menschenhaufen – Menschen, die die gleiche Sprache sprachen und doch einander nur mit Unverständnis und Hass begegneten – offenbarte sich auf tragische Weise eine der großen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts.

6

An dem Tag, an dem der Schnee gefallen war, waren die Gespräche der russischen Kriegsgefangenen besonders traurig.

Selbst Hauptmann Slatokrylez und Brigadekommissar Ossipow, die stets voller Energie und seelischer Kraft waren, verfielen in düstere und schweigsame Stimmung. Schwermut lastete auf allen.

Der Major der Artillerie, Kirillow, saß auf Mostowskois Pritsche, ließ die Schultern hängen und schüttelte trübselig den Kopf. Es schien, als seien nicht nur seine dunklen Augen, sondern sein ganzer riesiger Körper von Traurigkeit erfüllt.

Hoffnungslos Krebskranke haben manchmal diesen Blick. Und sogar die Menschen, die ihnen am nächsten stehen, denken, wenn sie diesen Blick sehen: »Wenn du doch nur bald sterben könntest.«

Der allgegenwärtige Kotikow mit dem gelben Gesicht flüsterte Ossipow, auf Kirillow deutend, zu: »Der hängt sich entweder auf oder rennt zu den Wlassow-Leuten.«

Mostowskoi strich sich über seine grauen, borstigen Wangen und sagte:

»Hört mir mal zu, Kasatschki1. Es ist doch ganz richtig so. Kapiert ihr denn wirklich nicht? Jeder Tag im Leben des Staates, der von Lenin geschaffen wurde, ist für den Faschismus unerträglich. Er hat keine Wahl – entweder er frisst uns, vernichtet uns, oder er geht selbst drauf. Der Hass des Faschismus auf uns stellt doch eine Prüfung der Sache Lenins dar. Noch eine mehr, und nicht die leichteste. Begreift doch, je stärker der Hass der Faschisten auf uns wird, umso überzeugter müssen wir von der Gerechtigkeit unserer Sache sein. Dann werden wir sie bezwingen.«

Er drehte sich brüsk zu Kirillow um und sagte:

»Na, was ist mit Ihnen los, he? Erinnern Sie sich, als Gorki über den Gefängnishof ging, da schrie ihm irgendein Georgier zu: Was läufst du da herum wie ein Huhn, geh mit dem Kopf oben!«

Alle lachten.

»So ist es richtig, also: Kopf hoch!«, sagte Mostowskoi. »Und denkt daran, der große Sowjetstaat verteidigt die kommunistische Idee! Soll sich doch Hitler mit ihm und mit ihr messen. Stalingrad steht, hält sich. Vor dem Krieg schien es manchmal so, als hätten wir die Schrauben zu streng, zu grausam angezogen. Doch heute sieht selbst ein Blinder – der Zweck heiligte die Mittel.«

»Ja, die Schrauben hat man bei uns fest angezogen. Das haben Sie richtig gesagt«, bestätigte Jerschow.

»Zu schwach hat man sie angezogen«, sagte General Guds, »man hätte sie noch fester anziehen müssen, damit Hitler gar nicht erst bis zur Wolga kommt.«

»Es steht uns nicht an, Stalin zu belehren«, warf Ossipow ein.

»Ja«, sagte Mostowskoi, »und wenn wir in Gefängnissen und feuchten Bergwerken umkommen müssen, dann ist uns das bestimmt. Nicht darüber müssen wir uns jetzt den Kopf zerbrechen.«

»Worüber denn sonst?«, fragte Jerschow mit lauter Stimme.

Die Anwesenden blickten sich an, blickten um sich, schwiegen.

»Ach, Kirillow, Kirillow«, sagte Jerschow plötzlich, »unser Vater hat ganz recht. Wir müssen uns über den Hass der Faschisten freuen. Wir hassen sie, sie hassen uns. Verstehst du? Überleg doch mal – zu den eigenen Leuten ins Lager zu kommen, das ist das wahre Unglück. Was ist das hier schon dagegen? Wir sind kräftige Burschen, wir werden es den Deutschen schon noch zeigen.«

7

Den ganzen Tag über hatte das Kommando der 62. Armee keine Verbindung zu den Truppeneinheiten gehabt. Viele Empfangsgeräte waren ausgefallen; die Telefonleitung war überall zerstört worden.

Es gab Minuten, da empfanden die Menschen, die auf das fließende, sich kräuselnde Wasser der Wolga blickten, den Fluss als etwas Unbewegtes, an dessen Ufer die bebende Erde wie bei starkem Seegang schwankte. Hunderte schwerer sowjetischer Geschütze feuerten über die Wolga herüber. Über der deutschen Stellung an der südlichen Hangseite des Mamajew-Hügels wirbelten Erd- und Lehmklumpen durch die Luft.2

Die zusammengeballten Erdwolken wurden gleichsam durch das magische, unsichtbare Sieb der Schwerkraft gefiltert, und wie bei einem Schüttelrost stürzten die schweren Brocken und Klumpen zur Erde, das leichte Staubgemisch stieg in den Himmel auf. Ein paarmal am Tag stießen die Rotarmisten, betäubt und mit entzündeten Augen, auf deutsche Panzer und Infanterie.

Den Offizieren im Kommando, dessen Verbindung zu den Truppen abgerissen war, erschien der Tag zermürbend lang.

Was versuchten Tschuikow3, Krylow und Gurow nicht alles, um diesen Tag auszufüllen – sie taten, als arbeiteten sie, schrieben Briefe, diskutierten über mögliche Truppenverschiebungen des Gegners, machten Witze, tranken Wodka mit und ohne Sakuska, schwiegen und lauschten dem Geschützdonner. Der eiserne Wirbelsturm heulte um den Unterstand, mähte alles Lebendige nieder, das auch nur einen Augenblick seinen Kopf über die Erdoberfläche erhob. Der Stab war gelähmt.

»Los, spielen wir Karten«, sagte Tschuikow und schob den voluminösen Aschenbecher voller Zigarettenstummel in die Tischecke.

Selbst der Chef des Armeestabes, Krylow, verlor die Ruhe. Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch und sagte:

»Es gibt keine schlimmere Situation, als sich ruhig halten zu müssen, nur damit sie einen nicht ganz aufreiben.«

Tschuikow teilte die Karten aus und verkündete: »Herz ist Trumpf.« Dann mischte er plötzlich den Kartenstoß und sagte:

»Wir sitzen hier wie die Hasen und spielen Karten. Nein, das kann ich nicht!«

Grübelnd saß er da. Sein Gesicht drückte einen solchen Hass, eine solche Qual aus, dass es schrecklich anzusehen war.

Gurow wiederholte nachdenklich, wie in einer Vorahnung seines Schicksals: »Ja, an einem solchen Tag kann man an zerrissenem Herzen sterben.«

Dann lachte er auf und sagte: »In der Division tagsüber auszutreten – du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm das ist! Mir hat einer erzählt, der Stabschef von Ljudnikow sei in den Unterstand gestürmt und habe geschrien: ›Hurra, Jungs, ich hab geschissen!‹ Er sah sich um, da saß im Unterstand die Ärztin, in die er verliebt ist.«

Mit dem Einbruch der Dunkelheit hörten die deutschen Fliegerangriffe auf. Ein gewöhnlicher Sterblicher, der nachts an das Stalingrader Ufer geraten wäre, hätte wahrscheinlich, völlig betäubt durch den Lärm, angenommen, dass ihn ein feindliches Geschick zur Stunde des entscheidenden Angriffs nach Stalingrad geführt habe. Doch für die alteingesessenen Kämpfer war dies die Zeit, sich zu rasieren, die kleine Wäsche zu waschen und Briefe zu schreiben, die Zeit, in der die Fronthandwerker – Schlosser, Dreher, Schweißer, Uhrmacher – Feuerzeuge, Zigarettenspitzen und Bunkerlichter aus Geschosshülsen (mit Dochten aus Uniformtuch) bastelten oder einfache Pendeluhren reparierten.

Das flackernde Feuer der Detonationen erleuchtete das Steilufer, die Ruinen der Stadt, die Öltanks, die Fabrikschornsteine – und in diesen Augenblicken boten Ufer und Stadt einen unheilvollen, düsteren Anblick.

In der Dunkelheit lebte die Nachrichtenzentrale der Armee auf, begannen die Schreibmaschinen zu klappern, auf denen die Kopien militärischer Meldungen vervielfältigt wurden, summten kleine Motoren, lärmten die Morseapparate, riefen sich die Telefonisten über die Leitungen einander etwas zu. Die Kommandostellen der Divisionen, Truppen, Batterien und Kompanien schalteten sich in das Netz ein. Respektvoll räusperten sich die im Armeestab angekommenen Melder, erstatteten die Verbindungsoffiziere den Operationsoffizieren vom Dienst Meldung.

Zum Rapport bei Tschuikow und Krylow eilten der alte Poscharski, der die Artillerie der Armee befehligte, der Führer der Todeskommandos, die das Übersetzen über den Strom durchführten, Generalingenieur Tkatschenko, der Kommandeur der sibirischen Division, Gurtjew – Neuankömmling in der grünen Soldatenuniform – und der alteingesessene Stalingrader, Oberstleutnant Batjuk, der mit seiner Division am Fuß des Mamajew-Hügels lag. In den Politmeldungen, die dem Kriegsratsmitglied der Armee, Gurow, erstattet wurden, fielen berühmte Stalingrader Namen – der des Granatwerferschützen Besdidko, der Scharfschützen Wassili Saizew und Anatoli Tschechow, des Sergeanten Pawlow, und zugleich mit ihnen wurden Leute genannt, deren Namen zum ersten Mal in Stalingrad fielen: Schonin, Wlassow, Bryssin, denen ihr erster Tag in Stalingrad Kriegsruhm gebracht hatte. In den vordersten Reihen aber begrub man die Gefallenen, und die Toten verbrachten die erste Nacht ihres ewigen Schlafs neben den Unterständen und Deckungen, in denen ihre Kameraden Briefe schrieben, sich rasierten, Brot aßen, Tee tranken und in selbstgebauten Schwitzbädern ein Dampfbad nahmen.

8

Es kamen die schwersten Tage für die Verteidiger von Stalingrad.

Im Getümmel der Schlacht um die Stadt, der Angriffe und Gegenangriffe, im Kampf um das »Haus des Spezialisten«, um die Mühle, um das Gebäude der Staatsbank, im Kampf um Keller, Höfe und Plätze zeigte sich eindeutig die Überlegenheit der deutschen Streitkräfte.

Der Keil, den die Deutschen in den südlichen Teil der Stadt beim Lapschin-Garten, der Kuporosnaja-Schlucht und der Jelschanka getrieben hatten, verbreiterte sich, und die deutschen MG-Schützen, die vom Wasser selbst gedeckt wurden, beschossen das linke Ufer der Wolga und der südlichen Krasnaja Sloboda. Die Operationsoffiziere markierten jeden Tag die Frontlinie neu und sahen, wie die blauen Markierungszeichen unablässig weiterkrochen und der Streifen zwischen der roten Linie der sowjetischen Verteidigung und dem blauen Band der Wolga immer schmaler wurde.

Die Initiative, die Triebkraft des Krieges, ging in diesen Tagen von der deutschen Seite aus. Immer weiter schoben sie sich vor, und aller Ingrimm der sowjetischen Gegenangriffe konnte ihren langsamen, aber unaufhaltsamen Vormarsch nicht stoppen.

Am Himmel dröhnten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang die deutschen Sturzkampfflugzeuge und stießen mit Sprengbomben auf die schmerzerfüllte Erde herab. Und in Hunderten von Köpfen saß quälend nur ein Gedanke: Was wird morgen sein oder in einer Woche, wenn sich der sowjetische Verteidigungsgürtel in einen Faden verwandelt hat und durchgerissen ist, zermalmt von den Eisenzähnen der deutschen Offensive?

9

Spät in der Nacht legte sich General Krylow in seinem Unterstand aufs Feldbett. Hinter den Schläfen schmerzte es, seine Kehle brannte von schachtelweise gerauchten Zigaretten. Krylow fuhr sich mit der Zunge über den trockenen Gaumen und drehte sich zur Wand. Im Halbschlaf vermengten sich in seiner Erinnerung die Gefechte von Sewastopol und Odessa, das Kampfgeschrei der stürmenden rumänischen Infanterie mit den steingepflasterten, efeuberankten Höfen von Odessa und der Matrosenschönheit Sewastopols.

Es kam ihm so vor, als sei er wieder im Gefechtsstand von Sewastopol, und im Nebel des Halbschlafs blitzten die Gläser des Kneifers von General Petrow auf; in dem Glas glitzerten Tausende von Splittern, und schon wogte das Meer, und der graue Staub des durch deutsche Geschosse zertrümmerten Felsgesteins schwebte über die Köpfe der Seeleute und Soldaten hinweg und stieg zum Sapun-Berg auf.

Er konnte das eintönige Plätschern an der Bordwand des Bootes hören und die barsche Stimme des U-Boot-Matrosen: »Spring!« Er glaubte, in die Wellen gesprungen zu sein, doch da berührte sein Fuß auch schon den Rumpf des Unterseebootes … Ein letzter Blick auf Sewastopol, auf die Sterne am Himmel, auf die Brände am Ufer …

Krylow schlief ein. Im Traum behielt der Krieg weiter seine Macht. Das U-Boot lief aus Sewastopol aus und fuhr nach Noworossijsk … Er schlug die eingeschlafenen Beine übereinander, Brust und Rücken waren schweißbedeckt, der Motorenlärm hämmerte in seinen Schläfen. Und plötzlich schwieg der Motor – das Boot sank sanft auf den Grund. Die schwüle Hitze wurde unerträglich, das metallene Gewölbe, durch Nietpunktierungen in Quadrate unterteilt, schien ihn zu erdrücken …

Er hörte laute Schreie, eine Unterwasserbombe war explodiert, Wasser stürzte herein, riss ihn von der Koje. Krylow öffnete die Augen, ringsum war Feuer, an der aufgerissenen Tür des Unterstands vorbei wälzte sich ein Flammenstrom zur Wolga, Menschen schrien, Maschinenpistolen krachten.

»Den Mantel, den Mantel über den Kopf!«, schrie ein unbekannter Rotarmist Krylow zu und hielt ihm den Soldatenmantel hin. Doch Krylow schüttelte den Rotarmisten ab und brüllte:

»Wo ist der Befehlshaber?«

Plötzlich hatte er begriffen: Die Deutschen hatten die Öltanks in Brand gesteckt, und das brennende Öl strömte zur Wolga.

Es schien, als gäbe es schon keine Möglichkeit mehr, diesem fließenden Feuer lebend zu entkommen. Das Feuer toste, prasselnd erhob es sich über dem Öl, das Gruben und Trichter auffüllte und in die Laufgräben einströmte. Ölgetränkt begannen Erde, Lehm und Stein zu qualmen. Das Öl quoll in schwarzen, glänzenden Strahlen aus den von Brandgeschossen durchsiebten Behältern. Es war, als würden riesige Ballen von Feuer und Qualm aufgerollt, die bis dahin in Zisternen verwahrt gewesen waren.

Das Leben, das auf der Erde vor mehreren hundert Millionen Jahren seine Triumphe gefeiert hatte, das gewaltige, grausige Leben der Urzeitungeheuer, brach durch die Krusten seines Grabes, brüllte wieder, stampfte, heulte, verschlang gierig alles um sich herum. Das Feuer rauchte viele hundert Meter in die Höhe und trug Wolken brennenden Dampfes fort, die, detonationsgleich, hoch im Himmel aufloderten. Das Flammenmeer war so groß, dass der Sturm kaum noch Macht darüber hatte, und ein dichtes schwarzes, wogendes Gewölbe trennte den herbstlichen Sternenhimmel von der brennenden Erde. Es war grauenhaft, von unten zu diesem strömenden, fettigen schwarzen Firmament aufzuschauen.

Die in die Höhe strebenden Feuer- und Rauchsäulen nahmen für Augenblicke die Gestalt von Lebewesen in höchster Wut und Verzweiflung an; dann erschienen sie wieder wie schlanke, schwankende Bäume. Schwarze und rote Feuerfetzen drehten sich im Kreis wie im Tanz wirbelnde Mädchen mit aufgelöstem rotem und schwarzem Haar.

Das brennende Öl verteilte sich flach auf dem Wasser; es zischte, rauchte und krümmte sich, von der Strömung erfasst.

Das Erstaunliche war, dass viele Kämpfer schon in diesen Minuten wussten, wie man sich zum Wasser durchschlagen konnte. Sie schrien: »Hierher, renn hierher, auf dem Pfad geht’s lang!« Einige von ihnen waren schon mehrmals zwischen den in Flammen stehenden Unterständen hin und her gerannt, um den Stabsleuten dabei zu helfen, einen Vorsprung auf dem Ufer zu erreichen, wo ein Häuflein Geretteter zwischen den sich in die Wolga wälzenden Ölströmen stand.

Männer in wattierten Jacken halfen dem Armeeoberbefehlshaber und den Stabsoffizieren zum Ufer hinunter. Diese Männer trugen General Krylow, den sie schon für tot hielten, auf ihren Armen aus dem Feuer und arbeiteten sich mit versengten Wimpern blinzelnd aufs Neue durch das rote Gestrüpp zu den Unterständen des Stabes durch.

Bis zum Morgen standen die Stabsangehörigen der 62. Armee auf diesem kleinen Vorsprung direkt in der Wolga. Das Gesicht vor der glühenden Luft schützend, sich die Funken aus der Kleidung schüttelnd, beobachteten sie ihren Armeeoberbefehlshaber. Er trug die Uniform der Roten Armee und einen Soldatenumhang; unter der Feldmütze hervor fielen ihm die Haare in die Stirn. Sein Blick war düster, aber er schien ruhig und gefasst.

Gurow sagte mit einem Blick auf die Umstehenden: »Offenbar verbrennen wir nicht einmal im Feuer«, und betastete die glühend heißen Knöpfe seiner Uniform.

»Heda, Soldat mit der Schaufel«, schrie der Führer der Pioniertruppe, General Tkatschenko, »graben Sie hier schnell eine Rinne, da fließt das Feuer schon von der Anhöhe herunter!«

Zu Krylow sagte er: »Die Welt steht kopf, Genosse General, das Feuer fließt wie Wasser, und die Wolga brennt wie Feuer. Ein Glück, dass kein starker Wind geht, sonst hätte es uns alle verschmort.«

Als ein leichter Wind von der Wolga her aufkam, schwankte das schwere Zelt der Feuersbrunst, neigte sich, und die Menschen wichen vor den sengenden Flammen zurück.

Einige von ihnen gingen ans Ufer, benetzten die Stiefel kurz mit Wasser, und das Wasser verdampfte auf den heißen Stiefelschäften. Die einen schwiegen und starrten auf die Erde, die anderen blickten sich ständig um, die Dritten suchten ihre Angst mit Witzen zu besiegen: »Hier braucht man wenigstens keine Streichhölzer. Man kann sich die Zigarette an der Wolga und am Wind anzünden.« Wieder andere betasteten sich und schüttelten den Kopf, wenn sie die Hitze der metallenen Riemenschnallen fühlten.

Ein paar Detonationen waren zu hören, das waren die Handgranaten, die in den Unterständen des Stabsschutzbataillons explodiert waren. Dann knatterten die Patronen in den Maschinengewehrgurten los. Eine deutsche Wurfgranate pfiff durch das Feuer und ging weit draußen in der Wolga hoch. Durch den Rauch verschleiert, tauchten entfernte menschliche Gestalten am Ufer auf – offenbar versuchte jemand, das Feuer vom Gefechtsstand wegzuleiten. Im nächsten Augenblick verschwand wieder alles in Feuer und Rauch.

Als Krylow nun auf das rings um ihn flutende Feuer sah, kamen ihm keine Erinnerungen mehr, verglich er nicht mehr. Er fragte sich, ob denn die Deutschen gleichzeitig mit dem Brand nicht auch einen Angriff angesetzt hatten. Die Deutschen wussten nicht, an welcher Stelle sich das Armeeoberkommando befand; der Gefangene von gestern glaubte nicht daran, dass der Generalstab des Armeeoberkommandos auf dem rechten Ufer seinen Standort hatte. Es handelte sich offensichtlich um eine vereinzelte Operation, das hieß, es bestanden Chancen, bis zum Morgen zu überleben. Wenn nur kein Wind aufkam.

Er warf einen Blick auf den neben ihm stehenden Tschuikow; der beobachtete aufmerksam die Feuersbrunst, die um ihn tobte. Sein Gesicht schien unter dem Ruß wie aus glühendem Kupfer. Er nahm die Feldmütze ab, fuhr sich mit der Hand über das Haar und sah dabei wie ein schweißüberströmter Dorfschmied aus. Dann schaute er hinauf in die tosende Feuerkuppel, betrachtete die Wolga, wo zwischen den züngelnden Flammen die Dunkelheit durchbrach. Krylow dachte, dass den Armeeführer wohl jetzt die gleichen Fragen beschäftigten, die auch ihn nicht losließen: Setzen die Deutschen nachts zu einem Großangriff an? Wo soll der Stab untergebracht werden, wenn man bis zum Morgen warten muss?

Tschuikow, der den Blick des Stabschefs spürte, lächelte ihm zu, beschrieb mit der Hand einen großen Kreis über dem Kopf und sagte:

»Teufel noch mal, ist das schön, was?«

Die Fackel des Brandes war aus Krasni Sad jenseits der Wolga, wo das Stabsquartier der Stalingradfront gelegen war, gut zu sehen. Der Stabschef, Generalleutnant Sacharow, hatte zuerst die Nachricht von dem Brand erhalten und Jeremenko darüber Meldung erstattet; der Befehlshaber hatte Sacharow gebeten, persönlich zur Nachrichtenzentrale zu gehen und mit Tschuikow zu sprechen. Sacharow eilte, geräuschvoll atmend, den Pfad entlang. Der Adjutant, der ihm mit der Taschenlampe leuchtete, rief von Zeit zu Zeit: »Vorsicht, Genosse General!«, und schob mit der Hand die über den Pfad hängenden Apfelbaumzweige zurück. Der ferne Feuerschein erhellte die Baumstämme, sprenkelte rosafarbene Flecken über die Erde. Dieses verschwommene Licht erfüllte die Seele mit Unruhe. Die Stille, die ringsum in der Luft stand und nur durch die halblauten Anrufe der Posten gebrochen wurde, ließ das stumme, fahle Feuer noch unheimlicher erscheinen.

In der Nachrichtenzentrale sagte die diensthabende Telefonistin mit einem Blick auf den schwer atmenden Sacharow, dass es mit Tschuikow keine Verbindung gebe, weder telefonisch noch telegrafisch, noch über Funk.

»Mit den Divisionen?«, fragte Sacharow kurz angebunden.

»Gerade eben, Genosse Generalleutnant, hatten wir eine Verbindung mit Batjuk.«

»Also los, rasch!«

Die Telefonistin wagte nicht, Sacharow anzusehen, da sie fürchtete, dass er jeden Augenblick explodieren könnte, sein schwieriger, reizbarer Charakter war allen bekannt. Aber plötzlich rief sie erleichtert: »Es hat geklappt. Bitte, Genosse General«, und reichte Sacharow den Hörer.

Der Stabschef der Division war am anderen Ende der Leitung. Wie das Telefonfräulein, so erschrak auch er, als er den schweren Atem und die mächtige Stimme des Frontstabschefs hörte.

»Was geht bei Ihnen vor? Melden Sie! Haben Sie mit Tschuikow Verbindung?«

Der Divisionsstabschef berichtete über den Brand der Öltanks, darüber, dass die Feuerwelle den Gefechtsstand des Armeestabs überrollt habe, dass es bei der Division keine Verbindung zum Armeeführer gebe, dass dort offensichtlich nicht alle umgekommen seien, denn durch Feuer und Rauch hindurch seien Menschen zu sehen, die am Ufer stünden, doch weder vom Festland noch von der Wolga aus im Boot könne man sich zu ihnen durchschlagen – die Wolga brenne. Batjuk sei mit der Stabsschutzkompanie am Ufer zum Brand geeilt, um zu versuchen, den Feuerstrom abzuleiten und den Leuten, die am Ufer standen, aus dem Feuer herauszuhelfen.

Nachdem er den Stabschef angehört hatte, sagte Sacharow: »Sagen Sie Tschuikow, wenn er lebt, sagen Sie Tschuikow …«, und verstummte.

Die Telefonistin, verwundert über die lange Pause, erwartete das Lospoltern der heiseren Generalsstimme und warf einen zaghaften Blick auf Sacharow – der stand da und hielt ein Taschentuch an die Augen gepresst.

In dieser Nacht kamen vierzig Stabsführer in den zerstörten Unterständen im Feuer um.

10

Krymow war kurz nach dem Brand der Öltanks nach Stalingrad gekommen.

Tschuikow hatte den neuen Gefechtsstand am Fuß der Wolga-Uferböschung in der Stellung des Schützenregiments untergebracht, das der Division Batjuks angegliedert worden war. Tschuikow hatte den Unterstand des Regimentskommandeurs, Hauptmann Michailow, besucht, den geräumigen, mit mehreren Deckenlagen befestigten Wohnbunker besichtigt und zufrieden genickt. Mit einem Blick auf das sommersprossige Gesicht des Hauptmanns, das einen bekümmerten Ausdruck trug, hatte er fröhlich zu ihm gesagt: »Ihren Unterstand, Genosse Hauptmann, haben Sie nicht Ihrem Rang gemäß gebaut.«

Der Regimentsoffizier hatte sein schlichtes Mobiliar gepackt und war zehn, zwanzig Meter weiter wolgaabwärts gezogen. Dort hatte der rothaarige Michailow seinerseits den Kommandeur seines Bataillons energisch verdrängt.

Der Bataillonsführer, der nun ohne Unterkunft war, ließ seine Kompanieführer unbehelligt (die ohnehin schon sehr eng aufeinander wohnten) und befahl stattdessen, dass ein neuer Wohnbunker für ihn direkt auf dem Hochplateau ausgehoben würde.

Als Krymow im Gefechtsstand der 62. Armee ankam, waren die Pionierarbeiten dort in vollem Gange; Laufgräben wurden zwischen den Stabsabteilungen angelegt und Straßen und Querstraßen, die die Bewohner der Politabteilung, die Operationsoffiziere und Artilleristen untereinander verbinden sollten.

Zweimal sah Krymow den Armeechef selbst – er war hinausgegangen, um die Bauarbeiten zu inspizieren.

Wahrscheinlich nirgendwo sonst auf der Welt wurde der Bau von Unterkünften so ernst genommen wie in Stalingrad. Nicht um der Wärme willen und nicht als Beispiel für die Nachwelt wurden die Stalingrader Unterstände gebaut. Die Chance, das nächste Morgenrot und die nächste Mittagsstunde zu erleben, hing auf beängstigende Weise von der Stärke der Unterstandsabdeckung, der Tiefe der Laufgräben, der Nähe des Abtritts ab und davon, ob der Unterstand aus der Luft zu bemerken war.

Wenn man über einen Mann sprach, sprach man auch über seinen Unterstand.

»Ausgezeichnet hat Batjuk heute die Granatwerfer am Mamajew-Hügel eingesetzt … und übrigens, einen Unterstand hat der: mit einer Eichentür, so dick wie im Senat, kluger Mann …«

Oder manchmal hieß es: »Na, der musste heute Nacht türmen, hat seine Schlüsselposition verloren, hatte keine Verbindung zu seinen Unterabteilungen mehr. Sein Gefechtsstand war von der Luft aus zu sehen gewesen: Zeltumhang anstelle der Tür – sollte wohl gegen die Mücken sein. Der ist ’ne Niete. Ich hab gehört, dass ihm vor dem Krieg die Frau weggelaufen ist.«

Es gab viele Geschichten über die Unterstände und Wohnbunker von Stalingrad: die Geschichte, wie in den Stollen, in dem der Stab Rodimzews untergebracht war, plötzlich Wasser eingebrochen war und die ganze Kanzlei zum Ufer hinausgeschwemmt hatte – Witzbolde hatten auf der Karte die Mündungsstelle des Rodimzew-Stabes in die Wolga markiert. Die Geschichte, wie einmal die berühmten Türen aus Batjuks Bunker herausgeflogen waren. Und die Geschichte, wie in der Traktorenfabrik Scholudew mitsamt dem Stab im Unterstand verschüttet wurde.

Das Stalingrader Steilufer, das von einem dichten Netz von Unterständen durchzogen war, erinnerte Krymow an ein riesiges Kriegsschiff: Jenseits der einen Bordwand lag die Wolga, jenseits der anderen die undurchdringliche Wand des Feindfeuers.

Krymow hatte von der Politverwaltung den Auftrag erhalten, einen Streit zu schlichten, der zwischen dem Kommandeur und dem Kommissar des Schützenregiments in Rodimzews Division entstanden war.

Er machte sich zu Rodimzew auf und wollte dabei erst den Stabskommandeuren Meldung erstatten und dann die widrige Angelegenheit bereinigen.

Der Melder aus der Politabteilung der Armee führte ihn zu der steinernen Öffnung des breiten Stollens, der Rodimzews Stab beherbergte. Der Posten meldete den Bataillonskommissar aus dem Frontstab, und jemand sagte mit volltönender Stimme:

»Ruf ihn herein! Der macht sich sonst sicher in die Hose, weil er’s nicht gewöhnt ist.«

Krymow trat gebückt durch den niedrigen Bogen ein und stellte sich, während er die Blicke der Stabsoffiziere auf sich gerichtet fühlte, dem beleibten Regimentskommissar in der wattierten Soldatenjacke vor, der auf einer Konservenkiste saß.

»Aha, sehr angenehm. Einen Vortrag zu hören ist immer eine gute Sache«, sagte der Regimentskommissar. »Wir haben schon gehört, dass Manuilski und noch jemand ans linke Ufer gekommen sind, zu uns nach Stalingrad aber nicht kommen wollen.«

»Ich habe zudem vom Leiter der Politabteilung noch den Auftrag«, sagte Krymow, »einen Streitfall zwischen dem Kommandeur des Schützenregiments und dem Kommissar zu schlichten.«

»Ja, so einen Fall hatten wir«, antwortete der Kommissar, »gestern haben wir ihn geregelt: Auf den Gefechtsstand des Regiments fiel eine Bombe von einer Tonne Sprengkraft. Achtzehn Mann sind umgekommen, darunter der Regimentskommandeur und der Kommissar.«

Mit unerwarteter Offenheit fügte er hinzu:

»Jeder der beiden war irgendwie gerade das Gegenteil vom anderen, sogar im Äußeren: Der Kommandeur war ein einfacher Mann, Sohn eines Bauern, der Kommissar aber trug Handschuhe und einen Ring am Finger. Jetzt liegen sie beide nebeneinander.«

Doch da er ein Mensch war, der sich und andere stets in der Gewalt hat und sich nicht von einer Stimmung überwältigen lässt, fuhr er, jäh den Tonfall ändernd, mit heiterer Stimme fort:

»Als unsere Division vor Kotluban stand, musste ich einmal den Moskauer Berichterstatter, Pawel Fjodorowitsch Judin, im Auto an die Front fahren. Ein Mitglied des Kriegsrats hatte zu mir gesagt: ›Wenn er auch nur ein Haar verliert, reiß ich dir den Kopf ab.‹ Abgerackert hab ich mich mit ihm. Kaum tauchte ein Flugzeug auf, gingen wir sofort im Sturzflug in den Straßengraben. Ich passte auf, hatte keine Lust, den Kopf zu verlieren. Doch auch Genosse Judin nahm sich in Acht, legte Initiative an den lag.«

Die Leute, die ihrem Gespräch zuhörten, lachten, und Krymow spürte wieder Gereiztheit über diesen herablassenden, geringschätzigen Ton in sich aufsteigen.

Gewöhnlich entwickelte Krymow guten Kontakt zu den Frontkommandeuren, und seine Beziehungen zu den Stabsoffizieren und sogar zu den leicht reizbaren und es nicht immer aufrichtig mit ihren Mitmenschen meinenden Politkommissaren gestalteten sich durchaus erträglich. Aber dieser Divisionskommissar hier irritierte ihn: Kaum ein Jahr an der Front, hielt er sich schon für einen Veteranen. Bestimmt war der gerade erst vor dem Krieg in die Partei eingetreten und hatte schon etwas gegen Engels.

Doch auch den Divisionskommissar reizte offenbar etwas an Krymow.

Selbst als der Adjutant ihm das Nachtlager richtete und ihn mit Tee bewirtete, wurde Krymow dieses Gefühl nicht los.

Fast jeder Truppenteil hatte seinen eigenen Kommunikationsstil, der ihn von anderen unterschied. Im Stab der Rodimzew-Division brüstete man sich ständig mit dem jungen General.

Nachdem Krymow das Gespräch beendet hatte, begann man ihn auszufragen.

Der Stabsführer Welski, der neben Rodimzew saß, fragte: »Wann, Genosse Berichterstatter, eröffnen denn die Alliierten eine zweite Front?«

Der Divisionskommissar, der halb auf der schmalen, an die Steinwand des Stollens montierten Pritsche gelegen hatte, setzte sich auf, spielte mit den Händen im Heu und meinte:

»Warum so eilig. Mich interessiert mehr, wie unser Kommando vorzugehen gedenkt.«

Krymow warf dem Kommissar missmutig einen schrägen Blick zu und sagte: »Da Ihr Kommissar die Frage so stellt, ist es nicht an mir, zu antworten, sondern am General.«

Alle blickten auf Rodimzew. Der machte eine Handbewegung über dem Kopf und sagte: »Ein großer Mann kann sich hier nicht aufrichten – wir sind eben in einer Röhre. Was ist das schon – Verteidigung? Dabei kann man sich keine höheren Verdienste erwerben. Aber aus dieser Röhre heraus angreifen geht nicht. Wir wären schon froh, wenn wir Reserven ansammeln könnten. Aber auch das geht hier nicht.«

Da läutete das Telefon, Rodimzew nahm den Hörer ab.

Alle Blicke richteten sich auf ihn.

Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, beugte er sich zu Welski hinüber und sagte leise ein paar Worte. Der wollte nach dem Telefon greifen, doch Rodimzew legte die Hand auf den Apparat und sagte:

»Wozu? Hören Sie denn nicht?«

Vieles war zu hören in dem steinernen Gewölbe des Stollens, der von flackernden, rauchenden Lampen aus Geschosshülsen beleuchtet wurde. Feuerstöße ratterten schnell hintereinander über die Köpfe der Umsitzenden hinweg wie Karren über eine Brücke. Von Zeit zu Zeit spürte man Erschütterungen durch explodierende Handgranaten. Die Geräusche hallten im Stollen stark wider.

Rodimzew rief mal den einen, mal den anderen Stabsangehörigen zu sich, und wieder hielt er den Hörer des ungeduldig klingelnden Telefons ans Ohr.

Für einen Augenblick fing er Krymows Blick auf, der Berichterstatter saß in seiner Nähe; er lächelte ihm freundlich zu und sagte zu ihm:

»Das Wolgawetter ist umgeschlagen, Genosse Berichterstatter.«

Das Telefon läutete jetzt ohne Unterlass. Den Gesprächen Rodimzews lauschend, verstand Krymow ungefähr, was sich abspielte. Der Stellvertreter des Divisionskommandeurs, der junge Oberst Borissow, ging zum General, beugte sich über die Kiste, auf der der Plan von Stalingrad ausgebreitet lag, und zog mit energischer, eindrucksvoller Geste eine dicke blaue Linie entlang der Senkrechten, die die rote punktierte Linie der sowjetischen Verteidigung bis zur Wolga hin durchschnitt. Borissow sah Rodimzew mit seinen dunklen Augen bedeutungsvoll an. Plötzlich erhob sich Rodimzew, als er aus dem Halbdunkel einen Mann im Zeltumhang auf sich zukommen sah.

An Gang und Gesichtsausdruck des Ankömmlings war sogleich zu erkennen, woher er kam – eine unsichtbare, heiße Wolke hüllte ihn ein. Bei schnellen Bewegungen schien nicht der Umhang zu rascheln, sondern die Elektrizität zu knistern, mit der dieser Mann aufgeladen war.

»Genosse General«, rief er klagend, »er hat mich verjagt, der Hund, in die Schlucht hat er sich eingeschlichen, stößt zur Wolga vor. Ich brauche Verstärkung.«

»Haltet den Gegner um jeden Preis auf. Reserven habe ich nicht«, sagte Rodimzew.

»Um jeden Preis aufhalten«, antwortete der Mann im Umhang, und allen war klar, dass er, als er sich umwandte und zum Ausgang schritt, wusste, welchen Preis er zahlen würde.

»Hier nebenan?«, fragte Krymow und deutete auf der Karte auf die gewundene Ader der Schlucht.

Doch Rodimzew hatte keine Zeit mehr zu antworten. In der Röhrenöffnung waren Pistolenschüsse zu hören, flackerte rotes Wetterleuchten von Handgranaten.

Man hörte einen durchdringenden Kommandopfiff. Der Stabsführer stürzte auf Rodimzew zu und schrie:

»Genosse General, der Gegner ist in unseren Gefechtsstand eingedrungen!«

Plötzlich war der Divisionskommandeur, der scheinbar so ruhig gesprochen und mit Buntstift die Lageveränderung auf der Karte eingetragen hatte, verschwunden. Verschwunden war auch der Eindruck, dass der Krieg in steinernen Ruinen und von hohem Gestrüpp überwucherten Schluchten mit Hilfe von Chromstahl, Kathodenlampen und Funkausrüstung geführt würde. Der Mann mit den schmalen Lippen schrie wild:

»Auf, Genossen vom Divisionsstab! Vertraut den Handwaffen! Greift zu den Granaten und mir nach, wir schlagen den Feind zurück!«

Seine Stimme und seine Augen, die mit einem raschen, gebieterischen Blick über Krymow hinwegglitten, waren erfüllt von eisig brennendem Kampfgeist. Einen Augenblick lang schien es, als läge die Stärke dieses Mannes nicht in seiner Erfahrung und seiner Kartenkenntnis, sondern in seiner grausamen, ungezügelten, wilden Seele.

Ein paar Minuten später stürzten die Stabsoffiziere, Schreiber, Melder und Telefonisten, sich gegenseitig unbeholfen und hastig hinausschiebend, aus dem Stollen; allen voran lief mit leichtem Schritt, vom Schein des flackernden Gefechtsfeuers erhellt, Rodimzew und wandte sich der Schlucht zu, aus der Detonationen, Schüsse, Schreie und Flüche zu hören waren.

Krymow gelangte, atemlos vom Lauf, als einer der Ersten an den Rand der Schlucht. Als er hinuntersah, empfand er Ekel, Angst und Hass zugleich. Auf dem Grund der Kluft huschten verschwommene Schatten, flammten Mündungsblitze auf und verloschen wieder, glühten grüne und rote Lichter auf, und die Luft war erfüllt vom ununterbrochenen metallischen Pfeifen der Geschosse. Krymow war, als blicke er in eine riesige Schlangengrube, in der Hunderte aufgestörter giftiger Wesen, zischend und mit den Augen funkelnd, mit schnellen Bewegungen im trockenen Gestrüpp raschelnd, durcheinanderwimmelten.

Voller Wut, Ekel und Angst begann er, mit dem Gewehr auf die in der Dunkelheit aufflammenden Lichtblitze und die rasch über die Abhänge der Schlucht huschenden Schatten zu schießen.

Zwanzig, dreißig Meter von ihm entfernt tauchten die Deutschen auf dem Kamm der Schlucht auf. Kurz nacheinander krachten Handgranaten und erschütterten Luft und Erde – der deutsche Stoßtrupp strebte auf die Öffnung des Stollens zu.

Schatten von Menschen huschten durch das Dunkel, Mündungsfeuer blitzten auf, hier wurde ein Schrei ausgestoßen, dort erstarb ein Stöhnen. Es war, als kochte ein großer schwarzer Kessel, und Krymow versank ganz in diesem Brodeln und Sieden, mit Körper und Seele, er konnte nicht mehr denken und fühlen, wie er früher gedacht und gefühlt hatte. Bald glaubte er, die Bewegung des Strudels zu steuern, der ihn ergriffen hatte, dann erfasste ihn wieder die Angst vor dem Tod, und es war ihm, als flösse ihm die dichte, klebrige Dunkelheit in die Augen und Nasenlöcher wie Teer, als gäbe es schon keine Luft mehr zu atmen und keinen Sternenhimmel mehr über ihm, als gäbe es nur die Finsternis, die Schlucht und diese grauenvollen Wesen, die im Gestrüpp raschelten.

Und obgleich überall um ihn nur Chaos und Verwirrung herrschten, wurde in ihm ein Gefühl immer stärker, hell und klar wie das Tageslicht: das Gefühl der Verbundenheit mit den Männern, die neben ihm die Böschung entlangkrochen, das Gefühl der eigenen Kraft, die sich mit der Kraft der neben ihm Kämpfenden vereinte, das Gefühl der Freude, dass sich da irgendwo neben ihm Rodimzew befand.

Dieses erstaunliche Gefühl, erwacht im nächtlichen Gefecht, wo man auf drei Schritte nicht unterscheiden konnte, wer neben einem war – ein Freund oder der Feind, bereit, einen zu töten –, verband sich mit etwas anderem, nicht minder Erstaunlichem und Unerklärlichem: dem Gespür für den allgemeinen Gefechtsverlauf, das den Kämpfern die Möglichkeit gab, das wahre Kräfteverhältnis im Kampf zu beurteilen und den Ablauf des Kampfes vorauszuahnen.

11

Die Ahnung vom Gesamtausgang der Schlacht, die ein Mensch hat, von den anderen abgesondert durch Rauch und Feuer, vom Kampf betäubt, erweist sich oft als zutreffender als die Beurteilung des Gefechtsausgangs, zu der man auf der Generalstabskarte gekommen ist.

Am Wendepunkt des Gefechts geschieht manchmal eine überraschende Veränderung, wenn der angreifende Soldat, der sein Ziel schon erreicht zu haben glaubt, sich bestürzt umblickt und die Kameraden nicht mehr sieht, mit denen er brüderlich vereint das Ziel in Angriff genommen hat, der Gegner aber, den er die ganze Zeit über als vereinzelt, schwach und dumm wahrgenommen hat, nun zur Masse und deshalb unüberwindlich wird. An diesem Wendepunkt des Gefechts – klar erkennbar für die, die ihn überleben, geheimnisvoll und unerklärlich für jene, die versuchen, ihn von außen vorauszuahnen und zu verstehen –, an diesem Wendepunkt vollzieht sich eine seelische Veränderung in der Wahrnehmung der Wirklichkeit: Das kühne, überlegene »Wir« verwandelt sich in das zaghafte, zerbrechliche »Ich«, und der glücklose Gegner, den man als vereinzeltes Jagdziel wahrgenommen hat, verwandelt sich in das erschreckende, bedrohlich zusammengeballte »Sie«.

Vorher hatte der – sich erfolgreich vorwärts kämpfende – Angreifer alles Kampfgeschehen als Widerstand im Einzelnen aufgefasst: Eine Geschossexplosion … ein Feuerstoß aus dem Maschinengewehr … da ist er, ja dieser, hinter der Deckung schießt er, jetzt rennt er, er kann nicht anders als rennen, denn er ist ja allein, allein, weil er von jenem vereinzelten Geschütz, von diesem vereinzelten Maschinengewehr, von seinem ebenfalls allein schießenden Kampfgefährten abgeschnitten wurde; ich aber – das sind wir, ich – das ist die ganze riesige, zum Angriff schreitende Infanterie, ich – das ist die mich unterstützende Artillerie, ich – das sind die mich unterstützenden Panzer, ich – das ist die Leuchtkugel, die unseren gemeinsamen Gefechtsschauplatz beleuchtet. Und plötzlich steht dieses Ich allein da, und alles, was vereinzelt und deshalb schwach gewesen war, schließt sich zur furchtbaren Einheit des feindlichen Gewehr-, Maschinengewehr-, Artilleriefeuers zusammen, und ich habe schon keine Kraft mehr, die mir helfen könnte, diese Einheit zu überwinden. Die Rettung liegt in meiner Flucht, darin, dass ich meinen Kopf in Deckung bringe, Schulter, Stirn und Kinnbacken bedecke.

Und so beginnen jene, die im Dunkel der Nacht dem plötzlichen Ansturm zunächst nachgegeben und sich anfangs schwach und allein gefühlt haben, die Einheit des auf sie einstürmenden Gegners aufzuspalten und die eigene Einheit zu spüren, in der die Kraft zum Siegen liegt.

Im Begreifen dieses Übergangs besteht oft das, was dem Kriegshandwerk das Recht gibt, sich Kunst zu nennen.

In dieser Wahrnehmung von Vereinzelung und Masse, in diesem Übergang vom Begriff Vereinzelung zum Begriff Masse, der sich im Bewusstsein vollzieht, verketten sich nicht nur die Ereignisse bei nächtlichen Sturmeinsätzen von Kompanien und Bataillonen, sondern liegt auch ein Hinweis auf die militärischen Anstrengungen der kämpfenden Armeen und Völker.

Es gibt nur eine Empfindung, die den Gefechtsteilnehmern fast gänzlich verlorengeht, nämlich das Zeitgefühl. Das junge Mädchen, das auf einem Neujahrsball die Nacht bis zum Morgen durchgetanzt hat, kann keine Antwort auf die Frage geben, ob es die Zeit auf dem Ball als lang oder, im Gegenteil, als kurz empfunden habe.

Der Häftling, der fünfundzwanzig Jahre gesessen hat, sagt: »Mir scheint, dass ich in der Festung eine Ewigkeit verbracht habe, und gleichzeitig kommt es mir so vor, als wären es nur ein paar Wochen gewesen.«

Für das Mädchen war die Nacht voller Augenblickserlebnisse gewesen – Blicke, Musikfetzen, Lächeln, Berührungen –, jedes dieser Erlebnisse erschien so flüchtig, dass im Bewusstsein kein Gefühl von etwas zeitlich Andauerndem haftenblieb. Doch die Summe dieser kurzen Erlebnisse erzeugt das Gefühl, eine lange, von aller Freude des menschlichen Lebens erfüllte Zeit verbracht zu haben.

Beim Häftling in der Leningrader Schlüsselburg ist das Gegenteil der Fall – seine fünfundzwanzig Gefängnisjahre setzten sich aus zermürbend langen, einzelnen Zeitabschnitten zusammen, vom Morgenappell bis zum Abendappell, vom Frühstück bis zum Mittagessen. Doch die Summe dieser dürftigen Ereignisse brachte eine neue Empfindung hervor, in der dämmrigen Eintönigkeit der Monats- und Jahreswechsel schrumpfte die Zeit, wurde kürzer … So entstand die gleichzeitige Empfindung von Kürze und Endlosigkeit, so stellte sich bei den Menschen auf dem Neujahrsball und denen in jahrzehntelanger Gefängnishaft eine ähnliche Empfindung ein. In beiden Fällen erzeugt die Summe der Erlebnisse das gleichzeitige Gefühl von Dauer und Kürze.

Komplizierter ist der Veränderungsprozess im Gefühl für die Länge und Kürze der Zeit, den ein Mensch in der Schlacht durchmacht. Hier vollzieht sich etwas anderes, hier verzerren und entstellen sich die einzelnen, ursprünglichen Eindrücke. In der Schlacht ziehen sich Sekunden in die Länge, und Stunden werden zusammengepresst. Die Empfindung von etwas lang Dauerndem verknüpft sich mit blitzartigen Geschehnissen – mit dem Pfeifen von Geschossen und Fliegerbomben, mit den Feuerblitzen von Schüssen und Explosionen.

Das Gefühl von Kürze entsteht bei zeitlich in die Länge gezogenen Vorgängen – dem Vorschieben über ein aufgepflügtes Feld unter Feindfeuer, dem Kriechen von einer Deckung zur anderen.

Der Nahkampf aber findet außerhalb der Zeit statt. Hier zeigt sich die Unbestimmtheit sowohl in den Teilereignissen als auch im Ergebnis, hier verformt sich sowohl die Summe als auch jeder ihrer einzelnen Bestandteile.

Sich summierende Teilereignisse aber gibt es hier in endloser Fülle.

Das Gefühl für die Dauer des Kampfes ist so tiefgreifend entstellt, dass man nur noch von völliger Ungewissheit sprechen kann – es hat mit dem Gefühl für lange oder kurze Zeitdauer nichts mehr zu tun.

In jenem Chaos, in dem sich blendendes Licht und blendende Finsternis, Schreie, Explosionsdonner und das Rattern von Maschinenpistolen mischten, in dem Chaos, das das Zeitgefühl in Stücke riss, begriff Krymow mit überwältigender Klarheit: Die Deutschen sind geschlagen, die Deutschen sind besiegt. Er begriff dies genauso wie die Schreiber und Melder, die neben ihm kämpften – rein intuitiv.

12

Die Nacht war zu Ende. Das versengte Steppengras war von den Leichen der Gefallenen übersät. Freudlos und düster atmete an den Ufern das schwere Wasser. Trauer erfasste die Menschen beim Anblick der aufgerissenen Erde, der leeren Würfel ausgebrannter Häuser.

Ein neuer Tag begann, und der Krieg machte sich bereit, ihn großzügig bis an den Rand mit Rauch, Schutt, Eisen und blutigen Verbänden zu füllen. Und diesem Tag würden ebensolche Tage folgen. Da war nichts mehr auf der Welt als diese vom Eisen aufgepflügte Erde, als der in Flammen stehende Himmel.

Krymow saß auf einer Kiste, hatte den Kopf gegen die steinerne Verkleidung des Stollens gelehnt und döste.

Er hörte die undeutlichen Stimmen der Stabsoffiziere, hörte das Klirren von Tassen – der Divisionskommissar und der Stabschef tranken Tee und unterhielten sich mit verschlafenen Stimmen. Sie sagten, dass sich der gefangengenommene Deutsche als Pionier entpuppt habe; sein Bataillon war vor einigen Tagen in Flugzeugen aus Magdeburg an die Front geworfen worden. In Krymows Gehirn tauchte eine Abbildung aus einem Schulbuch auf: Zwei schwere Lastgäule, von Treibern mit kegelförmigen Kappen angetrieben, versuchen, zwei Halbinseln auseinanderzureißen, die sich im Vakuum aneinander festgesaugt haben. Und das Gefühl von Langeweile, das diese Abbildung in seiner Kindheit in ihm hervorgerufen hatte, überkam ihn aufs Neue.

»Das ist gut«, sagte Welski, »das bedeutet, dass sie die Reserven angegriffen haben.«

»Ja, natürlich ist das gut«, stimmte Kommissar Wawilow zu, »der Divisionsstab geht zum Gegenangriff über.«

Da hörte Krymow die halblaute Stimme Rodimzews: »Wartet erst mal ab, das ist nur der Anfang.«

Es schien, als habe Krymow seine ganze seelische Kraft in diesem nächtlichen Kampf aufgebraucht. Um Rodimzew sehen zu können, hätte er den Kopf drehen müssen, doch Krymow drehte den Kopf nicht. »So leer fühlt sich wahrscheinlich ein Brunnen, aus dem man das ganze Wasser herausgeschöpft hat«, dachte er. Wieder döste er ein, und die halblauten Stimmen und die Detonationen wurden zu einem eintönigen Rauschen.

Doch da drang ein neues Bild in Krymows Gehirn; es war ihm, als sei er wieder ein Kind, läge in einem Zimmer mit geschlossenen Fensterläden und verfolge einen Fleck des Morgenlichts auf der Tapete. Der Fleck wanderte bis zur Kante des Wandspiegels und entfaltete sich zu einem Regenbogen. Das Herz des Jungen erbebte, und der Mann mit den grauen Schläfen und der schweren Pistole am Gürtel schlug die Augen auf und schaute sich um.

Mitten im Stollen stand, in der Soldatenbluse und die Feldmütze mit dem grünen Frontstern auf dem gesenkten Kopf, ein Musikant und spielte Geige.

Wawilow, der gesehen hatte, dass Krymow aufgewacht war, beugte sich zu ihm und sagte: »Das ist unser Friseur, Rubintschik, ein gro-o-ßer Meister!«

Manchmal unterbrach jemand rücksichtslos mit einem groben Scherz das Spiel, manchmal fragte jemand, den Musikanten übertönend: »Gestatten Sie, dass ich mich an Sie wende?«, und rapportierte dem Stabschef, dann wieder klapperte ein Löffel in einem Blechnapf, oder jemand gähnte lang anhaltend: »Ocho- cho-cho-cho …«, und begann, das Heu aufzuschütteln.

Der Friseur achtete sorgfältig darauf, dass sein Spiel die Offiziere nicht störte, und war bereit, jederzeit aufzuhören.

Doch warum trat Jan Kubelik, der in diesen Minuten in Krymows Erinnerung auftauchte, grauhaarig, im schwarzen Frack, nach einer Verbeugung vor dem Stabsfriseur ab? Warum brachte das dünne, zittrige Geigenstimmchen, das eine einfache Melodie sang, in diesen Minuten stärker als Bach und Mozart die ganze unermessliche Tiefe der menschlichen Seele zum Ausdruck?

Wieder, zum tausendsten Mal, verspürte Krymow den Schmerz der Einsamkeit. Genia hatte ihn verlassen …

Wieder dachte er mit Bitterkeit, dass Genias Abschied die ganze Mechanik seines Lebens aufgedeckt hatte; er war zurückgeblieben, doch es gab ihn nicht mehr. Und sie war fortgegangen.

Wieder dachte er, dass er sich selbst viel Schlimmes, erbarmungslos Grausames werde eingestehen müssen … Er konnte nicht ständig die Augen verschließen, Angst haben …

Es war ihm, als ließe ihn die Musik die Zeit verstehen.

Die Zeit ist ein gespenstisches Medium, in welchem Menschen entstehen, sich bewegen und spurlos verschwinden. In der Zeit entstehen und verschwinden ganze Städte. Die Zeit bringt sie und trägt sie dann wieder fort.

Doch in ihm erwachte ein anderes, ganz besonderes Verständnis für die Zeit. Es bedeutete: »Meine Zeit ist nicht unsere Zeit.«

Die Zeit rinnt in den Menschen und in ein Zarenreich, nistet sich in ihnen ein, und plötzlich verschwindet sie, doch Mensch und Reich bleiben; das Reich ist geblieben, doch seine Zeit ist vorüber, den Menschen gibt es, aber seine Zeit ist verschwunden. Wo ist sie? Da ist der Mensch, er atmet, denkt, weint, aber die einzige, besondere, nur mit ihm verknüpfte Zeit ist vergangen, weggeschwommen, verflossen. Und er bleibt zurück.

Das Schwierigste ist, ein Stiefsohn der Zeit zu sein. Es gibt nichts Schwereres als das Los des Stiefsohns, der nicht in seiner Zeit lebt. Stiefsöhne der Zeit erkennt man sofort – in den Kaderabteilungen, den Bezirkskomitees der Partei, in den politischen Abteilungen der Armee, in den Redaktionen, auf der Straße … Die Zeit liebt nur die, die sie geboren hat – ihre eigenen Kinder, Helden, Gestalter. Niemals, niemals wird sie die Kinder einer vergangenen Zeit lieb gewinnen, und die Frauen lieben keine Helden einer vergangenen Zeit, und die Stiefmütter lieben keine fremden Kinder.

So ist das mit der Zeit – alles vergeht, aber sie bleibt. Alles bleibt, nur die Zeit allein vergeht. Wie leicht und lautlos vergeht sie! Gestern warst du noch so sicher, fröhlich, stark, ein Sohn der Zeit. Und heute ist eine andere Zeit gekommen, doch du hast das noch nicht begriffen.

Die Zeit, im Kampf zerfetzt, erstand wieder im Geigenspiel des Friseurs Rubintschik. Den einen sagte die Geige, ihre Zeit sei gekommen, anderen wieder, ihre Zeit werde vergehen.

»Vorbei, vorbei«, dachte Krymow.

Er betrachtete das ruhige, gutmütige Gesicht Kommissar Wawilows. Wawilow schlürfte Tee aus seinem Henkelnapf, kaute gewissenhaft und langsam ein Wurstbrot; seine undurchdringlichen Augen waren auf den in der Stollenöffnung schimmernden Lichtfleck gerichtet.

Rodimzew zog fröstelnd die Schultern unter dem Soldatenmantel hoch und betrachtete mit klarem, ruhigem Gesicht aufmerksam den Musikanten aus nächster Nähe. Ein pockennarbiger, grauhaariger Oberst, der Artillerieführer der Division, prüfte eine vor ihm liegende Karte; er hatte die Stirn in Falten gelegt, was seinem Gesicht einen fast grimmigen Ausdruck verlieh, und nur seine traurigen, gütigen Augen verrieten, dass er nicht die Karte ansah, sondern lauschte. Welskis Feder flog über das Papier; er schrieb seinen Bericht an den Armeestab; er schien völlig in seine Arbeit vertieft, doch er schrieb mit gesenktem Kopf und hatte das Ohr dem Geiger zugewandt. Die anderen, die Telefonisten, die Melder, die Schreiber, saßen ein wenig abseits, und auf ihren erschöpften Gesichtern, in ihren Augen lag etwas Andächtiges, wie im Gesicht eines Bauern, der gemächlich ein Stück Brot verzehrt.

Plötzlich erinnerte sich Krymow an eine Sommernacht – große, dunkle Augen einer jungen Kosakin, ihr heißes Flüstern … Schön war es doch, das Leben.

Als der Geiger sein Spiel beendet hatte, hörte man ein leises Plätschern – unter den Holzbohlen floss Wasser, und Krymow schien es, als sei seine Seele ebendieser unsichtbare Brunnen, der leer und trocken war und sich nun sehr langsam wieder mit Wasser füllte.

Eine halbe Stunde später rasierte der Geiger Krymow und erkundigte sich mit dem übertriebenen und gewöhnlich leicht komisch anmutenden Ernst des Barbiers, ob denn Krymow mit der Rasur zufrieden sei; dann prüfte er mit der Handfläche, ob Krymows Backenknochen gut rasiert waren. Im finsteren Reich aus Erde und Eisen verbreitete sich ein trauriger, absurder Geruch, ein seltsamer, durchdringender Duft nach Eau de Cologne und Reispuder.

Rodimzew kniff die Augen zusammen, als er den mit Eau de Cologne besprühten und bepuderten Krymow betrachtete, nickte befriedigt und sagte: »Na denn, hast den Gast nach bestem Wissen und Gewissen rasiert. Also los, nimm jetzt auch mich unter die Klinge.«

Die großen, dunklen Augen des Geigers füllten sich mit Glück. Nach eingehender Betrachtung von Rodimzews Kopf entfaltete er mit rascher Handbewegung eine weiße Serviette und sagte: »Vielleicht sollten wir die Schläfen doch zurechtstutzen, Genosse Gardegeneralmajor?«

13

Nach dem Brand der Öltanks begab sich Generaloberst Jeremenko zu Tschuikow nach Stalingrad.

Diese gefährliche Reise hatte überhaupt keinen praktischen Sinn. Allein aus seelischen, aus menschlichen Gründen war sie notwendig geworden, und Jeremenko verlor drei Tage beim Warten darauf, dass er übergesetzt würde.

Die hellen Wände des Bunkers in Krasni Sad strahlten Ruhe aus, angenehm war der Schatten der Apfelbäume bei den Morgenspaziergängen des Befehlshabers.

Der ferne Donner und das Feuer Stalingrads vereinigten sich mit dem Rascheln der Blätter und dem Klagen des Schilfs, und in diesem Zusammenklang lag etwas so unsagbar Quälendes, dass der Befehlshaber bei seinen Morgenspaziergängen stöhnte und fluchte.

Am Morgen teilte Jeremenko Sacharow seinen Entschluss mit, nach Stalingrad zu fahren, und befahl ihm, das Kommando zu übernehmen.

Er scherzte mit der Kellnerin, die das Tischtuch fürs Frühstück zubereitete, erlaubte dem Stellvertreter des Stabschefs, für zwei Tage nach Saratow zu fliegen, und gab der Bitte General Trufanows, des Befehlshabers einer der Steppenarmeen, nach, indem er ihm versprach, den mächtigen Artillerieknotenpunkt der Rumänen zu bombardieren. »Schon gut, schon gut, ich gebe dir die Langstreckenflugzeuge«, sagte er.

Die Adjutanten suchten zu erraten, was die gute Laune des Befehlshabers bewirkt haben mochte. Gute Nachrichten von Tschuikow? Ein erfreuliches Gespräch über das geheime Hochfrequenztelefon? Ein Brief von zu Hause?

Doch Nachrichten dieser Art blieben ja gewöhnlich den Adjutanten nicht verborgen: Moskau hatte den Befehlshaber nicht angerufen, und die Neuigkeiten von Tschuikow waren keineswegs erfreulich.

Nach dem Frühstück zog der Generaloberst seine wattierte Jacke an und begab sich auf seinen Spaziergang. Auf zehn Schritte Entfernung folgte ihm der Adjutant Parchomenko. Der Befehlshaber ging wie immer in gemächlichem Tempo; ein paarmal kratzte er sich am Schenkel und blickte zur Wolga hinüber.

Jeremenko begab sich zu den Soldaten des Arbeiterbataillons, die eine Grube ausschachteten. Es waren ältere Männer mit von der Sonne dunkelbraun gebrannten Nacken. Ihre Gesichter waren finster und missmutig. Sie arbeiteten schweigend und schauten verärgert auf den beleibten Mann mit der grünen Feldmütze, der müßig am Rande der Grube stand.

Jeremenko fragte: »Sagt mal, Leute, wer von euch arbeitet am schlechtesten von allen?«

Den Soldaten des Arbeiterbataillons kam die Frage gelegen, sie waren es leid, mit den Schaufeln zu hantieren. Die Soldaten schielten alle zusammen zu einem Kerl hinüber, der sich die Hosentasche umgekrempelt hatte und gerade Machorka-Mulm und Brotkrümel in die hohle Hand schüttete.

»Der da«, sagten zwei der Soldaten und blickten die übrigen fragend an.

»Aha«, meinte Jeremenko ernst, »also der da. Das ist also der Oberfaulpelz.«

Der Soldat seufzte mit Würde, schaute Jeremenko mit sanften, ernsten Augen von unten herauf an und mischte sich dann nicht weiter in das Gespräch ein, da er offenbar zum Schluss gekommen war, dass alle diese Fragen keinen praktischen Sinn hatten, sondern nur einfach so, wegen der Geschichte oder zur Vervollständigung der Bildung, gestellt wurden.

Jeremenko fragte: »Und wer von euch arbeitet am besten?«

Da deuteten alle auf einen grauhaarigen Mann; die schütteren Haare schützten seinen Kopf genauso wenig vor der Sonne, wie spärliches Gras die Erde vor den Sonnenstrahlen bewahrt.

»Troschnikow, der da«, sagte einer, »der strengt sich sehr an.«

»Der ist gewohnt zu arbeiten. Kann sonst nichts mit sich anfangen«, bestätigten die Übrigen, so als wollten sie sich für Troschnikow entschuldigen.

Jeremenko kramte in seiner Hosentasche, zog eine in der Sonne funkelnde goldene Uhr heraus und reichte sie, sich mühsam vorbeugend, Troschnikow hin.

Der schaute Jeremenko verständnislos an.

»Nimm sie, das ist eine Belohnung für dich«, sagte Jeremenko.

Den Blick immer noch auf Troschnikow gerichtet, fuhr er fort:

»Parchomenko, stell die Auszeichnungsurkunde aus!«

Er ging weiter und hörte hinter seinem Rücken die erregten Stimmen der Erdarbeiter; sie staunten und lachten über das ungeahnte Glück des arbeitsgewohnten Troschnikow.

Zwei Tage wartete der Befehlshaber der Front darauf, übergesetzt zu werden. Die Verbindung zum rechten Ufer war in diesen Tagen fast abgebrochen. Die Panzerboote, denen es gelang, sich zu Tschuikow durchzuschlagen, bekamen auf ihrem wenige Minuten dauernden Weg fünfzig bis siebzig Treffer ab und erreichten das Ufer nur unter schweren Verlusten.

Jeremenko ärgerte sich, regte sich auf.

Nicht die Bomben und Granaten fürchtete das 62. Übersetzkommando, als es das deutsche Feuer hörte, sondern den Zorn des Befehlshabers. Für Jeremenko schienen die trägen Majore und unfähigen Hauptmänner schuld am Toben der deutschen Werfer, Kanonen und Kampfflugzeuge zu sein.

In der Nacht verließ Jeremenko den Bunker und stellte sich auf einen Sandhügel nahe am Wasser.

Die Kriegskarte, die sonst im Unterstand von Krasni Sad vor dem Befehlshaber der Front lag – hier dröhnte und rauchte sie, atmete Leben und Tod.

Er glaubte die punktierte Feuerlinie des von seiner Hand eingezeichneten Frontverlaufs zu erkennen, die dicken Keile der Paulus’schen Vorstöße zur Wolga, die von ihm mit Farbstift markierten Widerstandsnester und Munitionslagerplätze. Doch wenn er die auf dem Tisch ausgebreitete Karte studierte, fühlte er sich dazu imstande, die Frontlinie zu biegen und zu verschieben; er konnte die schwere Artillerie am linken Ufer aufheulen lassen. Dort, über seiner Karte, fühlte er sich als Herr und Meister.

Hier ergriff ihn ein völlig anderes Gefühl … Der Feuerschein über Stalingrad, der träge rollende Donner am Himmel – all das wirkte erschütternd durch seine gewaltige, vom Befehlshaber unabhängige Leidenschaft und Kraft.

Durch den Gefechts- und Explosionsdonner hindurch klang von den Fabriken herüber kaum hörbar ein langgezogener Ton: »A-a-a-aa …«

In diesem langgezogenen Schrei der zum Angriff schreitenden Stalingrader Infanterie schwang nicht nur etwas Bedrohliches, sondern auch Trauer und Schwermut mit.

»A-a-a-a-a«, tönte es über die Wolga herüber … Das kriegerische »Hurra« verlor auf seinem Weg über das kalte, nächtliche Wasser, unter den Sternen des Herbsthimmels gleichsam die Hitze der Leidenschaft, verwandelte sich, und plötzlich enthüllte sich etwas völlig anderes in ihm – nicht Heftigkeit und nicht verwegene Angriffslust, sondern die Traurigkeit der Seele: Es war, als nähme man von allen seinen Lieben Abschied, als wollte man sie aus dem Schlaf wecken, um ein letztes Mal der Stimme des Vaters, des Mannes, des Bruders zu lauschen.

Die Traurigkeit der Soldaten presste dem Generalobersten das Herz zusammen.

Der Krieg, den er als Befehlshaber zu lenken gewohnt war, zog ihn plötzlich in sich hinein; er stand hier, auf dem Treibsand, ein einsamer Soldat, betäubt vom gewaltigen Ausmaß des Feuers und des Donners, stand am Ufer, wie alle hier gestanden hatten, Tausende und Abertausende von Soldaten, und fühlte, dass der Krieg des ganzen Volkes größer war als sein eigenes Wissen, seine Macht und sein Wille. Vielleicht war es dieses Gefühl, das General Jeremenko in diesem Augenblick zur höchsten Einsicht in das Wesen des Krieges verhalf.

Gegen Morgen setzte er ans rechte Ufer über. Der telefonisch benachrichtigte Tschuikow kam ans Wasser und beobachtete die schnelle Fahrt des Panzerschiffs.

Jeremenko ging langsam von Bord. Unter seinem Gewicht bog sich die ans Ufer ausgefahrene Gangway nach unten. Mit ungeschickten Schritten kam er über das steinige Ufer auf Tschuikow zu.

»Guten Tag, Genosse Tschuikow«, sagte Jeremenko.

»Guten Tag, Genosse Generaloberst«, erwiderte Tschuikow.

»Ich bin gekommen, um nachzusehn, wie es euch hier geht. Du scheinst bei dem Ölbrand nichts abgekriegt zu haben. Hast immer noch so eine Mähne. Und nicht mal abgenommen hast du. Wir füttern dich doch nicht so schlecht.«

»Wie soll ich denn abnehmen, ich sitze Tag und Nacht im Unterstand«, entgegnete Tschuikow, und da ihm die Bemerkung des Befehlshabers, dass man ihn nicht schlecht füttere, beleidigend erschien, fügte er hinzu: »Aber was tu ich denn da, ich empfange ja einen Gast am Ufer!«

Und tatsächlich, Jeremenko ärgerte sich, weil Tschuikow ihn einen Gast in Stalingrad nannte. Als Tschuikow sagte: »Bitte, nur herein in meine Hütte«, erwiderte Jeremenko: »Mir gefällt’s auch hier, an der frischen Luft.«

Da ertönte die Lautsprecheranlage vom jenseitigen Ufer der Wolga.

Das Ufer – von Bränden, Leuchtkugeln und Explosionsblitzen erhellt – schien verödet. Hier verlosch ein Licht, dort flammte eines auf, zeigte sich sekundenlang als blendend weißer Blitz.

Jeremenko betrachtete eingehend das von Laufgräben und Unterständen ausgehöhlte Steilufer, die längs des Wassers aufgetürmten Steinhaufen – sie traten aus dem Dunkel hervor und verloren sich dann leicht und schnell wieder darin.

Eine gewaltige Stimme sang wuchtig und getragen:

»Soll Wogen gleich der edle Zorn aufwallen,

Es ist ein heil’ger Krieg, der Krieg von allen …«

Und da weder am Ufer noch auf der Böschung Menschen zu sehen waren, da alles im Umkreis – Erde, Wolga, Himmel – von Flammen erleuchtet war, schien es, als sänge der Krieg selbst dieses getragene Lied, als sänge er es ohne die Menschen und wälzte die wuchtigen Worte an ihnen vorüber.

Jeremenko empfand Unbehagen über die Art des Interesses, dass er für dieses Bild hatte. In der Tat, er war zu dem Hausherrn von Stalingrad wie zu Besuch gekommen. Es ärgerte ihn, dass Tschuikow offenbar wusste, was ihn dazu gebracht hatte, die Wolga zu überqueren, dass er wusste, welche Sorge und Angst den Befehlshaber der Front auf seinen Spaziergängen durch das raschelnde, trockene Schilf in Krasni Sad erfüllten.

Jeremenko fragte nun den Herrn dieser Feuerwüste aus – über die Manövrierung der Reserven, über das Zusammenwirken von Infanterie und Artillerie und über die Konzentration der Deutschen im Fabrikenbezirk. Er stellte Fragen, und Tschuikow antwortete in dem Ton, in dem man auf die Fragen des Oberkommandierenden zu antworten hatte.

Sie verstummten. Tschuikow hätte gerne gefragt: »Die größte Verteidigung in der Geschichte, aber wie wär’s trotzdem mit einer Offensive?«

Doch er sagte lieber nichts; Jeremenko hätte denken können, dass es den Verteidigern von Stalingrad vielleicht an Geduld mangelte, dass sie ihn bäten, die Last von ihren Schultern zu nehmen.

Plötzlich fragte Jeremenko: »Dein Vater und deine Mutter leben, glaube ich, im Gebiet Tula auf dem Land?«

»Jawohl, Genosse Befehlshaber.«

»Schreibt dir der Alte?«

»Jawohl, Genosse Befehlshaber. Er arbeitet noch.«

Sie sahen einander an. Die Gläser von Jeremenkos Brille färbten sich im Abglanz der Feuersbrunst rosa.

Es schien, als würden sie nun gleich auf das einzige Thema zu sprechen kommen, das beiden auf der Seele lag, nämlich die Bedeutung Stalingrads. Doch Jeremenko sagte: »Dich interessiert wahrscheinlich die Frage, die dem Befehlshaber der Front immer gestellt wird, die Frage nach dem Nachschub von Truppen und Munition?«

Das einzige Gespräch, das in dieser Stunde einen Sinn gehabt hätte, fand also nicht statt.

Der auf dem Uferkamm stehende Posten schaute zu ihnen hinunter; Tschuikow, der mit den Augen einem Geschoss folgte, hob den Blick und sagte: »Der Rotarmist denkt wahrscheinlich: Was stehen denn da für zwei Dummköpfe am Wasser?«

Jeremenko schnaufte und bohrte in der Nase.

Es kam der Moment, da man Abschied nehmen musste. Nach ungeschriebenem Gesetz verlässt ein Führer, der im Feuer steht, erst dann den Ort, wenn seine Untergebenen ihn darum bitten. Doch Jeremenkos Gleichgültigkeit der Gefahr gegenüber war so total und selbstverständlich, dass ihn diese Regeln nicht berührten.

Zerstreut und gleichzeitig scharf beobachtend, folgte er mit einer Wendung des Kopfes einer vorbeipfeifenden Granate.

»Na denn, Tschuikow, für mich ist’s Zeit zu gehen.«

Tschuikow stand noch einige Augenblicke am Ufer und sah dem davonfahrenden Panzerboot nach; das schaumige Kielwasser erinnerte ihn an ein weißes Taschentuch, so als winke ihm eine Frau zum Abschied.

Jeremenko stand an Deck und sah zum anderen Wolgaufer hinüber – es wogte auf und ab in dem diffusen Licht, das von Stalingrad ausging, während der Fluss, über den das Boot sprang, starr wie eine Steinplatte war.

Jeremenko ging verdrossen von einer Bordwand zur anderen. Zig Gedanken gingen ihm wie üblich durch den Kopf. Neue Aufgaben standen der Front bevor. Die Hauptsache war jetzt die Massierung von Panzerverbänden und die ihm vom Oberkommando aufgetragene Vorbereitung des Schlags auf die linke Flanke. Mit keinem Wort hatte er Tschuikow gegenüber etwas davon erwähnt.

Tschuikow kehrte in seinen Unterstand zurück, und der MP-Schütze, der am Eingang stand, der Melder im Gang, der auf seinen Anruf hin erschienene Stabschef der Gurjew-Division – alle, die aufsprangen, als sie seinen schweren Gang vernahmen, sahen, dass der Armeeoberbefehlshaber zerstreut war. Und das hatte seinen Grund.

Da schmolzen die Divisionen eine nach der anderen zusammen, da schnitten im Hin und Her der Angriffe und Gegenangriffe die deutschen Keile Meter um Meter kostbarer Stalingrader Erde ab. Da waren zwei frische Infanteriedivisionen aus der deutschen Etappe angekommen und im Bezirk der Traktorenfabrik massiert worden; sie verharrten in unheilverkündender Stille.

Nein, Tschuikow hatte dem Befehlshaber der Front gegenüber nichts von seinen Befürchtungen, Sorgen und schwarzen Gedanken geäußert.

Doch weder der eine noch der andere wusste, weshalb er so unzufrieden war. Das Wichtigste an der Begegnung ging über das eigentliche Geschehen hinaus, bestand in etwas, das sie beide nicht laut auszusprechen gewagt hatten.

14

Als Major Berjoskin an einem Oktobermorgen erwachte, dachte er an Frau und Tochter, an die überschweren Maschinengewehre, horchte auf den Geschützdonner, der ihm in dem Monat seines Stalingrader Daseins vertraut geworden war, rief den MP-Schützen Gluschkow und befahl ihm, Waschwasser zu bringen.

»Kaltes, wie Sie befohlen haben«, sagte Gluschkow lächelnd und freute sich über das Wohlbehagen, das die Morgenwäsche bei Berjoskin auslöste.

»Im Ural, wo meine Frau und meine Tochter sind, hat es wahrscheinlich schon ein bisschen geschneit«, sagte Berjoskin, »sie schreiben mir nicht, können Sie das verstehen?«

»Sie werden schon schreiben, Genosse Major«, sagte Gluschkow.

Während sich Berjoskin abtrocknete und das Feldhemd anzog, erzählte ihm Gluschkow, was in den Morgenstunden vorgefallen war.

»Beim Lebensmittelblock hat ein Geschoss eingeschlagen, den Lagerwart hat es erwischt, im zweiten Bataillon ist der stellvertretende Stabschef zum Austreten hinausgegangen und hat dabei einen Granatsplitter in die Schulter abgekriegt. Die Soldaten vom Pionierbataillon haben einen Zander gefangen, der von einer Bombe betäubt worden war; ungefähr fünf Kilo schwer; ich hab ihn mir angeschaut; sie haben ihn dem Bataillonskommandeur, Hauptmann Mowschowitsch, als Geschenk gebracht. Der Genosse Kommissar war da und hat angeordnet, dass Sie, wenn Sie aufgewacht sind, anrufen sollen.«

»In Ordnung«, sagte Berjoskin. Er trank eine Tasse Tee, aß Kalbsfußsülze, rief den Kommissar und seinen Stabschef an, sagte, dass er sich auf den Weg zum Bataillon mache, zog seine wattierte Jacke an und ging zur Tür.

Gluschkow schüttelte das Handtuch aus, hängte es an den Nagel, tastete nach der Granate an seiner Hüfte, klopfte sich die Tasche ab, ob der Tabak auch an seiner Stelle war, holte die Maschinenpistole aus der Ecke und folgte dem Regimentskommandeur.

Berjoskin trat aus dem halbdunklen Unterstand hinaus, das helle Licht blendete ihn. Das Bild vor ihm war seit einem Monat unverändert – das lehmige Geröll, die braune Böschung, ganz übersät mit den Flecken speckig gewordener Zeltplanen, die die Soldatenbunker abdeckten, die rauchenden Schornsteine der selbstgebauten Öfen. Darüber hoben sich die Fabrikgebäude, die keine Dächer mehr hatten, dunkel ab.

Weiter links zur Wolga hin ragten die Schlote der Fabrik »Roter Oktober« in den Himmel, türmten sich Güterwaggons um eine umgekippte Lokomotive auf, wie eine in Panik geratene Herde, die sich um den Leichnam ihres getöteten Leittieres zusammendrängt! Und noch weiter in der Ferne sah man das breite Spitzenband der Ruinen der toten Stadt: In Tausenden von Flecken leuchtete der Herbsthimmel hellblau durch die leeren Fensterhöhlen.

Zwischen den Fabrikhallen stieg Rauch auf, flackerte eine Flamme, und die klare Luft war gleichzeitig von langgezogenem Rauschen und von trockenem, abgehacktem Poltern erfüllt. Es schien, als liefe die Arbeit in den Fabriken auf vollen Touren.

Berjoskin musterte aufmerksam seine dreihundert Meter Erde, die Verteidigungsstellung des Regiments – sie verlief zwischen den kleinen Häusern einer Arbeitersiedlung. Sein morgendliches Gefühl half ihm, in dem Gewirr von Ruinen und kleinen Straßen herauszuspüren, in welchem Haus Rotarmisten Grütze kochten und in welchem deutsche MP-Schützen Speck aßen und Schnaps tranken.

Berjoskin duckte sich und fluchte, eine Granate kam durch die Luft gezischt.

Auf dem gegenüberliegenden Abhang der Schlucht verdeckte Rauch den Eingang eines der Unterstände, und gleich darauf folgte eine laute Explosion. Aus dem Unterstand schaute der Verbindungschef der Nachbardivision heraus – hemdsärmelig und in Hosenträgern. Er hatte kaum einen Schritt getan, als es wieder pfiff, der Verbindungschef zog sich schleunigst zurück und schlug die Tür zu – die Granate explodierte in einer Entfernung von ungefähr zehn Metern. In der Tür des Unterstandes, der an der Ecke von Schlucht und Wolga-Abhang lag, hatte Batjuk gestanden und das Ganze beobachtet.

Als der Verbindungschef einen Schritt vorwärts machen wollte, brüllte Batjuk: »Feuer!« – und die Deutschen feuerten, wie auf Bestellung, eine Granate ab.

Batjuk bemerkte Berjoskin und rief ihm zu: »Morgen, Nachbar!« Dieser Gang über den ungeschützten Pfad war im Grunde ein lebensgefährliches Unterfangen: Die Deutschen, ausgeschlafen und satt vom Frühstück, beobachteten den Pfad mit besonderem Interesse; ohne Munition zu sparen, schossen sie auf alles, was sich bewegte. An einer Wegbiegung blieb Berjoskin bei einem Schrotthaufen stehen, schätzte mit dem Auge den Weg ab und meinte: »Gluschkow, lauf du voran.«

»Wie käme ich dazu, die haben doch hier einen Scharfschützen«, sagte Gluschkow.

Als Erster eine gefährliche Stelle zu überqueren galt als Privileg der Vorgesetzten – die Deutschen schafften es gewöhnlich nicht, das Feuer schon auf den ersten Läufer zu eröffnen.

Berjoskin schaute sich nach den ersten deutschen Häusern um, zwinkerte Gluschkow zu und rannte los.

Als er den Wall erreicht hatte, der die Sicht aus den deutschen Häusern verdecken sollte, hörte er hinter sich einen scharfen Einschlag, dann knallte es – der Deutsche hatte mit einer Sprengkugel geschossen.

Berjoskin stand im Schutz des Walls und zündete sich eine Zigarette an. Gluschkow rannte mit langen, schnellen Schritten. Die Feuergarbe prasselte ihm zwischen die Füße, es war, als flöge ein Spatzenschwarm von der Erde auf. Gluschkow rannte zur Seite, stolperte, fiel, sprang wieder auf und lief auf Berjoskin zu.

»Beinahe hätte er mich erwischt«, sagte er, als er verschnauft hatte. »Ich dachte, er würde sich aus Verdruss darüber, dass er Sie verpasst hat, eine Zigarette anzünden, aber der Schweinehund ist offenbar Nichtraucher.«

Gluschkow befühlte den zerfetzten Schoß seiner wattierten Jacke und fluchte auf den Deutschen.

Als sie den Bataillonsgefechtsstand erreicht hatten, fragte Berjoskin: »Angeschossen, Genosse Gluschkow?«

»Die Absätze hat er mir abgeknabbert, mich völlig ausgezogen, der Schuft«, sagte Gluschkow.

Der Bataillonsgefechtsstand befand sich im Keller des fabrikeigenen Ladens »Gastronom«; die feuchte Luft war schwer vom Geruch nach Sauerkraut und Äpfeln.

Auf dem Tisch brannten zwei hohe Kerzenleuchter aus Geschosshülsen. Über der Tür war ein Plakat angeschlagen: »Verkäufer und Kunde, seid höflich zueinander!«

In dem Keller waren die Stäbe von zwei Bataillonen untergebracht, der des Schützen- und der des Pionierbataillons. Beide Bataillonskommandeure, Podtschufarow und Mowschowitsch, saßen am Tisch und frühstückten. Beim Öffnen der Tür hörte Berjoskin die lebhafte Stimme Podtschufarows: »Verdünnten Sprit kann ich nicht ausstehen, da trinke ich lieber gar nichts.«

Beide Bataillonskommandeure erhoben sich und standen stramm. Der Stabschef versteckte unter einem Stapel Handgranaten eine Viertelflasche Wodka, und der Koch verdeckte mit seinem Körper den Zander, über den Mowschowitsch vor einer Minute mit ihm gesprochen hatte. Podtschufarows Melder, der vor dem Koffergrammofon kauerte und gerade auf Anweisung seines Vorgesetzten die »Chinesische Serenade« auf den Plattenteller auflegen wollte, sprang so rasch auf, dass er nur die Platte wegreißen konnte, der Grammofonmotor aber weiter im Leerlauf brummte: Der Mann, geradeaus und offen blickend, wie es sich für einen schneidigen Soldaten gehört, fing in seinen Augenwinkeln einen bösen Blick von Podtschufarow auf, als das Koffergrammofon besonders emsig jaulte und krächzte.

Beide Bataillonskommandeure und all die andern, die am Frühstück teilnahmen, kannten die Vorurteile ihrer Vorgesetzten: Die da oben dachten, Bataillonsleute müssten entweder einen Kampf führen, durch das Fernglas den Gegner anstarren oder, über die Karte gebeugt, angestrengt überlegen. Doch die Leute konnten eben nicht vierundzwanzig Stunden lang schießen und mit Über- und Untergeordneten telefonieren – man musste auch mal essen.

Berjoskin warf einen schrägen Blick zu dem brummenden Grammofon hinüber und lachte.

»Soso«, sagte er und fügte hinzu: »Setzt euch doch, Genossen, macht weiter.«

Diese Worte bedeuteten vielleicht genau das Gegenteil und waren nicht wörtlich zu nehmen, daher nahm Podtschufarows Gesicht einen betrübten und reuevollen Ausdruck an, auf Mowschowitschs Gesicht aber, der das selbstständige Pionierbataillon befehligte und deshalb nicht unmittelbar dem Regimentskommandeur unterstellt war, drückte sich nur Betrübnis ohne Reue aus. Etwa in der gleichen Proportion unterschieden sich die Mienen ihrer Untergebenen.

Berjoskin fuhr in besonders unangenehmem Ton fort: »Wo ist ihr fünf Kilo schwerer Zander, Genosse Mowschowitsch, über den schon alle in der Division Bescheid wissen?«

Mowschowitsch sagte mit dem gleichen betrübten Ausdruck: »Koch, zeigen Sie bitte den Fisch!«

Der Koch, der der Einzige war, der hier seinen Pflichten nachkam, sagte freimütig: »Der Genosse Hauptmann hat angeordnet, ihn zu füllen, auf jüdische Art; Pfeffer und Lorbeerblätter haben wir, aber Weißbrot ist nicht da, und Meerrettich wird auch nicht da sein …«

»Ja, richtig«, sagte Berjoskin, »gefüllten Fisch habe ich in Bobrujsk bei einer gewissen Sara Aronowna gegessen, aber der hat mir, ehrlich gesagt, nicht besonders geschmeckt.«

Und plötzlich begriffen die Leute im Keller, dass der Regimentskommandeur nicht im Traum daran dachte, sich zu ärgern.

So, als wisse Berjoskin, dass Podtschufarow einen deutschen Nachtangriff abgeschlagen hatte, dass er gegen Morgen von Erdmassen verschüttet worden war und dass sein Melder, der die »Chinesische Serenade« auflegen wollte, ihn ausgegraben und geschrien hatte: »Seien Sie unbesorgt, Genosse Hauptmann, ich helf Ihnen raus.«

So, als wisse er, dass Mowschowitsch mit seinen Pionieren über ein panzergefährdetes Gässchen gekrochen war, um dort die im Schachbrettmuster verlegten Panzerabwehrminen unter Erde und Ziegelbruch zu tarnen.

Ihre Jugend freute sich über einen Morgen mehr, man konnte noch einmal den Blechnapf erheben und sagen: »Gesundheit, wohl bekomm’s!«, Kohl essen und ein Zigarettchen rauchen.

Eigentlich war gar nichts geschehen – einen kurzen Augenblick lang hatten die Herren des Kellers vor dem Oberkommandierenden gestanden, dann hatten sie ihm angeboten, mit ihnen zu essen, und mit Befriedigung zugesehen, wie der Regimentskommandeur ihren Kohl verzehrte.

Berjoskin verglich die Schlacht von Stalingrad oft mit dem Kriegsjahr davor. Er hatte schon einiges erlebt und erkannt, dass er diese Anspannung nur deshalb ertrug, weil in ihm selbst Gelassenheit und Ruhe herrschten. Die Rotarmisten konnten Suppe essen, Schuhe reparieren, Gespräche über ihre Ehefrauen, über gute und schlechte Vorgesetzte führen und Löffel an solchen Tagen, in solchen Stunden basteln, in denen man hätte glauben können, dass eigentlich nur mehr Zorn, Grauen oder totale Erschöpfung möglich wären. Er hatte gesehen, dass die, die diese Ruhe und Seelentiefe nicht in sich trugen, nicht lange durchhielten, mochten sie im Kampf auch noch so verwegen und tollkühn sein. Kleinmut und Feigheit waren in Berjoskins Augen ein vorübergehender Zustand, so etwas wie eine Erkältung, die man heilen konnte.

Was Tapferkeit oder Feigheit war, konnte er nicht genau sagen. Einmal, zu Beginn des Krieges, hatte die militärische Führung Berjoskin wegen Kleinmut verdonnert – er hatte eigenmächtig das Regiment aus dem deutschen Feuer herausgeführt. Und noch kurz vor Stalingrad hatte Berjoskin dem Bataillonskommandeur befohlen, die Männer auf den rückwärtigen Hang der Anhöhe zu führen, damit die Schufte von deutschen Granatwerferschützen sie nicht unnötig unter Beschuss nehmen könnten. Der Divisionskommandeur hatte vorwurfsvoll gesagt:

»Was soll denn das, Genosse Berjoskin? Man hat Sie mir als tapferen und besonnenen Mann geschildert.«

Berjoskin hatte geseufzt und geschwiegen, man hatte ihn eben falsch eingeschätzt.

Podtschufarow, ein Rotschopf mit strahlend blauen Augen, bezähmte nur mühsam seine Gewohnheit, plötzlich loszulachen und sich genauso plötzlich zu ärgern. Mowschowitsch, hager, langes sommersprossiges Gesicht und graue Strähnen im dunklen Haar, beantwortete nun mit heiserer Stimme Berjoskins Fragen. Er zog ein Notizbuch heraus und begann den Plan des von ihm in den panzergefährdeten Abschnitten neu verlegten Minenfeldes aufzuzeichnen.

»Reißen Sie mir diese Skizze zur Erinnerung heraus«, sagte Berjoskin, beugte sich über den Tisch und meinte halblaut: »Der Divisionskommandeur hat mich angerufen. Nach Angaben der Heeresaufklärung ziehen die Deutschen aus dem Stadtbezirk Streitkräfte ab und konzentrieren sie uns gegenüber. Einen Haufen Panzer. Kapiert?«

Eine Explosion erschütterte die Kellerwände. Berjoskin lauschte und lächelte.

»Ruhig ist es hier bei euch. In meiner Schlucht hätten mich todsicher mindestens schon drei Leute aus dem Generalstab des Armeeoberkommandos aufgesucht, immerzu sind Kommissionen unterwegs.«

Da erschütterte ein neuer Schlag das Gebäude, und von der Decke rieselte der Verputz.

»Das stimmt, ruhig ist es, niemand stört einen hier«, sagte Podtschufarow.

»Das ist es ja gerade, dass man ungestört ist«, sagte Berjoskin.

Er sprach vertraulich, mit gedämpfter Stimme und vergaß dabei völlig, dass er ja Vorgesetzter war; gewohnt, Untergebener und nicht Vorgesetzter zu sein, dachte er einfach nicht mehr daran.

»Wissen Sie, wie Vorgesetzte reden? Warum greifst du nicht an? Warum hast du nicht die Anhöhe eingenommen? Warum Verluste? Warum ohne Verluste? Warum meldest du nicht? Warum schläfst du? Warum …«

Berjoskin erhob sich.

»Gehen wir, Genosse Podtschufarow, ich möchte Ihre Verteidigungsstellung besichtigen.«

Durchdringende Schwermut lag über diesem Gässchen der Arbeitersiedlung, über den bloßgelegten Innenwänden, die mit bunten Tapeten beklebt waren, über den von Panzern aufgepflügten Gärtchen und Gemüsegärten, über den einsamen Herbstdahlien, die irgendwie überlebt hatten und, Gott weiß wofür, blühten.

Unvermittelt sagte Berjoskin zu Podtschufarow: »Wissen Sie, Genosse Podtschufarow, von meiner Frau kommen keine Briefe. Ich hatte sie unterwegs ausfindig gemacht, und jetzt wieder keine Briefe. Ich weiß nur, dass sie mit meiner Tochter in den Ural gefahren ist.«

»Sie werden schon schreiben, Genosse Major«, sagte Podtschufarow.

Im Kellergeschoss eines einstöckigen Hauses lagen Verwundete unter den zugemauerten Fenstern und warteten auf die nächtliche Evakuierung. Auf dem Fußboden standen ein Eimer Wasser und ein Napf, zwischen den Fenstern gegenüber der Tür war eine Ansichtskarte mit dem Motiv »Die Brautwerbung des Majors« an die Wand geheftet.

»Das ist die Etappe«, sagte Podtschufarow, »die Hauptkampflinie kommt noch.«

»Gehen wir bis zur Hauptkampflinie«, sagte Berjoskin.

Sie gingen durch die Diele in ein Zimmer mit eingestürzter Decke, und ein Gefühl erfasste sie, wie es Menschen überkommt, wenn sie durch eine Tür aus dem Fabrikbüro in die Werkshalle treten. In der Luft hing bedrohlich und beißend der Geruch von Treibgas, und unter den Füßen knirschten abgeschossene, scheckige Patronen. In einem cremefarbenen Kinderwagen waren Panzerabwehrminen gestapelt.

»Die kleine Ruine da hat mir der Deutsche in der Nacht weggenommen«, sagte Podtschufarow, ans Fenster tretend. »Zu schade, es war ein gutes Haus mit Fenstern nach Südwesten. Meine ganze linke Flanke liegt von dorther unter Beschuss.«

An den zugemauerten Fenstern, in denen man nur enge Scharten frei gelassen hatte, stand ein schweres Maschinengewehr. Der MG-Schütze ohne Feldmütze, den Kopf mit einem staub- und rauchverschmutzten Verband umwickelt, richtete einen neuen Patronengurt her. Nummer eins aber kaute mit entblößtem weißem Gebiss ein Stück Wurst und machte sich fertig, in einer halben Minute wieder zu schießen.

Der Kompaniechef, ein Leutnant, trat herzu. In der Tasche seiner Feldbluse steckte eine weiße Aster.

»Bravo«, sagte Berjoskin lächelnd.

»Gut, dass ich Sie treffe, Genosse Hauptmann«, sagte der Leutnant, »wie ich Ihnen schon heute Nacht gesagt habe, greifen sie wieder das Haus ›sechs Strich eins‹ an. Punkt neun haben sie angefangen.« Er schaute auf die Uhr.

»Hier steht der Regimentskommandeur. Erstatten Sie ihm Meldung.«

»Verzeihung, ich hatte Sie nicht erkannt.« Rasch salutierte der Leutnant.

Vor sechs Tagen hatte der Gegner im Bereich des Regiments einige Häuser zerstört und ging nun mit deutscher Gründlichkeit daran, sie dem Erdboden gleichzumachen. Die sowjetische Verteidigungsstellung erlosch unter den Ruinen, erlosch mit dem Leben der sich verteidigenden Rotarmisten. Doch in einem Werksgebäude mit tiefen Kellerräumen konnte sich die sowjetische Verteidigung weiter halten. Die starken Mauern hielten Schläge aus, obwohl sie an vielen Stellen durchschossen und unter Mineneinwirkung abgebröckelt waren. Die Deutschen versuchten, das Gebäude von der Luft aus zu zerstören, dreimal hatten Torpedobomber Zerstörertorpedos darauf abgeworfen. Der ganze Ecktrakt des Hauses war eingestürzt. Doch der Keller unter den Trümmern war heil geblieben, und seine Verteidiger stellten nach der Sichtung der verbliebenen Waffen Maschinengewehre, ein Leichtgeschütz und Granatwerfer auf und ließen die Deutschen nicht heran. Dieses Haus hatte eine glückliche Lage – die Deutschen konnten sich ihm nur ungedeckt nähern.

Der Kompaniechef meldete Berjoskin:

»In der Nacht haben wir versucht, uns zu ihnen durchzuarbeiten – es ist uns nicht gelungen. Einer ist gefallen, und zwei sind verwundet zurückgekommen.«

»Deckung!«, schrie in diesem Moment der Späher mit furchterregender Stimme, und einige Männer warfen sich platt auf die Erde; der Kompaniechef sprach nicht zu Ende, streckte die Arme vor, als wolle er ins Wasser springen, und ließ sich auf den Boden plumpsen.

Das Heulen schwoll durchdringend an und verwandelte sich plötzlich in den Donner stinkender und Stickluft verbreitender Detonationen, die Erde und Menschen erzittern ließen. Ein dicker schwarzer Klotz schlug auf den Boden auf, sprang in die Höhe und rollte Berjoskin vor die Füße; er dachte zuerst, dass ihn da beinahe ein von der Detonation aufgewirbeltes Holzscheit am Fuß getroffen hätte.

Die Spannung dieser Sekunde war unerträglich.

Plötzlich aber erkannte er, dass es ein Blindgänger war. Das Geschoss explodierte nicht, und der schwarze Schatten, der Himmel und Erde verdunkelt, das Vergangene verhüllt und die Zukunft aufgehoben hatte, verschwand.

Der Kompaniechef erhob sich wieder.

»Ein ganz schöner Brummer«, sagte jemand mit verstörter Stimme, und ein anderer lachte: »Ich hab gedacht, jetzt ist’s aus, und bin in Deckung gegangen …«

Berjoskin wischte sich den Schweiß von der Stirn, hob die kleine weiße Aster vom Boden auf, schüttelte den Ziegelstaub ab, steckte sie dem Leutnant an die Brust und sagte: »Ein Geschenk wahrscheinlich …«

Darauf wandte er sich an Podtschufarow: »Warum ist es bei Ihnen trotz alledem ruhig? Weil kein Vorgesetzter kommt? Die über dir wollen doch nur immer irgendwas von dir: Hast du einen guten Koch, dann nehme ich ihn dir weg. Hast du einen vorzüglichen Friseur oder Schneider – her damit. Diese Kalymschtschiki4! Hast du dir einen guten Unterstand ausgehoben – raus mit dir. Hast du gutes Sauerkraut – schick es mir.« Unvermittelt fragte er den Leutnant: »Warum sind denn die zwei zurückgekommen und nicht zu den Eingeschlossenen vorgedrungen?«

»Sie sind angeschossen worden, Genosse Regimentskommandeur.«

»Verstehe.«

»Ihnen geht’s gut«, sagte Podtschufarow, als sie das Haus verließen und durch die Gemüsegärten gingen, in denen zwischen gelbem Kartoffelkraut die Gräben und Bunker des zweiten Regiments ausgehoben waren.

»Wer weiß, ob’s mir gutgeht«, sagte Berjoskin und sprang in einen Graben hinunter.

»Wie im Krieg«, sagte er in einem Tonfall, in dem man sonst sagt: »Wie auf Kur.«

»Die Erde ist am besten für den Krieg zu gebrauchen«, bestätigte Podtschufarow. »Sie hat sich dran gewöhnt.« Auf das Gespräch zurückkommend, das der Regimentskommandeur angefangen hatte, fügte er hinzu: »Nicht bloß den Koch, die da oben haben auch manchem schon die Frau weggenommen.«

Aus dem Schützengraben kam Lärm. Gewehrschüsse krachten und kurze Salven aus Maschinenpistolen und Maschinengewehren.

»Der Kompaniechef ist gefallen, der Politruk Soschkin hat das Kommando übernommen«, sagte Podtschufarow. »Dies ist sein Unterstand.«

»Alles klar«, sagte Berjoskin und warf einen Blick durch die halbgeöffnete Tür in den Unterstand.

Soschkin, ein Mann mit stark gerötetem Gesicht und buschigen schwarzen Brauen, holte sie bei den Maschinengewehren ein. Mit übertrieben lauter Stimme meldete er, dass die Kompanie auf die Deutschen feuere, mit dem Ziel, deren Konzentration zum Angriff auf Haus »sechs Strich eins« zu unterbinden.

Berjoskin nahm ihm das Fernglas ab und betrachtete die kurzen Mündungsblitze aus den Gewehren und die Flammenzungen aus den Mündungen der Granatwerfer.

»Dort, das zweite Fenster im zweiten Stock, mir scheint, da hat sich ein Scharfschütze postiert.«

Kaum hatte er diesen Satz ausgesprochen, blitzte in dem Fenster, auf das er gedeutet hatte, ein Funke auf. Die Kugel zwitscherte heran und schlug genau zwischen Berjoskins und Soschkins Köpfen in die Grabenwand ein.

»Sie haben Glück«, sagte Podtschufarow.

»Wer weiß, ob ich Glück habe«, antwortete Berjoskin.

Sie gingen durch den Graben bis zu der »Erfindung« der hier ansässigen Kompanie: Ein Panzerabwehrgewehr war mit Spornen auf einem Wagenrad befestigt worden.

»Unsere Kompanieflak«, sagte ein Sergeant mit staubigen Haarborsten und unstetem Blick.

»Panzer in hundert Meter Entfernung, beim Häuschen mit dem grünen Dach!«, schrie Berjoskin mit der Stimme eines Ausbilders.

Der Sergeant drehte schnell das Rad, und der lange Lauf des Panzerabwehrgewehrs senkte sich zur Erde.

»Dyrkin hat einen Soldaten«, sagte Berjoskin, »der hat ein Panzerabwehrgewehr mit einem Scharfschützenvisier versehen und an einem Tag drei Maschinengewehre über den Haufen geschossen.«

Der Sergeant zuckte die Achseln.

»Dyrkin hat’s gut, der sitzt in den Fabrikhallen.«

Sie gingen weiter den Graben entlang, und Berjoskin griff den Faden des Gesprächs, das sich zu Beginn des Rundgangs zwischen ihnen ergeben hatte, wieder auf.

»Ein ganz schönes Päckchen habe ich für sie zusammengestellt, und meine Frau schreibt nicht, verstehen Sie das? Es kommt einfach keine Antwort von ihr. Ich weiß nicht einmal, ob das Päckchen bei ihnen angekommen ist. Vielleicht sind sie auch krank geworden? Wie leicht passiert bei der Evakuierung ein Unglück.«

Podtschufarow erinnerte sich plötzlich daran, wie in ferner Vergangenheit die Zimmerleute, die in Moskau Arbeit gesucht und gefunden hatten, ins Dorf zurückkehrten und den Frauen, Greisen und Kindern Geschenke mitbrachten. Ihnen hatte das Leben auf dem Dorf, die Wärme ihres Herdes stets mehr bedeutet als das lärmende Getriebe und die nächtlichen Lichter von Moskau.

Nach einer halben Stunde kamen sie zum Bataillonsgefechtsstand, doch Berjoskin machte keine Anstalten, in den Keller zu gehen, sondern verabschiedete sich draußen von Podtschufarow, »Leisten Sie Haus ›sechs Strich eins‹ größtmöglichen Beistand«, sagte er, »unternehmen Sie keinen Versuch, zu ihnen durchzukommen, das werden wir nachts mit den Kräften des Regiments erledigen.« Danach fuhr er fort: »Und nun Folgendes … Es gefällt mir nicht, wie Sie mit den Verwundeten umgehen. Bei Ihnen im Befehlsstand stehen Sofas herum, aber die Verwundeten liegen auf dem Fußboden. Außerdem: Sie haben nicht für frisches Brot gesorgt, die Leute essen Dauerbrot. Das war Punkt zwei. Außerdem: Ihr Politruk Soschkin war sternhagelvoll. Das war Punkt drei. Außerdem …«

Podtschufarow hörte zu und wunderte sich, was der Regimentskommandeur bei seinem Rundgang durch die Verteidigungsstellung alles bemerkt hatte … Der stellvertretende Zugführer hatte deutsche Hosen und der Chef der ersten Kompanie zwei Armbanduhren getragen.

Berjoskin sagte belehrend: »Der Deutsche wird angreifen, kapiert?«

Er ging zur Fabrik, und Gluschkow, der in der Zwischenzeit seine Absätze hatte in Ordnung bringen und den Riss in seiner wattierten Jacke zunähen können, fragte: »Geht’s heim?«

Berjoskin gab ihm keine Antwort, sondern sagte zu Podtschufarow: »Rufen Sie den Regimentskommissar an und sagen Sie ihm, dass ich zu Dyrkin in die Fabrik, Halle drei, gegangen bin,« Augenzwinkernd fügte er noch hinzu: »Schicken Sie mir was von Ihrem guten Kraut. Immerhin bin auch ich ein Vorgesetzter.«

15

Kein Brief von Tolja … In der Früh sorgte Ljudmila Nikolajewna dafür, dass ihr Mann und ihre Mutter gut zur Arbeit kamen und Nadja zur Schule fertig wurde. Als Erste ging die Mutter, die als Chemikerin im Labor der bekannten Kasaner Seifenfabrik arbeitete, aus dem Haus. Wenn sie am Zimmer ihres Schwiegersohns vorbeiging, wiederholte sie gewöhnlich den Scherz, den sie von den Fabrikarbeitern hatte: »Der Herr muss um sechs zur Arbeit, aber der Knecht erst um neun.«

Nach ihr ging Nadja in die Schule, vielmehr, sie ging nicht, sie rannte im Galopp davon, weil man sie um keinen Preis rechtzeitig aus dem Bett scheuchen konnte – in letzter Minute sprang sie hoch, schnappte sich Strümpfe, Jacke, Bücher und Hefte, beim Frühstück verschluckte sie sich am Tee, und erst wenn sie die Treppe hinunterhastete, band sie sich den Schal um und knöpfte den Mantel zu.

Wenn sich Viktor Pawlowitsch Strum an den Frühstückstisch setzte, war Nadja schon fort, und der Tee war kalt geworden und musste wieder aufgewärmt werden.

Alexandra Wladimirowna ärgerte sich über Nadjas Klage: »Wenn man doch nur schneller aus diesem Kaff abhauen könnte.« Nadja hatte keine Ahnung, dass Derschawin5 irgendwann einmal in Kasan gewohnt hatte, dass Aksakow6, Tolstoi, Lenin, Sinin7 und Lobatschewski hier gelebt hatten, dass Maxim Gorki einmal in einer Kasaner Bäckerei gearbeitet hatte.

»Was für eine senile Gleichgültigkeit«, pflegte Alexandra Wladimirowna zu sagen, und dieser Vorwurf, an ein heranwachsendes Mädchen gerichtet, klang seltsam aus dem Mund der alten Frau.

Ljudmila beobachtete, dass ihre Mutter weiterhin Interesse für Menschen und für die neue Arbeit aufbrachte. Neben der Bewunderung für die seelische Kraft ihrer Mutter hegte sie aber noch ein ganz anderes Gefühl – wie konnte sich nur jemand, der Kummer hatte, für die Hydrogenisierung von Fetten, für Kasaner Straßen und Museen interessieren?

Einmal, als Strum seiner Frau gegenüber eine Bemerkung über das jugendliche Wesen Alexandra Wladimirownas gemacht hatte, verlor Ljudmila die Beherrschung: »Bei Mama ist das nicht Jugendlichkeit, sondern Altersegoismus.«

»Großmutter ist keine Egoistin, sondern eine Narodniza8«, hatte Nadja gesagt und hinzugefügt: »Narodniki sind gute Menschen, wenn auch keine sehr intelligenten.«

Nadja äußerte ihre Meinung kategorisch und, vermutlich aufgrund ihres permanenten Zeitmangels, in Kurzform. »So ein Quark« erhielt bei ihr besonderes Gewicht durch das stark gerollte »r«. Sie las immer die neuesten Berichte des Sowinformbüros, war über die Kriegsereignisse auf dem Laufenden und mischte sich in Gespräche über Politik ein. Nach einer Sommerreise auf eine Kolchose legte sie ihrer Mutter die Gründe für die geringe Effizienz der Kolchosarbeit dar.

Ihre Schulnoten sagte sie der Mutter nicht, nur einmal hatte sie beiläufig mitgeteilt: »Weißt du, heute habe ich eine schlechte Note in Betragen bekommen. Stell dir vor, die Mathelehrerin hat mich aus dem Klassenzimmer rausgeworfen. Beim Rausgehen hab ich ›goodbye‹ gebrüllt – das gab vielleicht ein Hallo.«

Wie viele Kinder aus wohlhabenden Familien, die vor dem Krieg keine materiellen Sorgen und Lebensmittelengpässe gekannt hatten, sprach Nadja in der Zeit der Evakuierung viel über Lebensmittelrationen, über Vorzüge und Unzulänglichkeiten der Verteilerstellen, kannte die Vorteile von Pflanzenöl gegenüber tierischem Fett, die Licht- und Schattenseiten von Buchweizen zweiter Wahl und die Vorzüge von Würfelzucker gegenüber Streuzucker.

»Weißt du was?«, sagte sie einmal zu ihrer Mutter: »Ich finde, du solltest mir von heute an Tee mit Honig anstelle von Tee mit Kondensmilch geben. Meiner Meinung nach bekommt mir das besser, und dir ist es sowieso egal.«

Manchmal wurde Nadja muffig und warf den Erwachsenen mit verächtlichem Lächeln Grobheiten an den Kopf. Einmal hatte sie im Beisein der Mutter zum Vater »du Dummkopf« mit einer solchen Gehässigkeit gesagt, dass Strum die Fassung verloren hatte.

Manchmal bemerkte die Mutter, wie Nadja beim Lesen eines Buches weinte. Sie hielt sich für ein rückständiges, vom Pech verfolgtes Geschöpf, das zu einem trostlosen und harten Leben verdammt war.

»Niemand mag mich, ich bin dumm, für keinen interessant«, hatte sie einmal bei Tisch gesagt. »Keiner wird mich heiraten; ich mach die Apothekerlehre und geh fort, aufs Land.«

»Auf dem Land, wo sich Füchse und Hasen gute Nacht sagen, gibt’s keine Apotheken«, hatte Alexandra Wladimirowna erwidert.

»Was das Heiraten betrifft, so ist deine Prognose zu düster«, hatte Strum gemeint. »In letzter Zeit bist du hübscher geworden.«

»Ich pfeif drauf«, hatte Nadja gesagt und den Vater grimmig angeschaut.

Nachts aber bemerkte die Mutter, wie Nadja, den nackten, dünnen Arm unter der Decke hervorgestreckt, ein Buch in der Hand hielt und Gedichte las.

Einmal hatte Nadja aus der Verteilerstelle der Akademie zwei Kilo Butter und ein großes Paket Reis nach Hause gebracht und gesagt: »Die Menschen, mich inbegriffen, sind Lumpen und Schurken, die sich all das zugutekommen lassen. Auch Papa ist so gemein und tauscht Talent gegen Butter. Es ist ja, als ob Kranke, Ungebildete und schwache Kinder ein Hungerdasein führen müssten, bloß weil sie keine Ahnung von Physik haben oder den Plan nicht dreihundertprozentig bewältigen können … In Butter schwelgen können nur Auserwählte.«

Beim Abendessen aber hatte sie dreist verlangt: »Mama, gib mir die doppelte Portion Honig und Butter; ich hab ja heute Morgen verschlafen.«

Nadja glich in vielem dem Vater. Ljudmila Nikolajewna war aufgefallen, dass Viktor Pawlowitsch an seiner Tochter gerade die Charakterzüge reizten, die sie mit ihm gemein hatte.

Einmal hatte Nadja, genau den väterlichen Tonfall nachahmend, über Postojew geschimpft: »Dieser Gauner, Stümper und Schnorrer!«

Strum hatte sich empört: »Wie kommst du grünes Schulmädel dazu, in dieser Weise über einen Akademiker zu sprechen?«

Doch Ljudmila Nikolajewna erinnerte sich, wie Viktor als Student alle akademischen Größen als »Nieten, Stümper, Schwätzer und Postenjäger« tituliert hatte. Sie verstand, dass es Nadja nicht leicht hatte; ihr komplizierter, schwieriger Charakter trieb sie in die Isolation.

Wenn Nadja aus dem Haus war, frühstückte Viktor Pawlowitsch. Er schielte dabei ins Buch, schluckte, ohne zu Ende zu kauen, machte ein dumm-erstauntes Gesicht, tastete mit der Hand nach dem Teeglas und sagte, ohne den Blick vom Buch zu heben: »Schenk mir noch was ein, wenn’s geht, heißeren Tee.« Sie kannte alle seine Gesten; mal kratzte er sich am Kopf, mal schob er die Unterlippe vor, dann schnitt er eine Grimasse, stocherte in den Zähnen, und sie sagte:

»Mein Gott, Vitja, wann lässt du dir denn endlich die Zähne richten?«

Sie wusste, dass er sich nicht etwa kratzte oder die Unterlippe vorschob, weil es ihn am Kopf juckte oder weil es ihn in der Nase kitzelte, sondern weil er an seine Arbeit dachte. Sie wusste, dass er, wenn sie sagen würde: »Vitja, du hörst mir ja nicht mal zu«, weiter in sein Buch schielen und antworten würde: »Doch, ich höre dir zu, ich kann dir sogar wiederholen, was du gesagt hast: ›Vitja, wann lässt du dir denn endlich die Zähne richten?‹« Dann würde er wieder einen Schluck Tee trinken, eine erstaunte Miene aufsetzen und wie ein Schizophrener in Trübsal verfallen, und all das hätte nur zu bedeuten, dass er beim Durchlesen der Arbeit eines ihm bekannten Physikers diesem in manchem zustimmte, in manchem aber nicht mit ihm einverstanden war. Danach würde Viktor Pawlowitsch lange reglos dasitzen und nach einer Weile schicksalsergeben nicken, mit fast greisenhafter Schwermut, einem Gesichtsausdruck, wie ihn wahrscheinlich Menschen haben, die an einem Gehirntumor leiden. Und wieder wusste Ljudmila Nikolajewna, woran Strum dachte: an seine Mutter.

Und wenn er so Tee trank, an seine Arbeit dachte und, von Schwermut übermannt, stöhnte, betrachtete Ljudmila Nikolajewna seine Augen, die sie küsste, und sein gelocktes Haar, das sie gerne kraulte, seine Lippen, die sie geküsst hatten, seine Wimpern und Augenbrauen, und seine Hände mit den kleinen, nicht besonders kräftigen Fingern, deren Nägel sie zu schneiden pflegte, und sagte: »Ach, du mein alter Dreckspatz.«

Sie kannte ihn in- und auswendig, wusste, welche Kinderbücher er vor dem Einschlafen im Bett gelesen hatte, was für ein Gesicht er machte, wenn er sich die Zähne putzte, kannte seine volltönende Stimme, die nur leicht zitterte, wenn er im dunklen Anzug vor dem Auditorium stand und seinen Vortrag über die Neutronenstrahlung begann. Sie wusste, dass er ukrainischen Borschtsch mit Bohnen liebte, und kannte sein leises Stöhnen, wenn er sich nachts im Schlaf umdrehte. Sie wusste, dass er den linken Schuhabsatz immer schneller ablief und sich die Hemdsärmel beschmutzte; sie wusste, dass er gern auf zwei Kopfkissen schlief, kannte seine heimliche Angst beim Überqueren großer Plätze in der Stadt, kannte den Geruch seiner Haut und die Form, die die Löcher in seinen Socken annahmen. Sie wusste, wie er vor sich hin summte, wenn er Hunger hatte und auf das Mittagessen wartete, wie die Zehennägel an seinen großen Zehen aussahen, kannte den Kosenamen, mit dem ihn seine Mutter gerufen hatte, als er zwei Jahre alt war; sie kannte seinen schlurfenden Gang und die Namen der Jungen, die sich mit ihm in der Abschlussklasse gerauft hatten. Sie kannte seine Spottlust und seine Gewohnheit, Tolja, Nadja und die Freunde zu necken. Selbst jetzt, da er fast immer bedrückter Stimmung war, zog er sie damit auf, dass ihre enge Freundin Marja Iwanowna Sokolowa wenig belesen war und einmal im Gespräch Balzac mit Flaubert verwechselt hatte. Er verstand es meisterhaft, Ljudmila auf den Arm zu nehmen, sie fiel jedes Mal darauf herein und ärgerte sich.

Auch jetzt widersprach sie ihm ernstlich erbost und verteidigte ihre Freundin: »Du machst dich immer über die Menschen lustig, die ich gern habe. Maschenka hat ein untrügliches Gespür für Literatur, sie braucht gar nicht viel zu lesen, sie erfühlt ein Buch.«

»Ja, natürlich«, sagte er, »sie ist sicher, dass Anatole France ›Max und Moritz‹ geschrieben hat.«

Sie kannte seine Liebe zur Musik und seine politischen Ansichten. Sie hatte ihn einmal weinen sehen, hatte gesehen, wie er sich vor Wut das Hemd zerrissen hatte und mit zum Schlag erhobener Faust auf sie zugehüpft war, wobei er sich in seiner langen Unterhose verfing. Sie kannte seine bedingungslose Offenheit und Ehrlichkeit, seine Anfälle von überschwänglicher Begeisterung, sie hatte gehört, wie er Gedichte deklamierte, und sie hatte gesehen, wie er Abführmittel schluckte.

Sie spürte, dass ihr Mann zurzeit schlecht auf sie zu sprechen war, obwohl sich in ihrer Beziehung scheinbar nichts geändert hatte. Doch es gab eine Veränderung, und die äußerte sich darin, dass er nicht mehr mit ihr über seine Arbeit sprach. Er sprach mit ihr über Briefe von Bekannten und über die Einschränkung von Lebensmitteln und Industriegütern. Er sprach mit ihr sogar gelegentlich über seine Angelegenheiten im Institut, im Labor, berichtete ihr über seinen Arbeitsplan und erzählte von seinen Mitarbeitern: Sawostjanow war nach einem nächtlichen Gelage zur Arbeit gekommen und eingeschlafen, die Laborantinnen hatten unter dem Dunstabzug Kartoffeln gekocht. Markow bereitete eine neue Versuchsreihe vor.

Doch über seine eigene Arbeit, seine eigenen geistigen Anstrengungen, über die er sonst auf der ganzen Welt einzig und allein mit Ljudmila Nikolajewna gesprochen hatte, sprach er nicht mehr.

Er hatte ihr einmal gestanden, dass er, wenn er Freunden seine Notizen vorläse oder ihnen seine Gedanken und Überlegungen anvertraute, am Tag darauf ein unangenehmes Gefühl verspürte – die Arbeit käme ihm dann nichtssagend vor, und es fiele ihm schwer, sie wieder aufzunehmen.

Der einzige Mensch, dem er seine Zweifel anvertraute, seine bruchstückhaften Aufzeichnungen und phantastischen Hypothesen vorlas, ohne je danach ein seelisches Tief durchstehen zu müssen, war Ljudmila Nikolajewna gewesen.

Jetzt sprach er nicht mehr mit ihr.

Jetzt machte er sich seinen Kummer dadurch leichter, dass er Ljudmila anklagte. Er dachte unentwegt an seine Mutter. Und er dachte über etwas nach, worüber er bisher nie nachgedacht hatte – über sein jüdisches Blut, darüber, dass seine Mutter Jüdin war.

Innerlich machte er Ljudmila den Vorwurf, dass sie zu seiner Mutter ein kühles Verhältnis hatte. Einmal hatte er zu ihr gesagt:

»Wenn du es verstanden hättest, ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter aufzubauen, dann hätte sie bei uns in Moskau gewohnt.«

Sie wiederum rekapitulierte im Geiste alle Grobheiten und Ungerechtigkeiten, die Viktor Pawlowitsch Tolja gegenüber begangen hatte, und natürlich gab es da manches, woran sie sich erinnerte.

Ihr Herz füllte sich mit Bitterkeit, so ungerecht war er zu seinem Stiefsohn gewesen, so viel Schlechtes hatte er in Tolja gesehen, so mühsam hatte er ihm seine Unzulänglichkeiten verziehen. Nadja jedoch verzieh ihr Vater alle Grobheit, Faulheit, Schlamperei und mangelnde Bereitschaft, der Mutter im Haushalt zu helfen.

Sie dachte an Viktor Pawlowitschs Mutter – ja, ihr Schicksal war grauenhaft.

Doch wie konnte Viktor von Ljudmila freundschaftliche Gefühle für Anna Semjonowna erwarten, wenn Anna Semjonowna ihrerseits ein gespanntes Verhältnis zu Tolja hatte. Jeder ihrer Briefe und jeder ihrer Besuche in Moskau waren aus diesem Grund für Ljudmila unerträglich gewesen. Nadja, Nadja, Nadja … Nadja hat Viktors Augen … Nadja hält die Gabel wie Viktor … Nadja ist versponnen, Nadja hat einen wachen Verstand. Nadja hat geistigen Tiefgang. Die Liebe und Zärtlichkeit für den Sohn übertrug Anna Semjonowna auf ihre Enkelin. Aber hielt Tolja etwa die Gabel nicht genauso wie Viktor Pawlowitsch?

Merkwürdig – in letzter Zeit dachte sie häufiger als früher an Toljas Vater, ihren ersten Mann. Sie hätte gern seine Angehörigen ausfindig gemacht, besonders seine ältere Schwester; sie würden sich über Toljas Augen freuen. Abartschuks Schwester würde in Toljas Augen, in seinem krumm gewachsenen Daumen und in seiner breiten Nase die Augen, Hände und Nase ihres Bruders wiedererkennen.

Und wie sie alles Positive in Viktor Pawlowitschs Beziehung zu Tolja aus dem Gedächtnis verdrängte, so verzieh sie Abartschuk alles Schlimme, verzieh ihm sogar, dass er sie mit einem Säugling sitzengelassen und ihr verboten hatte, Tolja den Nachnamen Abartschuk zu geben.

Vormittags blieb Ljudmila Nikolajewna allein zu Hause. Sie wartete auf diese Stunde, die Familie störte sie. Das gesamte Weltgeschehen – der Krieg, das Schicksal der Schwestern, die Arbeit ihres Mannes, Nadjas Charakter, die Gesundheit ihrer Mutter, ihr Mitleid mit den Verwundeten, das Leid über die in deutscher Gefangenschaft umgekommenen Soldaten –, das alles wurde noch schwerer durch ihren Schmerz und ihre Sorge um Tolja.

Sie spürte, dass die Gefühle ihrer Mutter, ihres Mannes und ihrer Tochter aus ganz anderen Quellen gespeist wurden. Deren Zuneigung und Liebe zu Tolja erschienen ihr oberflächlich. Tolja war für Ljudmila alles auf der Welt, für die anderen war er nur ein Teil der Welt.

Es vergingen Tage, es vergingen Wochen, von Tolja kamen keine Briefe.

Jeden Tag übertrug das Radio die Meldung des Sowinformbüros, jeden Tag waren die Zeitungen voll von Kriegsberichten. Die sowjetischen Truppen befanden sich auf dem Rückzug. In den Radiomeldungen und Zeitungen wurde über die Artillerie berichtet. Tolja diente in einer Artillerieeinheit. Es kamen keine Briefe von Tolja.

Sie glaubte, dass nur ein einziger Mensch echtes Verständnis für ihr Leid aufbrachte, nämlich Marja Iwanowna, Sokolows Frau.

Ljudmila Nikolajewna legte keinen großen Wert auf Kontakte zu anderen Professorenfrauen; die Gespräche über die wissenschaftlichen Erfolge ihrer Männer, über Kleider und Hausangestellte gingen ihr auf die Nerven. Doch vielleicht, weil Marja Iwanownas sanftes Wesen ihrem eigenen Charakter entgegengesetzt war und weil es sie rührte, wie Marja Iwanowna sich um Tolja sorgte, hatte sie sich so eng mit ihr angefreundet.

Mit ihr sprach Ljudmila freier über Tolja als mit ihrem Mann und ihrer Mutter; und jedes Mal wurde ihr dabei ruhiger und leichter ums Herz. Obwohl Marja Iwanowna fast täglich zu den Strums kam, fragte sich Ljudmila Nikolajewna jedes Mal, wo ihre Freundin denn so lange blieb, und schaute aus dem Fenster, ob nicht die zarte Gestalt und das liebe Gesicht irgendwo zu sehen waren.

Von Tolja aber kamen keine Briefe.

16

Alexandra Wladimirowna, Ljudmila und Nadja saßen in der Küche. Von Zeit zu Zeit schürte Nadja mit zerknüllten Blättern aus einem Schulheft den Ofen nach; die verlöschende rote Glut flammte auf, im Ofen brannte kurze Zeit ein lebhaftes Feuer.

Alexandra Wladimirowna sagte mit einem schrägen Blick auf ihre Tochter: »Gestern habe ich eine Laborantin zu Hause besucht. Mein Gott, war das eine Enge, Armut und Hungersnot. Dagegen leben wir hier wie die Zaren. Die Nachbarn kamen dazu, und es entspann sich ein Gespräch darüber, was jeder vor dem Krieg am liebsten gegessen hat. Die eine sagte: Kalbfleisch, die andere Rassolnik9. Und meine Laborantin sagte: ›Ich habe am allerliebsten Schnitzel gegessen.‹«

Ljudmila Nikolajewna schwieg, doch Nadja sagte: »Großmutter, Ihr habt schon über eine Million Bekanntschaften geschlossen.«

»Und du keine einzige.«

»Das ist auch sehr gut so«, sagte Ljudmila Nikolajewna. »Vitja geht seit neuestem oft zu Sokolow. Dort trifft sich alles mögliche Pack. Ich kann einfach nicht verstehen, wie Vitja und Sokolow stundenlang mit diesen Leuten quatschen können. Es müsste ihnen doch mal zu viel werden, ewig Tabak mit der Zunge zu zerkrümeln. Wie können sie nur so wenig Rücksicht auf Marja Iwanowna nehmen! Sie braucht Ruhe, aber wenn alle da sind, kann sie sich weder im Liegen noch im Sitzen ausruhen, und dann noch dieser Qualm.«

»Karimow, der Tatar, gefällt mir«, sagte Alexandra Wladimirowna.

»Ein widerlicher Typ.«

»Mama ist wie ich, ihr gefällt keiner«, sagte Nadja, »nur Marja Iwanowna.«

»Ihr seid ein komisches Volk«, sagte Alexandra Wladimirowna, »ihr habt so ein Moskauer Flair an euch – das habt ihr mitgebracht. Im Zug, im Klub, im Theater, überall fühlt ihr euch fremd, aber euresgleichen sind für euch die, mit denen ihr am gleichen Ort Datschen gebaut habt. Das ist mir auch an Genia aufgefallen … Es gibt ganz geringfügige Merkmale, nach denen sie bestimmt, welche Leute zu eurem Kreis gehören: Ach die, die ist eine Niete, mag keine Gedichte von Blok, und der, der ist ein Hinterwälder, hat keine Ahnung von Picasso … Ach, eine Kristallvase hat sie ihm geschenkt. Wie geschmacklos … Viktor ist Demokrat, Der pfeift auf diesen ganzen dekadenten Firlefanz.«

»Unsinn«, erwiderte Ljudmila, »was soll das Gerede über Datschen? Es gibt Spießer mit Datschen und Spießer ohne Datschen. Mit denen darf man sich einfach nicht einlassen, das geht einem eben gegen den Strich.«

Alexandra Wladimirowna hatte bemerkt, dass ihre Tochter ihr gegenüber immer häufiger gereizt reagierte.

Ljudmila Nikolajewna gab ihrem Mann Ratschläge, kritisierte an Nadja herum, rügte sie für einen Fehler, verzieh ihr Fehler, verwöhnte sie und versagte ihr Wünsche, und immer spürte sie dabei, dass die Mutter ihr Handeln kritisch beurteilte. Alexandra Wladimirowna äußerte ihre Meinung nicht, doch sie hatte eindeutig eine andere Einstellung. Es kam vor, dass Strum mit der Schwiegermutter Blicke wechselte und seine Augen dabei einen spöttisch verstehenden Ausdruck annahmen, so als wolle er sich, einen Streit vorbeugend, mit Alexandra Wladimirowna über die Eigentümlichkeiten von Ljudmilas Charakter verständigen. Es war auch völlig gleichgültig, ob sie sich verständigten oder nicht; in der Familie war einfach eine neue Kraft zu spüren, die allein durch ihr Vorhandensein die gewohnten Verhältnisse veränderte.

Viktor Pawlowitsch hatte einmal zu Ljudmila gesagt, dass er an ihrer Stelle der Mutter ruhig die Vorherrschaft überlassen würde – sollte sie sich doch als Herrin im Haus fühlen und nicht als Gast.

In Ljudmila Nikolajewnas Ohren hatten die Worte ihres Mannes unaufrichtig geklungen – es war ihr sogar in den Sinn gekommen, dass er sein besonders herzliches Verhältnis zu ihrer Mutter betonen und damit unbewusst auf die kühle Beziehung zwischen Ljudmila und Anna Semjonowna anspielen wollte.

Sie hätte sich lächerlich gemacht und geschämt, wenn sie ihm gestanden hätte, dass sie manchmal seinetwegen auf die Kinder eifersüchtig war, besonders auf Nadja. Doch diesmal war es nicht Eifersucht. Wie hätte sie es sich selbst eingestehen können, dass die Mutter, die ihr Dach über dem Kopf verloren und bei ihr Unterschlupf gefunden hatte, ihr auf die Nerven ging und sie belastete? Es war eine eigenartige Gereiztheit; sie existierte neben der Liebe, neben der Bereitschaft, Alexandra Wladimirowna, wenn es sein musste, das letzte Hemd abzugeben und das letzte Stück Brot mit ihr zu teilen.

Alexandra Wladimirowna wiederum hatte bisweilen plötzlich das Gefühl, dass sie grundlos weinen wollte oder sterben, oder abends nicht nach Hause kommen und lieber bei einer Freundin auf dem Fußboden übernachten, und manchmal hätte sie sich am liebsten sofort nach Stalingrad aufgemacht, um Serjoscha, Vera und Stepan Fjodorowitsch zu suchen.

Alexandra Wladimirowna stimmte fast immer den Meinungen und Handlungen ihres Schwiegersohnes zu, Ljudmila dagegen war fast nie mit Viktor Pawlowitsch einverstanden. Nadja hatte das bemerkt und den Vater aufgefordert: »Geh und beschwer dich bei der Großmutter, dass Mama dich beleidigt hat.«

Und jetzt sagte Alexandra Wladimirowna: »Ihr lebt wie die Eulen. Viktor dagegen ist ein normaler Mensch.«

»Das sind alles Sprüche«, erwiderte Ljudmila stirnrunzelnd. »Wenn der Tag der Abreise nach Moskau kommt, werdet auch ihr beide, Viktor und du, glücklich sein.«

Plötzlich brach es aus Alexandra Wladimirowna heraus: »Weißt du was, meine Liebe, wenn der Tag der Rückkehr nach Moskau kommt, werde ich nicht mit euch fahren, sondern hierbleiben. In deinem Haus in Moskau ist für mich kein Platz. Hast du verstanden? Ich werde Genia überreden, sich hierher durchzuschlagen, oder ich mache mich selbst nach Kuibyschew auf.«

Das war ein schwieriger Moment in der Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Alles, was auf Alexandra Wladimirownas Seele lastete, war mit dem Verzicht, nach Moskau zu fahren, ausgesprochen worden. Alles verborgene Leid, das sich in Ljudmila Nikolajewnas Seele angestaut hatte, wurde dadurch offenbar, als wäre es ebenfalls ausgesprochen worden. Doch Ljudmila Nikolajewna war gekränkt; nie hatte sie sich ihrer Mutter gegenüber etwas zuschulden kommen lassen.

Alexandra Wladimirowna betrachtete Ljudmilas leidendes Gesicht und fühlte sich schuldig. Nachts dachte Alexandra Wladimirowna meistens an Serjoscha; sie erinnerte sich an seine Temperamentsausbrüche, an die Diskussionen mit ihm, dann wieder stellte sie sich ihn in Uniform vor, seine Augen waren wahrscheinlich noch größer geworden, sicher war er abgemagert, waren seine Wangen eingefallen. Ein besonderes Gefühl weckte er in ihr, Serjoscha, der Sohn ihres unglückseligen Sohnes, den sie über alles auf der Welt liebte …

Sie sagte zu Ljudmila: »Quäl dich nicht so wegen Tolja, glaub mir, ich mache mir seinetwegen nicht weniger Sorgen als du.«

In diesen Worten lag eine gewisse Falschheit, etwas, was die Liebe zu ihrer Tochter beeinträchtigte – so sehr sorgte sie sich nun doch nicht um Tolja. Und auch jetzt erschraken beide, so rückhaltlos, ja grausam offen sie zueinander waren, über ihre Härte und nahmen das Gesagte zurück.

»Die Wahrheit ist gut, aber die Liebe ist besser, ein neues Stück von Ostrowski«, sagte Nadja gedehnt, und Alexandra Wladimirowna warf dem Mädchen, das noch die Schulbank drückte und doch schon etwas durchschaut hatte, was ihr selbst noch ganz unklar war, einen feindseligen, ja, irgendwie erschrockenen Blick zu.

Bald darauf kam Viktor Pawlowitsch. Er hatte die Tür unbemerkt geöffnet und stand plötzlich in der Küche.

»Eine angenehme Überraschung«, sagte Nadja, »wir haben geglaubt, du würdest bis spät bei den Sokolows hocken.«

»Ah, alle schon zu Hause, alle am Ofen, das freut mich, das ist ja wunderbar«, sagte er und hielt seine Hände über den wärmenden Ofen.

»Putz dir die Nase«, sagte Ljudmila, »was soll denn daran so wunderbar sein? Ich versteh dich nicht.«

Nadja platzte, den mütterlichen Tonfall nachahmend, heraus: »Nun mach schon, putz dir die Nase, du verstehst doch wohl Russisch!«

»Nadja, Nadja«, warnte Ljudmila Nikolajewna; sie gestand niemandem sonst das Recht zu, ihren Mann zu erziehen.

Viktor Pawlowitsch sagte: »Ja, ja, draußen geht ein sehr kalter Wind.«

Er ging ins Zimmer, und durch die offene Tür konnte man sehen, dass er sich an den Tisch setzte.

»Papa schreibt wieder auf einem Buchumschlag«, sagte Nadja vorlaut.

»Das geht dich nichts an«, sagte Ljudmila Nikolajewna und erklärte ihrer Mutter: »Warum hat er sich wohl so gefreut, dass alle zu Hause sind? Er hat einen Tick. Wenn jemand nicht zu Hause ist, macht er sich Sorgen. Aber heute hat er einen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht und freut sich, dass er sich nicht durch unnötiges Besorgtsein ablenken lassen muss.«

»Leise, wir stören ihn ja wirklich«, sagte Alexandra Wladimirowna.

»Im Gegenteil«, meinte Nadja, »sprichst du laut, hört er drüber hinweg, flüsterst du aber, schon steht er da und fragt: Was tuschelt ihr denn da?«

»Nadja, du redest über deinen Vater wie ein Zooführer, der etwas über die Instinkte der Tiere erzählt.«

Sie brachen alle gleichzeitig in Gelächter aus und schauten sich gegenseitig an.

»Mama, wie konntet Ihr mich nur so kränken?«, fragte Ljudmila Nikolajewna.

Die Mutter sah schweigend über sie hinweg.

Danach aßen sie in der Küche zu Abend. Viktor Pawlowitsch schien es, als wäre die Küche an diesem Abend von einer besonders sanften und weichen Wärme erfüllt.

Das, was im Grunde sein Leben ausmachte, ging weiter. In letzter Zeit beschäftigte ihn unablässig der Gedanke, dass es eine überraschende Erklärung für die widersprüchlichen Versuche geben könnte, die im Labor in großem Umfang durchgeführt worden waren.

Während er am Küchentisch saß, verspürte er eine sonderbare, freudige Unruhe – es juckte ihn in den Fingern, nur mit Mühe konnte er den Wunsch unterdrücken, zum Bleistift zu greifen.

»Die Buchweizengrütze schmeckt heute fabelhaft«, sagte er und klopfte mit dem Löffel auf den leeren Teller.

»Soll das heißen, dass du noch mehr möchtest?«, fragte Ljudmila Nikolajewna.

Er schob seiner Frau den Teller hin und fragte: »Ljuda, du erinnerst dich natürlich an die Prout’sche Hypothese?«

Ljudmila Nikolajewna, die gerade den Löffel zum Mund führen wollte, hielt verblüfft inne.

»Das war doch was über die Entstehung der Elemente«, sagte Alexandra Wladimirowna.

»Ach ja, richtig«, meinte Ljudmila, »alle Elemente setzen sich aus Wasserstoff zusammen. Aber was hat das mit Grütze zu tun?«

»Mit Grütze?«, fragte Viktor Pawlowitsch zurück. »Mit Prout hat es folgende Bewandtnis: Er hat vor allem deshalb eine zutreffende Hypothese aufstellen können, weil zu seiner Zeit bei der Bestimmung der Atomgewichte grobe Fehler bestanden haben. Hätte man zu seiner Zeit die Atomgewichte mit der Genauigkeit bestimmen können, wie sie von Dumas und Stas erreicht worden ist, dann hätte er sich nicht zu der Annahme entschlossen, dass die Atomgewichte der Elemente durch das Atomgewicht des Wasserstoffs teilbar sind. Es hat sich herausgestellt, dass er recht hat, weil er sich geirrt hat.«

»Aber trotzdem, was hat das alles mit Grütze zu tun?«, fragte Nadja.

»Mit Grütze?«, fragte Strum verwundert zurück und besann sich: »Mit Grütze hat das gar nichts zu tun … Diese Grütze aufzuschlüsseln wäre schwierig; man bräuchte hundert Jahre, bis man das geschafft hätte.«

»War das das Thema deiner heutigen Vorlesung?«, fragte Alexandra Wladimirowna.

»Nein, dummes Zeug. Ich halte doch gar keine Vorlesungen, weder vor dem Dorf noch vor der Stadt.«

Er fing den Blick seiner Frau auf und spürte, dass sie ihn verstand: Die Arbeit wühlte ihn auf und hatte wieder völlig von ihm Besitz ergriffen.

»Wie geht’s dir?«, fragte Strum. »Hat dich Marja Iwanowna besucht? Hat sie dir vielleicht aus ›Madame Bovary‹ von Balzac vorgelesen?«

»Hör doch auf«, sagte Ljudmila Nikolajewna.

In der Nacht wartete sie darauf, dass ihr Mann mit ihr über seine Arbeit sprechen würde. Doch er schwieg, und sie stellte ihm weiter keine Fragen.

17

Wie naiv dünkten Strum die Ideen der Physiker, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gelebt hatten, die Ansichten von Helmholtz, der die Wissenschaft der Physik vor die neue Aufgabe gestellt hatte, die Kräfte der Anziehung und Abstoßung, die einzig und allein vom Abstand zweier Massen oder Pole abhingen, zu erforschen.

Das Kraftfeld war die Seele der Materie. Die Einheit, die die Energiewelle und das Materiekorpuskel umfasste … die Körnigkeit des Lichts … war sie nun ein Schauer von Lichttropfen oder eine blitzschnelle Welle?

Die Quantentheorie hatte die Gesetze, die den Leitfaden für individuelle physikalische Phänomene gebildet hatten, durch neue ersetzt – die Gesetze der Wahrscheinlichkeit und die der mathematischen Statistik, die den Begriff der Individualität aufgab und nur den der Gesamtheit gelten ließ. Die Physik des vergangenen Jahrhunderts verband sich für Strum mit der Vorstellung von Männern mit gewichsten Schnurrbärten, die Anzüge mit gestärkten Stehkragen und steifen Manschetten trugen und sich um einen Billardtisch drängten. Tiefsinnige Gelehrte, ausgerüstet mit Linealen und Chronometern, maßen mit zusammengezogenen Brauen Geschwindigkeiten und Beschleunigungen und bestimmten die Massen von elastischen Kugeln, die den Weltraum aus grünem Tuch erfüllten.

Doch der mit Metallstäben und Linealen ausgemessene Raum und die mit vollkommen genauen Uhren gemessene Zeit fingen plötzlich an, sich zu verziehen, sich zu dehnen und platt gedrückt zu werden. Es zeigte sich, dass die unerschütterliche Bestimmtheit von Zeit und Raum nicht das Fundament der Wissenschaft war, sondern die Gitter und Mauern ihres Gefängnisses. Es kam der Tag des Jüngsten Gerichts; tausendjährige Wahrheiten wurden als Irrtümer entlarvt. In uralten Vorurteilen, Fehlern und Ungenauigkeiten hatte, gleichsam wie in einem Kokon, die Wahrheit geschlummert.

Die Welt wurde nicht euklidisch; ihre geometrische Natur wurde durch Massen und ihre Geschwindigkeiten geformt.

Immer stürmischer vollzog sich die wissenschaftliche Bewegung in einer Welt, die von Einstein aus ihren Banden der absoluten Zeit und des absoluten Raumes befreit worden war.

Zwei in verschiedene Richtungen verlaufende Strömungen, die eine um kosmologische Erkenntnisse bemüht, die andere bestrebt, den Atomkern zu erforschen, verloren doch nicht die Verbindung zueinander, obgleich die eine in Parsec, die andere in Mikrometern maß. Je tiefer die Physiker ins Innere des Atoms vordrangen, umso klarer wurden ihnen die Gesetze, die das Leuchten der Sterne bestimmten. Die Erkenntnis über die Rotverschiebung von Spektrallinien in den Spektren entfernter Galaxien hatte zur Vorstellung von im unendlichen Raum auseinanderstrebenden kosmischen Systemen geführt. Doch ging man lieber von einem endlichen, linsenförmigen, nicht durch Geschwindigkeiten und Massen entstellten Raum aus, so wurde es möglich, sich vorzustellen, dass ein Raum, der Galaxien verschlang, selbst von Expansion ergriffen war.

Strum zweifelte nicht daran, dass kein Mensch auf der Welt glücklicher als ein Wissenschaftler sein könnte. Manchmal, wenn er morgens auf dem Weg ins Institut oder auf dem Abendspaziergang oder eben in der Nacht über seine Arbeit nachdachte, wurde er von Glück, Demut und Begeisterung ergriffen.

Die Kräfte, die das Weltall mit dem stillen Glanz der Sterne erfüllten, wurden bei der Umwandlung von Wasserstoff in Helium freigesetzt.

Zwei Jahre vor dem Krieg hatten zwei junge Deutsche schwere Atomkerne mit Neutronen gespalten, und sowjetische Physiker hatten bei ihren Forschungen – auf anderen Wegen zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangend – plötzlich das empfunden, was hunderttausend Jahre zuvor der Höhlenmensch erfuhr, als er sein erstes Feuer entfacht hatte.

Es lag klar auf der Hand, die maßgebliche Wissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert war die Physik – genau wie Stalingrad im Jahr 1942 für alle Fronten des Weltkriegs zum Richtweiser des Angriffs geworden war.

Doch trotz dieses stolzen Bewusstseins blieben Strum Zweifel, Leid und Ungewissheit hart auf den Fersen.

18

»Vitja, ich bin sicher, dass Dich mein Brief erreichen wird, obwohl ich mich hinter der Frontlinie und hinter dem Stacheldraht des jüdischen Ghettos befinde. Deine Antwort werde ich nie erhalten, ich werde nicht mehr leben. Ich möchte, dass Du über meine letzten Tage Bescheid weißt; dieser Gedanke macht es mir leichter, aus dem Leben zu scheiden.

Es ist schwer, Vitja, die Menschen wirklich zu begreifen … Am siebten Juli sind die Deutschen in die Stadt eingedrungen. Im Stadtpark wurden über Funk die letzten Nachrichten ausgegeben; ich kam gerade aus der Poliklinik, nach der Sprechstunde, und blieb stehen, um zuzuhören; die Sprecherin verlas auf Ukrainisch einen Bericht über die Kampfhandlungen. Ich hörte Schießereien in der Ferne, dann kamen Leute durch den Park gerannt. Ich ging zu einem Haus und wunderte mich sehr, wieso ich den Fliegeralarm nicht gehört hatte. Plötzlich erblickte ich einen Panzer, und irgendwer schrie: ›Die Deutschen sind durchgebrochen!‹

Ich sagte: ›Verbreitet doch keine Panik!‹ Am Tag zuvor war ich beim Sekretär des Stadtsowjets gewesen und hatte um die Ausreisebewilligung gebeten, da hatte er sich geärgert: ›Darüber zu reden ist noch viel zu früh. Wir haben noch nicht einmal die Listen zusammengestellt!‹ Kurzum, es waren die Deutschen. Die ganze Nacht hindurch gab es ein Hin-und-her-Gerenne bei den Nachbarn, am ruhigsten waren noch die kleinen Kinder und ich. Ich dachte nur, was mit allen geschieht, das wird auch mit mir geschehen. Zuerst war ich erschrocken, als ich begriff, dass ich Dich niemals wiedersehen würde; ich hatte den leidenschaftlichen Wunsch, Dich noch einmal anzuschauen, Deine Stirn und Deine Augen zu küssen, dann aber sagte ich mir: Was für ein Glück ist es doch, dass Du in Sicherheit bist.

Gegen Morgen schlief ich ein, und als ich erwachte, empfand ich furchtbare Traurigkeit. Ich war in meinem Zimmer, in meinem Bett, und doch fühlte ich mich in der Fremde, verloren, allein.

An diesem Morgen erinnerte ich mich an das, was ich in den Jahren der sowjetischen Herrschaft vergessen hatte – dass ich Jüdin bin. Die Deutschen fuhren auf Lastwagen ein und schrien: ›Juden kaputt!‹

Und da erinnerten mich auch einige meiner Nachbarn daran. Die Hausmeisterfrau stand unter meinem Fenster und sagte zur Nachbarin: ›Gott sei Dank, mit den Juden ist’s jetzt vorbei.‹ Woher dies auf einmal? Ihr Sohn ist mit einer Jüdin verheiratet; die Alte hatte ihren Sohn besucht und mir von den Enkelkindern erzählt.

Meine Nachbarin, Witwe – sie hat ein sechsjähriges kleines Mädchen, Aljonuschka, mit wunderschönen blauen Augen, ich schrieb Dir einmal von ihr –, sie kam zu mir und sagte: ›Ich bitte Sie, Anna Semjonowna, bis zum Abend Ihre Sachen auszuräumen; ich werde in Ihr Zimmer umziehen.‹ – ›Gut, dann ziehe ich in Ihres.‹ – ›Nein, Sie ziehen in das Kämmerchen hinter der Küche.‹ ich lehnte ab; die Kammer hatte weder Fenster noch einen Ofen.

Ich ging in die Poliklinik, und als ich zurückkam, stellte ich fest: Die Tür zu meinem Zimmer war aufgebrochen, und meine Sachen waren in die Kammer geworfen worden. Die Nachbarin sagte zu mir: ›Ich habe das Sofa bei mir stehenlassen, es passt sowieso nicht in Ihr neues Zimmerchen hinein.‹

Es ist schon erstaunlich, sie hat das Technikum abgeschlossen, und ihr verstorbener Mann, ein feiner und stiller Mensch, war Buchhalter. ›Sie stehen außerhalb des Gesetzes‹, sagte sie in einem Ton, der darauf schließen ließ, dass ihr das sehr gelegen kam. Ihre Aljonuschka aber saß den ganzen Abend bei mir, und ich erzählte ihr Märchen. Das war meine Einzugsfeier. Sie wollte nicht schlafen gehen; die Mutter musste sie auf den Armen forttragen. Danach, Vitjenka, wurde unsere Poliklinik wieder geöffnet, und ich und noch ein jüdischer Arzt wurden entlassen. Ich bat um das Geld für den letzten Arbeitsmonat, doch der neue Klinikleiter sagte zu mir: ›Soll Sie doch Stalin dafür bezahlen, was Sie unter sowjetischer Herrschaft gearbeitet haben; schreiben Sie ihm nach Moskau.‹ Die Krankenpflegerin Marussja umarmte mich und klagte leise: ›Herr, du mein Gott, was wird nur aus Ihnen, was wird nur aus euch allen?‹ Und Doktor Tkatschew drückte mir die Hand. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Schadenfreude oder die mitleidigen Blicke, die man einer krepierenden, räudigen Katze schenkt. Ich hatte nicht gedacht, dass ich das alles einmal selbst erleben muss.

Viele Leute haben mir einen Schlag versetzt, und nicht nur ungebildete Menschen mit schwarzer, verhärteter Seele. Da ist unser alter Lehrer, Rentner, 75 Jahre alt, er hat sich immer nach Dir erkundigt, Grüße ausrichten lassen und über Dich gesagt: ›Er ist unser ganzer Stolz.‹ Aber in diesen verfluchten Tagen grüßte er mich nicht einmal, wenn er mir begegnete, sondern wandte sich ab. Später hat man mir dann erzählt, dass er auf einer Versammlung und in der Kommandantur gesagt habe: ›Die Luft ist rein, es riecht nicht mehr nach Knoblauch.‹ Warum tut er das – mit diesen Worten besudelt er sich doch nur selbst. Auf der gleichen Versammlung hat es derartig viele Verleumdungen von Juden gegeben … Aber natürlich, Vitjenka, sind nicht alle zu dieser Versammlung gegangen. Viele haben sich geweigert. Weißt Du, in meinem Bewusstsein verbindet sich der Antisemitismus schon seit der Zeit des Zarenreichs mit dem Hurrapatriotismus der Leute vom Erzengel-Michael-Bund10. Und jetzt habe ich festgestellt, dass die Menschen, die nach der Befreiung Russlands von den Juden schreien, auch diejenigen sind, die sich auf lakaienhaft erbärmliche Weise vor den Deutschen erniedrigen, bereit, Russland für dreißig deutsche Silberlinge zu verraten. Und lichtscheues Gesindel aus der Vorstadt plündert, reißt Wohnungen, Bettzeug und Kleider an sich: Solche Leute ermordeten wahrscheinlich zur Zeit der Choleraaufstände die Ärzte. Es gibt seelisch labile Menschen, die sich jedem Schwachsinn unterwerfen, nur um ja nicht in den Verdacht zu geraten, gegen die Staatsmacht zu sein.

Pausenlos kommen Bekannte mit Neuigkeiten zu mir gelaufen, alle haben irre Augen, die Menschen sind wie im Wahn. Ein merkwürdiger Ausdruck ist aufgekommen: ›Sachen umverstecken‹. Man glaubt wohl, sie seien beim Nachbarn sicherer. Das Umverstecken der Sachen kommt mir wie ein Spiel vor.

Bald darauf wurde die Umsiedlung der Juden verkündet. Es wurde gestattet, fünfzehn Kilo persönliche Habe mitzunehmen. An den Hauswänden hingen gelbliche Anschläge: ›Alle Juden werden aufgefordert, bis spätestens 15. Juli 1941, 18.00 Uhr, in den Altstadtbezirk umzuziehen.‹ Diejenigen, die nicht umgezogen sind, werden erschossen.

So habe ich mich denn auch aufgemacht, Vitjenka. Ich nahm ein Kopfkissen, etwas Wäsche, die kleine Tasse, die Du mir einmal geschenkt hast, einen Löffel, ein Messer und zwei Teller mit. Braucht der Mensch denn viel? Ich packte noch einige medizinische Instrumente ein, Deine Briefe, die Fotografien von meiner verstorbenen Mutter und Onkel David und die, wo Du mit Papa zusammen schläfst, ein Bändchen Puschkin, die ›Lettres de mon moulin‹, ein Bändchen Maupassant, das die Erzählung ›Une vie‹ enthält, ein kleines Wörterbuch und den Tschechow-Band, in dem ›Eine langweilige Geschichte‹ und ›Der Bischof‹ stehen – und damit war mein Korb voll. Wie viele Briefe habe ich Dir schon unter diesem Dach geschrieben, wie viele Stunden nachts durchweint, jetzt will ich Dir noch von meiner Einsamkeit berichten.

Ich nahm Abschied vom Haus, von dem Gärtchen, saß ein paar Minuten unter dem Baum, nahm Abschied von den Nachbarn. Manche Menschen sind merkwürdig beschaffen. Zwei Nachbarinnen fingen in meinem Beisein an, darüber zu streiten, wer sich die Stühle und wer den kleinen Schreibtisch nehmen würde, aber als ich mich von ihnen verabschiedete, weinten beide. Ich habe meine Nachbarn, die Bassankos, gebeten, dass sie Dir, solltest Du nach dem Krieg einmal herkommen und etwas über mich erfahren wollen, die Einzelheiten meines Schicksals erzählen. Sie haben es mir versprochen. Das Hündchen, der Straßenköter Tobik, rührte mich – am letzten Abend strich er irgendwie besonders liebevoll um mich herum.

Wenn Du kommst, gib ihm zu fressen, weil er zu der alten Jüdin nett gewesen ist.

Als ich mich auf den Weg machte und mich fragte, wie ich den Korb bis zur Altstadt schleppen sollte, kam plötzlich mein Patient Schtschukin, ein mürrischer und, wie mir schien, hartherziger Mann. Er erbot sich, mir meine Sachen zu tragen, gab mir dreihundert Rubel und sagte, dass er mir einmal in der Woche Brot an den Zaun bringen würde. Er arbeitet in einer Druckerei, an die Front wurde er wegen seines Augenleidens nicht eingezogen. Vor dem Krieg hatte er sich von mir behandeln lassen; wenn ich aufgefordert worden wäre, Menschen mit teilnahmsvollem, reinem Herzen aufzuzählen – ich hätte Dutzende von Namen genannt, nur nicht seinen. Weißt Du, Vitjenka, nachdem er gekommen war, fühlte ich mich wieder als Mensch, denn das bedeutete, dass mich nicht nur ein Straßenköter menschlich behandeln konnte.

Er erzählte mir, in der städtischen Druckerei werde der Befehl gedruckt, dass es den Juden verboten sei, auf dem Gehsteig zu gehen, dass sie auf der Brust einen gelben Flicken in Form eines sechszackigen Sterns tragen müssten, dass sie nicht das Recht hätten, öffentliche Verkehrsmittel und Bäder zu benutzen, Ambulatorien aufzusuchen, ins Kino zu gehen, dass es ihnen verboten sei, Butter, Eier, Milch, Beerenobst, Weißbrot, Fleisch und alle Gemüsearten, außer Kartoffeln, zu kaufen; Einkäufe auf dem Markt dürften erst nach sechs Uhr abends gemacht werden (wenn die Bauern den Markt verlassen). Die Altstadt werde mit Stacheldraht umzäunt, und das Verlassen des umzäunten Gebiets sei verboten; es sei nur unter Bewachung für die Zwangsarbeit möglich. Wenn ein Jude in einem russischen Haus entdeckt werde, werde der Hauswirt erschossen, als hätte er einen Partisanen versteckt.

Der Schwiegervater von Schtschukin, ein alter Bauer, der aus dem benachbarten Marktflecken Tschudnow gekommen war, hatte mit eigenen Augen gesehen, dass alle Juden des Ortes mit Bündeln und Koffern in den Wald getrieben wurden. Von dort hatte man den ganzen Tag das Knattern von Schüssen und Schreie gehört, nicht ein Mensch war zurückgekehrt. Die Deutschen aber, die beim Schwiegervater Quartier gemacht hatten, waren spätabends heimgekommen – betrunken – und hatten bis zum Morgen gesoffen, gesungen und im Beisein des Alten Broschen, Ringe und Armbänder unter sich verteilt. Ich weiß nicht, ob dies ein zufälliger Akt der Willkür war oder ein Vorzeichen des Schicksals, das auch uns erwartet.

Wie traurig, lieber Sohn, war mein Weg in dieses mittelalterliche Ghetto. Ich ging durch die Stadt, in der ich zwanzig Jahre gearbeitet habe. Zuerst gingen wir durch die menschenleere Swetschnajastraße. Doch als wir auf die Nikolskajastraße gelangten, sah ich Hunderte von Menschen, die in dieses verfluchte Ghetto gingen. Die Straße war weiß von Bündeln und Kopfkissen. Die Kranken führte man am Arm. Den gelähmten Vater von Dr. Margulis trugen sie auf einer Decke. Ein junger Mann trug in seinen Armen eine Greisin, hinter ihm gingen Frau und Kinder, mit Bündeln beladen. Der Leiter des Kolonialwarengeschäfts, Gordon, ein Dicker, der an Atemnot leidet, hatte einen Mantel mit Pelzkragen übergezogen, und sein Gesicht triefte vor Schweiß. Ein junger Mann verblüffte mich: Er ging ohne Gepäck mit hocherhobenem Kopf und hielt ein aufgeschlagenes Buch vor sein hochmütiges, ruhiges Gesicht. Doch wie viele um mich herum waren wie von Sinnen, voll des Entsetzens!

Wir gingen auf der gepflasterten Straße, auf dem Gehsteig aber standen die Leute und schauten uns zu.

Eine Weile ging ich mit den Margulis zusammen und hörte die mitleidigen Seufzer der Frauen. Über Gordon aber in seinem Wintermantel machten sie sich lustig, obwohl er, glaub mir, schrecklich aussah, nicht komisch. Ich sah viele bekannte Gesichter. Manche nickten mir zum Abschied zu, andere wandten sich ab. Ich glaube, dass es in dieser Menge keine gleichgültigen Augen gegeben hat; da waren neugierige und da waren mitleidslose, und ein paarmal sah ich auch verweinte Augen.

Ich sah zweierlei Menschenmassen – auf der Straße die Juden in Mantel und Mütze, die Frauen in Winterkleidern, und auf dem Gehsteig die sommerlich gekleidete Menge, helle Blusen, die Männer ohne Jackett, einige in bestickten ukrainischen Hemden. Ich hatte das Gefühl, dass für die die Straße entlanggehenden Juden die Sonne bereits aufgehört hatte zu scheinen, dass sie durch nächtlichen Dezemberfrost schritten.

Am Eingang des Ghettos verabschiedete ich mich von meinem Begleiter; er zeigte mir die Stelle an der Drahtsperre, wo wir uns treffen würden.

Weißt Du, Vitjenka, was für eine Erfahrung ich machte, als ich hinter dem Stacheldraht war? Ich hatte gedacht, dass ich Grauen empfinden würde. Doch stell Dir vor, in diesem Pferch wurde mir leichter ums Herz. Denk nicht etwa, ich hätte eine Sklavenseele! Nein. Nein. Um mich herum waren Menschen mit dem gleichen Schicksal, im Ghetto musste ich nicht wie ein Pferd auf der Straße gehen, da gab es keine gehässigen Blicke, und meine Bekannten schauten mir in die Augen und wichen einer Begegnung mit mir nicht aus. In diesem Pferch tragen alle das Mal, das uns von den Faschisten aufgebrannt worden ist, und deshalb brennt dieses Mal nicht so stark in meiner Seele. Hier fühlte ich mich nicht wie ein rechtloses Vieh, sondern wie ein unglücklicher Mensch. Davon wurde mir leichter.

Ich zog zusammen mit meinem Kollegen, Doktor Sperling, in ein Lehmhäuschen, das aus zwei kleinen Zimmerchen besteht. Sperlings haben zwei erwachsene Töchter und einen Sohn von ungefähr zwölf Jahren. Ich betrachte immer lange sein mageres Gesichtchen und seine großen, traurigen Augen; er heißt Jura. Zweimal nannte ich ihn Vitja, da hat er mich verbessert: ›Ich bin Jura, nicht Vitja.‹

Wie verschieden sind doch die Menschen! Sperling ist mit seinen achtundfünfzig Jahren noch voller Energie. Er hat Matratzen, Petroleum und eine Fuhre Brennholz aufgetrieben. In der Nacht brachten sie einen Sack Mehl und einen halben Sack Bohnen ins Häuschen. Er freut sich wie ein Junge über jeden Erfolg. Gestern hat er Wandteppiche aufgehängt. ›Macht nichts, macht nichts, wir überstehen alles‹, pflegt er zu sagen, ›Hauptsache, wir decken uns mit Lebensmitteln und Brennholz ein.‹

Er sagte mir, dass im Ghetto eine Schule eingerichtet werden müsste. Er hat mir sogar vorgeschlagen, dass ich Jura Französischunterricht geben solle und er mir die Stunden mit einem Teller Suppe bezahle. Ich habe eingewilligt.

Sperlings Frau, die dicke Fanni Borissowna, seufzt: ›Alles ist hin, und wir sind auch hin‹, doch dabei passt sie auf, dass ihre ältere Tochter Ljuba, ein gutherziges, liebes Geschöpf, nur ja niemandem eine Handvoll Bohnen oder einen Kanten Brot gibt. Die jüngere aber, Mutters Liebling Alja, ist eine wahre Teufelsbrut: herrisch, misstrauisch und geizig; mit Vater und Schwester schreit sie ununterbrochen herum. Vor dem Krieg war sie aus Moskau zu Besuch gekommen und ist dann hier hängengeblieben.

Mein Gott, was für ein Elend ringsum! Wenn die, die immer vom Reichtum der Juden reden, die behaupten, dass sie immer etwas für den Notfall aufgespart haben, nur einen Blick auf unsere Altstadt werfen würden! Jetzt ist er da, der Notfall, schlimmer kann er nicht sein. In der Altstadt wohnen ja nicht nur die Umsiedler mit ihren 15 Kilogramm Gepäck pro Kopf, hier haben schon immer Handwerker, alte Leute, Arbeiter und Krankenschwestern gelebt. In was für einer fürchterlichen Enge lebten und leben sie. Und wie sie sich ernähren! Könntest Du nur einmal diese halb verfallenen, in die Erde eingesunkenen Elendshütten sehen!

Vitjenka, ich sehe hier auch viele schlechte Menschen – gierige, verschlagene, sogar welche, die bereit sind zum Verrat. Es gibt hier einen furchtbaren Menschen, Epstein, den es aus irgendeinem polnischen Städtchen zu uns verschlagen hat. Er trägt eine Armbinde, filzt mit den Deutschen zusammen die Häuser, nimmt an Verhören teil, besäuft sich mit den ukrainischen Polizisten, und die schicken ihn in die Häuser, um Wodka, Geld und Lebensmittel zu erpressen. Ich habe ihn wohl zweimal gesehen – er ist ein schöner, hochgewachsener Mann, trägt einen stutzerhaften, cremefarbenen Anzug, und selbst der gelbe Stern, der auf seinen Rock aufgenäht ist, sieht wie eine gelbe Chrysantheme aus.

Doch ich möchte Dir noch etwas anderes sagen. Ich habe mich nie als Jüdin gefühlt; von Kindheit an bin ich im Kreise russischer Freundinnen aufgewachsen. Von den Dichtern liebte ich Puschkin und Nekrassow am meisten, und das Stück, bei dem ich gemeinsam mit dem ganzen Publikum, dem Kongress russischer Landärzte, geweint habe, war ›Onkel Wanja‹ mit Stanislawski. Früher einmal, Vitjenka, als ich ein Mädchen von vierzehn Jahren war, wollte meine Familie nach Südamerika emigrieren. Damals sagte ich zu Papa: ›Aus Russland gehe ich nirgendwohin fort, dann schon lieber ins Wasser.‹ Und bin nicht fortgegangen.

Und jetzt, in diesen schrecklichen Tagen, hat sich mein Herz mit mütterlicher Zärtlichkeit für das jüdische Volk gefüllt. Früher wusste ich nichts von dieser Liebe. Sie erinnert mich an meine Liebe zu Dir, mein teurer Sohn.

Ich mache Hausbesuche bei den Kranken. In winzigen Zimmerchen leben die Menschen zu Dutzenden zusammengepfercht: halb erblindete Greise, Säuglinge, Schwangere. Ich war gewohnt, in Menschenaugen Krankheitssymptome – eines Glaukoms oder Katarakts – zu suchen. Jetzt kann ich den Menschen nicht mehr in dieser Weise in die Augen sehen – in ihren Augen sehe ich nur noch das Spiegelbild der Seele. Einer guten Seele, Vitjenka! Einer todtraurigen und gütigen, spöttischen und verlorenen Seele, die von der Gewalt besiegt wurde und zugleich über die Gewalt triumphiert. Ich sehe das Spiegelbild einer starken Seele, Vitja!

Wenn Du sehen könntest, mit welchem Interesse mich die alten Männer und Frauen über Dich ausfragen. Wie herzlich mich Menschen trösten, obwohl ich über nichts klage, Menschen, deren Lage schlimmer ist als meine.

Mir kommt es manchmal so vor, als besuche nicht ich die Kranken, sondern im Gegenteil, als heile der gütige Arzt Volk meine Seele. Und wie rührend sie mir für die Behandlung ein Stück Brot überreichen, ein Zwiebelchen, eine Handvoll Bohnen!

Glaub mir, Vitjenka, das ist nicht die Bezahlung für den Arztbesuch. Wenn mir ein alter Arbeiter die Hand drückt, zwei, drei Kartöffelchen in die Handtasche steckt und sagt: ›Schon gut, Frau Doktor, ich bitte Sie‹, dann kommen mir die Tränen. Es liegt darin etwas so Reines, Väterliches und Gütiges, dass ich es Dir mit Worten gar nicht wiedergeben kann.

Ich möchte Dich nicht damit trösten, dass ich diese Zeit leicht überstanden habe. Du solltest Dich darüber wundern, dass mein Herz nicht vor Schmerz zersprungen ist. Doch quäl Dich nicht mit dem Gedanken, dass ich gehungert haben könnte, ich war diese ganze Zeit über nicht einmal hungrig. Und außerdem – ich habe mich nicht einsam gefühlt.

Was soll ich Dir über die Menschen hier erzählen, Vitja? Die Menschen verblüffen mich im positiven und im negativen Sinn. Sie sind unglaublich verschieden, obwohl sie das gleiche Schicksal erfahren. Du kannst Dir vorstellen, wenn sich bei einem Gewitter die meisten Leute vor dem Regenguss in Sicherheit bringen wollen, dann heißt das ja auch noch lange nicht, dass diese Leute alle gleich sind. Und außerdem schützt sich jeder auf seine Weise vor dem Regen …

Doktor Sperling ist überzeugt, dass die Judenverfolgungen eine vorübergehende Erscheinung sind und nach dem Krieg aufhören werden. Leute wie ihn gibt es eine ganze Menge, und mir ist aufgefallen, dass die Menschen umso kleinlicher und egoistischer sind, je mehr Optimismus sie noch haben. Wenn irgendjemand während des Mittagessens kommt, verstecken Alja und Fanni Borissowna gleich das Essen.

Sperlings sind gut zu mir, vor allem deshalb, weil ich wenig esse und mehr Lebensmittel heimbringe, als ich verbrauche. Doch ich habe beschlossen, von ihnen wegzuziehen, sie sind mir unangenehm. Ich werde mir einen Winkel suchen. Je größer der Kummer im Menschen ist, desto weniger Hoffnung setzt er auf das Überleben, desto großherziger, gütiger und besser wird er.

Die Armen – Klempner, Schneider, Näherinnen –, die zum Untergang verdammt sind, sind bei weitem dankbarer, großzügiger und verständnisvoller als die, die sich listenreich mit Lebensmitteln eingedeckt haben. Die jungen Lehrerinnen, der verschrobene alte Lehrer und Schachspieler Spielberg, die stillen Bibliothekarinnen, der Ingenieur Reiwitsch, der hilfloser als ein Kind ist und davon träumt, das Ghetto mit selbstgebastelten Granaten auszurüsten – was sind das alles für wunderbare, unpraktische, liebe, traurige, gütige Menschen.

Hier erkenne ich, dass die Hoffnung fast nie etwas mit Vernunft zu tun hat, sie wird wohl aus dem Instinkt geboren.

Die Menschen, Vitja, leben so, als hätten sie noch lange Jahre vor sich. Man darf das weder als Dummheit noch als Klugheit auffassen, es ist einfach so. Und auch ich unterwerfe mich diesem Gesetz. Zwei Frauen aus dem Marktflecken sind hierhergekommen und erzählen das Gleiche, was mir mein Freund erzählt hat. Die Deutschen vernichten im Umkreis alle Juden, ohne Kinder und Greise zu schonen. Die Deutschen und die Polizei kommen in Autos angefahren und holen ein paar Dutzend Männer zur Feldarbeit; die graben tiefe Gräben, und zwei bis drei Tage danach treiben die Deutschen die jüdische Bevölkerung zu diesen Gräben und erschießen alle ohne Ausnahme. Überall in den Marktflecken um unsere Stadt herum wachsen diese jüdischen Hügelgräber aus dem Boden.

Im Nachbarhaus wohnt ein Mädchen aus Polen. Sie erzählt, dass Massaker dort an der Tagesordnung seien; die Juden würden alle bis zum letzten Mann abgeschlachtet, nur in ein paar Ghettos – in Warschau, Łódź und Radom – hätten sich noch Juden erhalten. Als ich das alles überdachte, wurde mir sonnenklar, dass man uns hier nicht versammelt hat, um uns zu erhalten, wie die Wisente im Bjelowescher Naturschutzgebiet, sondern um uns zu schlachten. Planmäßig werden wir in ein, zwei Wochen an die Reihe kommen. Doch stell Dir vor, obwohl ich das begriffen habe, behandle ich die Kranken weiter und sage: ›Wenn Sie die Augen regelmäßig mit der Medizin baden, werden Sie in zwei bis drei Wochen gesund sein.‹ Ich beobachte einen alten Mann, dem man in einem halben bis einem Jahr vielleicht den Star operativ entfernen muss.

Ich gebe Jura Französischunterricht und ärgere mich über seine falsche Aussprache.

Und gleichzeitig brechen die Deutschen ins Ghetto ein und plündern, die Wachposten schießen zum Vergnügen durch den Drahtverhau auf Kinder, und immer neue Leute bestätigen, dass sich unser Schicksal jeden Tag entscheiden kann.

So geht es eben – die Menschen leben weiter. Neulich hatten wir sogar eine Hochzeit. Gerüchte kommen haufenweise auf. Einmal teilt der Nachbar, vor Freude keuchend, mit, dass unsere Truppen zum Angriff übergegangen seien und die Deutschen in die Flucht gejagt hätten. Dann entsteht plötzlich das Gerücht, die sowjetische Regierung und Churchill hätten den Deutschen ein Ultimatum gestellt und Hitler hätte befohlen, die Juden nicht umzubringen. Dann wieder heißt es, die Juden würden gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht.

Es zeigt sich, dass es nirgendwo so viel Hoffnung gibt wie im Ghetto. Die Welt ist voller Ereignisse, und alle Ereignisse, ihr Sinn und ihre Ursache, laufen immer auf ein und dasselbe hinaus – auf die Rettung der Juden. Was für ein Reichtum an Hoffnungen!

Die Quelle dieser Hoffnungen ist allein der Selbsterhaltungstrieb, der sich, bar jeder Logik, gegen die grauenhafte Unbedingtheit unseres spurlosen Untergangs auflehnt. Ich sehe mich um und kann es nicht glauben – sind wir wirklich alle zum Tode Verurteilte, die auf ihre Hinrichtung warten? Die Friseure, Schuster, Schneider, Ärzte und Ofensetzer, alle arbeiten sie. Es ist sogar ein kleines Entbindungsheim aufgemacht worden, vielmehr der schwache Abklatsch eines Entbindungsheims. Wäsche trocknet, Wäsche wird gewaschen, das Mittagessen wird gekocht, die Kinder gehen seit dem ersten September in die Schule, und die Mütter erkundigen sich bei den Lehrern nach den Noten ihrer Kinder.

Der alte Spielberg hat ein paar Bücher neu binden lassen. Alja Sperling macht morgens Gymnastik und dreht sich vor dem Schlafengehen die Haare auf Lockenwickler auf, streitet sich mit dem Vater herum, weil sie irgendwelche Stoffe für zwei Sommerfähnchen haben will.

Auch ich bin von morgens bis abends beschäftigt, mache Krankenbesuche, gebe Stunden, stopfe, wasche, bereite mich auf den Winter vor und unterlege meinen Herbstmantel mit Watte. Ich höre mir Berichte an über Strafmaßnahmen, die gegen Juden verhängt wurden: Eine Bekannte, die Frau eines Rechtsberaters, wurde bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt, weil sie ein Entenei für ihr Kind gekauft hatte; einem Buben, dem Sohn des Provisors Sirota, haben sie die Schulter durchschossen, weil er versucht hatte, unter dem Stacheldraht durchzukriechen, um seinen weggerollten Ball zu holen. Und immer wieder Gerüchte, Gerüchte, Gerüchte.

Was jetzt kommt, ist kein Gerücht. Heute haben die Deutschen achtzig junge Männer zur Arbeit getrieben, angeblich zum Kartoffelgraben; einige haben sich gefreut, sie könnten vielleicht ein paar Kartoffeln für die Angehörigen mit heimbringen. Doch ich habe begriffen, von welchen Kartoffeln die Rede ist.

Die Nacht im Ghetto ist eine besondere Zeit, Vitja. Weißt Du, mein Freund, ich habe Dich immer dazu angehalten, mir die Wahrheit zu sagen; der Sohn muss seiner Mutter immer die Wahrheit sagen. Doch auch die Mutter muss ihrem Sohn die Wahrheit sagen. Denk nicht, Vitjenka, dass Deine Mama ein starker Mensch sei. Ich bin schwach. Ich habe Angst vor Schmerzen und bin feige, wenn ich im Zahnarztstuhl sitze. Als Kind hatte ich Angst vor dem Donner und fürchtete mich vor der Dunkelheit. Als alte Frau fürchtete ich Krankheit und Einsamkeit, hatte Angst davor, krank zu werden, weil ich dann nicht mehr arbeiten könnte und Dir zur Last fallen würde und Du mich das vielleicht spüren ließest. Ich hatte Angst vor dem Krieg. In den Nächten jetzt, Vitja, packt mich solches Grauen, dass mir das Herz zu Eis erstarrt. Auf mich wartet der Tod. Ich möchte Dich zu Hilfe rufen.

Als Kind bist Du einmal Schutz suchend zu mir gerannt. Und nun möchte ich in schwachen Minuten meinen Kopf in Deinem Schoß verbergen, damit Du, der Kluge und Starke, mich verteidigst, mich schützt. Meine Seele ist nicht immer stark, Vitja, sie ist auch schwach. Oft denke ich an Selbstmord, ich weiß nicht, was mich davon abhält – Schwäche, Stärke oder einfach sinnlose Hoffnung.

Genug davon. Ich schlafe ein und sehe Traumbilder. Oft sehe ich meine verstorbene Mutter und spreche mit ihr. Heute Nacht sah ich im Traum Alexandra Schaposchnikowa, als wir zusammen in Paris lebten. Doch Dich habe ich noch kein einziges Mal im Traum gesehen, obwohl ich ständig an Dich denke, sogar in den schlimmsten Augenblicken der Angst. Ich wache auf und sehe plötzlich diese Zimmerdecke, dann fällt mir ein, dass auf unserem Boden die Deutschen sind, dass ich eine Aussätzige bin, und mir scheint, dass ich nicht aufgewacht, sondern im Gegenteil eingeschlafen bin und träume.

Doch nach ein paar Minuten höre ich, wie sich Alja und Ljuba darüber streiten, wer an der Reihe sei, zum Brunnen zu gehen, höre die Leute darüber sprechen, dass die Deutschen nachts in der Nachbarstraße einem alten Mann den Schädel eingeschlagen haben.

Eine Bekannte, Studentin an der Lehrerbildungsanstalt, kam zu mir und holte mich zu einem Kranken. Es stellte sich heraus, dass sie einen Leutnant versteckt hält, der an der Schulter verwundet ist und dessen Auge verbrannt ist. Ein sympathischer und abgequälter junger Mann mit dem Akzent eines Wolgarussen. Er hatte sich in der Nacht durch den Drahtverhau gearbeitet und im Ghetto Zuflucht gefunden. Sein Auge war nicht allzu stark beschädigt; es gelang mir, den Eiterungsprozess zu stoppen. Er erzählte viel über die Kämpfe, über die Flucht unserer Truppen und hat mich damit traurig gemacht. Er will sich erholen und dann durch die Frontlinie gehen. Es werden noch ein paar junge Burschen mit ihm ziehen, einer davon war mein Schüler. Ach, Vitjenka, wenn ich nur mit ihnen gehen könnte! Ich habe mich so gefreut, als ich diesem jungen Mann helfen konnte; ich hatte dabei das Gefühl, dass auch ich am Krieg gegen den Faschismus teilnehme.

Sie brachten ihm Kartoffeln, Brot und Bohnen, und ein altes Mütterchen hat ihm Wollsocken gestrickt.

Heute geht es den ganzen Tag dramatisch zu. Am Tag zuvor hat Alja durch eine russische Bekannte den Pass eines im Krankenhaus gestorbenen russischen jungen Mädchens erhalten. In der Nacht wird Alja fortgehen. Und heute haben wir von einem uns bekannten Bauern, der am Ghettozaun vorbeifuhr, erfahren, dass die Juden, die zum Kartoffelgraben getrieben worden waren, vier Werst außerhalb der Stadt, neben dem Flugplatz an der Straße nach Romanowka, tiefe Gräben ausheben. Präg Dir diesen Namen gut ein, Vitja, dort wirst Du das Massengrab finden, in dem Deine Mutter liegen wird.

Sogar Sperling hat alles begriffen; den ganzen Tag über ist er bleich, seine Lippen zittern, und er fragt mich verstört: ›Gibt es eine Hoffnung, dass sie Spezialisten am Leben lassen?‹ Man erzählt sich, dass tatsächlich in einigen Flecken die besten Schneider, Schuster und Ärzte nicht hingerichtet wurden.

Und dennoch hat Sperling abends den alten Ofensetzer kommen lassen, und der hat in die Wand ein Versteck für Mehl und Salz gemacht. Und ich habe abends mit Jura die ›Lettres de mon moulin‹ gelesen. Erinnerst Du Dich, als wir beide laut meine Lieblingserzählung ›Les vieux‹ lasen, einander ansahen, lachten und uns beiden die Tränen in den Augen standen? Darauf habe ich Jura Hausaufgaben für übermorgen aufgegeben. Es muss so sein. Doch wie war mir zumute, als ich das traurige Gesicht meines Schülers betrachtete, seine Finger, die in das Heftchen die Nummern der ihm aufgegebenen Grammatikparagrafen eintrugen.

Wie viele dieser Kinder gibt es: wunderschöne Augen, dunkle Locken; es sind wahrscheinlich künftige Gelehrte, Physiker, Medizinprofessoren, Musiker, vielleicht auch Dichter unter ihnen.

Ich sehe zu, wie sie morgens in die Schule rennen, unkindlich ernsthaft und mit weit aufgerissenen, tragischen Augen. Manchmal fangen sie an, zu toben und zu raufen und lauthals zu lachen, doch das macht einen nicht froher, man wird nur von Grauen gepackt.

Es heißt, Kinder seien unsere Zukunft. Doch was sagst Du zu diesen Kindern? Es wird ihnen nicht vergönnt sein, Musiker, Schuster oder Zuschneider zu werden. Heute Nacht habe ich mir ganz deutlich vorgestellt, wie diese ganze lärmende Welt voller bärtiger, sorgenvoller Familienväter und griesgrämiger alter Mütterchen, die Honigkuchen und weiches Konfekt zaubern, diese Welt der Hochzeitsbräuche, Sprichwörter und Sabbatfeiertage für immer unter der Erde verschwinden wird. Nach dem Krieg wird das Leben neu erstehen, doch uns wird es nicht mehr geben, wir sterben aus wie die Azteken.

Der Bauer, der uns die Nachricht vom Ausheben der Gräber gebracht hat, berichtet, dass seine Frau nachts geweint und laut gejammert habe: ›Sie nähen und sind Schuster und verarbeiten Leder und reparieren Uhren und verkaufen in der Apotheke Arznei … was wird nur sein, wenn man sie alle umgebracht hat?‹

Und ebenso deutlich sehe ich, wie jemand, an den Trümmern vorübergehend, einmal sagen wird: ›Erinnerst du dich, hier wohnten mal Juden, der Ofensetzer Boruch. Am Samstagabend saß seine Alte auf der Bank, und neben ihr spielten Kinder.‹ Und der Zweite wird sagen: ›Und dort, unter dem alten Birnbaum, saß immer die Ärztin, ich habe ihren Namen vergessen, ich hab mir mal von ihr die Augen behandeln lassen, nach der Arbeit trug sie immer einen Korbstuhl hinaus und saß mit einem Buch im Freien.‹ So wird es sein, Vitja.

Als habe ein Pesthauch die Gesichter gestreift, so spüren es jetzt alle, dass es zu Ende geht.

Vitjenka, ich möchte Dir sagen … nein, das nicht, das nicht.

Vitjenka, ich beschließe diesen Brief, bringe ihn an den Ghettozaun und übergebe ihn meinem Freund. Es fällt mir nicht leicht, diesen Brief abzubrechen, er ist mein letztes Gespräch mit Dir. Wenn ich den Brief übergebe, gehe ich endgültig von Dir, Du wirst niemals mehr etwas über meine letzten Stunden erfahren. Dies ist unser allerletzter Abschied. Was soll ich Dir zum Abschied vor der ewigen Trennung sagen? In diesen Tagen, wie auch in meinem ganzen Leben, warst Du meine Freude. In den Nächten rief ich mir Dich in Erinnerung, Deine Kinderkleider, Deine ersten Bücher, erinnerte mich an Deinen ersten Brief, Deinen ersten Schultag; an alles, alles erinnerte ich mich, von Deinen ersten Lebenstagen an bis zu dem letzten Lebenszeichen von Dir, dem Telegramm, das ich am 30. Juni bekommen habe. Ich schloss die Augen, und mir war, als nähmst Du mich vor dem heranrückenden Grauen in Schutz, mein Freund. Und wenn ich mich wieder auf das besann, was um mich herum geschah, dann freute ich mich, dass Du nicht an meiner Seite bist – möge das furchtbare Schicksal an Dir vorübergehen!

Vitja, ich war immer einsam. In schlaflosen Nächten weinte ich vor Kummer. Das hat wohl niemand gewusst. Ich fand Trost in dem Gedanken, dass ich Dir einmal von meinem Leben erzählen würde. Ich wollte Dir erzählen, warum ich mich von Deinem Vater scheiden ließ, warum ich lange Jahre allein gelebt habe. Oft dachte ich: Wie wird sich Vitja wundern, wenn er erfährt, dass seine Mutter Fehler gemacht, sich dumm angestellt hat und eifersüchtig war, dass man auf sie eifersüchtig war, dass sie so war, wie alle jungen Frauen sind. Doch es ist mein Schicksal, mein Leben einsam zu beschließen, ohne mich Dir anvertraut zu haben. Manchmal glaubte ich, dass ich nicht so fern von Dir leben dürfe. Allzu sehr liebte ich Dich und dachte, dass mir die Liebe das Recht gäbe, im Alter bei Dir zu sein. Manchmal glaubte ich wieder, dass ich nicht mit Dir zusammenleben dürfe, allzu sehr liebte ich Dich.

Na, enfin … Sei immer glücklich mit denen, die Du liebst, die um Dich sind, die Dir näher als die Mutter geworden sind. Vergib mir!

Von der Straße ist das Weinen einer Frau und das Fluchen von Polizisten zu hören; ich betrachte diese Seiten und habe das Gefühl, dass ich vor der grauenvollen, leiderfüllten Welt geschützt bin.

Wie soll ich diesen Brief beenden? Woher soll ich die Kraft nehmen, mein lieber Sohn? Hat der Mensch denn Worte, die meine Liebe zu Dir ausdrücken könnten? Ich küsse Dich, Deine Augen, Deine Stirn, Dein Haar.

Denk daran, dass immer, in Tagen des Glücks und in Tagen des Kummers, die Liebe Deiner Mutter bei Dir ist; diese Liebe vermag niemand zu ermorden.

Vitjenka … dies ist die letzte Zeile des letzten Briefes Deiner Mutter an Dich. Lebe, lebe, lebe ewig … Mama.«

19

Vor dem Krieg hatte Strum nie daran gedacht, dass er Jude war, dass seine Mutter Jüdin war. Nie hatte die Mutter mit ihm darüber gesprochen, weder in seiner Kindheit noch in seiner Studentenzeit. Niemals während seines Studiums an der Moskauer Universität hatte ihn auch nur ein einziger Student, Professor oder Seminarleiter darauf angesprochen.

Niemals vor dem Krieg hatte er im Institut oder in der Akademie der Wissenschaften Gespräche darüber anhören müssen.

Niemals war auch nur einmal der Wunsch in ihm erwacht, mit Nadja darüber zu sprechen, ihr zu erklären, dass ihre Mutter Russin war, ihr Vater aber Jude.

Das Jahrhundert Einsteins und Plancks war zugleich das Jahrhundert Hitlers. Die Gestapo und die Renaissance der Wissenschaft waren von der gleichen Zeit hervorgebracht worden. Wie menschlich war das neunzehnte Jahrhundert, das Jahrhundert der naiven Physik, im Vergleich zum zwanzigsten. Das zwanzigste Jahrhundert hatte seine Mutter getötet. Zwischen den Prinzipien des Faschismus und denen der modernen Physik bestand eine grauenvolle Übereinstimmung.

Der Faschismus hatte sich vom Begriff der individuellen Persönlichkeit, vom Begriff »Mensch« losgesagt und operierte mit riesigen Ganzheiten. Die moderne Physik sprach von größeren und kleineren Wahrscheinlichkeitsphänomenen in diesen oder jenen Ganzheiten physikalischer Individuen. Basierte der Faschismus in seiner entsetzlichen Mechanik etwa auf dem Gesetz der Quantenpolitik, der politischen Wahrscheinlichkeit?

Der Faschismus war zur Idee der Vernichtung ganzer Bevölkerungsschichten, nationaler und rassischer Gemeinschaften gelangt, weil die Wahrscheinlichkeit des unterschwelligen und offenen Widerstands in diesen Schichten und Zwischenschichten größer war als in anderen Schichten und Gruppen. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeitstheorie, angewendet auf menschliche Ganzheiten.

Aber nein, natürlich nicht! Der Faschismus würde untergehen, weil er darauf verfallen war, die Gesetze von Atomen und Pflastersteinen auf den Menschen anzuwenden!

Faschismus und Mensch konnten nicht gemeinsam existieren. Wenn der Faschismus siegte, würde der Mensch aufhören zu existieren, es würden nur innerlich verformte, menschenähnliche Wesen übrig bleiben. Doch wenn der Mensch siegte, ausgestattet mit Freiheit, Vernunft und Güte, würde der Faschismus untergehen, und diejenigen, die sich ihm unterworfen hatten, würden wieder zu Menschen werden.

Hieß das nicht, die Gedanken seines Freundes Tschepyschin über den Sauerteig anzuerkennen, die er diesen Sommer noch attackiert hatte?11 Es kam ihm vor, als habe das Gespräch mit Tschepyschin in endlos ferner Vergangenheit stattgefunden, als lägen Jahrzehnte zwischen dem Moskauer Sommerabend und dem Heute.

Ihm war, als sei damals ein anderer, nicht er, Strum, über den Trubnaplatz gegangen, als habe ein anderer voller Erregung zugehört und hitzig und voller Selbstbewusstsein diskutiert. Mutter … Marussja … Tolja …

Es gab Augenblicke, da erschien ihm die Wissenschaft als eine Täuschung, die ihn daran hinderte, den Wahnwitz und die Grausamkeit des Lebens wahrzunehmen.

Vielleicht war die Wissenschaft nicht zufällig zur Gefährtin dieses schrecklichen Jahrhunderts geworden, vielleicht war sie seine Verbündete. Wie einsam fühlte er sich. Er hatte niemanden, dem er seine Gedanken hätte anvertrauen können. Tschepyschin war weit weg. Postojew fand das alles verschroben und uninteressant. Und Sokolow hatte einen Hang zur Mystik, gepaart mit seiner seltsamen religiösen Unterwürfigkeit gegenüber neronischer Grausamkeit und Ungerechtigkeit.

In seinem Labor arbeiteten zwei hervorragende Wissenschaftler, der Experimentalphysiker Markow und der kluge Sawostjanow, ein Freund des Alkohols. Doch wenn Strum mit ihnen über all das hätte sprechen wollen, hätten sie ihn für einen Psychopathen gehalten.

Er holte den Brief seiner Mutter aus dem Schreibtisch und las ihn wieder.

»Vitja, ich bin sicher, dass Dich mein Brief erreichen wird, obwohl ich mich hinter der Frontlinie und hinter dem Stacheldraht des jüdischen Ghettos befinde … Woher soll ich die Kraft nehmen, mein lieber Sohn …«

Und die kalte Klinge schlug wieder gegen seine Kehle.

20

Ljudmila Nikolajewna holte aus dem Briefkasten einen Feldpostbrief.

Mit großen Schritten eilte sie ins Zimmer, hielt das Kuvert gegen das Licht und riss den Umschlag aus grobem Papier an der Kante auf.

Für einen Augenblick stellte sie sich vor, dass aus dem Kuvert Fotos von Tolja herausfallen würden – Tolja als winziges Baby, als er den Kopf noch nicht halten konnte, nackt auf einem Kissen liegend, mit den Bärenfüßchen in der Luft strampelnd und die Lippen spitzend.

Auf scheinbar unerklärliche Weise verschlang sie, ohne die Worte im Einzelnen zu lesen, die Zeilen, geschrieben in der sauberen Handschrift eines ungeübten Schreibers, saugte sie in sich auf und begriff: Er lebt, er ist am Leben!

Sie las, dass Tolja an Brust und Hüfte schwer verwundet war, dass er viel Blut verloren hatte und zu schwach sei, selbst zu schreiben, dass er schon seit vier Wochen fieberte … Doch Tränen des Glücks verschleierten ihr die Augen, so groß war ihre Verzweiflung noch im Augenblick davor gewesen.

Sie ging auf die Treppe hinaus, las die ersten Zeilen des Briefes und trat, ruhig geworden, in den Holzschuppen. Dort, im kalten Dämmerlicht, las sie die Mitte und den Schluss des Briefes und begriff nach kurzem Nachdenken, dass der Brief ein Abschied war.

Ljudmila Nikolajewna begann, Brennholz in den Sack zu packen. Obwohl ihr der Doktor, von dem sie sich in Moskau in der Poliklinik hatte behandeln lassen, streng verboten hatte, Lasten über drei Kilogramm zu heben und sich rasch und ruckartig zu bewegen, schulterte Ljudmila Nikolajewna ächzend wie eine Bäuerin den Sack voll grauer Holzscheite und stieg, ohne anzuhalten, in den ersten Stock hinauf. Sie ließ den Sack auf den Boden plumpsen; das Geschirr auf dem Tisch klirrte unter der Erschütterung.

Ljudmila zog den Mantel an, band das Tuch um den Kopf und ging auf die Straße hinaus.

Die Passanten überholten sie und blickten sich dann nach ihr um.

Sie überquerte die Straße; die Straßenbahn klingelte schrill, und die Wagenführerin drohte ihr mit der Faust.

Wenn sie rechts in die Gasse einbog, käme sie zur Fabrik, wo ihre Mutter arbeitete.

Sollte Tolja sterben, würde sein Vater nichts davon erfahren. In welchem Lager sollte man ihn suchen, vielleicht war er schon lange tot …

Ljudmila Nikolajewna ging zu Viktor Pawlowitsch ins Institut. Als sie am Häuschen der Sokolows vorbeikam, trat sie in den Hof, klopfte ans Fenster, doch der Vorhang blieb zugezogen – Marja Iwanowna war nicht zu Hause.

»Viktor Pawlowitsch ist gerade in sein Büro gegangen«, sagte jemand zu ihr; sie bedankte sich, obwohl sie nicht begriff, wer mit ihr sprach, ein Bekannter oder Unbekannter, ein Mann oder eine Frau, und ging in den Laborraum, wo wie immer anscheinend niemand ernsthaft arbeitete. Normalerweise sah es im Labor so aus, als plauderten die Männer oder schauten rauchend in ein Buch; die Frauen aber waren immer beschäftigt: Entweder kochten sie in den Kolben Tee, oder sie entfernten mit einem Lösungsmittel ihren Nagellack, oder sie strickten.

Ljudmila registrierte Kleinigkeiten, zahllose Kleinigkeiten, zum Beispiel das Papier, aus dem sich ein Laborant eine Zigarette drehte.

In Viktor Pawlowitschs Büro wurde sie laut begrüßt. Sokolow kam rasch auf sie zu, fast rennend, und schwenkte ein großes weißes Kuvert:

»Sie machen uns Hoffnung; es besteht der Plan beziehungsweise die Aussicht, wieder nach Moskau zurückevakuiert zu werden, mit allen Habseligkeiten und Apparaturen und mit den Familien. Nicht schlecht, was? Allerdings stehen die Termine noch nicht völlig fest. Aber immerhin!«

Sein freudig erregtes Gesicht und seine Augen waren ihr zuwider. Wäre Marja Iwanowna wohl genauso froh auf sie zugelaufen? Nein, nein. Marja Iwanowna hätte sofort alles begriffen, hätte es ihr am Gesicht abgelesen.

Hätte sie gewusst, dass sie so viele glückliche Gesichter sehen würde, wäre sie natürlich nicht zu Viktor gegangen. Auch Viktor freute sich, und seine Freude würde abends nach Hause kommen – und Nadja würde glücklich sein; sie würden das verhasste Kasan verlassen.

Waren alle diese Menschen, so viele es auch sein mochten, das junge Blut wert, mit dem diese Freude erkauft wurde?

Vorwurfsvoll richtete sie den Blick auf ihren Mann.

Er fing ihren düsteren Blick auf – mit verstehenden Augen, in denen Unruhe und Besorgnis zu lesen waren.

Als sie allein waren, sagte er ihr, dass er sofort, kaum als sie eingetreten war, begriffen habe, dass ein Unglück geschehen sei.

Er las den Brief und sagte immer wieder:

»Was soll man nur machen, mein Gott, was denn nur?«

Viktor Pawlowitsch zog den Mantel an. Sie gingen zum Ausgang.

»Ich komme heute nicht«, sagte er zu Sokolow, der neben dem neuen, kürzlich ernannten Personalchef Dubenkow stand, einem großen Mann mit rundem Kopf in einem weiten, modischen Jackett, das für seine breiten Schultern immer noch zu eng war.

Strum sagte, einen Augenblick Ljudmilas Hand loslassend, mit gedämpfter Stimme zu Dubenkow:

»Wir wollten damit anfangen, die Listen für Moskau zusammenzustellen, aber heute kann ich nicht, ich erkläre es später.«

»Weshalb sich aufregen, Viktor Pawlowitsch«, sagte Dubenkow mit weichem Bass. »Vorläufig besteht kein Grund zur Eile. Das ist eine Planung für die Zukunft. Ich nehme die grobe Arbeit auf mich.«

Sokolow winkte ab und nickte. Er ahnte wohl etwas von dem neuen Kummer, der Strum getroffen hatte.

Kalter Wind fegte durch die Straßen und wirbelte den Staub auf; er schnürte ihn zu einem Bündel, dann plötzlich schleuderte er ihn fort, verstreute ihn wie schwarze, ungenießbare Graupen. Eine unerbittliche Härte war in dieser Kälte, in dem knöchernen Klopfen der Zweige, im eisigen Blau der Straßenbahnschienen.

Seine Frau wandte ihm ihr vom Leid verjüngtes, eingefallenes, verfrorenes Gesicht zu; eindringlich und bittend sah sie Viktor Pawlowitsch an.

Sie hatten einmal eine junge Katze gehabt, die bei ihrer ersten Niederkunft das Junge nicht hatte gebären können; sterbend war sie zu Strum gekrochen, hatte geschrien und ihn mit weit aufgerissenen, hellen Augen angesehen. Doch wen sollte man bitten, zu wem sollte man beten an diesem riesigen, leeren Himmel, auf dieser erbarmungslosen, staubigen Erde?

»Da ist das Krankenhaus, in dem ich gearbeitet habe«, sagte sie.

»Ljuda«, sagte er plötzlich, »geh ins Krankenhaus. Da können sie dir sicher die Feldpostnummer dechiffrieren. Warum ist mir das nicht früher eingefallen!«

Er sah zu, wie Ljudmila Nikolajewna die Stufen hinaufstieg und mit dem Pförtner verhandelte.

Strum ging um die Ecke und kehrte wieder zur Krankenhauseinfahrt zurück. Passanten liefen mit Einkaufsnetzen an ihm vorüber, manche hatten auch Einmachgläser dabei, in denen graue Makkaroni und Kartoffeln in einer grauen Suppe schwammen.

»Vitja«, rief seine Frau.

An ihrer Stimme merkte er, dass sie sich beherrschte.

»Also«, sagte sie, »er ist in Saratow. Wir fanden heraus, dass der stellvertretende Chefarzt vor kurzem dort gewesen war. Er hat mir die Straße und die Hausnummer aufgeschrieben.«

Sogleich stellte sich eine Menge Fragen und Aufgaben: Wann ging ein Schiff, wie kam man an eine Fahrkarte? Man musste Kleider und Lebensmittel beschaffen, Geld besorgen, die Genehmigung für eine Dienstreise ergattern.

Ljudmila Nikolajewna fuhr ohne Kleider und Lebensmittel ab und fast ohne Geld. Sie ging, ohne eine Fahrkarte zu besitzen, in dem allgemeinen hastigen Gedränge, das bei der Einschiffung entstanden war, an Deck.

Sie nahm nur die Erinnerung an den Abschied von ihrer Mutter, von ihrem Mann und von Nadja an dem dunklen Herbstabend mit. Schwarze Wellen rauschten an den Bordwänden entlang. Ein niedrig wehender Wind peitschte, heulte, riss Spritzer von Flusswasser mit sich fort.

21

Dementi Trifonowitsch Getmanow, Sekretär des Gebietskomitees eines von den Deutschen besetzten Teils der Ukraine, war zum Kommissar eines Panzerkorps ernannt worden, das im Ural aufgestellt wurde.

Bevor er sich an seinen Bestimmungsort begab, flog er in einer »Douglas« nach Ufa; dorthin war seine Frau mit den Kindern evakuiert worden.

Die Genossen in Ufa hatten sich seiner Familie angenommen: Man konnte, was die alltäglichen Bedürfnisse und die Unterkunft betraf, einigermaßen zufrieden sein. Getmanows Frau, Galina Terentjewna, schon vor dem Krieg von auffallender Körperfülle – eine Folge ihres mangelhaften Stoffwechsels –, war während der Evakuierung nicht schmaler geworden, sie schien sogar sichtlich erholt. Auch die beiden Töchter und der noch nicht schulpflichtige Sohn sahen gesund aus.

Getmanow blieb fünf Tage in Ufa. Der Abschied am Abend vor seiner Abreise fand in kleinem Kreis statt. Nikolai Terentjewitsch war eingeladen, der jüngste Bruder seiner Frau, er war stellvertretender Sekretär beim Rat der Volkskommissare der Ukraine, Maschtschuk, ein alter Kamerad Dementi Getmanows, er bekleidete ein hohes Amt bei den Kiewer Sicherheitsorganen, und Sagaidak, ein leitender Funktionär der Propagandaabteilung des Ukrainischen Zentralkomitees, der mit Galina Terentjewnas Schwester verheiratet war.

Sagaidak kam erst nach zehn, die Kinder schliefen schon, und das Gespräch wurde halblaut geführt.

Getmanow sagte: »Wie wär’s mit einem Schluck Moskauer Gorilka, Genossen?«

Alles an Getmanow war mächtig: das ergrauende, zottige Haupt, die breite, gewölbte Stirn, die fleischige Nase, die Hände, die Finger, die Schultern, der kräftige Hals. Der ganze Mann aber, Summe dieser massigen Körperteile, war von kleinem Wuchs. Und merkwürdigerweise waren es die kleinen Augen in seinem großen Gesicht, die den Blick auf sich zogen und im Gedächtnis haftenblieben. Sie waren schmal, kaum sichtbar hinter den geschwollenen Lidern und von unbestimmter Farbe, man konnte nicht sagen, ob das Grau oder das Blau darin überwog. Aber ein lebhafter und durchdringender Verstand sprach aus diesen Augen.

Galina Terentjewna erhob mühelos ihren schweren Körper und verließ das Zimmer. Die Männer verstummten. Minuten des Schweigens vergingen, wie das oft vorkommt – bei Bauern ebenso wie bei Städtern –, wenn man darauf wartet, dass der Wein gebracht wird. Schon bald kam Galina Terentjewna mit einem Tablett zurück. Es war erstaunlich, wie ihre dicken Hände es fertiggebracht hatten, in diesen wenigen Minuten so viele Konservenbüchsen zu öffnen und all die Gläser und Teller zusammenzusuchen.

Maschtschuk ließ seinen Blick über die handgewebten ukrainischen Decken an den Wänden, über die breite Ottomane und die einladenden Flaschen und Dosen gleiten.

»Das Sofa dort, Galina Terentjewna«, sagte er, »habe ich in Ihrer Wohnung gesehen. Es muss schon ein Kunststück gewesen sein, so etwas mitzunehmen. Das nenne ich Organisationstalent!«

»Stell dir vor«, sagte Getmanow, »ich war schon fort, als man sie evakuierte – sie hat alles ganz allein geschafft!«

»Hätte ich’s etwa den Deutschen lassen sollen, Landsleute?«, sagte Galina Terentjewna. »Wo sich doch Dima so an das Sofa gewöhnt hatte; kaum war er zurück aus seinem Büro, da streckte er sich auch schon auf dem Sofa aus, um seine Unterlagen zu lesen …«

»Wann liest denn der schon, der schläft doch nur«, sagte Sagaidak.

Als Galina Terentjewna wieder in die Küche gegangen war, wandte sich Maschtschuk augenzwinkernd an Getmanow und sagte halb flüsternd: »Na, ich seh sie schon vor mir, die Frau Doktor, die Militärärztin, mit der Dementi Trifonowitsch Bekanntschaft schließen wird …«

»Ja, er wird es sicher toll treiben«, stimmte Sagaidak zu.

»Hört doch auf damit, ich bin Invalide«, wies Getmanow sie zurecht.

»So?«, sagte Maschtschuk. »Und wer war es dann, der sich in Kislowodsk immer nachts um drei in den Krankensaal zurückschlich?«

Die Gäste brachen in schallendes Gelächter aus. Getmanow streifte den Bruder seiner Frau mit einem durchdringenden Blick.

In diesem Augenblick kam Galina Terentjewna wieder herein. Sie sah die lachenden Männer der Reihe nach an und sagte: »Kaum ist die Ehefrau hinausgegangen, da seid ihr schon dabei, meinem armen Dima Gott weiß was beizubringen!«

Getmanow goss Wodka in die Gläser, und jeder begann, sich sorgfältig seine Sakuska auszusuchen. Mit einem Blick auf das Stalin-Bild, das an der Wand hing, erhob Getmanow sein Glas:

»Also, Genossen, den ersten Trinkspruch bringen wir auf unseren Vater aus. Möge er uns lange erhalten bleiben!«

Er sagte das in ungezwungenem, familiärem Ton, wie um anzudeuten, dass die Größe Stalins für alle unbestritten war, dass die an diesem Tisch Versammelten jedoch vor allem deswegen auf sein Wohl tranken, weil sie in ihm den schlichten, bescheidenen und mitfühlenden Menschen schätzten. Stalin auf dem Bild kniff die Augen zusammen, und während sein Blick über den Tisch und Galina Terentjewnas üppigen Busen wanderte, schien er sagen zu wollen: »Jetzt, Kinder, werde ich mir mein Pfeifchen anzünden und mich zu euch setzen.«

»Recht so, unser Väterchen soll leben!«, rief der Bruder der Hausherrin. »Was wären wir ohne ihn?«

Sein Glas an den Lippen, warf er einen fragenden Seitenblick auf Sagaidak, ob der nicht auch etwas sagen wollte. Sagaidak sah zu dem Bild hoch und sagte: »Worüber sollten wir noch reden, Vater? Du weißt ja alles.« Er leerte sein Glas. Und alle folgten seinem Beispiel.

Dementi Trifonowitsch stammte aus Liwny im Gebiet Woronesch, doch langjährige Beziehungen verbanden ihn mit den ukrainischen Genossen, denn er war seit vielen Jahren für die Partei in der Ukraine tätig. Die Bande, die ihn mit Kiew verknüpften, waren nach seiner Heirat mit Galina Terentjewna noch inniger geworden. Zahlreiche Verwandte seiner Frau saßen dort in hohen Partei- und Regierungsämtern.

Dementi Trifonowitschs Leben war herzlich arm an Ereignissen gewesen. Am Bürgerkrieg hatte er nicht teilgenommen. Nie hatten Polizisten ihn gehetzt, nie zaristische Gerichte ihn nach Sibirien verbannt. Seine Referate auf Konferenzen und Kongressen las er meist vom Blatt ab, und obwohl er sie nicht selbst schrieb, las er gut – ausdrucksvoll und ohne zu stocken. Sie waren allerdings auch mit großen Schrifttypen und doppeltem Zeilenabstand getippt, der Name Stalins stets mit roter Schrift besonders hervorgehoben. Als junger Mann war Getmanow das, was man einen gescheiten, disziplinierten Burschen nennt. Er hätte gern am Institut für Mechanik studiert, wurde aber stattdessen zur Arbeit in den Sicherheitsorganen abkommandiert und war bald darauf Leibwächter des Sekretärs seines Kreiskomitees. Man wurde auf ihn aufmerksam und schickte ihn zur Kaderschulung, dann wurde er in den Parteiapparat geholt, zuerst in die Organisations- und Instrukteurabteilung des Kreiskomitees, später in die Kaderabteilung des Zentralkomitees, wo er innerhalb eines Jahres zum Instrukteur der Abteilung für Führungskader der Partei aufstieg. Dann, gleich nach dem Jahr 1937, wurde er Sekretär des Gebietskomitees und damit »Herr und Meister« des ganzen Gebiets, wie man so sagte.

Ein Wort von ihm konnte über das Schicksal von Fakultätspräsidenten, Ingenieuren, Bankdirektoren, Gewerkschaftssekretären, Kolchosvorsitzenden oder über das Los einer Theateraufführung entscheiden.

Das Vertrauen der Partei! Getmanow war sich der ungeheuren Bedeutung dieser Worte bewusst. Die Partei vertraute ihm! Sein Lebenswerk umfasste zwar keine großen Bücher, ruhmvollen Entdeckungen oder gewonnenen Schlachten, doch sein Leben war erfüllt von gewaltiger, beharrlicher, zielstrebiger Arbeit, von Anstrengungen und durchwachten Nächten. Der Sinn all seines Wirkens gründete in den Forderungen und Interessen der Partei. Und das Vertrauen der Partei war sein schönster Lohn.

Getmanows Entscheidungen mussten stets und unter allen Umständen vom Parteibewusstsein getragen sein – ging es nun darum, ein Kind ins Waisenhaus einzuweisen, den Lehrstuhl für Biologie an der Universität zu reorganisieren oder die Genossenschaft zur Herstellung von Plastikgegenständen aus dem Raum auszuquartieren, der der Bibliothek gehörte. Das Parteibewusstsein bestimmte auch die Haltung des Parteifunktionärs gegenüber einem Buch oder einem Bild; deshalb musste er, ohne zu zögern, auf einen vertrauten Gegenstand, auf ein Buch etwa, das er liebte, verzichten, sofern seine eigenen Neigungen mit dem Interesse der Partei in Konflikt zu geraten drohten. Aber Getmanow wusste: Es gab ein noch höheres Parteibewusstsein, das von vornherein Neigungen und Sympathien ausschloss, die nicht mit dem Interesse der Partei übereinstimmten, und das dem Parteifunktionär nichts anderes lieb und teuer erscheinen ließ als das, was den Standpunkt der Partei zum Ausdruck brachte.

Grausam und hart waren manchmal die Opfer, die Getmanow um seines Parteibewusstseins willen bringen musste. Ob es um einen Landsmann ging oder einen Lehrer aus der Schulzeit, dem er viel zu verdanken hatte – Urteile wie »ist von der Parteilinie abgewichen«, »hat den Standpunkt der Partei nicht genügend vertreten«, »hat sich parteischädigend verhalten« oder »hat verraten« durften ihn nicht aus dem Gleichgewicht bringen … Gerade darin offenbarte sich dieses hohe Parteibewusstsein, dass die Opfer gar keine Opfer waren, denn persönliche Gefühle wie Liebe, Freundschaft oder Verbundenheit mit den Landsleuten endeten dort, wo sie dem Interesse der Partei zu widersprechen drohten.

Die Arbeit all derer, die das Vertrauen der Partei besitzen, wird kaum bemerkt, und doch ist sie etwas Gewaltiges – sie verlangt alles, Verstand und Herz, bis zum Letzten. Die Macht des Parteifunktionärs stützt sich nicht auf das Genie des Gelehrten, das Talent des Schriftstellers. Sie steht über Genie und Talent – begabte Forscher, Sänger oder Schriftsteller lauschten begierig dem richtungweisenden, entscheidenden Wort Getmanows, der selbst weder singen noch Klavier spielen oder gar Theaterstücke inszenieren konnte, ja, der nicht einmal genug Bildung und Einfühlungsvermögen besaß, um die Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse oder künstlerischer Werke zu erfassen.

Kein Volkstribun, kein großer Denker besaß je eine solche Fülle von Macht, wie sie Getmanow, der Sekretär einer Gebietsparteiorganisation, in seinen Händen vereinigte.

Für Getmanow offenbarte sich der Sinn der Worte »Vertrauen der Partei« in den Ansichten, den Gefühlen, dem Verhalten Stalins. Und Stalins Vertrauen zu diesem oder jenem Kampfgefährten, Volkskommissar oder Marschall bezeichnete auch den eigentlichen Kern dessen, was man Parteilinie nannte.

Dementi Trifonowitschs Gäste unterhielten sich hauptsächlich über seinen neuen Aufgabenbereich in der Armee. Sie wussten, dass er mit einer bedeutenderen Verwendung hätte rechnen können: Zum Heer abkommandierte Parteifunktionäre seines Ranges wurden gewöhnlich Mitglieder des Kriegsrats einer Armee, wenn nicht gar einer ganzen Front.

Dass man ihn einem Panzerkorps zugewiesen hatte, erfüllte Getmanow mit tiefer Verstimmung und Besorgnis. Über einen Freund im Organisationsbüro des ZK versuchte er zu erfahren, ob er möglicherweise an höchster Stelle Missfallen erregt habe. Anscheinend aber lag gegen ihn nichts vor, was Anlass zur Beunruhigung sein konnte.

So begann Dementi Trifonowitsch – um sich zu trösten – nun damit, die guten Seiten dieser Versetzung zu entdecken. Schließlich würde ja die Panzerwaffe den Ausgang des Krieges entscheiden, sie sollte an den Schlüsselpunkten eingesetzt werden. Zu einem Panzerverband aber kommt nicht der Erstbeste. Eher macht man dich zum Mitglied eines Kriegsrats bei irgendeiner abgekämpften Armee, die einen strategisch weniger wichtigen Abschnitt verteidigt, als dass man dich zu einem Panzerkorps schickt. Die Partei hatte ihm also ihr besonderes Vertrauen erwiesen. Trotzdem kränkte ihn die Sache. Es hätte ihm große Freude bereitet, in der neuen Uniform vor den Spiegel zu treten und zu sagen: »Mitglied des Kriegsrats der Armee, Brigadekommissar Getmanow.«

Am meisten ärgerte er sich über den Kommandeur des Panzerkorps, Oberst Nowikow. Zwar war er ihm bisher noch nicht persönlich begegnet, aber alles, was er über ihn gehört hatte, erregte sein Missfallen.

Getmanows Freunde, die mit ihm zusammen am Tisch saßen, hatten volles Verständnis für die Stimmung, in der er sich befand, und jedes Wort, das zu seiner Ernennung geäußert wurde, war dazu angetan, ihn aufzuheitern.

Sagaidak sagte, das Panzerkorps werde wahrscheinlich nach Stalingrad abkommandiert werden. Genosse Stalin kenne den Oberbefehlshaber der dortigen Front, General Jeremenko, noch vom Bürgerkrieg her, von der 1. Reiterarmee, er telefoniere oft über seine besondere Leitung mit ihm und empfange ihn jedes Mal, wenn er in Moskau sei. Kürzlich sei der General Gast in Stalins Datscha gewesen. Genosse Stalin habe sich zwei Stunden mit ihm unterhalten. Es sei gut, unter dem Befehl eines Mannes zu kämpfen, der in so hohem Maße das Vertrauen Stalins besitze.

Dann erinnerte man sich, dass Nikita Sergejewitsch12 Getmanow aus seiner Zeit in der Ukraine in guter Erinnerung habe – was für ein Glücksfall sei es für Dementi Trifonowitsch, gerade an die Front zu kommen, deren Kriegsrat Nikita Sergejewitsch angehörte.

»Es ist bestimmt kein Zufall, dass Genosse Stalin Nikita Sergejewitsch nach Stalingrad geschickt hat«, bemerkte Nikolai Terentjewitsch. »Das ist die Front, an der die Entscheidung fallen wird – wen sonst hätte er hinschicken sollen?«

»Nun, ist es da vielleicht ein Zufall, dass Genosse Stalin meinen Dementi Trifonowitsch zu einem Panzerkorps abkommandiert?«, rief Galina Terentjewna herausfordernd.

»Schön und gut«, meinte Getmanow offenherzig, »aber dass ich da in einem Panzerkorps lande, das ist ungefähr so, als würde der Erste Sekretär eines Gebietskomitees zum Sekretär irgendeines Kreiskomitees ›aufrücken‹. Die Freude ist nicht groß.«

»Nein, nein!«, entgegnete Sagaidak ernst. »In dieser Ernennung zeigt sich das Vertrauen der Partei. Ein Kreiskomitee – mag sein, aber kein gewöhnliches mit ein paar Dörfern, sondern eins mit Städten wie Magnitogorsk und Dneprodserschinsk. Ein Korps, gewiss, aber doch kein gewöhnliches – ein Panzerkorps!«

Maschtschuk wusste zu berichten, dass der Kommandeur des Panzerkorps, dem Getmanow als Kommissar zugeteilt war, erst kürzlich ernannt worden sei. Er habe vorher nie einen Verband befehligt. Das habe ihm ein Kollege aus der Sonderabteilung der Front mitgeteilt, der unlängst in Ufa gewesen sei.

»Und er hat mir noch etwas gesagt«, fuhr Maschtschuk fort, besann sich jedoch und fügte hastig hinzu: »Aber was soll ich ihnen da viel erzählen, Dementi Trifonowitsch. Sie wissen bestimmt mehr über den Mann als er selbst …«

Getmanow kniff seine schmalen, klugen Augen zu einem Spalt zusammen, und seine fleischigen Nasenflügel zuckten, als er sagte: »Nun ja, schon!«

Maschtschuks Antwort war ein leises, ironisches Lächeln, das keinem der Gäste entging. Es war seltsam: Obgleich Maschtschuk mit den Getmanows verschwägert war und sich bei Familientreffen als bescheidener, netter, einem Scherz nicht abgeneigter Mensch gab, spürten seine Verwandten doch eine gewisse Spannung, wenn sie seiner sanften, einschmeichelnden Stimme lauschten und ihm in die dunklen, ruhigen Augen im langen, blassen Gesicht schauten. Selbst Getmanow fühlte es, ohne dass es ihn überraschte, denn er wusste, welche Macht hinter Menschen wie Maschtschuk stand, Maschtschuk, der von Dingen Kenntnis hatte, die sogar ihm zuweilen verborgen blieben.

»Wer ist der Mann eigentlich?«, fragte Sagaidak.

»Ach, irgend so ein Emporkömmling der Kriegszeit«, antwortete Getmanow abschätzig, »vor dem Krieg hat er sich durch nichts Besonderes ausgezeichnet.«

»Gehörte er nicht zur Nomenklatura?«, fragte der Bruder der Hausherrin mit einem Lächeln.

»Ob er zur Nomenklatura gehörte oder nicht«, erwiderte Getmanow mit einer geringschätzigen Handbewegung, »er ist jedenfalls ein tüchtiger Mann, Panzersoldat, sogar ein guter, sagt man. Stabschef des Korps ist General Neudobnow. Ich habe ihn auf dem achtzehnten Parteitag kennengelernt. Ein kluger Kopf.«

Maschtschuk sagte: »Illarion Innokentjewitsch Neudobnow? Das stimmt! Ich habe unter ihm angefangen. Später hat uns das Schicksal auseinandergeführt. Kurz vor Ausbruch des Krieges sind wir uns im Vorzimmer von Lawrenti Pawlowitsch13 wiederbegegnet.«

»Wirklich auseinandergeführt?«, sagte Sagaidak lächelnd. »Du musst das dialektisch sehen, nach Identität und Einheit suchen, nicht nach Trennendem …«

»Wie ungereimt es doch im Krieg zugehen kann«, sagte Maschtschuk. »Da wird irgendein Oberst Korpskommandeur und ein General Neudobnow sein Untergebener!«

»Er hatte keine Kriegserfahrung, das darf man nicht übersehen«, entgegnete Getmanow.

Aber Maschtschuk wunderte sich weiter: »Man stelle sich vor, ein Neudobnow! Ein einziges Wort von ihm gab bei Entscheidungen den Ausschlag! Parteiveteran, Mitglied schon vor der Revolution, enorme Erfahrung auf militärischem Gebiet und in der Staatsverwaltung! Es gab mal eine Zeit, da dachte man, er würde sogar als Mitglied ins Kollegium aufgenommen werden.«

Die übrigen Gäste pflichteten ihm bei. Es war eine passende Gelegenheit, ihr Mitgefühl für Getmanow durch Sympathieerklärungen für Neudobnow zu demonstrieren.

»Ja, der Krieg hat alles durcheinandergebracht«, sagte der Bruder der Hausherrin. »Wenn er doch nur bald zu Ende wäre.«

Getmanow wandte sich, mit erhobener Hand um Aufmerksamkeit bittend, an Sagaidak.

»Haben Sie Krymow gekannt?«, fragte er. »Aus Moskau, der in Kiew in der Lektorengruppe des ZK ein Referat über die internationale Lage gehalten hat?«

»Der vor dem Krieg bei uns war? Dieser Abweichler, der irgendwann mal bei der Komintern gearbeitet hat?«

»Genau der. Und jetzt will mein Korpskommandeur die ehemalige Frau dieses Krymow heiraten …«

Diese Neuigkeit rief aus irgendeinem Grund allgemeine Heiterkeit hervor, obgleich keiner der Anwesenden die ehemalige Frau Krymows oder den Korpskommandeur, der sie heiraten wollte, persönlich kannte.

Maschtschuk sagte: »Ja, der Schwager ist nicht umsonst bei unseren Sicherheitsorganen in die Schule gegangen. Er weiß bereits über die Heiratspläne Bescheid.«

»Das muss man ihm lassen, der weiß schon, wie der Hase läuft«, sagte Nikolai Terentjewitsch.

»Das muss er auch, das höchste Oberkommando hat für Schlafmützen nichts übrig.«

»Und eine Schlafmütze ist auch unser Getmanow beim besten Willen nicht«, sagte Sagaidak.

Trocken und sachlich, als befände er sich in seinem Dienstzimmer, stellte Maschtschuk fest: »An diesen Krymow erinnere ich mich noch von damals, als er nach Kiew zu kommen pflegte – ein zwielichtiger Bursche. Seit Urzeiten jede Menge Verbindungen zu Trotzkisten und Rechtsabweichlern. Den zu durchschauen …«

Er sprach kühl und scheinbar ungezwungen, genau so hätte der Direktor einer Trikotagenfabrik oder ein Lehrer an einem Technikum von seiner Arbeit sprechen können. Und doch war allen Anwesenden klar, dass diese Sachlichkeit, diese Ungezwungenheit trügerisch war, dass er wie kein anderer wusste, wovon man reden durfte und wovon nicht. Getmanow, der seine Gesprächspartner selbst gern durch die Kühnheit, Schlichtheit und Offenheit seiner Rede verblüffte, musste ohnedies nicht erst darüber belehrt werden, welche verschwiegene, abgründige Tiefe sich unter der Oberfläche eines angeregten, unbefangenen Gesprächs verbergen konnte.

Sagaidak, der gewöhnlich ernster und sorgenvoller als die anderen Gäste wirkte, schien diesmal die unbeschwerte Stimmung festhalten zu wollen. In heiterem Ton erklärte er Getmanow: »Sogar seine Frau hat ihn verlassen, weil die Überprüfung für ihn nicht astrein gelaufen war.«

»Hoffen wir, dass das tatsächlich der Grund war«, sagte Getmanow. »Aber mir sieht es ganz danach aus, als wäre mein guter Korpskommandeur drauf und dran, eine Frau zu heiraten, die gar nicht ins Raster passt.«

»Na, wennschon! Deine Sorgen möchte ich haben«, mischte sich Galina Terentjewna ein. »Hauptsache, sie lieben sich …«

»Gewiss, Liebe ist die wichtigste Voraussetzung – jeder weiß das und vergisst es nicht«, sagte Getmanow. »Es gibt aber außerdem noch einige Dinge, die manche sowjetische Menschen vergessen.«

»Ja, das ist wahr!«, sagte Maschtschuk. »Die dürfen wir niemals vergessen.«

»Und dann fragen sich die Leute, warum das ZK sein Einverständnis verweigert, warum es so oder anders beschließt. Sie selbst aber halten nicht viel von Vertrauen.«

Galina Terentjewna erklärte plötzlich erstaunt, jede Silbe dehnend: »Es ist schon sonderbar, eurer Unterhaltung zuzuhören. Als ob es keinen Krieg gäbe und man keine anderen Sorgen hätte, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wen der Korpskommandeur Soundso heiratet und wer der ehemalige Mann seiner zukünftigen Frau ist. Mit wem wolltest du eigentlich Krieg führen, Dima?«

Sie sah die Männer spöttisch lächelnd an, und irgendetwas, das in ihren schönen braunen Augen aufleuchtete, gab diesen Ähnlichkeit mit den Schlitzaugen ihres Mannes – es musste wohl der durchdringende Blick sein, der sie einander ähnlich erscheinen ließ.

»Wie konnte jemand den Krieg vergessen?«, sagte Sagaidak mit trauriger Stimme.

»Von überall her ziehen unsere Brüder, unsere Söhne in den Krieg – von der letzten Kolchoshütte bis zum Kreml. Dieser Krieg ist ein großer, ein vaterländischer Krieg. Genosse Stalins Sohn Wassili ist Kampfflieger, auch Genosse Mikojans Sohn ist bei der Luftwaffe, ein Sohn von Lawrenti Pawlowitsch ist, wie ich höre, an der Front, ich weiß nicht, bei welcher Waffengattung. Timur Frunse ist Leutnant, ich glaube, bei der Infanterie. Dann ist der Sohn von dieser – wie heißt sie doch gleich? – Dolores Ibárruri, ihr Sohn ist bei Stalingrad gefallen …«

»Genosse Stalin hat zwei Söhne an der Front«, sagte der Bruder der Hausherrin. »Der zweite, Jakow, hat eine Artillerieeinheit befehligt. Ach nein, das stimmt nicht, der jüngere ist ja Wasska, Jakow ist der ältere. Ein unglücklicher Junge – er ist in Gefangenschaft geraten.«

Er verstummte, denn er fühlte, dass er ein Thema berührt hatte, über das nach Ansicht der älteren Genossen nicht gesprochen werden durfte.

Um das Schweigen zu brechen, fügte Nikolai Terentjewitsch unbefangen hinzu: »Übrigens werfen die Deutschen Flugblätter mit Lügenpropaganda ab – es heißt da, Jakow Stalin habe ihnen bereitwillig Aussagen gemacht.«

Aber die Leere um ihn wurde noch bedrückender. Er hatte da etwas angesprochen, was man weder im Scherz noch im Ernst hätte erwähnen dürfen, sondern hätte verschweigen müssen. Wäre es jemandem eingefallen, sich über die Gerüchte zu empören, die über Stalins Verhältnis zu seiner Frau in Umlauf waren, dann hätte dieser aufrichtige Streiter mit seinem Dementi keinen geringeren Fehler gemacht als der Verbreiter dieser Gerüchte. Ihre bloße Erwähnung war tabu.

Getmanow wandte sich unvermittelt zu seiner Frau: »Mein Herz, wo Genosse Stalin eine Angelegenheit in die Hand genommen hat, und noch dazu so energisch, da ist es an den Deutschen, sich Sorgen zu machen.«

Nikolai Terentjewitschs schuldbewusster Blick kreuzte den Blick Getmanows. Aber die Menschen, die da um den Tisch herum saßen, waren ja nicht gekommen, um sich zu streiten, um aus einer Ungeschicklichkeit eine große Geschichte, einen Fall, zu machen.

Sagaidak nahm Nikolai Terentjewitsch in Schutz. »Das ist gewiss richtig«, wandte er sich begütigend und in kameradschaftlichem Ton an Getmanow, »lassen wir es lieber unsere Sorge »ein, dass wir auf unserem eigenen Terrain keine Dummheiten machen.«

»… und kein unnützes Zeug daherschwatzen«, fügte Getmanow hinzu. Indem er so ohne Umschweife aussprach, was er Nikolai Terentjewitsch vorwarf, statt es zu verschweigen, gab er zu verstehen, dass seinem Schwager verziehen war, und Sagaidak und Maschtschuk nickten beifällig.

Nikolai Terentjewitsch wusste, dass dieser unbedeutende Zwischenfall – im Grunde nicht mehr als eine Entgleisung – schnell vergessen sein würde. Er wusste aber auch, dass das nicht bedeutete: für immer. Irgendwann würde es um Kaderfragen, um Beförderungen, um die Vergabe besonders verantwortlicher Aufgaben gehen, Nikolai Terentjewitschs Name würde fallen, und Getmanow, Sagaidak und Maschtschuk würden beifällig nicken, dabei aber unmerklich lächeln und auf die Frage eines neugierigen Gesprächspartners antworten: »Vielleicht ein wenig unbedacht«, und dieses »wenig« mit der Spitze ihres kleinen Fingers veranschaulichen.

Im Grunde ihres Herzens waren alle überzeugt, dass das, was die Deutschen von Jakow behaupteten, nicht ganz erlogen war. Aber gerade deshalb durfte dieses Thema nicht angesprochen werden.

Sagaidak kannte sich in diesen Dingen besonders gut aus. Er war ein alter Zeitungsmann. In der Informationsabteilung hatte er angefangen, später den landwirtschaftlichen Teil geleitet und war dann etwa zwei Jahre lang Redakteur des Parteiblatts in einer der Republiken gewesen. Die Hauptaufgabe seiner Zeitung hatte er darin gesehen, den Leser zu erziehen, nicht aber darin, ihn wahllos über ein Sammelsurium oft ganz zufälliger Begebenheiten zu informieren. Wenn der Redakteur Sagaidak es für richtig hielt, das eine oder andere Ereignis zu übergehen, eine Missernte, ein ideologisch bedenkliches Gedicht, ein formalistisches Gemälde, ein Viehsterben, ein Erdbeben, den Untergang eines Linienschiffs unerwähnt zu lassen, die Gewalt einer Sturmflut, die Tausende von Menschen wegschwemmte, oder den verheerenden Brand in einem Bergwerk zu ignorieren – dann kam diesen Vorfällen in seinen Augen keinerlei Bedeutung zu, und folglich durften sie auch die Leser, die Journalisten und Schriftsteller nicht beschäftigen. Bisweilen sah er sich genötigt, ein bestimmtes Ereignis im Leben auf besondere Weise zu erklären, und seine Erklärung zeichnete sich dann durch bestürzende Kühnheit und eine der landläufigen Denkweise widersprechende Originalität aus. Er glaubte, seine überragenden Fähigkeiten als Redakteur drückten sich darin aus, dass er dem Leser die notwendigen didaktischen Vorstellungen nahezubringen verstand.

Als es während der totalen Kollektivierung der Landwirtschaft zu brutalen Übergriffen kam, hatte Sagaidak schon vor dem Erscheinen von Stalins Artikel »Vor Erfolgen von Schwindel befallen« geschrieben, es sei nur deshalb zu der damals herrschenden Hungersnot gekommen, weil die Kulaken aus Trotz ihr Getreide vergruben; aus Trotz aßen sie selbst nichts davon, und ihre Körper blähten sich krankhaft auf, und aus Trotz gegen den Staat starben ganze Dörfer samt Kindern und Greisen.

An dieser Stelle hatte er Berichte angeführt, aus denen hervorging, dass die Kinder in den Krippen der Kolchosen täglich Hühnerbrühe, Fleischpiroggen und Reisklöße erhielten. In Wirklichkeit aber magerten die Kinder zu Skeletten ab, und ihre Bäuche blähten sich auf.

Dann brach der Krieg aus, einer der unmenschlichsten und furchtbarsten, die Russland in den tausend Jahren seines Bestehens heimgesucht hatten. Und sein vernichtendes Feuer rückte besonders während der grausamen Prüfungen der ersten Wochen und Monate den verhängnisvollen wahren Verlauf der Ereignisse in den Vordergrund. Der Krieg bestimmte das Schicksal jedes Einzelnen, sogar das der Partei. Als die Zeit der ersten Schrecken vorüber war, erklärte der Dramatiker Kornejtschuk in seinem Stück »Die Front«, die Schuld an den erlittenen Niederlagen treffe die Generäle, die unfähig gewesen seien, die Weisungen des unfehlbaren Oberkommandos auszuführen.

An diesem Abend war es nicht nur Nikolai Terentjewitsch bestimmt, einen peinlichen Augenblick durchzustehen. Maschtschuk, der in einem großen Fotoalbum mit Ledereinband blätterte und die Fotos auf den Kartonseiten betrachtete, zog plötzlich so vielsagend die Augenbrauen hoch, dass alle das Album sehen wollten. Auf dem Bild aus Vorkriegstagen saß Getmanow in seinem Dienstzimmer an seinem riesigen Schreibtisch – unermesslich wie die Steppe – in einer Bluse von halbmilitärischem Schnitt. Über ihm an der Wand hing ein Stalin-Bildnis von so gewaltigem Format, wie man es gewöhnlich nur im Büro des Sekretärs eines Gebietskomitees der Partei findet. Stalins Antlitz war mit Buntstift übermalt, sein Kinn zierte ein dunkelblauer Spitzbart, an seinen Ohren hingen himmelblaue Ohrringe.

»Dieser Schlingel!«, rief Getmanow und schlug sogar entsetzt die Hände zusammen wie ein Weib.

Galina Terentjewna war verwirrt und wiederholte, während sie die Gäste der Reihe nach ansah: »Wissen Sie, dabei hat er mir noch gestern Abend vor dem Einschlafen gesagt: ›Ich habe Onkel Stalin so lieb wie Papa!‹«

»Kindlicher Übermut, weiter nichts«, sagte Sagaidak.

»Nein, nein, das ist kein kindlicher Übermut«, seufzte Getmanow, »das ist böswilliges Rowdytum!«

Forschend sah er Maschtschuk an, und sie beide erinnerten sich in diesem Augenblick an eine Begebenheit aus der Vorkriegszeit: Der Neffe eines Landsmanns, ein Student des Polytechnikums, hatte im Wohnheim mit einem Luftgewehr auf ein Stalin-Bild geschossen.

Beiden war sofort klar gewesen: Dieser Idiot von Student hatte ganz einfach Unfug getrieben. Er hatte keinerlei politische oder terroristische Beweggründe. Ihr Landsmann, ein prächtiger Mensch – er war Direktor einer Maschinen- und Traktorenstation –, hatte Getmanow gebeten, seinem Neffen aus der Patsche zu helfen. Nach einer Sitzung des Gebietskomitees hatte Getmanow den Fall mit Maschtschuk besprochen.

»Dementi Trifonowitsch«, hatte Maschtschuk gesagt, »wir sind doch keine Kinder – schuldig oder nicht schuldig, was bedeutet das schon … Aber sehen Sie, wenn ich den Fall jetzt einfach begrabe, wird man morgen nach Moskau melden, vielleicht sogar Lawrenti Pawlowitsch persönlich, dass der liberale Maschtschuk es durchgehen lässt, wenn auf das Bild des großen Stalin geschossen wird. Heute sitze ich hier in meinem Büro – und morgen bin ich nur noch Staub in einem Sträflingslager. Wollen Sie die Verantwortung auf sich nehmen? Ja? Dann wird es auch von Ihnen heißen: ›Heute auf das Bild – und morgen … Getmanow muss doch etwas an dem Burschen gefunden haben. Oder billigt er etwa die Tat?‹ Nun? Wollen Sie das auf sich nehmen?«

Einen oder zwei Monate später erkundigte sich Getmanow bei Maschtschuk: »Nun, was ist aus unserem Schützen geworden?«

Maschtschuk sah ihn unbewegt an und antwortete: »Nicht der Rede wert. Ein Schurke, von den Kulaken gedungen, beim Verhör hat er alles gestanden …«

Und jetzt wiederholte Getmanow, während er Maschtschuk forschend ansah: »Nein, das ist kein kindlicher Übermut…«

»Ach was«, beschwichtigte der ihn, »der Junge ist noch keine fünf, schließlich sollte man sein Alter nicht vergessen.«

»Ich gebe ganz offen zu«, sagte Sagaidak so tief bewegt, dass alle die Wärme seiner Worte fühlten, »ich bin zu schwach, um Kindern gegenüber Prinzipien zu haben … Ich weiß, man sollte sie haben, aber mir fehlt die Kraft dazu. Ich sehe sie an und denke nur, hoffentlich bleiben sie gesund …«

Alle sahen Sagaidak teilnahmsvoll an. Er war ein unglücklicher Vater. Sein ältester Sohn Witali hatte schon als Schüler der neunten Klasse ein zügelloses Leben geführt. Einmal war er von der Miliz bei einem wüsten Gelage in einem Restaurant festgenommen worden, und sein Vater hatte den stellvertretenden Volkskommissar für innere Angelegenheiten telefonisch bitten müssen, den Skandal zu vertuschen, in den die Söhne hochgestellter Persönlichkeiten verwickelt waren – die Söhne von Generälen und Akademiemitgliedern sowie die Tochter eines Schriftstellers und die des Volkskommissars für Landwirtschaft. Nach Ausbruch des Krieges wollte sich der junge Sagaidak als Freiwilliger zur Armee melden, und sein Vater brachte ihn in einer Artillerieschule unter. Witali wurde wegen Verstoßes gegen die Disziplin gefeuert, und man drohte ihm an, ihn mit einer Kompanie an die Front zu schicken.

Seit einem Monat befand sich Witali nun in einer Granatwerferschule, und es hatte noch keine Geschichten gegeben. Sein Vater und seine Mutter waren erleichtert und voller Hoffnung, aber im Stillen trauten sie dem Frieden nicht.

Sagaidaks jüngerer Sohn Igor war als Zweijähriger an Kinderlähmung erkrankt und zum Krüppel geworden. Er ging an Krücken, seine knochigen, dünnen Beine hatten keine Kraft. Igor konnte die Schule nicht besuchen, die Lehrer kamen zu ihm ins Haus. Er lernte gern und war ein fleißiger Schüler.

Nicht nur in der Ukraine, auch in Moskau, in Leningrad, ja, sogar in Tomsk gab es keinen Neuropathologen von Ruf, den das Ehepaar nicht konsultiert, kein neues ausländisches Medikament, das Sagaidak sich nicht durch eine sowjetische Handelsvertretung oder Botschaft verschafft hätte. Er wusste, dass man ihm die Maßlosigkeit seiner Vaterliebe zum Vorwurf machen konnte und musste. Aber er wusste auch: Sein Vergehen war keine Todsünde. Denn wann immer er solchen leidenschaftlichen Vatergefühlen bei anderen leitenden Funktionären seines Verwaltungsbezirks begegnete, hielt er ihnen zugute, dass die Menschen des »neuen Typs« offenbar besonders innig an ihren Kindern hingen. Er zweifelte nicht einmal daran, dass man ihm auch die Wunderheilerin nachsehen würde, die er für Igor im Flugzeug aus Odessa hatte kommen lassen, und sicher auch das Zauberkraut eines im Fernen Osten hohe Verehrung genießenden Alten, das im Gepäck eines Kuriers nach Kiew gelangt war.

»Unsere Führer sind besondere Menschen«, sagte Sagaidak. »Ich spreche natürlich nicht vom Genossen Stalin – der steht außerhalb jeder Diskussion. Ich denke an seine engsten Mitarbeiter. Die verstehen es, selbst in solch einem Fall die Partei über alle Vatergefühle zu stellen.«

»Ja, und sie verstehen auch, dass man das nicht von jedermann erwarten darf«, sagte Getmanow und spielte damit auf einen Sekretär des ZK und dessen Härte dem eigenen Sohn gegenüber an, der sich etwas hatte zuschulden kommen lassen.

Das Gespräch über die Kinder nahm jetzt vertraulichere und ungezwungenere Formen an. Man konnte fast glauben, dass die innere Stärke dieser Menschen, ihre Fähigkeit, sich zu freuen, davon abhing, ob ihre Tanjetschka oder ihr Witali rote Backen hatten, ob sie gute Noten nach Hause brachten und ob ihr Wladimir und ihre Ljudmila erfolgreich ins nächste Studienjahr aufrückten.

Galina Terentjewna erzählte von ihren Töchtern: »Swetlana war vor ihrem fünften Lebensjahr ein kränkliches Kind – sie hatte eine Darmgeschichte nach der anderen und kam schließlich ganz von Kräften. Und was denken Sie, wie wir sie geheilt haben – mit geriebenen sauren Äpfeln …«

Und Getmanow berichtete: »Heute Morgen vor der Schule erzählt sie mir: Mich und Soja nennt man nur die Generalstöchter, und Soja, der Frechdachs, kräht: ›Sieh mal an, eine Generalstochter – was du nicht sagst! Bei uns in der Klasse haben wir eine Marschallstochter – das ist wirklich was!‹«

»Da seht ihr’s«, sagte Sagaidak lachend, »denen kann man’s nicht recht machen. Igor hat mir dieser Tage erklärt: ›Dritter Sekretär, das ist doch weiß Gott kein hohes Tier!‹«

Auch Nikolai Terentjewitsch hätte von seinen Kindern viel Amüsantes und Erheiterndes erzählen können, aber er wusste, es war nicht angebracht, von der schnellen Auffassungsgabe seiner Kinder zu sprechen, wenn von der Intelligenz Igor Sagaidaks oder der Getmanow-Mädchen die Rede war.

Maschtschuk sagte nachdenklich: »Unsere Väter im Dorf machten kein großes Aufheben um ihre Kinder.«

»Aber sie liebten sie darum nicht weniger«, sagte der Bruder der Hausherrin.

»Lieben – na ja, sie liebten sie schon, aber sie gerbten ihnen auch das Fell. Meiner jedenfalls.«

»Ich erinnere mich, wie mein verstorbener Vater im Jahre fünfzehn in den Krieg zog«, sagte Getmanow. »Lacht nicht, er hat es zum Unteroffizier gebracht und zweimal das Georgskreuz bekommen. Mutter packte ihm seine Sachen für die Reise, erst legte sie ein Paar Fußlappen in den Sack, dann eine gestrickte Unterjacke, darüber harte Eier und einen Brotlaib … Meine Schwester und ich lagen wach auf unseren Pritschen und sahen, wie er da zum letzten Mal im Morgengrauen am Tisch aß … Dann hat er den Eimer in der Diele noch vorsorglich mit Wasser gefüllt und Holz gehackt. Mutter hat später immer wieder daran zurückgedacht.«

Er warf einen Blick auf die Uhr.

»Oho …!«

»Also morgen …«, sagte Sagaidak und erhob sich.

»Ich fliege um sieben …«

»Vom Zivilflugplatz?«, fragte Maschtschuk.

Getmanow nickte.

»Das ist besser.« Nikolai Terentjewitsch erhob sich ebenfalls. »Bis zum Militärflugplatz sind es fünfzehn Kilometer.«

»Was macht das einem Soldaten schon aus!«, sagte Getmanow.

Man nahm Abschied, die Stimmen wurden wieder laut, man lachte, umarmte sich. Als die Gäste schon in Mantel und Hut im Korridor standen, sagte Getmanow: »Ein Soldat gewöhnt sich an alles, er kann sich am Rauch wärmen und sich mit einer Schusterahle rasieren. Nur an eines kann sich ein Soldat nicht gewöhnen – fern von seinen Kindern zu leben.«

Und seine Stimme, der Ausdruck seines Gesichts und der Blick, den ihm die Gäste beim Hinausgehen zuwarfen, machten deutlich, dass die Sache jetzt ernst wurde.

22

Dementi Trifonowitsch, nun schon in Uniform, verbrachte die Nacht schreibend am Tisch. Seine Frau saß im Morgenrock an seiner Seite und folgte mit den Augen den Bewegungen seiner Hand. Er faltete den Briefbogen zusammen und erklärte ihr: »Das hier ist an den Direktor des Kreisgesundheitsamts, für den Fall, dass du eine Kur brauchst und einen auswärtigen Spezialisten konsultieren musst. Einen Passierschein besorgt dir dein Bruder, er selbst kann dir nur den Einweisungsschein ausstellen.«

»Hast du mir eine Vollmacht für die Auszahlung deines Gehalts geschrieben?«, fragte seine Frau.

»Das ist nicht nötig«, sagte Getmanow. »Ruf den Geschäftsführer im Gebietskomitee an oder, noch besser, Pusitschenko persönlich, er gibt sie dir.«

Er sah den Stoß fertiger Briefe, Vollmachten und Notizen durch und sagte: »Das scheint alles zu sein.«

Beide verstummten.

»Ich habe Angst um dich, mein Liebster«, sagte sie. »Du gehst in den Krieg …«

Er erhob sich.

»Pass gut auf dich auf … pass auf die Kinder auf … Hast du den Cognac in den Koffer getan?«

»Ja, natürlich habe ich ihn hineingetan. Erinnerst du dich, vor zwei Jahren, da hast du mir auch genau wie jetzt bei Morgengrauen die Vollmachten ausgestellt und bist dann nach Kislowodsk geflogen …«

»In Kislowodsk sind jetzt die Deutschen«, sagte Getmanow. Er schritt horchend im Zimmer auf und ab.

»Ob sie wohl schlafen?«

»Natürlich schlafen sie«, erwiderte Galina Terentjewna.

Sie gingen ins Zimmer der Kinder hinüber. Es war erstaunlich, wie leise sich diese beiden korpulenten, schweren Gestalten im Halbdunkel bewegten. Die Köpfe der Kinder zeichneten sich dunkel auf dem weißen Leinen der Kissen ab.

Getmanow lauschte ihren Atemzügen, die flache Hand an die Brust gepresst, damit sein laut schlagendes Herz sie nicht aus dem Schlaf schreckte. Jetzt, im morgendlichen Zwielicht, überfiel ihn ein fast schmerzhaftes Gefühl der Zärtlichkeit, der Sorge für die Kinder, ein unwiderstehliches Verlangen, seinen Sohn, seine Töchter in die Arme zu nehmen und ihre schlaftrunkenen Gesichter zu küssen. Er empfand die ganze Ohnmacht dieser Zärtlichkeit, dieser bedingungslosen Liebe. Verloren in Ratlosigkeit und Schwäche stand er da.

Der Gedanke an die bevorstehende, für ihn völlig neue Tätigkeit ängstigte und beunruhigte ihn nicht. Wie oft war er schon mit neuen Aufgaben betraut worden, und jedes Mal hatte er mühelos die richtige »Linie« gefunden, die sich dann stets auch als die offizielle Linie erwies. Er wusste, dass es ihm auch beim Panzerkorps gelingen würde, diese Linie zu finden.

Aber wie sollte man hier, in diesem Augenblick, unerbittliche Strenge und Festigkeit mit Zärtlichkeit verbinden, mit einer Liebe, die kein Gesetz und keine »Linie« kennt?

Er suchte mit den Augen seine Frau. Sie stand neben ihm, die Wange wie eine Bäuerin in die flache Hand gestützt. Im Halbdunkel erschien ihr Gesicht schmal und jung – so hatte sie ausgesehen, als er zum ersten Mal nach der Heirat mit ihr an die See gefahren war, wo sie im Sanatorium »Ukraine« am Rande eines steilen Abhangs über dem Strand wohnten.

Vor dem Fenster hörte man ein leises Hupen – das Auto des Gebietskomitees war da. Getmanow wandte sich ein letztes Mal nach den Kindern um, er breitete die Arme aus, und in dieser Geste lag seine ganze Hilflosigkeit angesichts eines Gefühls, dessen er nicht Herr werden konnte.

Sie küssten sich zum Abschied, dann zog er im Flur seine Pelzjacke an, setzte die hohe Fellmütze auf und wartete noch einen Augenblick, bis sein Fahrer die Koffer hinausgetragen hatte.

»Also dann …«, sagte er, nahm plötzlich die Pelzmütze wieder ab, ging auf seine Frau zu und umarmte sie noch einmal. Und bei diesem abermaligen Abschied, als die feuchtkalte Luft der Straße durch die halb offene Tür hereindrang und sich mit der Wärme des Hauses mischte, als das raue Fell der Pelzjacke die leichte Seide des Morgenrocks streifte, fühlten beide, dass ihr Leben, das für sie immer ein gemeinsames war, sich nun jäh spaltete. Und eine leise Trauer überkam sie.

23

Jewgenia Nikolajewna Schaposchnikowa fand in Kuibyschew Unterkunft bei einer alten Deutschen, Jenny Genrichowna Genrichson, die in den früheren Zeiten Gouvernante bei den Schaposchnikows gewesen war.

Nach Stalingrad als Wohnort berührte es Jewgenia Nikolajewna seltsam, sich in dem stillen Stübchen Seite an Seite mit einer Greisin wiederzufinden, die sich immerzu wunderte, dass das kleine Mädchen mit den beiden Zöpfen eine erwachsene Frau geworden war.

Die ziemlich finstere Kammer, die sie mit Jenny Genrichowna teilte, war einst in der großen Kaufmannswohnung das Zimmer der Dienstboten gewesen. Jetzt wohnte in jedem Zimmer eine ganze Familie, und alle Räume waren mit Hilfe von Wandschirmen, Vorhängen, Teppichen und Sofas in Nischen und Winkel unterteilt, in denen man schlief, aß, Gäste empfing und eine Sanitätsschwester einem gelähmten Greis Spritzen gab.

Abends war die Küche vom Stimmengewirr der Mieter erfüllt. Jewgenia Nikolajewna gefiel diese Küche mit ihrer hohen, verräucherten Decke und dem rotschwarzen Feuer der Petroleumkocher.

Zwischen den Leinen mit trocknender Wäsche lärmten die Mieter in Morgenröcken, wattierten Jacken und Kitteln, blitzten Töpfe und Messer. Über Zuber und Tröge geneigt, wirbelten waschende Frauen Dampfwolken auf. Der große Küchenherd wurde nie geheizt, seine Kacheln schimmerten in kaltem Weiß wie die schneebedeckten Hänge eines vor Urzeiten erloschenen Vulkans.

Die Wohnung teilten sich die Familien eines an der Front kämpfenden Schauermanns, eines Frauenarztes und eines Fabrikingenieurs, dazu kam eine ledige Mutter, der Kassierer einer Lebensmittelverkaufsstelle, die Witwe eines im Krieg gefallenen Friseurs und ein Postamtsverwalter. Im größten Zimmer, dem ehemaligen Salon, wohnte der Direktor einer Poliklinik.

Die Wohnung war weitläufig wie die Stadt selbst. Sie besaß sogar ihren eigenen Irren – ein stilles, altes Männchen mit den Augen eines gutmütigen jungen Hundes.

Die Menschen lebten beengt und doch voneinander abgesondert. Man verkehrte nicht eben freundschaftlich miteinander, man stritt und versöhnte sich, suchte sein Leben voreinander zu verbergen und vertraute dabei den anderen doch laut und freimütig sämtliche persönlichen Belange an.

Jewgenia Nikolajewna wünschte, sie hätte die Gegenstände und Menschen in dieser Wohnung malen können oder, besser, die Gefühle, die sie in ihr hervorriefen, vielfältige, schwer fassbare Gefühle. Selbst ein großer Meister hätte sie wohl nicht zum Ausdruck bringen können. Es war die Verbindung des heroischen Kampfwillens von Volk und Staat mit den Nichtigkeiten des Alltags, mit Klatsch und Armut, die diese Gefühle hervorrief – die Verbindung des tödlichen Stahls der Waffen mit den Kochtöpfen und Kartoffelschalen in dieser dunklen Küche. Der Versuch, diese Empfindungen sichtbar zu machen, verzerrte die Linien und ließ die Konturen in einem sinnlosen Gewirr zersplitternder Bilder und Lichtflecke zerfließen.

Das alte Fräulein war ein schüchternes, sanftes und hilfsbereites Wesen. Jenny Genrichowna trug stets ein schwarzes Kleid mit einem weißen Krägelchen, ihre Wangen waren immer gerötet, obgleich sie nie genug zu essen hatte.

In ihrem Kopf lebten die Erinnerungen an die Ungezogenheiten der Erstklässlerin Ljudmila, an die drolligen Ausdrücke der kleinen Marussja, an jene Szene fort, als der zweijährige Mitja in seiner Kinderschürze ins Speisezimmer gelaufen kam, in die Hände klatschte und »babedatj, babedatj«14 rief.

Jenny Genrichowna hatte bei einer Zahnärztin eine Anstellung als Hausgehilfin gefunden; sie hatte die Aufgabe, deren kranke Mutter zu pflegen. Die Zahnärztin bereiste für das städtische Gesundheitsamt regelmäßig den Verwaltungsbezirk. Sie war oft fünf oder sechs Tage abwesend. Jenny Genrichowna übernachtete dann dort, um sich der hilflosen alten Frau anzunehmen, die sich seit ihrem letzten Schlaganfall kaum noch bewegen konnte.

Ihrem Wesen war jeglicher Besitzinstinkt fremd. Sie entschuldigte sich ständig bei Jewgenia Nikolajewna, bat sie um Erlaubnis, wenn sie die Fensterklappe für die Spaziergänge ihres alten, dreifarbigen Katers öffnen wollte. Ihre Sorgen und Aufregungen galten zumeist dem Kater, und sie lebte in ständiger Angst, die Nachbarn könnten ihm etwas antun.

Ihr Zimmernachbar, der Ingenieur Dragin – Abteilungsleiter in einem Betrieb –, hatte die Angewohnheit, mit einem boshaften Lächeln seine Blicke über ihr runzliges Gesicht, ihre mädchenhafte, magere Figur und ihren an einer schwarzen Schnur herabhängenden Kneifer wandern zu lassen. Sein plebejisches Herz empörte sich darüber, dass die Greisin ihren Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen nachhing und nicht müde wurde, mit einem einfältig glückseligen Lächeln zu erzählen, wie sie vor der Revolution mit ihren Zöglingen in einer Equipage auszufahren pflegte und wie sie Madame auf ihren Reisen nach Venedig, Paris oder Wien begleitet hatte. So mancher der von ihr verhätschelten »Knirpse« war später zu Denikin oder Wrangel gegangen und im Kampf mit den Bolschewiken gefallen. Das alte Fräulein interessierten aber nur das Scharlachfieber, die Diphtherie und die Durchfälle, an denen ihre Kleinen gelitten hatten.

Jewgenia Nikolajewna versuchte, Dragin umzustimmen. »Ein sanfteres, fügsameres Wesen ist mir noch nie begegnet«, sagte sie ihm. »Glauben Sie mir, sie hat mehr Herzensgüte als alle, die hier wohnen.«

Dragin schaute Jewgenia Nikolajewna mit einem unverschämten Männerblick in die Augen.

»Sing, Schwalbe, sing«, sagte er. »An die Deutschen haben Sie sich verkauft, Genossin Schaposchnikowa, für ein bisschen Wohnraum.«

Jenny Genrichowna mochte offenbar keine gesunden Kinder. Mit besonderer Vorliebe erzählte sie Jewgenia Nikolajewna von ihrem schwächlichsten Zögling, dem Sohn eines jüdischen Fabrikanten. Sie hatte seine Zeichnungen und Schulhefte aufbewahrt und brach jedes Mal in Tränen aus, wenn sie an die Stelle ihres Berichts kam, wo sie den Tod dieses stillen Kindes beschrieb.

Viele Jahre waren vergangen, seit sie bei den Schaposchnikows gelebt hatte, aber sie entsann sich noch genau der Namen und Kosenamen jedes Kindes, und sie weinte, als sie von Marussjas Tod erfuhr. In ihrer Krakelschrift versuchte sie, Alexandra Wladimirowna einen Brief nach Kasan zu schreiben, brachte ihn jedoch einfach nicht zu Ende.

Gewöhnlichen Hechtrogen nannte sie Kaviar, und sie erzählte Genia gern, dass ihre Zöglinge vor der Revolution zum Frühstück eine Tasse kräftige Fleischbrühe und ein Rentierschnitzel bekamen. Mit ihren Lebensmittelrationen ernährte sie den Kater, den sie »mein geliebtes, goldiges Kind« rief. Der Kater, ein ruppiges Vieh, vergötterte sie, er wurde zärtlich und verspielt, sobald er seine Herrin sah.

Dragin hörte nicht auf, Jenny Genrichowna über ihre Meinung zu Hitler auszufragen. »Na, Sie freuen sich wohl?«, sagte er immer wieder, aber die schlaue Alte bezeichnete sich als Antifaschistin und nannte den Führer einen Kannibalen.

Sie war zu nichts zu gebrauchen, konnte weder waschen noch kochen, und wenn sie einen Laden betrat, um Zündhölzer zu kaufen, ließ sie sich vom Verkäufer in der Eile gewiss statt der dafür bestimmten Marken die für die monatliche Zucker- oder Fleischration abschneiden.

Die Kinder von heute hatten gar keine Ähnlichkeit mit ihren Zöglingen aus jener Zeit, die sie »die Friedenszeit« nannte. Alles war anders geworden, sogar die Kinderspiele: Die kleinen Mädchen aus der »Friedenszeit« trieben Reifen, ließen Gummi-Diabolos an einer zwischen lackierten Stäbchen befestigten Schnur in die Höhe schnellen und spielten mit rissigen, buntbemalten Bällen, die sie in einem weißen Netz mit sich herumtrugen. Jetzt schwammen die Mädchen im Kraulstil, spielten Volleyball und im Winter in Skihosen Eishockey, sie brüllten und pfiffen. Sie kannten mehr Geschichten als Jenny Genrichowna von Abtreibungen, Alimenten, erschwindelten Arbeitskarten, von Ober- und Oberstleutnants, die fremden Ehefrauen Fett und Konserven von der Front mitbrachten.

Jewgenia Nikolajewna hatte es gern, wenn ihr die alte Deutsche ihre, Genias, Kindheit schilderte und von ihrem Vater und ihrem Bruder Dmitri berichtete, an den Jenny Genrichowna sich besonders gut erinnerte, denn sie hatte miterlebt, wie er Keuchhusten bekam und an Diphtherie erkrankte.

Einmal sagte Jenny Genrichowna: »Ich denke an meine letzte Herrschaft. Das war 1917. Monsieur war Vizefinanzminister – ich sehe ihn noch im Speisezimmer auf und ab schreiten und stöhnen: ›Alles ist hin, man steckt die Güter in Brand, die Fabriken sind stillgelegt, die Währung ist zusammengebrochen, die Panzerschränke sind ausgeraubt …‹ Und dann, wie jetzt bei Ihnen, fiel die ganze Familie auseinander – Monsieur, Madame und Mademoiselle reisten nach Schweden aus, mein Zögling ging als Freiwilliger zu Kornilow. Madame jammerte: ›Tagelang tun wir nichts als Abschied nehmen. Das ist das Ende!‹«

Jewgenia Nikolajewna lächelte traurig, ohne etwas zu erwidern.

Eines Abends kam ein Mann vom Revier und überbrachte Jenny Genrichowna eine Vorladung. Die alte Deutsche setzte ihren Hut mit der weißen Blume auf, bat Genia, ihren Kater zu füttern, und sagte ihr, sie begebe sich zur Miliz. Von dort aus wollte sie zu ihrer Stelle, zur Mutter der Zahnärztin, gehen und versprach, am nächsten Tag zurück zu sein. Als Jewgenia Nikolajewna von der Arbeit heimkam, fand sie ihr Zimmer verwüstet. Die Nachbarn teilten ihr mit, dass Jenny Genrichowna von der Miliz abgeholt worden sei.

Jewgenia Nikolajewna ging sich nach ihr erkundigen. Auf dem Revier sagte man ihr, die Greisin würde mit einem Massentransport von Deutschen nach dem Norden abgeschoben.

Am nächsten Tag erschien ein Mann vom Revier in Begleitung des Hausverwalters und holte den versiegelten Korb voll alter Lumpen, verblasster Fotografien und vergilbter Briefe ab.

Genia begab sich zum NKWD, um Auskunft zu bekommen, wo sie ein warmes Tuch für die alte Frau abgeben könne. Der Mann am Schalter fragte sie: »Und wer sind Sie? Eine Deutsche?«

»Nein, ich bin Russin.«

»Gehen Sie nach Hause. Belästigen Sie die Leute nicht mit Ihren Bitten.«

»Es ist nur wegen der Wintersachen …«

»Haben Sie nicht verstanden?«, sagte der Mann am Schalter so betont leise, dass Jewgenia Nikolajewna erschrak.

Am selben Abend hörte sie ein Gespräch zwischen einigen Mietern in der Küche – man sprach über sie.

Eine Stimme sagte: »Aber schön war das nicht von ihr …«

Eine andere Stimme erwiderte: »Und ich sage euch, das ist eine ganz Schlaue. Erst hat sie nur einen Fuß zwischen die Tür geschoben, dann hat sie die Alte, man weiß schon, wo, angezeigt, sie hinausgedrängt, und jetzt gehört das Zimmer ihr.«

Darauf eine Männerstimme: »Was für ein Zimmer? Ein Kämmerchen …«

Eine vierte Stimme sagte: »So eine wie die kommt nicht um, und wer’s mit ihr hält, kommt auch nicht um.«

Ein trauriges Los hatte den Kater ereilt. Er saß verstört und apathisch herum, während man sich darüber stritt, was aus ihm werden sollte.

»Zum Teufel mit diesen Deutschen«, schimpften die Frauen.

Dragin erklärte unerwartet, er sei bereit, sich an der Verpflegung des Tieres zu beteiligen. Aber der Kater blieb ohne Jenny Genrichowna nicht lange am Leben. Eine der Nachbarinnen verbrühte ihn, versehentlich oder aus Ärger, mit siedendem Wasser, und das war sein Ende.

24

Jewgenia Nikolajewna fand Gefallen an ihrem einsamen Leben in Kuibyschew.

Noch nie, so schien ihr, war sie so frei gewesen wie in diesen Tagen. Ein Gefühl der Unbeschwertheit, des Ungebundenseins ergriff von ihr Besitz, und das, obwohl sie sich in einer äußerst prekären Lage befand. Während der langen Zeit, in der sie sich nicht anmelden durfte, erhielt sie keine Lebensmittelkarten. Sie aß nur einmal am Tag – gegen Gutscheine – in einer öffentlichen Kantine und dachte schon morgens an den Augenblick, in dem sie den Speisesaal betreten und einen Teller Suppe bekommen würde.

Sie dachte damals kaum an Nowikow, an Krymow dagegen häufig und lange, er beschäftigte ihre Gedanken fast ständig, aber ihre seelische Kraft stärkte das kaum.

Erinnerungen an Nowikow flammten nur kurz auf, um gleich darauf wieder zu erlöschen; sie hatten nichts Quälendes.

Einmal erblickte sie weit vor sich einen hochgewachsenen Offizier in einem langen Militärmantel auf der Straße, und für Sekunden glaubte sie, es sei Nowikow. Ihr Atem stockte, ihre Knie wurden weich, ein überwältigendes Glücksgefühl stieg in ihr auf. Im nächsten Augenblick wusste sie, dass sie sich geirrt hatte, und ihre Erregung verschwand, wie sie gekommen war.

Nachts fuhr sie aus dem Schlaf hoch und fragte sich: »Warum schreibt er nicht? Er hat doch meine Adresse …«

Sie lebte ganz für sich, sie hatte keinen Krymow, keinen Nowikow um sich. Und ihr schien, dass auch in dieser Freiheit und Einsamkeit so etwas wie Glück lag. Aber es schien ihr nur so.

Nach Kuibyschew waren in jenen Tagen zahlreiche Moskauer Volkskommissariate, Institutionen und Zeitungsredaktionen verlegt worden. Die gesamte Hauptstadt mit diplomatischem Korps, Bolschoi-Ballett, berühmten Schriftstellern, Moskauer Conférenciers und ausländischen Journalisten hatte man nach Kuibyschew evakuiert und so eine provisorische Metropole eingerichtet.

Tausende von Moskauern hatten in Hotelzimmern, winzigen Stübchen und Wohnheimen Unterschlupf gefunden, gingen im Übrigen aber ihrer gewohnten Beschäftigung nach. Die Abteilungsleiter leiteten ihre Abteilungen, die hohen Funktionäre ihre Behörden, die Volkskommissare kommandierten die Volkskommissariatshierarchie und die Volkswirtschaft, und die außerordentlichen und bevollmächtigten Botschafter fuhren in ihren Luxuslimousinen zu Empfängen bei den Spitzen der sowjetischen Außenpolitik. Die Ulanowa, Lemeschew und Michailow beglückten das Ballett- und Opernpublikum; Herr Schapiro, der Korrespondent von »United Press«, stellte auf den Pressekonferenzen dem Chef des Sowjetischen Informationsbüros, Solomon Abramowitsch Losowski, verfängliche Fragen; die Schriftsteller schrieben Glossen für in- und ausländische Zeitungen und für den Rundfunk, und die Journalisten kommentierten das Kriegsgeschehen aufgrund von Berichten, die sie in Lazaretten sammelten.

Und dennoch hatte sich die Lebensweise dieser Menschen aus Moskau auffallend geändert: Lady Cripps zum Beispiel, die Gattin des Botschafters Seiner britischen Majestät, pflegte jetzt nach dem Dinner im Hotelrestaurant, das ihr gegen einen Gutschein serviert wurde, ihre nicht verzehrte Brotscheibe und den übriggebliebenen Zuckerwürfel in Zeitungspapier eingewickelt mit auf ihr Zimmer zu nehmen. Die Chefs der Büros von Nachrichtenagenturen durchstreiften die Märkte, drängten und stießen sich zwischen Kriegsversehrten hindurch und erörterten eingehend die Vorzüge der verschiedenen Sorten selbstgezogenen und hausfermentierten Tabaks, aus dem sie sich mit grobem Papier Zigaretten drehten, während sie, von einem Bein aufs andere tretend, vor den Bädern Schlange standen. Berühmte Autoren, die für ihre Gastfreundschaft bekannt waren, diskutierten über Fragen der Weltpolitik und das Schicksal der Literatur bei einem Gläschen selbstgebranntem Schnaps und verzehrten dazu ihre Brotration.

Mammutbehörden fanden sich in die engen Stockwerke von Kuibyschews Gebäuden gezwängt, die Chefredakteure der großen Sowjetzeitungen empfingen ihre Besucher an Tischen, auf denen nach Büroschluss Kinder ihre Schularbeiten machten und Frauen Kleider ausbesserten.

Diese Mischung aus gigantischem Staatsapparat und Evakuierungsboheme hatte etwas Anziehendes.

Jewgenia Nikolajewnas Kampf um ihre Eintragung beim Meldeamt stellte ihre Nerven auf eine harte Probe.

Der Direktor des Konstruktionsbüros, in dem sie angefangen hatte zu arbeiten, Oberstleutnant Risin, ein stattlicher Mann mit einer leisen, fast summenden Stimme, stöhnte vom ersten Tag an über die Verantwortung eines Chefs, der einen nicht ordnungsgemäß gemeldeten Mitarbeiter beschäftigt. Er stellte ihr eine Arbeitsbescheinigung aus und befahl ihr, damit zur Miliz zu gehen.

Der zuständige Beamte auf dem Revier nahm Jewgenia Nikolajewna den Pass und die Bescheinigung ab. Sie solle in drei Tagen wiederkommen und sich den Bescheid abholen.

Am festgesetzten Tag betrat Jewgenia Nikolajewna einen dämmrigen Korridor, in dem andere Antragsteller auf ihre Abfertigung warteten. Alle hatten jenen besonderen Gesichtsausdruck, den man nur bei Personen findet, die in Pass- oder Meldeangelegenheiten bei der Miliz vorsprechen müssen. Sie ging zu einem Schalter. Eine Frauenhand mit tiefrot lackierten Nägeln schob ihr den Pass durch das Schalterfenster, und eine ruhige Stimme sagte: »Abschlägig beschieden.«

Jewgenia Nikolajewna reihte sich in die Schlange der Wartenden ein, die den Leiter der Passstelle persönlich sprechen wollten. Die Leute unterhielten sich im Flüsterton, während sie auf die geschminkten Lippen, hohen Stiefel und wattierten Jacken der durch den Gang eilenden Büromädchen schielten. Mit knarrenden Stiefeln schritt langsam ein Mann in Überzieher und Sportmütze – unter seinem Halstuch sah der Kragen einer Militärbluse hervor – an den Wartenden vorüber und öffnete mit einem kleinen Schlüssel ein offenbar englisches oder französisches Türschloss. Es war Grischin, der Leiter der Passstelle. Die Sprechstunde begann. Jewgenia Nikolajewna bemerkte, dass die Schlangestehenden, wenn sie endlich an der Reihe waren, keine Freude erkennen ließen, wie das sonst nach langem Warten der Fall ist, sondern dass sie auf dem Weg zu Grischins Büro verstohlen um sich blickten, als wollten sie in der letzten Minute das Weite suchen.

Während des Wartens hörte Jewgenia Nikolajewna mit, wie von Töchtern erzählt wurde, denen man nicht erlaubte, bei ihren Müttern zu wohnen. Eine Gelähmte durfte nicht von ihrem Bruder aufgenommen werden. Eine Frau, die nach Kuibyschew gekommen war, um einen Kriegskrüppel zu pflegen, hatte auch keine Aufenthaltserlaubnis erhalten.

Endlich stand Jewgenia Nikolajewna vor Grischin. Er wies mit dem Finger auf einen Stuhl, blätterte in ihren Papieren und sagte: »Sie sind doch abschlägig beschieden worden. Was wollen Sie denn noch?«

»Genosse Grischin«, erwiderte Jewgenia Nikolajewna mit zitternder Stimme, »verstehen Sie bitte, diese ganze Zeit über gibt man mir doch keine Lebensmittelkarten …«

Er sah sie an, ohne mit der Wimper zu zucken, sein breites, junges Gesicht drückte zerstreute Gleichgültigkeit aus.

»Genosse Grischin«, sagte Genia, »bedenken Sie doch – in Kuibyschew gibt es eine Schaposchnikowstraße. Das war mein Vater – er war einer der Pioniere der revolutionären Bewegung von Samara. Und seiner Tochter verweigern Sie die Anmeldung …«

Grischin sah sie mit ruhigen Augen an – er hörte, was sie sagte.

»Ich brauche eine Anforderung Ihres Chefs«, erwiderte er. »Ohne Anforderung kann ich die Anmeldung nicht genehmigen.«

»Aber ich arbeite doch für eine Militärbehörde«, sagte Genia.

»Das geht aus Ihrer Arbeitsbescheinigung nicht hervor.«

»Würde es helfen?«

»Vielleicht«, antwortete er widerwillig.

Am folgenden Morgen im Büro teilte sie Risin mit, dass man ihr die Anmeldung verweigert hatte. Risin machte eine hoffnungslose Geste mit den Händen und sagte mit seiner summenden Stimme: »Diese Idioten! Begreifen die denn nicht, dass Sie uns vom ersten Tag an unentbehrlich geworden sind? Dass Sie für Arbeiten eingesetzt werden, die der Landesverteidigung dienen?«

»Das ist es ja eben«, rief Genia. »Er sagt, er braucht eine Bescheinigung, dass unser Büro dem Volkskommissariat für Landesverteidigung untersteht. Ich bitte Sie inständig, stellen Sie mir eine aus, ich gehe dann noch heute Abend damit zur Miliz.«

Nach einer Weile trat Risin an Genias Tisch und sagte schuldbewusst: »Die Staatsorgane oder die Miliz müssen von sich aus an uns herantreten. Ohne eine formelle Anfrage darf ich keine derartige Bescheinigung ausstellen.«

Am selben Abend ging Jewgenia Nikolajewna wieder zur Miliz, wieder reihte sie sich in die Schlange ein, und als sie endlich vorgelassen wurde, bat sie Grischin mit einem einschmeichelnden Lächeln, für das sie sich selbst hasste, eine Anfrage an Risin zu richten.

»Ich denke gar nicht daran, irgendwelche Anfragen zu stellen«, erklärte Grischin.

Als Risin von Grischins Weigerung hörte, seufzte er und sagte nachdenklich: »Wissen Sie was, bitten Sie ihn doch, wenigstens telefonisch bei mir anzufragen.«

Am Abend darauf war Genia mit Limonow, einem Moskauer Literaten, verabredet, der einst mit ihrem Vater bekannt gewesen war. Gleich nach der Arbeit ging sie zur Miliz. Sie bat die Wartenden, ihr zu erlauben, »wirklich nur für eine Minute« beim Vorsteher der Passstelle hereinzuschauen, um eine einzige Frage an ihn zu richten. Die Leute zuckten die Achseln und vermieden es, sie anzusehen.

»Schon gut«, sagte Genia gekränkt. »Wer von Ihnen ist der Letzte?«

Diesmal waren die Eindrücke, die sie vom Revier mitnahm, besonders deprimierend. Eine wassersüchtige Frau mit aufgetriebenen Beinen bekam beim Vorsteher der Passstelle einen hysterischen Anfall und schrie immer wieder: »Ich flehe Sie an! Ich flehe Sie an!« Ein Invalide ohne Arme schimpfte unflätig in Grischins Büro. Auch der Mann, der nach ihm vorgelassen wurde, tobte, und man hörte ihn brüllen: »Nein, ich geh nicht!« Aber er ging sehr schnell. Nur Grischin hörte man nicht bei all diesem Lärm, er hob kein einziges Mal die Stimme, man konnte meinen, er sei gar nicht da und die Leute beschimpften und drohten sich selbst.

Jewgenia Nikolajewna musste anderthalb Stunden warten, und wieder hasste sie sich für ihre freundliche Miene, für das hastige »Danke schön!«, mit dem sie Grischins durch ein kurzes Kopfnicken angedeutete Aufforderung, Platz zu nehmen, beantwortete, und wieder bat sie Grischin, ihren Chef anzurufen. Risin waren anfangs Zweifel gekommen, ob er dazu berechtigt sei, die erforderliche Bescheinigung ohne schriftliche, mit Aktennummer und Stempeln versehene Anfrage zu erteilen, hatte dann aber schließlich eingewilligt – er würde sie mit den Worten einleiten: »In Erwiderung Ihrer mündlichen Anfrage vom Soundsovielten …«

Jewgenia Nikolajewna legte einen vorbereiteten Zettel vor Grischin auf den Schreibtisch. Darauf hatte sie mit großer, überdeutlicher Schrift Risins Telefonnummer, Namen und Vatersnamen notiert und ganz klein in Klammern hinzugefügt: Mittagspause von … bis … Ohne den Zettel eines Blickes zu würdigen, sagte Grischin: »Ich denke gar nicht daran, irgendwelche Anfragen zu stellen.«

»Ja, aber – warum denn nicht?«, fragte sie.

»Das ist nicht meine Aufgabe …«

»Oberstleutnant Risin sagt, ohne eine Anfrage, und sei sie auch nur mündlich, dürfe er keine Bescheinigung ausstellen.«

»Wenn er’s nicht darf, soll er’s eben bleibenlassen.«

»Aber was wird aus mir?«

»Wie soll ich das wissen?«

Grischins Gelassenheit brachte Genia völlig aus der Fassung.

Sie hätte das Ganze leichter ertragen, wenn ihre Unbelehrbarkeit ihn ärgern oder aus der Ruhe bringen würde. Aber stattdessen saß er da, kehrte ihr halb den Rücken zu und runzelte nicht einmal die Stirn, zeigte nicht die geringste Ungeduld.

Wenn Männer sich mit Jewgenia Nikolajewna unterhielten, bemerkten sie stets, dass sie schön war. Sie spürte das immer. Auf Grischin machte ihr Anblick keinen größeren Eindruck als der eines triefäugigen alten Weibes oder eines Krüppels. In dem Augenblick, in dem sie sein Dienstzimmer betrat, war sie keine junge Frau, kein menschliches Wesen mehr, sondern nur noch Antragstellerin.

Die eigene Schwäche und Grischins unerbittliche, eiserne Härte nahmen ihr alle Sicherheit. Verstört eilte sie durch die Straßen, verspätete sich trotzdem um eine gute Stunde und hatte, als sie Limonows Hotel erreichte, alle Freude an dem bevorstehenden Wiedersehen verloren. Der Geruch im Korridor des Polizeireviers verfolgte sie, immer noch sah sie die Gesichter der Wartenden vor sich, das vom trüben elektrischen Licht erhellte Stalin-Bild und daneben Grischin, den Unerschütterlichen, der seine sterbliche Seele zum Granit der staatlichen Allmacht verhärtet hatte.

Limonow, beleibt und stattlich, mit einem wuchtigen Kopf und jugendlichen Locken um eine breite Glatze, empfing Genia mit großer Wärme.

»Ich fürchtete schon, Sie würden nicht kommen«, sagte er, während er ihr aus dem Mantel half. Dann fragte er sie nach ihrer Mutter Alexandra Wladimirowna aus.

»Ihre Mutter verkörperte für mich schon in meinen Studentenjahren die russische Frau mit dem Herzen eines Mannes. Ich erzähle von ihr in allen meinen Büchern, ich meine, nicht von ihrer Person, sondern allgemein – Sie verstehen schon.«

Leise und mit einem Blick auf die Tür erkundigte er sich: »Hört man irgendetwas von Dmitri?«

Dann begann er über Malerei zu sprechen, und beide schimpften gemeinsam auf Repin. Limonow machte sich daran, auf einem elektrischen Kocher Rührei zuzubereiten, wobei er behauptete, er sei der größte Spezialist für Omeletts im ganzen Land – der Chef des Restaurants »National« habe bei ihm gelernt.

»Nun, schmeckt’s?«, fragte er fürsorglich, während er Genia bewirtete. Mit einem Seufzer fügte er hinzu: »Ich gestehe, ich habe nun mal eine Leidenschaft fürs Fressen.«

Wie schwer lastete der Druck ihrer Erfahrungen mit der Miliz auf Genia! Selbst in Limonows warmem Zimmer, in dem sich Bücher und Zeitschriften türmten und bald noch zwei Besucher erschienen, zwei ältere, geistreiche und kunstliebende Männer, fühlte sie fröstelnd die ganze Zeit über die Anwesenheit Grischins.

Doch die Macht des freien, klugen Wortes ist groß. Es gab Augenblicke, da vergaß Jewgenia Nikolajewna Grischin und die freudlosen Gesichter der Schlangestehenden vom Polizeirevier. Da hatte sie das Gefühl, es gebe in ihrem Leben nichts als Gespräche über Rubljow und Picasso, über Gedichte von Achmatowa und Pasternak oder die Dramen Bulgakows.

Dann stand sie wieder auf der Straße, und sofort waren diese Gespräche wie ausgelöscht.

Grischin, Grischin … In ihrer Wohnung fragte niemand sie danach, ob sie gemeldet war oder nicht, niemand verlangte, dass sie einen Pass mit Anmeldungsvermerk vorzeigte. Aber es schien ihr schon seit einigen Tagen, dass die Wohnungsälteste, Glafìra Dmitriewna, eine flinke, stets überfreundliche Person mit langer Nase und schmeichelnder, grenzenlos falscher Stimme, ihr nachspionierte. Jedes Mal, wenn sie Glafira unerwartet begegnete und ihr in die dunklen, freundlichen und zugleich harten Augen sah, erschrak Genia. Sie hatte den Verdacht, dass Glafira Dmitriewna sich während ihrer Abwesenheit mit Hilfe eines nachgemachten Schlüssels in ihr Zimmer einschlich, in ihren Papieren wühlte, Abschriften von ihren Eingaben an die Miliz machte und ihre Post las.

Sie bemühte sich, die Tür geräuschlos zu öffnen, sie schlich auf Zehenspitzen durch den Korridor, aus Furcht, der Wohnungsältesten über den Weg zu laufen und sie im nächsten Augenblick sagen zu hören: »Ach – Sie halten sich nicht an die Gesetze, und ich soll für Sie zur Verantwortung gezogen werden?«

Am nächsten Morgen ging Jewgenia Nikolajewna zu Risin und berichtete ihm von ihrer neuen Niederlage auf der Passstelle.

»Bitte helfen Sie mir, einen Fahrschein für das Schiff nach Kasan zu bekommen – sonst wird man mich wahrscheinlich wegen Übertretung der Passvorschriften zum Torfstechen in ein Lager schicken.«

Sie bat ihn nicht mehr, ihr bei der Anmeldung zu helfen. Ihr Ton war scharf und höhnisch.

Der große, gutaussehende Mann mit der leisen Stimme sah sie an. Er schämte sich seiner Ängstlichkeit. Sie fühlte unaufhörlich seine verlangenden, zärtlichen Blicke auf sich gerichtet – auf ihre Schultern, ihre Beine, ihren Hals, ihren Nacken. Aber mit den geheimnisvollen Gesetzen, die den amtlichen Schriftverkehr regelten, ließ sich offenbar nicht spaßen.

Noch am selben Tag trat Risin an ihren Tisch und legte wortlos die heißersehnte Bescheinigung auf das Zeichenblatt, das sie in Arbeit hatte.

Genia sah ihn ebenso wortlos an, und Tränen traten ihr in die Augen.

»Ich habe sie über die Geheimabteilung angefordert«, erklärte ihr Risin, »eigentlich, ohne mir etwas davon zu erhoffen. Aber dann, völlig unerwartet, erhielt ich die Zustimmung des Chefs …«

Die Kollegen gratulierten ihr.

Von allen Seiten hörte sie: »Jetzt haben Ihre Sorgen ein Ende!«

Sie ging zur Miliz. Die Leute in der Schlange nickten ihr zu und erkundigten sich: »Na, wie steht’s?« Man rief ihr zu: »Gehen Sie doch einfach hinein … Es dauert bestimmt nicht länger als eine Minute … Wozu wieder zwei Stunden warten?«

Der Büroschreibtisch und der feuerfeste Aktenschrank mit dem schlampigen braunen Anstrich, der eine natürliche Holzmaserung vortäuschte, erschienen ihr nicht mehr so düster, so trostlos bürokratisch.

Grischin sah zu, wie Genia hastig das gewünschte Papier vor ihm entfaltete, und gab mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken seine Befriedigung zu erkennen.

»Na schön, lassen Sie mir den Pass und die Bescheinigung hier, in drei Tagen können Sie sich Ihre Papiere während der Sprechzeit in der Registratur abholen.«

Seine Stimme hatte den gewohnten Klang, aber die hellen Augen schienen ihr zuzulächeln.

Sie ging nach Hause und fand, dass sich Grischin doch als Mensch wie alle anderen entpuppt hatte – er konnte Gutes tun, sogar lächeln, war nicht herzlos –, und ihr wurde unbehaglich zumute wegen all des Schlechten, das sie über den Leiter der Passabteilung gedacht hatte.

Drei Tage später schob die große Frauenhand mit den tiefrot lackierten Nägeln ihren Pass mit den sorgfältig darin gefalteten Papieren durch das Schalterfenster. Genia las den mit energischer Hand geschriebenen Bescheid: »Die Eintragung ins Melderegister ist, da mit der vorhandenen Wohnfläche unvereinbar, abgelehnt.«

»Dieser Hurensohn!«, sagte Genia laut, und unfähig, sich zu beherrschen, fuhr sie fort: »Dieser Halunke! Dieser herzlose Peiniger!«

Sie schrie fast, fuchtelte mit ihrem Pass ohne Anmeldungsvermerk in der Luft herum, sah die Wartenden an, als wolle sie sie um ihren Beistand anflehen. Die aber wandten sich ab. Ein Gefühl von Aufruhr flammte für einen Augenblick in ihr auf, ein Gefühl der Verzweiflung und der Raserei. So mochten die Frauen in den Warteschlangen im Jahr 1937 geschrien haben, wenn sie, des Rechts auf Briefverkehr mit ihren verhafteten Angehörigen beraubt, in den dunklen Besuchsräumen der Moskauer Gefängnisse Butyrka und Matrosenruhe auf eine Auskunft über das Schicksal der Verurteilten warteten.

Der im Gang postierte Milizionär fasste Genia beim Ellbogen und schob sie zur Tür.

»Lassen Sie mich los!« Sie entriss ihm ihren Arm und stieß ihn von sich weg. »Rühren Sie mich nicht an!«

»Bürgerin, hören Sie auf«, sagte er heiser, »oder kommt es Ihnen auf zehn Jahre nicht an?«

Genia glaubte in den Augen des Milizionärs einen flüchtigen Ausdruck der Anteilnahme, des Mitgefühls zu erkennen.

Sie ging mit raschen Schritten zum Ausgang. In der Menge auf der Straße stießen die Leute sie an – alle waren gemeldet, alle hatten Lebensmittelkarten und waren bei einer Verteilungsstelle eingetragen.

In der Nacht träumte sie von einer Feuersbrunst. Sie stand über einen Verwundeten gebeugt, dessen Gesicht in der Erde steckte, sie versuchte, ihn wegzuschleppen, und obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste sie, dass es Krymow war.

Erschöpft und niedergeschlagen erwachte sie.

»Wenn er doch schon käme!«, dachte sie, während sie sich ankleidete. »Hilf mir, hilf mir!«, flüsterte sie vor sich hin.

Und ein leidenschaftliches, an Schmerz grenzendes Verlangen ergriff sie, ihn wiederzusehen – nicht Krymow, den sie in der Nacht gerettet hatte, sondern Nowikow, so wie sie ihn im Sommer in Stalingrad gesehen hatte.

Diese rechtlose Existenz, ohne Aufenthaltserlaubnis, ohne Lebensmittelmarken, in ewiger Angst vor dem Hausmeister, dem Hausverwalter, der Wohnungsältesten Glafira Dmitriewna war qualvoll bis zur Unerträglichkeit. Genia schlich sich in die Küche, wenn alles schlief, wusch sich am frühen Morgen, bevor die übrigen Mieter aufwachten. Und wenn einer von ihnen sie ansprach, fühlte sie, wie ihre Stimme einen widerwärtig einschmeichelnden Ton annahm. Sie schien nicht ihr, sondern einer Baptistin zu gehören.

An diesem Tag wollte Genia ihre Stellung kündigen.

Sie hatte gehört, dass nach einem abschlägigen Bescheid der Passstelle gewöhnlich ein Mann vom Milizrevier in die Wohnung kommt und den Abgewiesenen unterschreiben lässt, dass er Kuibyschew binnen drei Tagen verlassen werde. In der Ausweisung heißt es: »Wer sich einer Übertretung der Passvorschriften schuldig macht, unterliegt…« Genia wollte nicht »unterliegen«. Sie fand sich damit ab, Kuibyschew verlassen zu müssen. Und plötzlich wurde sie ruhig, der Gedanke an Grischin, an Glafira Dmitriewna, an ihre Augen, die klebrig waren wie faule schwarze Oliven, quälte sie nicht mehr, hatte seinen Schrecken verloren. Sie hatte der Ungesetzlichkeit entsagt, unterwarf sich dem Gesetz.

25

Genia hatte den Kündigungsbrief schon geschrieben und wollte gerade damit zu Risin gehen, als man sie ans Telefon rief. Es war Limonow. Er wollte wissen, ob sie am folgenden Abend frei sei. Er habe da einen Gast aus Taschkent, der sehr amüsant vom dortigen Leben erzähle. Der Mann habe ihm Grüße von Alexej Tolstoi überbracht. Wieder spürte Genia den Hauch eines anderen Lebens.

Ohne es zu wollen, erzählte sie Limonow, wie es ihr mit der Anmeldung ergangen war. Er hörte zu, ohne sie zu unterbrechen, und sagte dann: »Eine feine Geschichte! Höchst interessant! Der Papa hat seinen Namen einer Straße in Kuibyschew gegeben, und die Tochter prügelt man hinaus, verweigert ihr die Aufenthaltserlaubnis. Amüsant, sehr amüsant.«

Er schien zu überlegen. Nach einer Weile sagte er: »Hören Sie zu, Jewgenia Nikolajewna, geben Sie Ihre Kündigung heute noch nicht ab. Morgen nehme ich an einer Konferenz beim Sekretär des Gebietskomitees teil und werde ihm Ihren Fall erzählen.«

Genia dankte ihm, war aber im Grunde überzeugt, dass Limonow schon im selben Augenblick, als er den Hörer auflegte, die Sache vergessen haben würde. Trotzdem sagte sie Risin nichts von ihrer Kündigung, sondern fragte ihn nur, ob er ihr über den Stab der Militärverwaltung einen Fahrschein für den Dampfer nach Kasan besorgen könnte.

»Nichts leichter als das«, sagte Risin und machte eine resignierte Geste. »Mit den Organen der Miliz hat man seine liebe Not. Aber was kann man machen? Kuibyschew unterliegt einer Sonderregelung. Die haben dort spezielle Weisungen …«

Dann fragte er: »Sind Sie heute Abend frei?«

»Nein, ich bin verabredet«, antwortete sie wütend.

Auf dem Heimweg dachte sie daran, dass sie bald ihre Mutter, ihre Schwester, Viktor Pawlowitsch und Nadja wiedersehen und dass sie es in Kasan besser haben würde als in Kuibyschew. Sie fragte sich, warum sie jedes Mal so bedrückt war und vor Angst zitterte, wenn sie das Milizrevier betrat. Na gut, man hatte sie abgelehnt. Und wennschon. Sie pfiff darauf … Und sollte ein Brief von Nowikow kommen, so könnte man ja die Nachbarn bitten, ihn nach Kasan nachzusenden.

Am nächsten Morgen, sie hatte kaum ihr Büro betreten, kam für sie ein Anruf. Eine liebenswürdige Stimme bat sie, auf der Passstelle der Städtischen Miliz vorzusprechen – zur behördlichen Anmeldung.

Genia hatte mit einem ihrer Mitbewohner, Schargorodski, Bekanntschaft geschlossen. Wenn Schargorodski sich jäh umwandte, hatte man das Gefühl, sein großer, wie aus Alabaster gemeißelter Kopf würde von seinem dünnen Hals abbrechen und polternd zu Boden fallen. Genia war aufgefallen, dass die blasse Gesichtshaut des alten Mannes einen sanft bläulichen Schimmer hatte; er stammte aus einem alten adligen Geschlecht, und da auch seine Augen von kaltem Blau waren, belustigte sie der Gedanke, dass man Schargorodski blau malen müsste.

Wladimir Andrejewitsch Schargorodski war es vor dem Krieg schlechter gegangen als während des Krieges. Jetzt hatte er etwas Arbeit gefunden. Das Sowinformbüro hatte ihm den Auftrag gegeben, Glossen über Dmitri Donskoi, Suworow, Uschakow, über die Traditionen des russischen Offiziersstandes und über die Dichter des neunzehnten Jahrhunderts Tjutschew und Baratynski zu schreiben.

Wladimir Andrejewitsch hatte Genia gesagt, dass er mütterlicherseits mit einem uralten Fürstengeschlecht verwandt sei, noch älter als das der Romanows.

Als junger Mann hatte er im Semstwo15 der Gouvernements gedient und unter den Gutsbesitzersöhnen, Dorflehrern und jungen Geistlichen die Ideen Voltaires und Tschaadajews verfochten.

Wladimir Andrejewitsch hatte Genia von seinem Gespräch mit dem Adelsmarschall des Gouvernements erzählt – das war vor vierzig Jahren gewesen –, der gesagt hatte: »Sie, der Vertreter eines der ältesten Geschlechter Russlands, haben sich vorgenommen, den Bauern zu beweisen, dass Sie vom Affen abstammen. Der Bauer wird Sie fragen: ›Und die Großfürsten? Und der Zarewitsch? Und die Zarin? Und der Zar selbst?‹«

Wladimir Andrejewitsch verwirrte weiterhin die Geister, und die Sache endete damit, dass er nach Taschkent versetzt wurde. Ein Jahr später wurde er rehabilitiert und reiste in die Schweiz. Dort kam er mit vielen revolutionären Persönlichkeiten zusammen – den fürstlichen Sonderling kannten Bolschewiken, Menschewiken, Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Er ging zu Diskussionen und Abendgesellschaften, war mit manchen näher bekannt, doch mit niemandem einer Meinung. In jener Zeit war er mit einem jüdischen Studenten, dem schwarzbärtigen Bundisten16 Lipez, eng befreundet.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg kehrte er nach Russland zurück und ließ sich auf seinem Gut nieder. Gelegentlich veröffentlichte er Aufsätze über geschichtliche und literarische Themen im »Nischni Nowgoroder Blättchen«.

Mit der Bewirtschaftung des Gutes befasste er sich nicht. Es wurde von seiner Mutter verwaltet.

Schargorodski war später der einzige Gutsbesitzer, dessen Besitz die Bauern nicht antasteten. Das Komitee der Kleinbauern teilte ihm sogar eine Fuhre Brennholz zu und gab ihm vierzig Kohlköpfe heraus. Wladimir Andrejewitsch saß im einzigen Zimmer des Hauses, das noch heile Fenster hatte und geheizt wurde, las und schrieb Gedichte. Ein Gedicht hatte er Genia vorgelesen. Es hieß »Russland«:

Törichte Sorglosigkeit

Nach allen vier Winden.

Flaches Land. Endlosigkeit.

Unheil die Raben künden.

 

Wüten. Brände. Verschlossenheit.

Dumpfe Gleichgültigkeit,

Und überall Urwüchsigkeit

Und erschreckende Größe.

Beim Lesen sprach er die Worte sorgfältig aus, setzte Punkt und Komma und zog die Brauen hoch, was jedoch seine großflächige Stirn nicht kleiner wirken ließ.

1926 plante Schargorodski, Vorlesungen über russische Literaturgeschichte zu halten, widerlegte Demjan Bedny und verherrlichte Fet, trat auf bei Diskussionen über Schönheit und Wahrhaftigkeit des Lebens, die damals in Mode waren, nannte sich einen Gegner jeglicher Staatsform, erklärte den Marxismus für eine beschränkte Lehre, sprach über das Schicksal der russischen Seele und verstieg und verrannte sich so weit, dass er wieder nach Taschkent strafversetzt wurde. Dort lebte er und wunderte sich über die Stärke geografischer Argumente im theoretischen Streit. Erst Ende 1933 erhielt er die Erlaubnis, nach Samara zu seiner älteren Schwester Jelena Andrejewna überzusiedeln. Sie starb kurz vor dem Krieg.

Niemals lud Schargorodski jemanden in sein Zimmer ein. Doch einmal hatte Genia einen Blick in das Fürstengemach werfen können: Stapel von Büchern und alten Zeitungen türmten sich in den Ecken, altertümliche Sessel waren bis fast unter die Decke übereinandergestapelt, Porträts in vergoldeten Rahmen standen auf dem Boden. Auf dem mit rotem Samt bezogenen Diwan lag eine zerknüllte Bettdecke, aus der dicke Watteflocken herausquollen.

Er war ein weicher Mensch, hilflos in den Dingen des praktischen Lebens. Von solchen Menschen sagt man im Allgemeinen, sie seien Menschen mit Kinderseelen und Engelsgüte. Doch er brachte es fertig, seine Lieblingsverse murmelnd, gleichgültig an einem hungrigen Kind vorüberzugehen oder an einer zerlumpten Greisin, die die Hand nach einem Stück Brot ausstreckte.

Wenn Genia Schargorodski zuhörte, erinnerte sie sich oft an ihren ersten Mann, obwohl es eigentlich keine große Ähnlichkeit zwischen dem betagten Anhänger Fets und Wladimir Solowjows und dem Komintern-Mann Krymow gab.

Es verblüffte sie, dass Krymow, der für den Reiz der russischen Landschaft und des russischen Märchens, eines Gedichts von Fet oder Tjutschew nichts übrighatte, ein ebensolcher russischer Mensch war wie der alte Schargorodski. Gegenüber allem, was Krymow von Jugend an am russischen Leben teuer gewesen war, gegenüber den Namen, ohne die er sich Russland gar nicht denken konnte, zeigte Schargorodski Gleichgültigkeit, manchmal sogar Feindseligkeit.

Für Schargorodski war Fet ein Gott, mehr noch, ein russischer Gott. Ebenso göttlich waren für ihn das Märchen »Finist, der edle Falke« und Glinkas »Zweifel«. Und wie wenig bewunderte er Dante; dem fehlte für seine Begriffe die Göttlichkeit der russischen Musik und der russischen Poesie.

Krymow aber machte keinen Unterschied zwischen Dobroljubow und Lassalle, Tschernyschewski und Engels. Für ihn stand Marx über allen russischen Genies, triumphierte die »Eroica« Beethovens uneingeschränkt über die ganze russische Musik. Nur Nekrassow stellte für ihn wohl eine Ausnahme dar; ihn hielt er für den besten Dichter der Welt.

In manchen Augenblicken hatte Jewgenia Nikolajewna das Gefühl, dass Schargorodski ihr sogar helfe, nicht nur den Menschen Krymow, sondern auch ihre Beziehung zu ihm besser zu verstehen.

Genia unterhielt sich gerne mit Schargorodski. Gewöhnlich begann das Gespräch mit alarmierenden Nachrichten, dann ließ Schargorodski seinen Überlegungen über Russlands Schicksal freien Lauf.

»Der russische Adel, Jewgenia Nikolajewna«, sagte er, »trug Russland gegenüber Schuld, doch galt dem Land seine ganze Liebe. In jenem ersten Krieg haben sie uns nichts verziehen, alle und alles haben sie uns vorgehalten – unsere Dummköpfe und Blödiane und verschlafenen Fresssäcke und Rasputin und die Lindenalleen auf unseren Gütern und unsere Sorglosigkeit, ihre ärmlichen Hütten und die armseligen Bastschuhe … Sechs Söhne meiner Schwester kamen in Galizien um. In Ostpreußen fiel mein Bruder, ein alter, kranker Mann, im Kampf. Die Geschichte hat ihnen das nicht gedankt … Aber sie sollte es.«

Oft lauschte Genia seinen überhaupt nicht mit den gegenwärtigen Meinungen übereinstimmenden Ausführungen über Literatur. Fet stellte er über Puschkin und Tjutschew. Fet kannte er natürlich wie kein anderer in ganz Russland, ja, wahrscheinlich konnte sich Fet selbst gegen Ende seines Lebens nicht mehr an all das erinnern, was Wladimir Andrejewitsch über ihn wusste.

Lew Tolstoi hielt er für zu realistisch und schätzte ihn nicht, obgleich er ihm Poesie zugestand. Turgenjew schätzte er, doch hielt er sein Talent für nicht tiefgründig genug. Aus der russischen Prosa las er am liebsten Gogol und Leskow. Er glaubte, dass die ersten Totengräber der russischen Poesie Belinski und Tschernyschewski gewesen seien.

Genia sagte er, dass er außer der russischen Poesie drei Dinge liebe, die alle mit dem Buchstaben »S« anfingen – Süßes, Sonne und Schlaf.

»Ob ich wohl sterben werde, ohne eines meiner Gedichte gedruckt gesehen zu haben?«, fragte er.

Einmal, als sie auf dem Nachhauseweg vom Dienst war, hatte Jewgenia Nikolajewna Limonow getroffen. Er ging, gestützt auf einen knorrigen Stock, im offenen Wintermantel die Straße entlang; ein grell kariertes Halstuch flatterte um seinen Hals. Seltsam wirkte dieser massige Mann mit der Bojarenmütze aus Biberfell inmitten der Kuibyschewer Menschenmenge.

Limonow begleitete Genia nach Hause. Sie lud ihn ein, hereinzukommen und mit ihr Tee zu trinken. Er sah sie aufmerksam an und sagte: »Na ja, danke schön, eigentlich müssten Sie ja eine Flasche Wodka für die Anmeldebescheinigung spendieren.« Schwer atmend machte er sich daran, die Treppe hinaufzusteigen.

Limonow trat in Genias kleines Zimmer ein und meinte: »Ja-a, meiner Wampe wird es hier eng werden, aber vielleicht können sich meine Gedanken hier frei bewegen.«

Auf einmal redete er mit leicht unnatürlicher Stimme und fing an, ihr seine Theorie über die Liebe und über Liebesbeziehungen zu erläutern.

»Vitaminmangel, geistig-seelischer Vitaminmangel!« Er sprach kurzatmig. »Verstehen Sie, das ist ein so gewaltiger Hunger wie bei den Stieren, Kühen und Hirschen, die gierig auf Salz sind. Das, was ich nicht in mir habe, was ich nicht in meinen Angehörigen, in meiner Frau finde, das suche ich im Gegenstand meiner Liebe. Die Ehefrau ist die Ursache für den Vitaminmangel! Und der Mann giert danach, in seiner Geliebten das zu finden, was er seit Jahren, Jahrzehnten in seiner Frau nicht finden konnte. Leuchtet Ihnen das ein?«

Er nahm ihre Hand und begann sie innen zu streicheln, dann streichelte er ihre Schulter, berührte ihren Hals, ihren Nacken.

»Verstehen Sie mich?«, fragte er einschmeichelnd. »Das ist doch ganz einfach. Ein seelischer Vitaminmangel!«

Genia folgte mit belustigtem und verlegenem Blick der großen weißen Hand mit den polierten Fingernägeln, die sich von ihrer Schulter auf die Brust heruntertastete, und sagte:

»Anscheinend pflegt der Vitaminmangel nicht nur seelisch zu sein, sondern auch körperlich.« Und im belehrenden Ton einer Volksschullehrerin fügte sie hinzu: »Betätscheln sollte man mich nicht, wirklich nicht.«

Er sah sie verdutzt an und brach, anstatt in Verlegenheit zu geraten, in schallendes Gelächter aus. Sie stimmte in sein Gelächter ein.

Sie tranken Tee und unterhielten sich über den Maler Sarjan. Der alte Schargorodski klopfte an die Tür.

Es zeigte sich, dass Limonow Schargorodskis Namen aus irgendwelchen handschriftlichen Aufzeichnungen und archivierten Briefen kannte. Schargorodski hatte Limonows Bücher nicht gelesen, jedoch seinen Namen gehört. Er wurde für gewöhnlich in den Zeitungen in jenen Listen von Autoren aufgeführt, die über militärgeschichtliche Themen schrieben.

Sie redeten und ereiferten sich und freuten sich über das Gefühl, etwas gemeinsam zu haben. In ihrer Unterhaltung fielen die Namen Solowjow, Mereschkowski, Rosanow, Bely, Berdjajew, Ustrjalow, Balmont, Miljukow, Jewreinow, Remisow, Wjatscheslaw Iwanow.

Genia dachte plötzlich, es sei, als würden diese beiden Männer vom Meeresgrund eine ganze versunkene Welt von Büchern, Bildern, philosophischen Systemen und Theaterinszenierungen heraufholen.

Da wiederholte Limonow auch schon laut ihren Gedanken: »Wir haben gewissermaßen miteinander Atlantis aus dem Ozean gehoben.«

Schargorodski nickte schwermütig: »Ja, ja, aber Sie sind nur der Erforscher des russischen Atlantis, ich aber bin selbst einer aus Atlantis. Ich bin mitsamt der Stadt auf den Meeresgrund gesunken.«

»Und wennschon«, sagte Limonow, »der Krieg hat manchen aus Atlantis an die Oberfläche geholt.«

»Ja, offenbar ist den Gründern der Komintern in der Stunde des Krieges nichts Besseres als eine Wiederholung eingefallen: Sie bemühen die heilige russische Erde«, pflichtete Schargorodski bei.

Er lächelte.

»Warten Sie ab. Der Krieg wird mit dem Sieg enden, und dann werden die Internationalisten verkünden: ›Unser Mütterchen Russland wird an der Spitze der ganzen Welt stehen.‹«

Seltsam war das: Jewgenia Nikolajewna spürte, dass sie sich nicht nur deshalb so angeregt und geistreich unterhielten, weil sie sich getroffen und ein ihnen beiden vertrautes Thema gefunden hatten. Sie verstand, dass beide Männer – der ganz alte und der schon sehr betagte – die ganze Zeit über spürten, dass sie ihnen zuhörte, und merkte, dass sie ihnen gefiel. Wie merkwürdig war das doch. Und sonderbar fand sie es auch, dass ihr das völlig gleichgültig blieb, ja, sie sogar belustigte, und ihr doch gleichzeitig angenehm war.

Genia betrachtete die beiden und dachte: »Es ist doch unmöglich, sich selbst zu begreifen … Warum tut mir die Erinnerung an mein früheres Leben so weh, warum tut Krymow mir so leid, warum denke ich unaufhörlich an ihn?«

Und sie, die damals mit Krymows deutschen und englischen Komintern-Freunden gar nichts hatte anfangen können, hörte jetzt Schargorodski mit Trauer und Feindseligkeit zu, als er sich Ironisch über die Komintern-Leute ausließ. Hier half auch Limonows Theorie vom Vitaminmangel nicht, um sich Klarheit zu verschaffen. Für diese Dinge gab es keine Theorie.

Auf einmal schien es ihr, als dächte sie die ganze Zeit nur deshalb mit so großer Unruhe an Krymow, weil sie sich nach einem anderen Mann sehnte, an den sie anscheinend überhaupt nicht dachte.

»Liebe ich ihn denn wirklich?«, fragte sie sich verwundert.

26

Nachts klarte der Himmel über der Wolga auf und wurde wolkenlos. Langsam zogen unter den Sternen die Hügel vorbei, auseinandergehackt durch das Dunkel der Schluchten. Manchmal schossen Sternschnuppen über den Himmel, und Ljudmila Nikolajewna flüsterte tonlos: »Wenn nur Tolja am Leben bleibt!« Das war ihr einziger Wunsch, mehr verlangte sie nicht vom Himmel.

Eine Zeitlang, noch während des Studiums an der naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät, hatte sie im Institut für Astronomie am Rechner gearbeitet. Damals hatte sie erfahren, dass Meteore sich in Strömen bewegen, die die Erde in verschiedenen Monaten erreichen – die Perseiden, Orioniden und wohl auch noch die Geminiden und Leoniden. Sie hatte längst vergessen, welcher Meteorstrom die Erde im Oktober und im November erreichte … Doch wenn nur Tolja am Leben bliebe!

Viktor hatte ihr vorgeworfen, dass sie anderen Menschen nicht gern helfe und ihre Angehörigen nicht liebe. Er meinte, wenn Ljudmila es nur gewollt hätte, dann hätte Anna Semjonowna bei ihnen gewohnt und wäre nicht in der Ukraine geblieben.

Als Viktors Vetter aus dem Lager entlassen und in die Verbannung geschickt wurde, wollte sie ihn nicht bei sich übernachten lassen. Sie hatte Angst, dass die Hausverwaltung davon erfahren könnte. Sie wusste auch, ihre Mutter würde niemals vergessen, dass sie sich damals, als ihr Vater im Sterben lag, geweigert hatte, ihren Urlaub an der Schwarzmeerküste zu unterbrechen, und erst zwei Tage nach der Beerdigung nach Moskau zurückgekehrt war.

Manchmal sprach die Mutter mit ihr über ihren Bruder Dmitri und entsetzte sich über das, was ihm zugestoßen war: »Er war ein aufrichtiger kleiner Junge und ist es sein ganzes Leben lang geblieben. Und dann auf einmal – Spionage, Vorbereitung des Mordes an Kaganowitsch und Woroschilow. Wozu diese unverschämte, schreckliche Lüge? Wer hat es nötig, aufrechte und ehrliche Menschen zugrunde zu richten?«

Einmal hatte sie der Mutter erwidert: »Du kannst dich nicht völlig für Mitja verbürgen. Unschuldige werden nicht eingesperrt.« Und jetzt kam ihr die Erinnerung an den Blick, mit dem die Mutter sie angesehen hatte.

Und einmal hatte sie zu ihrer Mutter gesagt: »Ich habe Dmitris Frau nie leiden können, ich weiß wirklich nicht, warum ich mich heute anders verhalten sollte.«

Jetzt fiel ihr die Antwort ihrer Mutter ein: »Aber begreifst du denn, was das alles bedeutet, eine Frau zehn Jahre lang einzusperren, nur weil sie ihren Mann nicht denunziert hat!«

Dann erinnerte sie sich an den Tag, an dem sie einen Welpen nach Hause gebracht hatte, den sie auf der Straße gefunden hatte. Viktor wollte das Hündchen nicht aufnehmen, da hatte sie ihn angeschrien: »Du bist ein grausamer Mensch!« Er aber hatte ihr geantwortet: »Ach, Ljuda, ich möchte gar nicht, dass du jung und schön bist, ich möchte nur eins – dass du nicht nur für Hunde und Katzen ein gutes Herz hast.«

Jetzt, als sie so an Deck saß, erinnerte sie sich zum ersten Mal ohne Selbstliebe, ohne den Wunsch, andern die Schuld zu geben, an die bitteren Worte, die sie in ihrem Leben zu hören bekommen hatte. Einmal hatte ihr Mann lachend am Telefon gesagt: »Seitdem wir ein Kätzchen aufgenommen haben, höre ich die zärtliche Stimme meiner Frau.«

Die Mutter hatte einmal zu ihr gesagt: »Ljuda, wie kannst du nur den Bettlern etwas abschlagen? Bedenke doch: Ein Hungriger bittet dich, die Satte …« Sie war aber nicht geizig. Sie hatte gern Gäste, und ihre Kochkunst genoss unter ihren Bekannten hohes Ansehen.

Niemand sah sie in der kalten Nacht an Deck sitzen und weinen. Und wennschon – so war sie eben verhärtet! Sie hatte alles vergessen, was sie gelernt hatte. Zu nichts taugte sie. Niemandem konnte sie mehr gefallen. Sie war dick geworden, hatte graues Haar und einen hohen Blutdruck. Ihr Mann liebte sie nicht, deshalb kam sie ihm herzlos vor. Doch wenn nur Tolja am Leben blieb! Sie war bereit, alles einzugestehen, alles Schlechte zu bereuen, das ihr ihre Angehörigen vorwarfen – wenn er nur am Leben blieb!

Warum dachte sie nur immer an ihren ersten Mann? Wo war er, wie konnte sie ihn finden? Warum hatte sie nicht seiner Schwester nach Rostow geschrieben? Jetzt konnte man ihr nicht mehr schreiben – die Deutschen waren schon dort. Die Schwester hätte ihm von Tolja berichtet.

Der Lärm der Schiffsturbine, das Zittern des Decks, die Wasserspritzer, das Flimmern der Sterne am Himmel – alles verschwamm und floss ineinander. Ljudmila Nikolajewna döste ein.

Der Morgen nahte. Nebel wallte über der Wolga; es schien, als hätte er alles Leben verschlungen. Plötzlich stieg die Sonne auf – es war wie eine Explosion der Hoffnung! Der Himmel spiegelte sich im Wasser, das dunkle herbstliche Wasser atmete auf, es schien, als stieße die Sonne bei ihrer Berührung mit den Wellen des Flusses einen Schrei aus. Das Ufer trug die dicke Salzkruste des Nachtfrostes, die rötlichen Bäume bildeten einen fröhlichen Kontrast zu dem weißen Hintergrund. Wind kam auf, der Nebel verschwand, die Welt wurde glasklar und schneidend durchsichtig. Weder das grelle Sonnenlicht noch das Blau des Himmels und des Wassers strahlte Wärme aus.

Die Erde war unermesslich groß, und selbst der Wald darauf grenzte den Horizont nicht ab; man konnte sehen, wo er anfing und wo er aufhörte, aber die Erde zog sich immer noch weiter hin. So unermesslich und ewig wie die Erde war ihr Leid.

Sie sah die nach Kuibyschew in den Kabinen erster Klasse reisenden Funktionäre des Volkskommissariats in ihren tarnfarbenen Pekeschen und Mützen aus grauem Offizierspersianer. In den Kabinen zweiter Klasse reisten die Ehefrauen und Schwiegermütter der Funktionäre, die, ihrem jeweiligen Rang entsprechend, Einheitskleidung trugen, so als gäbe es eine spezielle Uniform für die Ehefrauen und eine für die Schwiegermütter und Mütter: Die Ehefrauen trugen Pelzmäntel und weiße, federleichte Kopftücher aus Ziegenmohair, die Schwiegermütter und Mütter blaue Wintermäntel aus Tuch mit schwarzem Persianerkragen und braune Kopftücher. Sie wurden von Kindern mit gelangweilten, missmutigen Augen begleitet. Durch die Kabinenfenster sah man die Lebensmittel, die diese Passagiere mit sich führten. Ljudmilas erfahrener Blick fand leicht heraus, was die Säcke enthielten: In Beuteln, verlöteten Dosen und großen, dunklen Flaschen mit versiegelten Hälsen fuhren Honig und Butterschmalz die Wolga hinab. Aus Gesprächsfetzen der an Deck flanierenden Passagiere erster und zweiter Klasse ging klar hervor, dass ihr ganzes Denken und Sorgen um den aus Kuibyschew abfahrenden Zug nach Moskau kreiste.

Ljudmila hatte den Eindruck, als betrachteten die Frauen die in den Korridoren sitzenden Rotarmisten und Leutnants mit gleichgültigem Blick, so als wären ihre Söhne und Brüder nicht im Krieg. Wenn die Morgenmeldung des »Sowjetischen Informbüros« übertragen wurde, standen sie nicht, mit verschlafenen Augen zum Lautsprecher blinzelnd, mit den Rotarmisten und Schiffsmatrosen zusammen unter dem Megafon, sondern drückten sich an ihnen vorbei, um lieber ihren eigenen Angelegenheiten nachzugehen.

Von den Matrosen erfuhr Ljudmila, dass das ganze Schiff für die Familien leitender Funktionäre eingesetzt worden war, die über Kuibyschew nach Moskau zurückkehrten. In Kasan hatten auf Befehl der Militärbehörden Heereskommandos und Zivilpersonen an Bord genommen werden müssen. Die rechtmäßigen Passagiere hatten Krach geschlagen, sich geweigert, die Militärs an Bord zu lassen, und den Bevollmächtigten des Staatlichen Verteidigungskomitees angerufen. Und wie seltsam: Diese Soldaten, auf ihrem Weg nach Stalingrad, liefen mit schuldbewussten Gesichtern herum und fühlten sich unbehaglich, weil sie die rechtmäßigen Passagiere störten.

Ljudmila Nikolajewna waren diese ruhigen Frauenaugen unerträglich. Die Großmütter riefen ihre Enkel zu sich und schoben ihnen, ohne die Unterhaltung zu unterbrechen, mit automatischen Bewegungen Backwerk in den Mund. Und als aus der am Bug gelegenen Kabine eine untersetzte alte Frau im sibirischen Nerz herauskam, um zwei Jungen auf Deck spazieren zu führen, beeilten sich die Frauen, sie zu grüßen, und auf den Gesichtern ihrer Männer im Staatsdienst erschien ein schmeichelnder, unruhiger Ausdruck.

Hätte jetzt das Radio die Eröffnung der zweiten Front oder die Aufhebung der Blockade von Leningrad gemeldet, keiner von ihnen hätte mit der Wimper gezuckt. Doch hätte ihnen jemand gesagt, dass der internationale Waggon vom Zug nach Moskau abgehängt worden sei – alle Ereignisse des Krieges wären von dem leidenschaftlichen Drängeln um Platzkarten der ersten oder zweiten Klasse verschluckt worden.

Und doch glich auch Ljudmila Nikolajewna in ihrer Aufmachung – grauer Persianer, Ziegenmohairtuch – den Passagieren der ersten und zweiten Klasse. Hatte sie nicht selbst erst vor kurzem Platzkartennöte durchlitten und sich empört, dass man Viktor Pawlowitsch für seine Reisen nach Moskau keine Fahrkarte erster Klasse ausgestellt hatte?

Sie erzählte einem Leutnant der Artillerie, dass ihr Sohn – auch er Leutnant der Artillerie – mit schweren Verwundungen im Saratower Lazarett liege. Mit einer kranken alten Frau unterhielt sie sich über Marussja, Vera und ihre Schwiegermutter, die auf besetztes Territorium geraten waren. Ihr Leid war das Leid, über das auf diesem Schiffsdeck geseufzt wurde, das Leid, das immer seinen Weg aus den Lazaretten und Frontgräbern zu den Dorfkaten oder zu der in namenloser Öde stehenden Baracke ohne Nummer fand.

Sie hatte sich ohne einen Trinkbecher und Brot auf den Weg gemacht, so als würde sie unterwegs weder essen noch trinken. Doch an Bord quälte sie schon vom frühen Morgen an das Verlangen zu essen; und Ljudmila erkannte, dass ihr eine schwere Zeit bevorstand. Am zweiten Reisetag kochten die Rotarmisten, die mit den Heizern eine Abmachung getroffen hatten, im Maschinenraum Suppe mit Hirse, riefen Ljudmila herbei und schenkten ihr einen Napf Suppe aus.

Ljudmila saß auf einer leeren Kiste und löffelte aus einem fremden Napf mit einem fremden Löffel eingebrannte Suppe.

»Ein gutes Süppchen!«, sagte einer der Köche zu ihr, und da Ljudmila schwieg, fragte er sie herausfordernd: »Oder etwa nicht? Ist sie nicht kräftig genug?«

Wie viel naive Großzügigkeit lag in diesen Worten des Rotarmisten, in diesem Wunsch nach dem Lob eines Menschen, dessen Hunger er gerade gestillt hatte.

Ljudmila half einem Soldaten, eine Feder in seiner defekten Maschinenpistole zu reparieren, was nicht einmal sein mit dem Orden des Roten Sterns ausgezeichneter Feldwebel geschafft hatte. Als sie einem Streit zwischen den Artillerieleutnants zuhörte, griff sie zum Bleistift und half ihnen, eine trigonometrische Formel abzuleiten. Nach diesem Vorfall fragte sie plötzlich ein Leutnant, der sie bis dahin »Graschdanotschka«17 genannt hatte, nach ihrem Vor- und Vatersnamen.

Nachts ging Ljudmila Nikolajewna an Deck auf und ab. Der Fluss atmete eisige Kälte; aus dem Dunkel blies unbarmherzig ein fast waagrecht wehender Wind. Über ihr leuchteten die Sterne, und sie fand keinen Trost und keine Ruhe in diesem grausamen Himmel aus Feuer und Eis, der sich über ihrem Haupt spannte.

27

Vor der Ankunft des Schiffes in der provisorischen Kriegshauptstadt erhielt der Kapitän den Befehl, nach Saratow weiterzufahren, um Verwundete aus den Saratower Lazaretten an Bord zu nehmen.

Die Passagiere, die in den Kabinen reisten, begannen, sich für die Ausschiffung zu rüsten, trugen Koffer und Pakete heraus und stellten sie an Deck.

Die Umrisse von Fabriken, von mit Blech gedeckten Häuschen und Baracken kamen in Sicht. Es war, als rauschte das Wasser am Heck anders, als habe das Dröhnen der Schiffsturbine einen anderen, alarmierenden Ton bekommen.

Dann kroch langsam das Häusermeer von Samara hervor, grau, rötlich, schwarz, fensterblitzend, in Rauchschwaden aus Fabrik- und Lokomotivschornsteinen gehüllt.

Die Passagiere, die in Kuibyschew ausstiegen, standen an der Reling.

Sie verabschiedeten sich von niemandem, nickten den Zurückbleibenden nicht einmal zum Abschied zu, denn sie hatten unterwegs mit niemandem Bekanntschaft geschlossen. Auf die Alte im sibirischen Nerz und ihre zwei Enkel wartete eine SIS-101-Limousine. Ein gelbgesichtiger Mann im Militärmantel salutierte vor der Alten und begrüßte die Jungen mit Handschlag. Es vergingen ein paar Minuten, und die Passagiere mit ihren Kindern, Koffern und Paketen waren verschwunden, so als hätte es sie nie gegeben. An Bord blieben nur Soldatenmäntel und wattierte Jacken zurück.

Ljudmila dachte, dass sie sich jetzt besser fühlen würde, umgeben von Menschen, die das gleiche Unglück, die gleiche Arbeit, das gleiche Schicksal vereinte. Aber sie hatte sich geirrt.

28

Ljudmila Nikolajewnas erste Begegnung mit Saratow war brutal und grausam. Gleich auf dem Kai prallte sie mit einem Betrunkenen im Soldatenmantel zusammen. Er taumelte, versetzte ihr einen Stoß und beschimpfte sie mit unflätigen Worten.

Sie arbeitete sich den steilen, kopfsteingepflasterten Weg hinauf, der zur Stadt führte, blieb stehen und sah sich schwer atmend um. Das Schiff blinkte weiß zwischen den grauen Lagerhäusern am Kai und stieß, als hätte es begriffen, was in ihr vorging, ein leises, abgehacktes Tuten aus: »Geh schon, geh!« Und sie ging.

Beim Einsteigen in die Straßenbahn drückten die jungen Frauen mit stummer Verbissenheit die Alten und Schwachen zurück. Ein Blinder mit einer Rotarmistenmütze auf dem Kopf, der offensichtlich erst vor kurzem aus dem Lazarett entlassen worden war und sich an seine Blindheit noch nicht gewöhnt hatte, trippelte hastig auf der Stelle und klapperte mit seinem Stock vor sich herum. Er klammerte sich wie ein Kind an eine nicht mehr ganz junge Frau, die gerade vorbeikam. Die Frau versuchte sich von ihm loszureißen und beschleunigte ihren Schritt, das Kopfsteinpflaster dröhnte unter ihren eisenbeschlagenen Stiefelabsätzen. Er aber ließ nicht locker und erklärte ihr hastig:

»Helfen Sie mir beim Einsteigen. Ich komme aus dem Lazarett.«

Die Frau stieß ein Schimpfwort aus und versetzte dem Blinden einen Stoß. Der verlor das Gleichgewicht und setzte sich aufs Pflaster. Ljudmila betrachtete das Gesicht der Frau. Woher kam dieser unmenschliche Ausdruck? Was hatte ihn verursacht? Der Hunger im Jahr 1921, an dem sie in ihrer Kindheit gelitten hatte? Das Massensterben im Jahr 1930? Ein Leben voller Not und Elend?

Der Blinde blieb einen Augenblick lang wie erstarrt sitzen, dann sprang er auf und stieß einen schrillen Vogelschrei aus. Er hatte sich wohl selbst gesehen, mit seinen toten Augen, wie er, die Mütze schief auf dem Kopf, sinnlos mit seinem Stock in der Luft herumfuchtelte.

Der Blinde hieb mit dem Stock in die Luft, und in diesen kreisenden Hieben äußerte sich sein Hass auf die unbarmherzige sehende Welt. Die Leute stiegen, sich gegenseitig anrempelnd, in den Wagen, er aber blieb weinend und schreiend auf dem Gehsteig zurück. Und die Menschen, die Ljudmila voller Hoffnung und Liebe in die Gemeinschaft von Arbeit, Not, Güte und Leid einbezogen hatte, taten so, als hätten sie sich verabredet, sich nicht wie Menschen zu benehmen; als hätten sie gemeinsam beschlossen, die Ansicht zu widerlegen, dass man das Gute a priori mit Sicherheit in den Herzen derer finden könne, die speckige Kleider trugen und deren Hände von der Arbeit dunkel geworden waren.

Etwas Quälendes, Düsteres streifte Ljudmila Nikolajewna, und diese flüchtige Berührung genügte, um sie mit der Kälte und Dunkelheit der unermesslichen Weiten im bettelarmen Russland zu erfüllen und sie die Hilflosigkeit in der Tundra des Lebens spüren zu lassen.

Ljudmila erkundigte sich bei der Schaffnerin, wo sie aussteigen müsse; die erwiderte gelassen: »Das habe ich Ihnen doch schon mal gesagt. Sind Sie etwa taub?«

Die Fahrgäste, die im Mittelgang standen, gaben keine Antwort auf die Frage, ob sie ausstiegen, und rührten sich nicht vom Fleck.

Ljudmila hatte einst die Vorschulklasse, die sogenannte »Abc«-Klasse des Saratower Mädchengymnasiums besucht. An einem Wintermorgen hatte sie mit den Füßen baumelnd am Tisch gesessen und Tee getrunken. Der Vater, den sie über alles liebte, strich ihr Butter auf eine warme Brioche. Die Lampe spiegelte sich in der dickbauchigen Wölbung des Samowars, und sie hätte sich niemals von der warmen Hand des Vaters, vom warmen Brot, von der Wärme des Samowars trennen mögen.

Es kam ihr nun so vor, als hätte es damals in dieser Stadt keinen Novemberwind, keinen Hunger, keine Selbstmorde, keine im Krankenhaus sterbenden Kinder gegeben, sondern nur Wärme, Wärme, Wärme.

Auf dem hiesigen Friedhof lag ihre ältere Schwester Sonja, die an Krupp gestorben war, begraben. Alexandra Wladimirowna hatte sie zu Ehren Sofja Lwowna Perowskajas Sonja genannt. Auf diesem Friedhof war wohl auch der Großvater begraben.

Ljudmila ging auf ein zweistöckiges Schulgebäude zu; es war das Lazarett, in dem Tolja lag. An der Tür stand kein Posten. Das schien ihr ein gutes Omen zu sein. Sie spürte die Krankenhausluft, die so zäh und klebrig war, dass selbst Menschen, die halb erfroren von der Straße hereinkamen, sich nicht über ihre Wärme freuen konnten, sondern lieber wieder in die Kälte hinausgehen wollten. Sie ging an den Toiletten vorbei, die noch mit den Schildchen »Für Knaben« und »Für Mädchen« versehen waren. Sie ging durch den Korridor und roch Küchendünste. Sie ging noch ein Stück weiter und erspähte durch ein beschlagenes Fenster rechteckige Sargkisten, die im Innenhof abgestellt waren, und wieder dachte sie wie in ihrer Diele zu Hause, als sie den ungeöffneten Brief in den Händen hielt: »O mein Gott, wenn ich doch jetzt nur tot umfiele!« Doch sie ging mit großen Schritten weiter, schritt über den grauen Läufer, kam vorbei an Nachtkästchen mit ihr bekannten Zimmerpflanzen – Asparagus und Philodendron – und gelangte zu einer Tür, auf der neben dem Schildchen »Vierte Klasse« handgeschrieben »Registratur« stand.

Ljudmila gab sich einen Ruck und drückte die Türklinke herunter; Sonnenstrahlen, die durch die Wolken gedrungen waren, fielen durchs Fenster in den Raum, und alles ringsum glänzte auf.

Einige Minuten später sagte der gesprächige Schreiber, der die Karteikarten in einem länglichen, in der Sonne glänzenden Kasten durchsah, zu ihr:

»Aha, also Schaposchnikow, A, B … Anatoli B … aha … Sie haben Glück, dass Sie da so in Ihrem Mantel nicht unseren Kommandanten angetroffen haben, der hätte Sie hochkant wieder hinausgeworfen … aha … also hier haben wir ihn, Schaposchnikow … Ja, ja, das ist er, Leutnant, richtig.«

Ljudmila schaute auf die Finger, die die Karte aus dem langen Sperrholzkasten herausholten. Ihr war, als stünde sie vor Gott und als läge es in Seiner Macht, ihr zu sagen: Er lebt oder er ist tot. Noch zögerte Er, noch hatte Er nicht entschieden, ob ihr Sohn leben oder sterben sollte.

29

Ljudmila Nikolajewna war eine Woche nach einer weiteren, der dritten Operation, die man an ihrem Sohn vorgenommen hatte, nach Saratow gekommen. Die Operation hatte der Militärarzt zweiten Ranges, Maisel, ausgeführt. Die Operation war kompliziert und langwierig gewesen. Über fünf Stunden hatte Tolja in Vollnarkose gelegen, zweimal hatte Hexonal in die Vene eingespritzt werden müssen. Keiner der Lazarettmilitärärzte und Universitätsklinikchirurgen in Saratow hatte je eine derartige Operation durchgeführt. Man kannte sie aus der Fachliteratur. Die Amerikaner hatten sie 1941 in einer kriegsmedizinischen Zeitschrift ausführlich beschrieben.

Angesichts der besonderen Kompliziertheit dieser Operation hatte Doktor Maisel nach der letzten Röntgenuntersuchung ein langes und offenes Gespräch mit dem Leutnant geführt. Er hatte ihm das Wesen der pathologischen Prozesse erklärt, die sich nach der furchtbaren Verwundung in seinem Organismus vollzogen. Gleichzeitig hatte ihn der Chirurg offen auf das Risiko hingewiesen, das mit der Operation verbunden war. Er hatte gesagt, dass die mit ihm gemeinsam beratenden Ärzte in ihrer Entscheidung nicht einer Meinung waren. Der Klinikchef, Professor Rodionow, war gegen die Operation. Leutnant Schaposchnikow hatte Doktor Maisel zwei oder drei Fragen gestellt und nach kurzer Bedenkzeit gleich im Röntgenkabinett der Operation zugestimmt. Fünf Tage hatte man für die Vorbereitung der Operation gebraucht.

Die Operation begann um elf Uhr morgens und war erst um vier Uhr beendet. Anwesend war auch der Lazarettleiter, der Militärarzt Dimitruk. Nach dem Urteil der Ärzte, die die Operation beobachtet hatten, war sie glänzend verlaufen. Maisel hatte am Operationstisch bei unerwartet aufgetauchten Komplikationen, die in der Literatur nicht beschrieben worden waren, die richtigen Entscheidungen getroffen. Der Zustand des Kranken während der Operation war zufriedenstellend gewesen, der Puls normal und ohne Ausfälle.

Gegen zwei Uhr hatte Doktor Maisel, ein schwerer, nicht mehr ganz junger Mann, Übelkeit verspürt und war gezwungen gewesen, die Arbeit für einige Minuten zu unterbrechen. Der Internist Klestow hatte ihm Validol gegeben; danach hatte Maisel bis zum Operationsende keine Arbeitspausen mehr gemacht. Jedoch bald nachdem Leutnant Schaposchnikow wieder in sein Krankenabteil gebracht worden war, hatte Doktor Maisel einen schweren Herzkrampf erlitten. Nur wiederholte Kampferinjektionen und die Anwendung von flüssigem Nitroglyzerin konnten die Gefäßspasmen bis zur Nacht lösen. Der Anfall war offensichtlich von der nervlichen Anstrengung und Überbelastung hervorgerufen worden, die für das kranke Herz zu viel gewesen waren.

Schwester Terentjewa, die bei Schaposchnikow Wache hielt, kontrollierte, laut Bericht, laufend das Befinden des Leutnants. Klestow kam und prüfte den Puls des Bewusstlosen. Der Zustand Schaposchnikows war zufriedenstellend. Doktor Klestow sagte zu Schwester Terentjewa: »Maisel hat dem Leutnant den Weg ins Leben gebahnt, selbst wäre er jedoch um ein Haar gestorben.«

Schwester Terentjewa erwiderte: »Ach, wenn Leutnant Tolja nur durchkommt!«

Schaposchnikow atmete kaum hörbar. Sein Gesicht war reglos. Die dünnen Arme und der Hals wirkten kindlich. Auf der bleichen Haut lag als kaum wahrnehmbarer Schatten die Sonnenbräune, die sich aus der Zeit des Feldeinsatzes und der Steppenmärsche erhalten hatte. Schaposchnikow befand sich in einem halb bewusstlosen Zustand – eine schwere Benommenheit, die auf die Nachwirkungen der Narkose und die seelische und körperliche Erschöpfung zurückzuführen war. Der Kranke murmelte einzelne unverständliche Worte und manchmal ganze Sätze. Schwester Terentjewa schien es, als sagte er schnell hintereinander: »Gut, dass du mich nicht so gesehen hast.« Danach lag er still da, mit herabgezogenen Mundwinkeln, und man hätte glauben können, dass er in seiner halben Ohnmacht weinte.

Gegen acht Uhr abends schlug der Kranke die Augen auf und bat artikuliert – Schwester Terentjewa wunderte und freute sich – um etwas zu trinken. Die Schwester sagte dem Kranken, er dürfe nichts trinken, und fügte hinzu, dass die Operation hervorragend verlaufen sei und dem Kranken die Genesung bevorstehe. Sie fragte ihn, wie er sich fühle, und er antwortete, dass die Schmerzen in Rücken und Hüfte nicht groß seien. Sie prüfte wieder seinen Puls und wischte ihm mit einem feuchten Handtuch über Stirn und Lippen.

Da trat der Sanitäter Medwedjew in den Krankensaal und teilte mit, dass der Leiter der chirurgischen Station, der Militärarzt Platonow, Schwester Terentjewa ans Telefon rufen lasse. Die Schwester ging ins Zimmer der Etagenaufseherin, nahm den Hörer auf und berichtete Platonow, dass der Kranke erwacht und sein Befinden so normal sei, wie es eben nach einer gerade überstandenen schweren Operation zu erwarten sei. Sie bat den Militärarzt um Ablösung – sie hatte einige dringende Angelegenheiten im Städtischen Kriegskommissariat zu erledigen. Platonow versprach, sie aus ihrer Pflicht zu entlassen, ordnete jedoch an, Schaposchnikow so lange zu beobachten, bis er ihn selbst untersucht habe.

Schwester Terentjewa kehrte in den Krankensaal zurück. Der Kranke lag in der gleichen Haltung da, in der sie ihn verlassen hatte, doch er schien jetzt nicht mehr so stark vom Leiden gezeichnet – die Mundwinkel hatten sich angehoben, das Gesicht wirkte ruhig und lächelnd. Der ständige Schmerz hatte den Leutnant viel älter aussehen lassen. Jetzt versetzte sein lächelndes Gesicht Schwester Terentjewa in Erstaunen. Die eingefallenen Wangen hatten sich etwas gefüllt; die vollen, blassen Lippen, die hohe Stirn, auf der sich kein einziges Fältchen zeigte, schienen nicht einem erwachsenen Mann zu gehören, ja nicht einmal einem Jüngling, sondern einem Kind. Schwester Terentjewa erkundigte sich bei dem Kranken nach seinem Befinden, doch er gab keine Antwort. Offenbar war er eingeschlafen.

Sein Gesichtsausdruck ließ Schwester Terentjewa stutzig werden. Sie nahm Leutnant Schaposchnikows Hand – der Puls ließ sich nicht ertasten, die Hand fühlte sich kaum noch warm an; es war die leblose, kaum spürbare Wärme, die am Vorabend aufgeheizte und längst ausgebrannte Öfen noch bis zum Morgen speichern. Obgleich Schwester Terentjewa ihr Leben lang in der Stadt gelebt hatte, ließ sie sich auf die Knie fallen und wimmerte wie eine Bäuerin, leise, um die Lebenden nicht zu beunruhigen:

»Ach, du unser Liebling, du unsere Blume, wohin bist du von uns gegangen?«

30

Im Lazarett sprach sich die Ankunft von Leutnant Schaposchnikows Mutter herum. Der Lazarettkommissar, Bataillonskommissar Schimanski, empfing die Mutter des Verstorbenen. Schimanski, ein schöner Mann mit einer Aussprache, die seine polnische Herkunft verriet, zog die Stirn kraus, während er Ljudmila Nikolajewna erwartete – er glaubte, dass sie unvermeidlich in Tränen ausbrechen und vielleicht in Ohnmacht fallen würde. Er fuhr sich mit der Zunge über den Schnurrbart, den er sich erst vor kurzem hatte wachsen lassen, bedauerte den verstorbenen Leutnant, bedauerte seine Mutter und ärgerte sich deswegen sowohl über den einen als auch über die andere: Wenn man jede Mama jedes verstorbenen Leutnants empfangen wollte, wo sollte man die Nerven dafür hernehmen?

Nachdem er Ljudmila Nikolajewna einen Stuhl angeboten hatte, schob ihr Schimanski, bevor er das Gespräch begann, eine Karaffe mit Wasser hin. Sie sagte: »Ich danke Ihnen, ich möchte nichts trinken.«

Sie hörte seinen Bericht über das Konsilium an, das der Operation vorausgegangen war (der Bataillonskommissar hielt es nicht für notwendig, ihr zu erzählen, dass einer gegen die Operation gestimmt hatte), über die Schwierigkeit der Operation und darüber, dass die Operation gut verlaufen war. Die Chirurgen glaubten, dass diese Operation bei so schweren Verwundungen, wie Leutnant Schaposchnikow sie erhalten hatte, vorgenommen werden musste. Er sagte, dass der Tod Schaposchnikows aufgrund eines Herzstillstands eingetreten sei und dass es, wie der Befund des Pathologen, des Militärarztes dritten Ranges Boldyrew, gezeigt habe, nicht in der Macht der Ärzte gestanden habe, diesen unerwarteten Exitus vorauszusehen und abzuwenden.

Dann sprach der Bataillonskommissar darüber, dass Hunderte von Kranken das Lazarett durchliefen, dass jedoch das Personal selten einen so gern gehabt habe wie Leutnant Schaposchnikow. Er sei ein pflichtbewusster, kultivierter, schüchterner Patient gewesen, der sich immer gescheut habe, irgendetwas zu erbitten und das Personal zu behelligen. Die Mutter müsse stolz darauf sein, einen Sohn erzogen zu haben, der sein Leben selbstlos und ehrenhaft für die Heimat gegeben habe.

Ljudmila Nikolajewna bat um Entschuldigung, dass sie dem Kommissar die Zeit stehle, holte aus ihrer Handtasche ein Blatt Papier und begann, ihre Bitten vorzulesen.

Sie bat darum, ihr die Stelle zu zeigen, wo ihr Sohn begraben worden war. Der Bataillonskommissar nickte schweigend und notierte.

Sie wollte mit Doktor Maisel sprechen.

Der Kommissar sagte, dass Doktor Maisel, der von ihrer Ankunft erfahren hatte, selbst mit ihr reden wollte.

Sie bat um eine Zusammenkunft mit Schwester Terentjewa.

Der Kommissar nickte und machte sich eine Notiz.

Sie bat um die Erlaubnis, die Kleider ihres Sohnes zur Erinnerung zu bekommen.

Wieder machte der Kommissar eine Notiz.

Dann bat sie darum, den Verwundeten die Gastgeschenke zu überreichen, die sie ihrem Sohn mitgebracht hatte, und legte zwei Dosen Sprotten und eine Tüte Bonbons auf den Tisch.

Ihr Blick begegnete dem des Kommissars; der Glanz ihrer großen blauen Augen ließ ihn unwillkürlich blinzeln.

Schimanski bat Ljudmila, am folgenden Tag um neun Uhr dreißig ins Lazarett zu kommen; alle ihre Bitten würden erfüllt werden.

Der Bataillonskommissar schaute auf die Tür, die sich hinter der Schaposchnikowa schloss, und auf die Geschenke, die sie für die Verwundeten dagelassen hatte, fühlte seinen Puls, fand ihn nicht, zuckte mit den Achseln und begann das Wasser zu trinken, das er Ljudmila zu Beginn des Gesprächs angeboten hatte.

31

Es schien, als fände Ljudmila Nikolajewna keine ruhige Minute. In der Nacht ging sie durch die Straßen, saß auf einer Bank im Stadtpark, ging in den Bahnhof, um sich aufzuwärmen, und wanderte wieder mit schnellem, geschäftigem Schritt durch die leeren Straßen.

Schimanski erfüllte jede ihrer Bitten.

Um neun Uhr dreißig vormittags traf sich Ljudmila Nikolajewna mit der Krankenschwester Terentjewa. Sie bat sie, ihr alles zu erzählen, was sie über Tolja wusste.

Gemeinsam mit Schwester Terentjewa stieg Ljudmila Nikolajewna, nachdem sie einen weißen Kittel angezogen hatte, in den ersten Stock hinauf, ging durch den Korridor, durch den man ihren Sohn in den Operationssaal getragen hatte, stand an der Tür eines Einbett-Krankenabteils und blickte auf das schmale Bett, das an diesem Morgen leer war. Schwester Terentjewa ging die ganze Zeit neben ihr her und putzte sich mit einem Taschentuch die Nase. Sie stiegen wieder ins Erdgeschoss hinab, und Schwester Terentjewa verabschiedete sich von ihr. Bald darauf trat schwer atmend ein grauhaariger, beleibter Mann in den Aufnahmeraum. Der gestärkte, blendend weiße Kittel des Chirurgen Maisel wirkte noch weißer im Vergleich zu seinem sonnenverbrannten Gesicht und seinen dunklen, leicht vorstehenden Augen.

Maisel erzählte Ljudmila Nikolajewna, weshalb Professor Rodionow gegen die Operation gewesen war. Er schien alle Fragen zu erraten, die Ljudmila Nikolajewna ihm stellen wollte. Er erzählte ihr von seinen Gesprächen mit Leutnant Tolja vor der Operation. Er begriff, in welcher Verfassung sich Ljudmila befand, und berichtete mit schonungsloser Offenheit über den Verlauf der Operation.

Dann sagte er, dass er für Leutnant Tolja beinahe so etwas wie väterliche Zuneigung verspürt habe, und die tiefe Stimme des Chirurgen bekam eine leise Brüchigkeit. Zum ersten Mal betrachtete sie seine Hände; sie waren eigentümlich, führten ein Eigenleben, als hätten sie nichts zu tun mit dem Mann und seinen traurigen Augen – es waren raue, schwere Hände mit großen, kräftigen, sonnengebräunten Fingern.

Maisel verbarg die Hände unter dem Tisch. Als läse er ihre Gedanken, meinte er:

»Ich habe mein Möglichstes getan, aber schließlich haben meine Hände seinen Tod nur beschleunigt, anstatt ihn abzuwehren.« Er legte seine Hände wieder auf den Tisch.

Sie verstand, dass alles, was Maisel sagte, die Wahrheit war. Jedes seiner Worte, die sie voller Ungeduld erwartete, quälte und brannte. Doch das Gespräch war noch aus anderen Gründen quälend für sie: Sie spürte, dass der Chirurg die Begegnung mit ihr nicht um ihretwillen, sondern um seinetwillen gewollt hatte. Und deshalb hegte sie Maisel gegenüber leisen Groll.

Als sie sich von ihm verabschiedete, sagte sie, sie glaube ihm, dass er sein Möglichstes für die Rettung ihres Sohnes getan habe. Er atmete schwer, und sie spürte, dass ihm ihre Worte Erleichterung verschafften; und wiederum erkannte sie, dass er das Recht zu besitzen glaubte, diese Worte von ihr zu hören, und daher diese Begegnung mit ihr gewollt hatte. Vorwurfsvoll dachte sie: »Will er etwa von mir auch noch getröstet werden?«

Der Chirurg verließ sie, und Ljudmila ging zu einem Mann mit einer Papacha18 auf dem Kopf: dem Kommandanten. Er salutierte vor ihr und meldete heiser, dass der Kommissar befohlen habe, sie im Pkw zur Grabstätte zu fahren. Das Auto komme mit zehn Minuten Verspätung, weil man noch eine Liste der Zivilbeschäftigten in das Lebensmittelkartenbüro bringen musste. Die Kleider des Leutnants seien schon bereitgelegt, es sei günstiger, sie nach der Rückkehr vom Friedhof abzuholen.

Alles, was Ljudmila Nikolajewna erbeten hatte, wurde militärisch genau und pünktlich erfüllt. Doch an der Art und Weise, wie ihr der Kommissar, die Schwester und der Kommandant begegneten, war zu spüren, dass auch diese Menschen von ihr eine gewisse Beschwichtigung, Vergebung und Tröstung erwarteten.

Der Kommissar fühlte sich schuldig, weil im Lazarett Menschen starben. Bis zur Ankunft der Schaposchnikowa hatte ihm das nichts ausgemacht – so war es eben in einem Lazarett im Krieg. Die Organisation der medizinischen Betreuung hatte bei der höheren Führung keinen Anstoß erregt. Man warf ihm dagegen vor, dass die politische Arbeit nur unzureichend organisiert und die Information über die Stimmung unter den Verwundeten schlecht sei. Er kämpfe nicht energisch genug gegen die unter einem Teil der Verwundeten verbreiteten Zweifel am Sieg, gegen die gelegentlichen volksfeindlichen Ausbrüche gewisser rückständiger, dem Kolchossystem gegenüber feindselig eingestellter Verwundeter. Im Lazarett hatten einige Male Verwundete gegen die militärische Schweigepflicht verstoßen. Schimanski war in die Politabteilung der militärischen Kreisverwaltung für das Sanitätswesen beordert worden. Dort hatte man ihm angekündigt, dass er an die Front versetzt würde, wenn aus der SMERSCH, der besonderen Abteilung zur Spionageabwehr, wieder Mitteilungen über Unzulänglichkeiten in der Lazarett-Ideologie kämen.

Jetzt aber fühlte er sich vor der Mutter des verstorbenen Leutnants schuldig, weil gestern drei Kranke gestorben waren, er aber dennoch geduscht, beim Koch sein Lieblingsgericht aus gedünstetem Sauerkraut bestellt und ein Kännchen Bier getrunken hatte, das er sich im Städtischen Handelsamt verschafft hatte.

Schwester Terentjewa befand sich vor der Mutter des verstorbenen Leutnants für schuldig, weil ihr Mann, ein Militäringenieur, im Armeestab diente und nicht in der vordersten Linie stand, und ihr Sohn, der ein Jahr älter als Schaposchnikow war, im Konstruktionsbüro einer Flugzeugfabrik arbeitete.

Auch der Kommandant kannte seine Schuld: Er, ein Berufssoldat, diente in einem Etappenlazarett, schickte guten Gabardine und Filzstiefel nach Hause, aber für die Mutter des gefallenen Leutnants blieb nur dessen Baumwolluniform übrig.

Und auch der Feldwebel mit den dicken Lippen und den fleischigen, runden Ohren, der die Beerdigung der im Lazarett Gestorbenen leitete, fühlte sich vor der Frau, mit der er zum Friedhof fuhr, schuldig. Die Särge waren aus dünnen Brettern, Ausschussholz, zusammengezimmert. Die Toten wurden in der Unterwäsche in die Särge gelegt. Die gemeinen Soldaten kamen eng nebeneinander in Sammelgräber. Die Grabaufschriften wurden mit hässlicher Schrift auf rohe Holzschildchen gemalt. Zum Schreiben benutzte man keine wetterfeste Farbe. Freilich, die Toten in den Divisionssanitätsabteilungen wurden ohne Sarg einfach in Gruben verscharrt; die Aufschriften, mit Tinte geschrieben, hielten gerade bis zum ersten Regen. Jenen aber, die im Kampf fielen, in den Wäldern, Sümpfen, Schluchten oder auf freiem Feld, war es überhaupt nicht beschieden, Menschen zu finden, die sie begruben. Sie begrub der Sand, das trockene Laub, der Schneesturm.

Doch der Feldwebel fühlte sich trotzdem wegen der minderen Qualität des Holzes vor der Frau schuldig, die neben ihm im Auto saß und ihn ausfragte, wie die Toten begraben würden und ob man bei der Leichenzeremonie das letzte Wort über dem Grabe spreche. Es war ihm auch deshalb unbehaglich zumute, weil er vor der Fahrt bei einem Kumpel im Versorgungslager hereingeschaut und ein Döschen verdünnten Spiritus getrunken und dazu einen Happen Brot und ein Zwiebelchen gegessen hatte. Es war ihm peinlich, dass er mit seinem Atem Schnaps- und Zwiebelgeruch im Auto verbreitete; doch so peinlich es ihm auch war, auf das Atmen konnte er nicht verzichten. Er blickte finster in den Rückspiegel, der vor dem Fahrer des Wagens hing – in diesem viereckigen Spiegelchen lachten ihm die Augen des Fahrers entgegen und brachten ihn in Verlegenheit.

»Na, hat sich unser Feldwebel wieder vollgefressen«, sagten mitleidslos diese lustigen jungen Augen.

Alle Menschen sind vor der Mutter, die ihren Sohn im Krieg verloren hat, schuldig und werden, solange die Geschichte der Menschheit andauern wird, vergeblich versuchen, Freispruch von ihr zu erlangen.

32

Die Soldaten des Arbeitsbataillons luden die Särge vom Lastwagen ab. In ihrer schweigenden Gemächlichkeit bekundete sich die lange Übung in dieser Arbeit. Einer, der auf dem Kasten des Lastwagens stand, schob den Sarg an den Rand; ein anderer nahm ihn auf die Schulter und trug ihn ins Freie; dann kam schweigend ein Dritter und nahm das freie Ende des Sarges auf die Schulter. Ihre Stiefel knirschten auf der gefrorenen Erde, während sie den Sarg zu einem breiten Massengrab trugen. Sie stellten ihn am Grubenrand ab und gingen zum Lastwagen zurück. Als der leere Lastwagen in die Stadt davonfuhr, setzten sich die Soldaten auf die am offenen Grab stehenden Särge und drehten sich Zigaretten aus viel Papier und wenig Tabak.

»Heute ist nicht so viel zu tun«, sagte einer und fing an, aus einem selbstgebastelten Feuerzeug Feuer zu schlagen – als Zünder war eine Schnur in eine kupferne Patronenhülse eingezogen und der Feuerstein darin eingefasst worden. Nach dem Funkenschlag schwenkte der Soldat die Zünderhülse ein paarmal hin und her, und ein Rauchwölkchen hing in der Luft.

»Der Feldwebel hat gesagt, mehr als ein Wagen wird es heute nicht«, sagte der Zweite und blies eine große Rauchwolke aus, nachdem er seine Selbstgedrehte angeraucht hatte.

»Dann machen wir das Grab fertig.«

»Klar, machen wir’s lieber gleich. Die Liste wird er ja mitbringen und überprüfen«, meinte der Dritte, der nicht rauchte, holte aus der Hosentasche ein Stück Brot heraus, schüttelte es, blies es leicht ab und begann zu essen.

»Sag du dem Feldwebel, er soll uns ein Brecheisen geben. Bis zu einem Viertel fast ist die Erde gefroren, und morgen müssen wir ein neues Grab machen. Kann man denn so steinharte Erde auf die Schaufel nehmen?«

Der, der Feuer geschlagen hatte, klatschte schallend in die Hände, schnippte den Stummel aus der hölzernen Zigarettenspitze und klopfte sie leicht auf dem Sargdeckel aus.

Alle drei verstummten, so als lauschten sie. Es war still.

»Stimmt es, dass sie den Arbeitsbataillonen das Mittagessen als Trockenverpflegung ausgeben wollen?«, fragte der brotkauende Soldat und senkte die Stimme, um die Toten in den Särgen nicht mit für sie belanglosen Gesprächen zu stören.

Der zweite Raucher pustete den Stummel aus einer langen, verräucherten Zigarettenspitze aus Rohr, hielt sie ins Licht und schüttelte den Kopf.

Wieder war es still.

»Ganz netter Tag heute, bloß ein bisschen Wind.«

»Hört mal, der Wagen ist gekommen. Also werden wir’s bis zum Mittagessen hinter uns haben.«

»Nein, das ist nicht unserer, das ist ein Pkw.«

Aus dem Auto stiegen der ihnen bekannte Feldwebel und nach ihm eine Frau mit einem Tuch auf dem Kopf. Sie gingen auf die gusseiserne Einfriedung zu, wo bis zur letzten Woche Bestattungen vorgenommen, dann aber wegen Platzmangel eingestellt worden waren.

»Ganze Kompanien werden beerdigt, und niemand gibt ihnen das Geleit«, sagte einer. »Im Frieden sieht das so aus – ein Sarg und hinter ihm vielleicht hundert Leute mit Blumen.«

»Auch um die da weint man.« Der Soldat klopfte mit seinem dicken ovalen Fingernagel, der von der Arbeit abgeschliffen war wie ein Kiesel vom Meer, zartfühlend auf das Brett. »Nur kriegen wir diese Tränen nicht zu sehen … Schau, der Feldwebel kommt allein zurück.«

Diesmal zündeten sich alle drei eine Zigarette an. Der Feldwebel kam auf sie zu und sagte gutmütig: »Immer nur rauchen, Jungs, und wer wird die Arbeit für euch erledigen?«

Schweigend stießen sie drei Rauchwolken aus, dann meinte der, dem das Feuerzeug gehörte: »Mit dem Rauchen wird’s heute nichts, hörst du, da kommt schon der Lastwagen. Ich erkenn ihn am Motor.«

33

Ljudmila Nikolajewna ging zu dem Grabhügel und las auf dem Sperrholzschildchen den Namen und militärischen Rang ihres Sohnes. Sie hatte die klare Empfindung, dass ihr Haar, von den Fingern einer kalten Hand berührt, unter dem Kopftuch in Bewegung geriet.

Rechts und links von ihr, bis dicht an die Einfriedung heran, lagen im weiten Umkreis ebensolche grauen Hügel ohne Gras, ohne Blumen, nur mit einem einzigen, aus der Graberde herausragenden, geraden Holzstiel. Am Ende dieses Stiels saß ein Sperrholzbrettchen mit einem Namen darauf. Es gab viele dieser Brettchen; in ihrer Dichte und Gleichförmigkeit erinnerten sie an ein Getreidefeld.

Da hatte sie endlich Tolja gefunden. Wie oft hatte sie versucht zu erraten, wo er war, was er tat, woran er dachte. Ob ihr Kleiner, an die Wand eines Schützengrabens gelehnt, gerade schlief, ob er auf einer Straße dahinmarschierte oder ruhig, in der einen Hand den Becher und in der anderen ein Stück Würfelzucker, seinen Tee trank, ob er unter feindlichem Beschuss über ein Feld rannte … Sie hatte an seiner Seite sein wollen, er brauchte sie – sie hätte ihm Tee nachgeschenkt, hätte gesagt: »Iss noch ein bisschen Brot«, sie hätte ihm die Stiefel ausgezogen und die wundgelaufenen Füße gewaschen, hätte ihm einen Schal um den Hals gewickelt … Und jedes Mal war Tolja verschwunden, und sie hatte ihn nicht finden können. Jetzt hatte sie ihn gefunden, doch er brauchte sie nicht mehr.

Weiter weg sah man Gräber mit Granitkreuzen aus der Zeit vor der Revolution. Die Grabsteine standen herum wie ein Haufen Greise, die keiner mehr brauchte, die allen gleichgültig waren: Einige waren umgesunken, andere lehnten sich hilflos gegen die Baumstämme.

Es kam ihr vor, als sei die Luft aus dem Himmel gewichen, als hätte man sie aus ihm herausgepumpt, als bestünde der Raum über ihr aus einer mit trockenem Staub erfüllten Leere. Die geräuschlose Pumpe aber, die die Luft aus dem Himmel herauspumpte, arbeitete weiter, immer weiter, und für Ljudmila hörte nun nicht nur der Himmel auf zu sein, sondern auch Glaube und Hoffnung waren weg – in der unermesslichen, luftlosen Leere blieb nur noch der kleine Hügel aus grauen, gefrorenen Erdklumpen zurück.

Alles, was Leben war – die Mutter, Nadja, Viktors Augen, die Kriegsberichte –, hörte auf zu existieren. Das Lebendige wurde leblos. Auf der ganzen Welt lebte nur noch Tolja. Doch welche Stille ringsum: Wusste er denn schon, dass sie gekommen war?

Ljudmila sank auf die Knie; ganz behutsam, um den Sohn nicht in seiner Ruhe zu stören, rückte sie das Schildchen mit seinem Namen zurecht – er war immer wütend geworden, wenn sie auf dem Weg zur Schule ständig an seinem Kragen herumzupfte.

»Da bin ich, aber du hast sicher gedacht, deine Mama kommt nicht.«

Sie sprach mit leiser Stimme, weil sie fürchtete, jenseits der Friedhofsumgrenzung könnte man sie hören. Über die Landstraße brausten Lastwagen; dunkles, granitgraues Schneegestöber wirbelte, sich kringelnd und kräuselnd wie Rauchschwaden, über den Asphalt … Auf der Straße gingen Milchfrauen mit ihren Kannen und Männer mit Säcken; unter ihren derben Soldatenstiefeln dröhnte das Pflaster; Schulkinder in wattierten Jacken und Soldatenwintermützen rannten vorbei. Doch all dieses Treiben erschien ihr wie ein nebelhaftes Trugbild.

Welch eine Stille!

Sie redete mit ihrem Sohn, rief sich Einzelheiten aus seinem Leben ins Gedächtnis, und diese Erinnerungen, die nur in ihrem Bewusstsein existierten, erfüllten den Ort mit seiner Kinderstimme, mit seinen Tränen, mit dem Rascheln von Bilderbüchern, dem Klappern eines Löffelchens auf dem Rand eines weißen Tellers, dem Brummen von selbstgebauten Radios, dem Knirschen von Skiern, dem Quietschen von Ruderdollen auf dem Teich bei der Datscha, dem Knistern von Bonbonpapier, erfüllten ihn mit flüchtigen Visionen seines Knabengesichts, seiner Schultern und seiner Brust. Seine Tränen, seine Kümmernisse, seine guten und schlechten Taten hatten, von ihrer Verzweiflung wiederbelebt, wahrnehmbare Gegenwart erlangt. Nicht die Erinnerung an Vergangenes, sondern das wirkliche Leben versetzte sie in Aufregung … Wozu muss er denn die ganze Nacht bei diesem schrecklichen Licht lesen? Was soll denn das – in so jungen Jahren schon eine Brille tragen zu müssen?… Da liegt er im leichten Nesselhemd, barfuß … Warum haben sie ihm denn keine Decke gegeben? Die Erde ist doch eisig, nachts herrscht starker Frost!

Plötzlich strömte Blut aus Ljudmilas Nase. Das Taschentuch wurde schwer, war ganz durchnässt. Ihr wurde schwindelig, alles verschwamm vor ihren Augen, sie glaubte einen Augenblick lang, das Bewusstsein zu verlieren. Sie kniff die Augen zusammen. Als sie sie wieder aufschlug, war die Welt, die durch ihr Leid lebendig geworden war, bereits verschwunden. Nur grauer Staub, vom Wind aufgewirbelt, tanzte über die Gräber; es war, als stiege bald von dem einen, bald von dem anderen Grab eine Rauchfahne auf.

Das Lebenswasser, das an die Oberfläche des Eises gesprudelt war und Tolja aus dem Dunkel herausgetragen hatte, war versickert, verschwunden. Die Welt, die, für einen Augenblick ihre Ketten sprengend, selbst Wirklichkeit werden wollte, diese Welt, geschaffen von der Verzweiflung einer Mutter, war wieder entrückt. Ihre Verzweiflung hatte, gottähnlich, den Leutnant aus dem Grab erweckt, hatte die Leere mit neuen Sternen gefüllt.

Eben war allein er auf der Welt gewesen, und dank ihm existierte alles Übrige. Doch die Kraft der Mutter hatte nicht länger die gewaltigen Menschenmassen, Meere, Straßen, die Erde und die Städte dem toten Tolja zu unterwerfen vermocht.

Sie führte das Taschentuch an die Augen; ihre Augen waren trocken, das Tuch aber nass vom Blut. Sie spürte, dass ihr Gesicht verschmiert war, mit klebrigem Blut verschmiert, und saß da in gekrümmter, ergebener Haltung, unwillkürlich die ersten kleinen Schritte der Erkenntnis vollziehend, dass Tolja nicht mehr lebte.

Die Leute im Lazarett hatte sie mit ihrer Ruhe und ihren Fragen verblüfft. Sie hatten nicht begriffen, dass Ljudmila nicht wahrhaben konnte, was für sie offensichtlich war: dass Tolja nicht mehr unter den Lebenden weilte. Die Liebe zu ihrem Sohn war so stark, dass die Macht des Geschehenen diesem Gefühl nichts anhaben konnte – es lebte weiter. Sie war von Sinnen, niemand hatte es bemerkt. Endlich hatte sie Tolja gefunden. So freut sich eine Katze, die ihr totes Junges gefunden hat und es ableckt.

Jahre von Leid, manchmal Jahrzehnte durchwandert die Seele, bis sie endlich langsam, Stein um Stein, das Grab über dem geliebten Menschen zu errichten beginnt, bis sie sich in seinen Tod findet.

Die Soldaten des Arbeitsbataillons waren nach verrichteter Arbeit gegangen. Die Sonne stand schon tief, und die Schatten der Grabtäfelchen wurden länger. Ljudmila war allein.

Sie überlegte, dass man Toljas Tod den Angehörigen und dem Vater im Lager mitteilen müsse. Dem Vater unbedingt. Dem leiblichen Vater. Woran hatte Tolja vor der Operation gedacht? Wie wurde er ernährt – mit dem Löffel? Hatte er wenigstens ein wenig geschlafen, auf der Seite oder auf dem Rücken? Er trank gern Wasser mit Zitronensaft und Zucker. Wie lag er jetzt da? War sein Kopf kahl geschoren?

Es musste an dem unerträglichen seelischen Schmerz liegen, dass ringsumher alles dunkler und dunkler wurde. Der Gedanke, dass ihr Leid ewig sei, überraschte sie – Viktor würde sterben, die Enkel ihrer Tochter würden sterben, doch sie würde immer noch trauern. Und als die Trauer wieder unerträglich groß wurde und das Herz sie nicht mehr aushalten konnte, verwischte sich aufs Neue die Grenze zwischen der Wirklichkeit und der Welt, die in Ljudmilas Seele lebte, und die Ewigkeit wich vor ihrer Liebe zurück.

»Weshalb Toljas Tod seinem leiblichen Vater, Viktor und allen Angehörigen mitteilen?«, überlegte sie. »Es steht doch noch gar nichts sicher fest. Lieber abwarten. Vielleicht wird alles noch ganz anders …«

Sie flüsterte: »Und du sag auch niemandem etwas! Es steht noch gar nichts fest, alles wird noch gut werden.«

Ljudmila deckte Toljas Füße mit dem Mantelschoß zu. Sie nahm das Kopftuch ab und breitete es über die Schultern ihres Sohnes.

»Mein Gott, so darf man dich doch nicht liegen lassen … Warum haben sie dir keine Decke gegeben? Deck dir wenigstens die Füße besser zu …«

Sie nickte ein; im Halbschlaf sprach sie mit ihrem Sohn, machte ihm Vorwürfe, dass seine Briefe so kurz seien. Sie erwachte und zog das Tuch wieder zurecht, das der Wind verschoben hatte.

Wie gut, dass sie zu zweit waren; niemand störte sie. Keiner liebte ihn. Alle sagten, er sei hässlich – er hatte aufgeworfene, dicke Lippen und ein seltsames Benehmen, er konnte manchmal sinnlos aufbrausen und war leicht gekränkt. Und auch sie liebte keiner; die Ihren entdeckten an ihr nur Unzulänglichkeiten … Mein armer Junge, mein schüchterner, unbeholfener, guter kleiner Sohn … Er allein liebte sie, und jetzt, nachts auf dem Friedhof, war er allein bei ihr, er würde sie nie verlassen … Und wenn sie eine alte Frau wäre, die keiner mehr brauchen konnte, würde er sie immer noch lieben … Wie wenig lebenstüchtig ist er doch! Niemals bittet er um etwas, ist schüchtern und lächerlich. Die Lehrerin sagt, dass sich in der Schule alle über ihn lustig machen – sie necken ihn und bringen ihn dazu, auszurasten und wie ein kleines Kind zu flennen. Tolja, Tolja, lass mich nicht allein!

Und dann kam der Tag. Eisig roter Feuerschein flammte über der Steppe jenseits der Wolga auf. Donnernd fuhr ein Lastwagen die Straße entlang.

Der Wahnsinn war vergangen. Sie saß neben dem Grab ihres Sohnes. Toljas Körper war mit Erde zugeschüttet. Es gab ihn nicht mehr.

Sie sah ihre schmutzigen Finger, das auf der Erde ausgebreitete Kopftuch. Ihre Füße waren eingeschlafen. Sie spürte, dass ihr Gesicht schmutzig war. Ihre Kehle war wie ausgedörrt.

Alles war ihr gleichgültig. Hätte ihr jemand gesagt, dass der Krieg zu Ende, dass ihre Tochter gestorben sei, oder hätte sie plötzlich neben sich ein Glas heiße Milch und ein Stück warmes Brot stehen sehen – sie hätte sich nicht gerührt, nicht die Hand danach ausgestreckt. Sie dachte und fühlte nichts mehr. Alles war gleichgültig und überflüssig. Nur ein ständig wiederkehrender Gedanke quälte sie, presste ihr Herz zusammen, hämmerte gegen ihre Schläfen: Die Leute aus dem Lazarett und der Arzt im weißen Kittel hatten irgendetwas über Tolja gesagt; sie hatte ihre geöffneten Münder gesehen, doch ihre Worte hatte sie nicht vernommen. Auf der Erde lag ein Brief, der aus ihrer Manteltasche herausgefallen war; es war jener Brief, den sie aus dem Lazarett bekommen hatte; sie mochte ihn nicht aufheben und den Staub von ihm abstreifen. Sie dachte nicht mehr daran, wie der zweijährige Tolja geduldig und beharrlich hinter einer Heuschrecke hergestolpert war, die von Grashalm zu Grashalm hüpfte, auch nicht daran, dass sie die Schwester nicht gefragt hatte, wie er am Morgen vor der Operation, am letzten Tag seines Lebens, in seinem Bett gelegen hatte – auf der Seite oder auf dem Rücken? Sie sah das Tageslicht, sie musste es sehen.

Plötzlich erinnerte sie sich: Sie feierten Toljas dritten Geburtstag, am Abend hatten sie Tee getrunken und Kuchen gegessen, da hatte er gefragt: »Mama, warum ist es so dunkel? Heute ist doch mein Geburtstag!«

Sie sah die Zweige der Bäume, die im Sonnenlicht glänzenden Friedhofssteine, das Schildchen mit dem Namen ihres Sohnes – »Schaposchn« war mit großen Buchstaben geschrieben, »ikow« dagegen, offensichtlich aus Platzmangel, mit winzigen, eng aneinandergereihten Buchstaben danebengequetscht. Sie dachte nicht, sie hatte keinen Willen mehr. Sie hatte nichts mehr.

Sie erhob sich, nahm den Brief auf, streifte mit steifen Händen die Erdklumpen vom Mantel, reinigte ihn, säuberte die Schuhe und schüttelte ihr Kopftuch aus, bis es wieder weiß war. Sie band das Tuch um den Kopf, mit dem Zipfel entfernte sie den Staub von den Augenbrauen und wischte sich die Blutflecken von Lippen und Kinn. Dann ging sie, ohne sich noch einmal umzusehen, auf das Tor zu, nicht langsam und nicht schnell …

34

Nach ihrer Rückkehr nach Kasan begann Ljudmila Nikolajewna stark abzumagern und sah wieder so ähnlich aus wie auf ihren Jugendfotografien aus der Studentenzeit. Sie schaffte aus der Verteilerstelle Lebensmittel heran, bereitete die Mahlzeiten, heizte die Öfen, wischte die Böden und wusch die Wäsche. Es schien ihr, als seien die Herbsttage sehr lang und als habe sie nichts, womit sie ihre Leere ausfüllen könne.

Am Tag ihrer Rückkunft aus Saratow hatte sie den Ihren von ihrer Reise berichtet, hatte gesagt, dass sie über ihre Schuld gegenüber ihren nächsten Angehörigen nachgedacht hätte, und erzählt, wie ihre Ankunft im Lazarett verlaufen war; dann hatte sie das Paket mit den zerfetzten Überresten der blutgetränkten Uniform ihres Sohnes aufgemacht. Alexandra Wladimirowna atmete schwer bei Ljudmilas Erzählung, und Nadja weinte; Viktor Pawlowitsch zitterten die Hände, er konnte das Teeglas nicht vom Tisch aufheben. Die zu Ljudmilas Begrüßung herbeigeeilte Marja Iwanowna saß mit bleichem Gesicht da, den Mund halb geöffnet, in ihren Augen lag ein gequälter Ausdruck. Nur Ljudmila erzählte mit ruhiger Stimme und sah sie dabei mit ihren weit geöffneten, leuchtend blauen Augen an.

Sie stritt jetzt mit niemandem mehr, dabei war sie ihr Leben lang eine große Zänkerin gewesen. Früher hatte Ljudmila, wenn es darum ging, jemandem den Weg zum Bahnhof zu zeigen, aufgeregt und ärgerlich versucht, zu beweisen, dass man ganz und gar nicht durch diese Straßen gehen und mit diesen Trolleybuslinien fahren müsse.

Einmal fragte Viktor Pawlowitsch: »Ljudmila, mit wem unterhältst du dich denn nachts?«

Sie sagte: »Ich weiß nicht, vielleicht habe ich geträumt.«

Er fragte nicht wieder, doch Alexandra Wladimirowna erzählte er, dass Ljudmila fast jede Nacht einen Koffer öffnete, eine Decke über den kleinen Diwan in der Ecke breitete und mit besorgter, leiser Stimme vor sich hin sprach.

»Ich habe so ein Gefühl, als handle sie wie im Traum, wenn sie mit uns zusammen ist. Nachts aber wird ihre Stimme so lebhaft, wie sie vor dem Krieg war«, sagte er. »Mir scheint, sie ist krank – sie ist ein völlig anderer Mensch geworden.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Alexandra Wladimirowna, »wir alle haben unseren Kummer. Es ist überall das Gleiche, und jeder leidet auf seine Weise.«

Ihr Gespräch wurde durch ein Klopfen an die Tür unterbrochen. Viktor Pawlowitsch erhob sich. Doch Ljudmila Nikolajewna schrie aus der Küche: »Ich mache auf.«

Keiner wusste, warum sie das tat, doch allen war aufgefallen, dass sie nach ihrer Rückkehr aus Saratow mehrmals am Tag im Briefkasten nachsah, ob nicht Post darin sei.

Und wenn irgendjemand klopfte, stürzte sie eilig zur Tür.

Auch jetzt, als sie die hastigen, fast laufenden Schritte hörten, warfen sich Viktor Pawlowitsch und Alexandra Wladimirowna einen Blick zu.

Sie vernahmen die gereizte Stimme Ljudmila Nikolajewnas: »Nein, nein, heute gibt es nichts. Kommen Sie nicht so oft, ich habe Ihnen erst vor zwei Tagen ein Pfund Brot gegeben.«

35

Leutnant Viktorow wurde in den Stab zu Major Sakabluka, dem Kommandeur des in der Reserve stehenden Jagdgeschwaders, beordert. Der diensthabende Stabsoffizier, Leutnant Welikanow, sagte, dass der Major in einer U-2 zum Stab der Luftwaffe im Bezirk Kalinin geflogen sei und am Abend zurückkehre. Auf Viktorows Frage, weshalb er herbeordert worden sei, erwiderte Welikanow augenzwinkernd, dass die Angelegenheit möglicherweise mit dem Saufgelage und dem Skandal in der Kantine in Zusammenhang stehe.

Viktorow warf einen Blick hinter den Vorhang, der aus einem Zeltumhang mit einem daran angeknöpften Wattekleidungsstück hergestellt worden war – das Klappern einer Schreibmaschine ließ sich von dort vernehmen. Beim Anblick Viktorows meinte der Kanzleichef, dessen Frage zuvorkommend: »Nichts, keine Briefe, Genosse Leutnant.«

Die Stenotypistin, die Zivilbeschäftigte Lenotschka, schaute sich nach dem Leutnant um, blickte in den aus einem abgeschossenen deutschen Flugzeug erbeuteten Spiegel, ein Geschenk des gefallenen Fliegers Demidow, rückte die Feldmütze zurecht, verschob das Lineal, das auf dem Verzeichnis lag, welches sie gerade abtippte, und hämmerte wieder auf die Schreibmaschinentasten ein.

Dieser Leutnant mit dem langen Gesicht, der dem Kanzleichef immer ein und dieselbe verzagte Frage stellte, machte Lenotschka ganz trübsinnig.

Viktorow bog auf seinem Weg zurück zum Flughafen in Richtung Waldesrand ab.

Ein Monat war bereits vergangen, seit das Geschwader aus dem Gefecht gezogen, das Gerät ergänzt und Ersatz für das ausgefallene Flugzeugpersonal gefunden worden war.

Noch vor einem Monat hatte Viktorow den Norden, den er zum ersten Mal sah, als etwas völlig Neues, Fremdes empfunden. Das Leben des Waldes und des jungen Flusses, der sich zwischen den steilen Hügeln hindurchwand, der Geruch nach Moder und Pilzen, das Rauschen der Bäume – all das hatte ihn Tag und Nacht in Unruhe versetzt.

Auf den Flügen hatte man das Gefühl, als erreichten die Erdgerüche die Kabine des Jagdflugzeugs. Dieser Wald, diese Seen atmeten den Hauch des alten Russland, über das Viktorow vor dem Krieg gelesen hatte. Hier, zwischen den Seen und Wäldern, zogen sich uralte Wege hin; aus diesen geradstämmigen Bäumen hatte man Häuser und Kirchen errichtet und Schiffsmasten behauen. Das Leben der alten Zeit war schon in sich versunken und verstummt, als noch der graue Wolf hier herumlief und Aljonuschka am Ufer des Flüsschens weinte, an dem entlang Viktorow jetzt zur Kantine der militärischen Einkaufsstelle ging. Er hatte den Eindruck, als sei diese vergangene alte Zeit irgendwie naiv, einfach, jung – als seien nicht nur die in den schmucken Häuschen wohnenden Mädchen, sondern auch die graubärtigen Kaufleute, Diakone und Patriarchen um tausend Jahre jünger als die neunmalklugen Fliegerburschen aus der Welt der schnellen Maschinen, automatischen Kanonen, Dieselmotoren, aus der Welt von Kino und Radio, die mit dem Geschwader des Majors Sakabluka in diese Wälder mitgekommen war. Das Symbol für diese vergangene Jugend war die Wolga, flink und schlank, eingebettet in bunte, steile Ufer, in das Grün der Wälder, in blaue und rote Farbornamente.

Wie viele von ihnen, Leutnants, Sergeanten und auch einfach Jungens ohne Rang, zogen auf der Bahn des Krieges. Sie rauchten die ihnen zugeteilte Anzahl Zigaretten, klapperten mit dem weißen Löffel in der Blechschüssel, spielten Karten im Eisenbahnwagen, schleckten in der Stadt Eis am Stiel, tranken hustend ihr Quäntchen Wodka aus Zehntelgläsern, schrieben die festgelegte Anzahl Briefe, schrien ins Feldtelefon und schossen – der eine feuerte mit einem kleinkalibrigen Kanönchen, der andere ließ ein großes Kaliber krachen, der Dritte trat im 120-PS-Panzer aufs Gaspedal, schrie irgendetwas …

Die Erde federte und knirschte unter dem Stiefel wie eine alte Matratze – das kam vom Laub; zuoberst lagen leichte, spröde, sich noch voneinander unterscheidende Blätter, darunter war das schon vor Jahren verdorrte Laub zu einer weichen braunen, einheitlichen Masse geworden – Schlacke des Lebens, das die Knospen aufsprengte, im Gewitter brodelte, nach dem Regen in der Sonne glänzte. Vermodertes, beinahe substanzloses Reisig zerfiel unter den Füßen. Ein stilles Licht, gestreut durch den Schirm des Laubwerks, fiel auf den Waldboden. Die Luft im Wald war dicht, wie eingedickt – das empfand besonders der an Luftwirbel gewöhnte Jagdflieger. Das erwärmte, schwitzende Holz duftete feucht und frisch. Doch den Geruch nach abgestorbenen Bäumen und Reisig überstimmte der Duft des lebendigen Waldes. Dort, wo die Tannen standen, schnitt sich eine hohe Terpentinnote in die Duftoktave ein. Die Espe roch übertrieben süßlich; bitter duftete die Erle. Der Wald führte ein von der übrigen Welt abgesondertes Eigenleben; Viktorow hatte das Gefühl, als trete er in ein Haus ein, in dem alles anders war als draußen im Freien: die Gerüche, das Licht, das durch zugezogene Vorhänge gefiltert wurde, die Geräusche, die in diesen Wänden anders hallten – solange man nicht aus dem Wald hinaustrat, fühlte man sich etwas unbehaglich, wie unter Menschen, mit denen man nur flüchtig bekannt ist. Vom Grund aus schaute man durch die kompakte, bis hoch nach oben reichende Schicht der Waldluft – das Laub lispelte, und es schien, als seien die Spinnweben, die an dem grünen Sternchen der Feldmütze hängen geblieben waren, Wasserpflanzen, die zwischen dem Grund und der Oberfläche eines Wasserbehälters schwebten. Es war, als bewegten sich die schnellen Mücken mit ihren dicken Köpfen und die trägen Schnaken und der wie ein Huhn in den Zweigen nörgelnde Birkhahn mit Flossen, als dürften sie sich nie über den Wald hinaus erheben, so wie der Fisch nicht über die Wasseroberfläche hinausschnellen darf; und wenn eine Elster über den Wipfel einer Espe hinausflatterte, so tauchte sie gleich wieder in das Gezweig ein, und ein Fisch, der einen Augenblick mit seiner weißen Seite in der Sonne geblinkt hatte, ließ sich wieder ins Wasser fallen. Und wie seltsam wirkte das Moos im Kleid der Tautropfen, die blau und grün im Dämmer des Waldtages verdunsteten.

Gut war es, aus diesem stillen Halbdunkel plötzlich auf eine helle Lichtung hinauszutreten, alles war mit einem Schlag anders: die warme Erde, der Duft nach sonnenerwärmtem Wacholder, die flimmernde Luft, die großen Glockenblumen und die Blüten der wilden Nelke auf ihren klebrigen Stängeln. Es wurde einem leicht ums Herz; die Lichtung war wie ein glücklicher Tag in einem Leben voller Leid. Die Zitronenfalter, die schwarzblau geschliffenen Käfer, die im Gras knisternden Ameisen schienen nicht in eigener Sache so geschäftig zu sein, sondern alle zusammen einer gemeinsamen Arbeit nachzugehen. Ein Birkenzweig, übersät mit kleinen Blättchen, streifte das Gesicht; eine Heuschrecke hüpfte in die Höhe, landete auf dem Mann wie auf einem Baumstamm und heftete sich an seinen Gürtelriemen; ohne Eile spannte sie die grünen Schenkel an, saß mit runden Lederaugen und wie aus Erz gegossenem Hammelmaul da. Wärme, verspätete Erdbeerblüten, von der Sonne erhitzte Knöpfe und Gürtelschnallen. Sicher war über diese Lichtung noch nie eine Ju 88 oder eine nächtliche Heinkel geflogen.

36

Nachts kamen ihm oft Erinnerungen an die Monate im Stalingrader Lazarett. Nicht an das schweißnasse Hemd und das leicht salzige, Übelkeit erregende Wasser erinnerte er sich, auch nicht an den schweren Geruch, der ihn so gequält hatte, sondern daran, dass er diese Tage im Lazarett als Glück empfunden hatte. Und hier im Wald dachte er, dem Rauschen der Bäume lauschend: Habe ich wirklich ihre Schritte gehört?

War dies wirklich so gewesen? Sie hatte ihn umarmt und sein Haar gestreichelt; sie hatte geweint, und er hatte ihre nassen, salzigen Augen geküsst.

Manchmal überlegte Viktorow, wie man sich in einer Jak nach Stalingrad durchschlagen könnte, es waren ja nur wenige Stunden. In Rjasan könnte man auftanken und dann bis Engels fliegen, ein Bekannter von ihm war dort Diensthabender. Sollten sie ihn danach ruhig erschießen.

Es kam ihm immer wieder eine Geschichte in den Sinn, die er in einem alten Buch gelesen hatte: Die steinreichen Brüder Scheremetjew, Söhne eines Feldmarschalls, gaben ihre sechzehnjährige Schwester dem Fürsten Dolgoruki zur Frau. Das Mädchen sah seinen Bräutigam wohl nur ein einziges Mal vor der Hochzeit. Die Brüder statteten die Braut mit einer üppigen Mitgift aus; die Silbergeschenke füllten drei Zimmer. Doch zwei Tage nach der Hochzeit wurde Peter II. ermordet. Dolgoruki, sein Vertrauter, wurde gefangen genommen, in den Norden gebracht und in einen hölzernen Turm gesperrt. Die junge Frau schenkte den Versicherungen, dass man sie aus dieser Ehe befreien könne, da sie ja nur zwei Tage mit Dolgoruki verlebt habe, kein Gehör. Sie fuhr ihrem Mann nach und richtete sich in dem abgelegenen Waldgebiet in einer Dorfkate häuslich ein. Zehn Jahre lang ging sie jeden Tag zu dem Turm, in dem Dolgoruki saß. Eines Morgens sah sie, dass das Turmfenster sperrangelweit offen stand und die Tür nicht verschlossen war. Die junge Fürstin rannte die Straße hinunter, fiel vor jedem Entgegenkommenden, wer immer es auch sein mochte, ob Muschik oder Strelitze, auf die Knie, flehte und fragte, wo ihr Mann sei. Die Leute sagten ihr, dass man Dolgoruki nach Nischni Nowgorod gebracht habe. Vieles musste sie auf dem schweren Fußmarsch dorthin erleiden. In Nischni Nowgorod aber erfuhr sie, dass Dolgoruki gevierteilt worden war. Da beschloss die Fürstin Dolgorukaja, ins Kloster zu gehen, und fuhr in die Kiewer Petscherskaja Lawra. Am Tag der Nonnenweihe ging sie lange am Ufer des Dnjepr auf und ab. Aber nicht um ihre Freiheit trauerte Fürstin Dolgorukaja: Sie musste nun, da sie den Schleier nehmen wollte, den Trauring vom Finger ziehen und konnte sich nicht von ihm trennen … Viele Stunden wanderte sie am Ufer entlang; dann, als die Sonne unterging, zog sie den Ring vom Finger, warf ihn in den Dnjepr und ging zum Klostertor.

Der Leutnant der Luftwaffe, Waisenhauszögling und Schlosser in der Mechanikerwerkstatt des Elektrizitätswerkes »Stalgres«, musste immerzu an das Leben der Fürstin Dolgorukaja denken. Er ging durch den Wald und stellte sich vor, er wäre nicht mehr auf der Welt: Man hätte ihn verscharrt, sein vom Deutschen in Brand geschossenes Flugzeug hätte sich mit der Nase in die Erde gebohrt und wäre bereits durchgerostet und zerfallen, Gras wucherte in den Trümmern; Vera Schaposchnikowa irrte an dieser Stelle herum – sie bliebe stehen, stiege den Steilhang zur Wolga hinab, blickte aufs Wasser … Vor zweihundert Jahren aber ging hier die junge Fürstin Dolgorukaja, trat hinaus auf die Lichtung, schritt durch den Flachs, bog mit ihren Händen die mit roten Beeren übersäten Büsche auseinander. Und der Leutnant empfand bitteres Weh und süße Hoffnungslosigkeit.

Der kleine Leutnant, schmalschultrig, im abgetragenen Feldhemd, geht durch den Wald – wie viele von ihnen wurden vergessen in unvergesslicher Zeit.

37

Viktorow begriff noch auf dem Weg zum Flughafen, dass sich etwas Wichtiges ereignet hatte. Tankwagen fuhren über das Flugfeld; die Mechaniker und Bordwarte aus dem Bodenpersonalbataillon hasteten um die unter Tarnnetzen stehenden Flugzeuge herum. Der für gewöhnlich schweigsame kleine Motor der Funkstelle klopfte exakt und konzentriert.

»Alles klar«, dachte Viktorow und beschleunigte seine Schritte.

Er erhielt auch sogleich die Bestätigung, als er Solomatin begegnete, einem Leutnant, dessen Wangen mit rosa Flecken von einer Brandverletzung bedeckt waren. Der sagte: »Wir gehen aus der Reserve. Befehl.«

»An die Front?«, fragte Viktorow.

»Wohin denn sonst, etwa nach Taschkent?«, spottete Solomatin und entfernte sich in Richtung Dorf.

Er war sichtlich verstört; es hatte sich etwas Ernsthaftes zwischen ihm und seiner Zimmerwirtin angesponnen, und jetzt hatte er es wohl eilig, zu ihr zu kommen.

»Teilen wird Solomatin: für die Frau die Hütte und für sich die Kuh«, sagte eine bekannte Stimme neben Viktorow. Leutnant Jeremin, mit dem Viktorow im Paarverband flog, war den Pfad entlanggekommen.

»Wo sollen wir hin?«, fragte Viktorow.

»Kann sein, dass die Nordwestfront zum Angriff übergeht. Gerade ist der Divisionskommandeur in einer R5 angekommen. Ich kenne einen ›Douglas‹-Piloten beim Luftstab, den kann man fragen. Der weiß alles.«

»Warum fragen, sie werden es selber sagen.«

Erregung hatte nicht nur den Stab und die Flieger auf dem Flugplatz erfasst, sondern auch das Dorf. Der schwarzäugige Unterleutnant Korol mit den üppigen Lippen, der allerjüngste Flieger im Regiment, trug gewaschene und gebügelte Wäsche die Straße hinunter; oben auf der Wäsche lag ein Pfefferkuchen und ein Bündelchen getrocknete Beeren.

Man witzelte über Korol, weil ihn seine Wirtinnen, zwei alte Witwen, mit Pfefferkuchen verwöhnten. Wenn er einen Übungseinsatz geflogen hatte, wanderten die alten Frauen zum Flugplatz und trafen ihn auf halbem Weg – die eine hochgewachsen und gerade, die andere mit krummem Rücken. So ging er zwischen ihnen, ein verwöhnter Junge, wütend und verlegen, und die Flieger sagten, dass Korol in Reih und Glied mit einem Ausrufezeichen und einem Fragezeichen gehe.

Der Staffelkommandeur, Wanja Martynow, kam im Soldatenmantel aus dem Haus; in der einen Hand trug er ein Köfferchen, in der anderen die Parademütze, die er aus Furcht, sie zu zerdrücken, nicht eingepackt hatte. Die Tochter des Hauses, eine Rothaarige ohne Tuch auf der selbstgemachten Dauerwelle, schaute ihm mit einem Blick nach, der jeglichen Kommentar überflüssig machte.

Ein leicht hinkender Junge rapportierte Viktorow, dass der Politruk Golub und Leutnant Wowka Skotnoi, mit denen er zusammen einquartiert war, bereits mit ihren Sachen das Haus verlassen hätten.

Viktorow war vor ein paar Tagen in dieses Quartier umgezogen; zuvor hatte er mit Golub bei einer bösen Wirtin, einer Frau mit gewölbter, hoher Stirn und gelben Glupschaugen, gewohnt; wer in diese Augen blickte, dem rieselte es kalt den Rücken hinunter.

Um die Mieter loszuwerden, ließ sie Rauch in die Kate strömen und streute ihnen Asche in den Tee. Golub hatte Viktorow zugesetzt, dass er dem Regimentskommissar einen Rapport über diese Wirtin schreiben solle, doch Viktorow hatte abgelehnt.

»Soll ihr die Cholera den Garaus machen«, stimmte Golub zu und fügte einen ukrainischen Spruch hinzu, den er schon als Kind von der Mutter gehört hatte:

»Was auch immer an unseren Strand gespült wird – ist’s kein Schiet, dann ist es Kabeljau.«

Sie zogen in das neue Quartier um; es kam ihnen vor wie das Paradies. Doch nicht lange durften sie in diesem Paradies verweilen.

Bald ging auch Viktorow mit seinem Rucksack und dem zerdrückten Köfferchen an den hohen, zweigeschossig wirkenden grauen Katen vorbei; der lahme Junge hüpfte neben ihm her und zielte dabei mit der erbeuteten Revolvertasche, die ihm Viktorow geschenkt hatte, auf die Hühner und die über dem Wald kreisenden Flugzeuge. Er ging an der Kate vorüber, aus der ihn Jewdokija Michejewna mit ihrem Qualm ausgeräuchert hatte, und erspähte hinter der trüben Scheibe ihr regloses Gesicht. Niemand hielt ein Schwätzchen mit ihr, wenn sie Wasser vom Brunnen holen ging und dann mit ihren zwei schweren Holzeimern auf dem Rückweg zum Verschnaufen stehen blieb. Sie hatte weder eine Kuh noch ein Schaf, noch Mauersegler unter ihrem Dach. Golub hatte sich über sie erkundigt, hatte versucht, ihre Abstammung von Großbauern aufzudecken, doch es stellte sich heraus, dass sie aus einer Kleinbauernfamilie stammte. Die Frauen sagten, dass sie wohl nach dem Tod ihres Mannes den Verstand verloren habe: In der kalten herbstlichen Jahreszeit war sie in den See gegangen und tagelang darin sitzen geblieben. Die Männer hatten sie mit Gewalt herausgezogen. Doch, so sagten die Frauen, auch vor dem Tod ihres Mannes und vor der Heirat sei sie schon sehr verschlossen und schweigsam gewesen.

So ging nun Viktorow durch die Straße des Walddorfes, und in ein paar Stunden würde er für immer von hier fortfliegen, und all dies – der rauschende Wald, das Dorf, wo die Elche in die Gemüsegärten kamen, das Farnkraut, die gelben Harztropfen an den Bäumen, der Fluss, die Kuckucksrufe – würde für ihn aufhören zu bestehen. Verschwinden würden die Alten, die Mädchen, die Gespräche über die Kollektivierung, die Geschichten über Bären, die den Frauen die Himbeerkörbe stibitzt hatten, und über Jungen, die mit der nackten Ferse auf einen Schlangenkopf getreten waren … Verschwinden würde dieses für ihn seltsam ungewohnte Dorf, das so ganz dem Wald zugewandt war, wie die Arbeitersiedlung, in der er geboren und aufgewachsen war, ganz auf die Fabrik bezogen war.

Dann würde das Jagdflugzeug landen, und im Nu würde ein neuer Flugplatz entstehen, er käme in eine neue Dorf- oder Industriesiedlung mit ihren alten Frauen und jungen Mädchen, mit ihren Tränen und Scherzen, mit ihren von Kampfspuren gezeichneten Katern, mit ihren Geschichten über die Vergangenheit, über die totale Kollektivierung, mit ihren schlechten und guten Quartiergeberinnen.

Und der schöne Solomatin würde am neuen Standort in seiner Freizeit die Mütze aufsetzen, durch die Straßen gehen, zur Gitarre singen und ein Mädchen um den Verstand bringen.

Der Regimentskommandeur, Major Sakabluka, bronzefarbenes Gesicht und weißer, kahlrasierter Schädel, verlas vor den Fliegern den Befehl zum Ausrücken aus der Reserve, wobei er mit seinen fünf Rotbannerorden klimperte und auf krummen Beinen von einem Fuß auf den anderen trat; dann sagte er, dass er ihnen seinerseits den Befehl erteile, in den Unterständen zu übernachten, die Marschfolge werde vor dem Abflug auf dem Flugplatz bekanntgegeben.

Er fügte hinzu, dass es untersagt sei, sich aus den Flugplatzunterständen zu entfernen, und dass diejenigen, die gegen diesen Befehl verstoßen würden, nichts zu lachen hätten.

»Damit ihr mir in der Luft nicht schlaft, sondern vor dem Flug gut ausgeschlafen seid«, erklärte er.

Dann sprach der Regimentskommissar Berman, der wegen seiner Arroganz äußerst unbeliebt war, obgleich er mit klugen und schönen Worten über die Feinheiten des Flugwesens zu reden verstand. Besonders schlecht wurde das Verhältnis zu Berman nach dem Vorfall mit dem Flieger Muchin. Zwischen Muchin und der schönen Funkerin Lida Woinowa hatte sich eine Liebesgeschichte angesponnen. Ihre Romanze gefiel allen – kaum hatten die beiden eine freie Minute, so trafen sie sich und gingen am Fluss spazieren, immer Hand in Hand. Man machte sich nicht einmal über sie lustig, so klar war alles an ihrer Beziehung.

Plötzlich kam das Gerücht auf, und dieses Gerücht ging von Lida selbst aus – sie hatte es ihrer Freundin erzählt, und über die Freundin hatte es das Regiment erfahren –, dass Muchin während des üblichen Spaziergangs seine Geliebte vergewaltigt und mit seiner Schusswaffe bedroht habe.

Nachdem Berman von diesem Fall Kenntnis erhalten hatte, geriet er in Wut und erreichte mit viel Energie, dass Muchin vor das Kriegsgericht gestellt und binnen zehn Tagen zum Tod durch Erschießen verurteilt wurde.

Vor der Urteilsvollstreckung flog das Mitglied des Kriegsrats der Luftstreitkräfte Generalmajor der Luftwaffe Alexejew in das Regiment ein und begann sich über die Umstände von Muchins Vergehen Klarheit zu verschaffen. In größte Bestürzung versetzte ihn Lida, als sie ihn auf Knien anflehte, zu glauben, dass alles, was gegen Muchin vorgebracht werde, eine plumpe Lüge sei.

Sie erzählte ihm den ganzen Hergang der Geschichte: Sie und Muchin lagen auf einer Waldlichtung und küssten sich, dann sei sie eingenickt, und Muchin, der ihr einen Streich habe spielen wollen, habe ihr unbemerkt den Revolver zwischen die Knie gesteckt und in die Erde geschossen. Sie sei aufgewacht und habe geschrien, dann hätten sie und Muchin sich wieder geküsst. Erst in der Wiedergabe des Geschehens durch die Freundin, der Lida alles erzählt habe, habe die Geschichte diesen grausamen Anstrich erhalten. Wahr an dieser Geschichte sei einzig und allein ihre – ungewöhnlich innige – Liebe zu Muchin. Alles wurde im Guten geregelt, das Urteil aufgehoben, Muchin in ein anderes Regiment verlegt.

Seitdem konnten die Flieger Berman nicht leiden.

Einmal hatte Solomatin in der Kantine gesagt, dass ein Russe so nicht gehandelt hätte.

Irgendeiner von den Fliegern, es war wohl Moltschanow, hatte erwidert, dass es in allen Nationen schlechte Menschen gebe.

»Nimm doch mal Korol, der ist Jude, aber mit dem im Paarverband zu fliegen ist gut. Du gehst zum Einsatz und weißt – am Heck sitzt ein Freund, auf den du dich verlassen kannst«, sagte Wanja Skotnoi.

»Na, was ist denn Korol für ein Jude?«, sagte Solomatin. »Korol ist einer von uns, in der Luft vertraue ich ihm mehr als mir selbst. Über Rschew hat er mir eine ›Messer‹ direkt unter dem Heck weggefegt. Und zweimal habe ich einen unglückseligen, angeschlagenen Fritz wegen Borja Korol laufenlassen. Und du weißt ja selbst, ich vergesse die eigene Mutter, wenn’s ums Kämpfen geht.«

»Dann sieht das also so aus«, sagte Viktorow, »wenn ein Jude in Ordnung ist, sagst du, er ist kein Jude.«

Alle lachten, aber Solomatin sagte: »Na schön, aber Muchin fand es nicht so lustig, als Berman ihn erschießen lassen wollte.«

Da trat Korol in die Kantine, und einer der Flieger fragte ihn neugierig: »Hör mal, Borja, bist du Jude?«

Korol wurde verlegen und antwortete: »Ja, ich bin Jude.«

»Sicher?«

»Ganz sicher.«

»Beschnitten?«

»So hol dich doch der Teufel«, erwiderte Korol. Alle fingen wieder zu lachen an.

Als die Flieger vom Flugplatz ins Dorf zurückkehrten, ging Solomatin neben Viktorow her.

»Weißt du, du hast umsonst große Reden gehalten«, sagte er. »Als ich in der Seifensiederei gearbeitet habe, war bei uns alles voller Jidden – sämtliche Vorgesetzte. Ich kenne diese Samuilow Abramowitschs – die halten wie die Kletten zusammen, das kannst du mir glauben.«

»Wann hörst du denn endlich auf« – Viktorow zuckte die Achseln –, »mich ewig mit denen in einen Topf zu werfen?«

Berman sprach darüber, dass im Leben des fliegenden Personals eine neue Ära angebrochen, dass es mit dem Leben in der Reserve vorbei sei. Das hatten alle auch schon ohne ihn begriffen, doch sie hörten ihm aufmerksam zu, um seiner Rede eine Andeutung darüber zu entnehmen, ob das Regiment nun an der Nordwestfront blieb oder nur nach Rschew verlegt oder ob es in den Westen oder in den Süden geworfen wurde.

Berman sagte: »Also, einen guten Kampfflieger zeichnet vor allem die Kenntnis des Geräts aus, er kennt es so gut, dass er damit spielen kann, als Zweites – die Liebe zu seiner Maschine, er liebt sie wie seine Schwester, wie seine Mutter; als Drittes – Mut; Mut jedoch ist kalter Verstand, gepaart mit einem heißen Herzen; als Viertes – Kameradschaftsgeist, er ist das Erziehungsziel unseres ganzen sowjetischen Lebens; als Fünftes – selbstloser Einsatz im Gefecht! Der Erfolg liegt im Paarverbandfliegen! Folge dem Leitflugzeug! Der echte Flieger denkt auch auf dem Boden immer an das letzte Gefecht, analysiert es, wägt ab: ›Ach, so wäre es besser gewesen, aha, das hätte nicht sein dürfen.‹«

Die Flieger blickten den Kommissar mit geheucheltem Interesse an und unterhielten sich leise miteinander:

»Vielleicht zur Eskorte der ›Douglas‹-Maschinen, die Lebensmittel nach Leningrad bringen«, sagte Solomatin, der eine Bekannte in Leningrad hatte.

»In Richtung Moskau?«, sagte Moltschanow, dessen Angehörige in Kunzewo wohnten.

»Vielleicht aber auch nach Stalingrad?«, meinte Viktorow.

»Na, das glaube ich kaum«, sagte Skotnoi.

Ihm war es gleich, wohin das Regiment geworfen wurde; alle seine Angehörigen befanden sich in der besetzten Ukraine.

»Und du, Borja, wohin fliegst du?«, fragte Solomatin. »In deine jüdische Hauptstadt Berditschew?«

Plötzlich wurden Korols dunkle Augen schwarz vor Wut, und er stieß einen lauten Fluch aus.

»Unterleutnant Korol!«, schrie der Kommissar.

»Jawohl, Genosse Bataillonskommissar …«

»Maul halten …«

Aber Korol schwieg auch so schon.

Major Sakabluka galt als berühmter Kenner und Liebhaber derber Flüche; er hätte aus dem Vorfall, dass ein Kampfflieger in Gegenwart von Vorgesetzten einen Fluch ausstieß, keine große Geschichte gemacht. Er selbst schrie ja jeden Morgen seine Ordonnanz drohend an: »Masjukin, Himmel, Arsch und Zwirn«, und schloss ganz friedlich: »Gib mir mal das Handtuch.«

Da er jedoch das ränkesüchtige Wesen des Kommissars kannte, scheute sich der Regimentskommandeur, Korol gleich die Strafe zu erlassen. Berman würde im Rapport schildern, wie Sakabluka vor versammeltem Flugpersonal die politische Leitung diskreditiert habe. Berman hatte bereits an die politische Abteilung geschrieben, dass Sakabluka in der Reserve einen privaten Haushalt führe, Wodka mit dem Stabsführer trinke und mit der Zootechnikerin Genia Bondarjewa aus der örtlichen Bevölkerung ein Verhältnis habe.

Deshalb holte der Regimentskommandeur weit aus. Drohend und heiser schrie er: »Wie stehen Sie da, Unterleutnant Korol? Zwei Schritte nach vorn! Was ist das für eine Schlamperei?«

Dann trieb er die Sache weiter: »Politruk Golub, melden Sie dem Kommissar, aus welchem Grund Korol gegen die Disziplin verstoßen hat!«

»Melde gehorsamst, Genosse Major, dass er sich mit Solomatin gestritten hat; weshalb, habe ich nicht gehört.«

»Oberleutnant Solomatin!«

»Jawohl, Genosse Major!«

»Melden Sie! Nicht mir. Dem Bataillonskommissar!«

»Melde gehorsamst, Genosse Bataillonskommissar!«

»Melden Sie«, nickte Berman, ohne Solomatin anzusehen.

Er spürte, dass der Regimentskommandeur irgendetwas im Schilde führte. Er wusste, dass sich Sakabluka durch ungewöhnliche Schlauheit sowohl auf dem Boden als auch in der Luft auszeichnete – da verstand er es wahrscheinlich besser als alle anderen, rasch das Ziel und die Taktik des Gegners zu erraten und seine List mit einer Gegenlist zu erwidern. Und auf dem Boden wusste er, dass die Stärke der Vorgesetzten in ihren Schwächen lag und die Schwäche der Untergebenen in ihrer Stärke. Wenn es nötig war, spielte er den Einfaltspinsel und lachte scheinheilig über die dummen Witze eines dummen Menschen. Und er verstand es, die tollkühnen Leutnants der Luftwaffe, die weder Gott noch den Teufel fürchteten, im Griff zu behalten.

In der Reserve hatte Sakabluka eine Neigung für die Landwirtschaft gezeigt, vor allem für die Vieh- und Geflügelzucht. Er befasste sich auch mit der Verwertung von Beerenobst: Er bereitete Likör aus Himbeeren, legte auch Pilze ein oder trocknete sie. Seine Kochkunst wurde gerühmt, und die Kommandeure vieler Regimenter statteten ihm gern in ihren freien Stunden mit einer U-2 eine kurze Visite ab, um mit ihm zu tafeln. Doch der Major schätzte keine Gastlichkeit ohne die Würze des Gesprächs.

Berman kannte noch eine weitere Eigenschaft des Majors, die den Umgang mit ihm besonders erschwerte: Der umsichtige, vorsichtige und schlaue Sakabluka konnte sich zugleich wie ein Verrückter gebärden, der nicht einmal auf sein eigenes Leben Rücksicht nahm.

»Mit dem Chef streiten heißt gegen den Wind pinkeln!«, sagte er zu Berman und unternahm dann plötzlich etwas ganz und gar Verrücktes, was ihm nur schaden konnte; der Kommissar stöhnte nur.

Wenn es sich traf, dass sie beide guter Laune waren, zwinkerten sie sich während der Unterhaltung zu, klopften einander auf den Rücken oder boxten sich gegenseitig in den Bauch.

»Ach, ein schlauer Kerl ist unser Kommissar«, sagte Sakabluka.

»Ach, und wie stark ist unser heldenhafter Major«, sagte Berman.

Sakabluka mochte den Kommissar wegen seiner Glätte und seines übertriebenen Eifers nicht, mit dem er in seinen Berichten jedes unvorsichtige Wort registrierte. Er verspottete Berman wegen seiner Schwäche für hübsche Mädchen, seiner Vorliebe für gekochtes Huhn – »Geben Sie mir ein Beinchen!« – und seiner Gleichgültigkeit dem Wodka gegenüber, er verurteilte, dass ihm zwar die Unterkunftsbedingungen anderer gleichgültig waren, er es aber durchaus verstand, sich selbst sehr passabel einzurichten. Dagegen schätzte er an Berman den Verstand, die Bereitschaft zum Konflikt mit der höheren Führung, wenn es zum Nutzen der Sache war, und seinen Mut – manchmal begriff Berman anscheinend selbst nicht, wie leicht man das Leben verlieren konnte.

Da hörten also diese beiden Männer, die sich anschickten, das Jagdgeschwader an die Kampflinie zu führen, dem Bericht Leutnant Solomatins zu und beobachteten sich dabei gegenseitig aus den Augenwinkeln.

»Ich muss ganz offen gestehen, Genosse Bataillonskommissar, dass ich schuld daran bin, dass Leutnant Korol gegen die Disziplin verstoßen hat. Ich habe mich über ihn lustig gemacht; er hat es erst geduldet, und dann ist er natürlich ausgerastet.«

»Was haben Sie denn zu ihm gesagt? Antworten Sie dem Regimentskommissar!«, unterbrach ihn Sakabluka.

»Die Jungs hier haben gerätselt, wo das Regiment hinkommt, an welche Front. Da habe ich zu Korol gesagt: ›Du willst wahrscheinlich in deine Hauptstadt, nach Berditschew?‹«

Die Flieger sahen Berman an.

»Ich verstehe nicht, in welche Hauptstadt?«, sagte Berman, und plötzlich begriff er.

Er geriet in Verwirrung, alle merkten das; es verblüffte besonders den Regimentskommandeur, dass dies einem Mann passierte, der wie die Klinge eines Rasiermessers war. Doch was dann folgte, war ebenfalls erstaunlich.

»Was soll denn das heißen?«, fragte Berman. »Wenn Sie, Korol, zu Solomatin, der bekanntlich aus dem Dorf Dorochowo, Bezirk Nowo-Russki, kommt, gesagt hätten, dass er über dem Dorf Dorochowo kämpfen wolle, hätte er Ihnen dann eine in die Fresse hauen sollen? Eine seltsame Spießermoral ist das, unvereinbar mit dem Stand eines Komsomolzen.«

Seine Worte wirkten immer unwiderstehlich, mit einer gewissen hypnotischen Kraft auf die Leute. Alle hatten begriffen, dass Solomatin Korol beleidigen wollte und beleidigt hatte, Berman aber erklärte den Fliegern mit voller Überzeugung, dass Korol seine nationalistischen Vorurteile nicht abgelegt habe und sein Verhalten eine Missachtung der Völkerfreundschaft bedeute. Korol dürfe doch nicht vergessen, dass gerade die Faschisten die nationalistischen Vorurteile ausnutzten und sie gegen sie ausspielten.

Alles, was Berman sagte, war, für sich genommen, richtig. Die Revolution und die Demokratie hatten Ideen hervorgebracht, über die er jetzt mit bewegter Stimme sprach. Doch Bermans Stärke bestand in diesem Moment darin, dass nicht er der Idee diente, sondern die Idee ihm und seinem heutigen unlauteren Zweck.

»Seht ihr, Genossen«, sagte der Kommissar, »dort, wo keine ideelle Klarheit herrscht, gibt es auch keine Disziplin. Das erklärt den heutigen Verstoß Korols.«

Er überlegte und ergänzte: »Ein gemeiner Verstoß von Korol, ein gemeines, unsowjetisches Verhalten von Korol.«

Hier konnte sich Sakabluka natürlich nicht einmischen; der Kommissar hatte Korols Verstoß mit einer politischen Frage in Zusammenhang gebracht, und Sakabluka wusste, dass kein einziger Truppenkommandeur es jemals wagen würde, sich in das Vorgehen politischer Organe einzumischen.

»So sieht es also aus, Genossen«, sagte Berman, und nach kurzem Schweigen, um die Wirkung seiner Worte zu verstärken, schloss er: »Die Verantwortung für diese Gemeinheit trägt der unmittelbar Schuldige, doch auch ich trage sie, der Regimentskommissar, der es nicht verstanden hat, dem Flieger Korol dabei zu helfen, das Rückständige, Abstoßende, Nationalistische in sich auszumerzen. Die Sache ist ernster, als sie mir zunächst erschien, deshalb werde ich Korol jetzt nicht für den von ihm begangenen Verstoß gegen die Disziplin bestrafen. Ich nehme jedoch die Aufgabe auf mich, den Unterleutnant Korol umzuerziehen.«

Alle lockerten sich, setzten sich bequemer hin und spürten: Es war vorüber.

Korol schaute Berman an, und in seinem Blick war etwas, was Berman das Gesicht verziehen, mit den Achseln zucken und sich abwenden ließ.

Am Abend sagte Solomatin zu Viktorow: »Siehst du, Ljonja, so ist es immer bei denen – unter der Decke halten sie alle zusammen. Wärst du oder Wanja Skotnoi in den Schlamassel geraten, Berman hätte dich in die Strafeinheit befördert, da kannst du Gift drauf nehmen.«

38

Abends im Unterstand schliefen die Flieger nicht; sie lagen auf ihren Pritschen, rauchten und unterhielten sich. Skotnoi trank nach dem Abschiedsabendessen die letzten Tropfen aus und sang:

»Es schmiert das Flugzeug trudelnd ab,

Es heult, fliegt an die Brust der Erde.

Nicht weinen, Liebste, bleibe still,

vergiss mich, weil ich es so will.«

Welikanow hatte es doch nicht ausgehalten und sich verplappert. So hatten die Flieger erfahren, dass ihr Regiment vor Stalingrad verlegt wurde.

Der Mond war über dem Wald aufgegangen und schimmerte als unruhiger Fleck zwischen den Bäumen hindurch. Das zwei Kilometer vom Flugplatz entfernte Dorf lag still und dunkel da, wie in Asche gehüllt. Die Flieger saßen vor den Eingängen zu ihren Unterständen und suchten mit den Augen die Wunderwelt der Bodenrichtungspunkte ab. Viktorow betrachtete die schwachen Schatten, die das Mondlicht von den Flügeln und Hecks der Jaks warf, und sang leise mit dem Sänger mit:

»Sie ziehen uns aus der Maschine,

Den Leichnam tragen sie im Arm.

Zum Himmel schwingen sich die Sperber,

Begleiten unsern letzten Gang.«

Die, die auf den Pritschen lagen, unterhielten sich. Die Sprecher waren im Halbdunkel nicht zu sehen, doch sie erkannten einander an der Stimme, antworteten, ohne Namen zu nennen, auf Fragen und stellten Fragen.

»Demidow hat selbst um den Einsatz ersucht; ohne Luft fiel er vom Fleisch.«

»Weißt du noch, vor Rschew, als wir den Petljakows Geleitschutz gegeben haben, sind acht ›Messer‹ über ihn hergefallen; er hat den Kampf aufgenommen und sich siebzehn Minuten lang gehalten.«

»Er sang immer beim Fliegen. Jeden Tag fallen mir seine Lieder ein. Er sang sogar Lieder von Wertinski.«

»Der hatte Niveau, war eben ein Moskauer!«

»Ja, und nicht mal in der Luft legte er das ab. Immer hat er sich um die Zurückgebliebenen gekümmert.«

»Du hast ihn ja gar nicht gut gekannt.«

»Doch. Den Partner lernst du kennen, wenn du mit ihm fliegst. Mir hat er sein wahres Wesen gezeigt.«

Skotnoi hatte die letzte Strophe des Liedes zu Ende gesungen, alle waren verstummt und warteten darauf, dass er wieder anfangen würde. Doch Skotnoi sang nicht wieder.

Er wiederholte die auf Militärflugplätzen verbreitete Redensart, die das Leben eines Jagdfliegers mit einem Kinderhemdchen verglich.

Man redete über die Deutschen.

»Bei denen kannst du auch sofort feststellen, ob einer ein guter Pilot ist, einer, der nicht lockerlässt, oder ob er sich einen Einfaltspinsel heraussucht, um ihn von hinten anzugreifen, oder ob er sich nur an den Zurückbleibenden dranhängt.«

»Bei denen sind Zweierverbände im Allgemeinen nicht so stark.«

»Na, das kann man nicht sagen.«

»Der Fritz schlägt seine Zähne in den Angeschlagenen, aber von dem Aktiven lässt er ab.«

»Mann gegen Mann, und wenn er doppelt so stark wäre, ich schlage ihn!«

»Sei mir nicht böse, aber ich würde keinem eine Auszeichnung für eine abgeschossene Junkers geben.«

»Ein Rammbock, das ist der Russe.«

»Warum sollte ich böse sein, du wirst mir die Auszeichnung nicht nehmen.«

»Ja, was den Rammbock angeht, da habe ich schon lang einen Gedanken … Ich werde ihn auch noch mit dem Propeller zur Strecke bringen.«

»Einholen und rammen – genau! Ihn auf die Erde schmettern; mit Qualm und Gas!«

»Ich möchte wissen, ob der Regimentskommandeur seine Kuh und seine Hühner in der ›Douglas‹ mitnimmt.«

»Die sind schon lange geschlachtet. Jetzt werden sie gepökelt.«

Irgendwer meinte gedehnt und nachdenklich: »Wenn ich jetzt in einen Klub ginge, hätte ich einem Mädchen gegenüber Hemmungen, bin völlig entwöhnt.«

»Dafür hat Solomatin keine Hemmungen.«

»Bist du etwa neidisch, Ljonja?«

»Ich beneide ihn um die Tatsache, nicht um das Objekt.«

»Klar. Treu bis ins Grab.«

Dann kramten sie Erinnerungen an den Luftkampf über Rschew aus, den letzten, bevor sie in die Reserve verlegt wurden. Damals waren sieben Jagdflugzeuge mit einem großen Schwarm »Junkers‹‹-Maschinen zusammengeprallt, die in Begleitung von »Messern« zu einem Bombenangriff flogen. Man hätte glauben können, dass jeder über sich selbst sprach, doch das schien nur so – sie alle sprachen über ein gemeinsames Erlebnis.

»Auf dem Hintergrund des Waldes waren sie nicht zu sehen, aber als sie aufstiegen, fielen sie sofort auf. Sie flogen in Höhenlage drei! Ich hab sofort die Ju 87 erkannt. Das Fahrwerk ragt raus, die Nase ist gelb. Da hab ich mich zurechtgesetzt: Jetzt geht’s los!«

»Und ich hab zuerst gedacht: Das sind Flak-Detonationen.«

»Die Sonne hat uns natürlich dabei geholfen! Ich hab mich direkt aus der Sonne auf ihn gestürzt. Ich flog als linker Verbandsmann. Da hat es mich gleich ungefähr dreißig Meter in die Höhe gerissen … Ich hab nachgepumpt – alles klar, das Flugzeug gehorcht! Ich geh auf die Junkers los, mit vollem Geschütz, hab sie angekokelt, da taucht eine ›Messer‹ auf, lang und gelbnasig wie ein Hecht, dreht eine Kurve, kommt aber zu spät. Ich seh Mündungsfeuer auf mich gerichtet, eine blaue Spur hängt in der Luft.«

»Und ich seh, wie meine Spur auf seinen schwarzen Tragflächen aufhört.«

»Dich hat’s ja richtig gepackt.«

»Ich hab schon als Kind Drachen steigen lassen, mein Vater hat mich dafür verprügelt! Und als ich in der Fabrik war, bin ich nach der Arbeit sieben Kilometer weit in den Fliegerklub gelaufen, die Zunge hing mir zum Hals raus, aber ich hab nicht eine Flugstunde versäumt.«

»Nein, jetzt hör mir mal zu! Er hat mich in Brand gesteckt: Öltank und Benzinleitungen. Innen fängt es an zu brennen. Überall Dampf! Da gibt er mir auch noch eins vorn in die Kanzel, zerschlägt mir die Brille, die Scheiben splittern aus der Kanzel, Tränen laufen mir über die Backen. Na, und was hab ich gemacht – zog die Maschine unter ihn, riss die Brille von der Nase! Solomatin hat mich gedeckt. Und weißt du was? Ich hab gebrannt, aber Angst hatte ich nicht, keine Zeit! Ich bin trotzdem gelandet. Vom Feuer hab ich selbst nichts abgekriegt, die Stiefel sind verbrannt, und das Flugzeug ist verbrannt.«

»Ich aber sehe – jetzt holen die einen von uns runter! Ich drehe noch zwei Kurven, er gibt mir mit den Flügeln ein Alarmzeichen: Komm! Ich war nicht im Zweier, hab mich hin- und hergeworfen, um die ›Messer‹ von denen zu verjagen, die Hilfe brauchten.«

»Och, und ich hab damals lauter Durchschüsse heimgebracht; sie haben mich niedergemacht wie ein altes Waldhuhn.«

»Zwölfmal bin ich auf diesen Fritz losgegangen, hab ihn in Brand gesteckt! Ich seh, er schüttelt den Kopf – das war ein harter Brocken! Auf fünfundzwanzig Meter Entfernung hab ich ihn mit der Kanone abgeschossen.«

»Ja, überhaupt muss man sagen – der Deutsche mag den Kampf in der Horizontalen nicht, er versucht immer, in die Vertikale überzugehen.«

»Da hast du aber gründlich danebengehauen!«

»Wieso?«

»Na, wer weiß denn das nicht? Das wissen alle, sogar die Mädchen im Dorf: Scharfe Kurven meidet er wie die Pest.«

Dann wurde es still, und jemand sagte: »Morgen früh in der Dämmerung fliegen wir weg, und Demidow wird hier allein zurückbleiben.«

»Also, Jungs, wer geht jetzt wohin? Ich geh zur Sparkasse – muss noch ins Dorf.«

»Einen Abschiedsbesuch machen? Also los, gehen wir!«

Nachts war alles ringsum – der Fluss, die Felder, der Wald – so still und schön, dass man glauben konnte, auf der Welt gebe es keine Feindschaft, keinen Verrat, keinen Hunger, kein Alter, sondern nur Liebesglück. Wolken zogen vor den Mond, er war von grauem Dunst umflort, und Dunst lag auf der Erde. Kaum einer verbrachte diese Nacht in seinem Unterstand. Am Waldrand und an den Zäunen im Dorf leuchteten ab und zu weiße Kopftücher auf, erklang ein Lachen. In der Stille zitterte ein Baum, erschreckt durch einen nächtlichen Traum, und manchmal murmelte undeutlich das Wasser im Fluss und glitt dann lautlos weiter.

Es nahte die bittere Stunde für die Liebe, die Stunde der Trennung, die Stunde des Schicksals; die eine, die weinte, würde man schon am nächsten Tag vergessen; andere würde der Tod trennen; manch einem würde das Schicksal Treue und ein Wiedersehen bescheiden.

Da kam der Morgen. Die Motoren heulten auf, der flache Wind aus den Flugzeugen presste das zerzauste Gras zu Boden, und Abertausende von Wassertropfen erzitterten in der Sonne … Die Kampfflugzeuge erklommen eines nach dem anderen den blauen Berg, nahmen ihre Kanonen und Maschinengewehre in den Himmel mit, kreisten, warteten auf die Kameraden, formierten sich zu Staffeln.

Und das, was in dieser Nacht so unermesslich erschienen war, entfernt sich, versinkt im Blau des Himmels. Man sieht die kleinen Würfel der Häuser, die Rechtecke der Gemüsegärten; sie ziehen unter dem Flügel des Flugzeugs davon … Schon ist der mit Gras überwachsene Pfad nicht mehr zu sehen und auch nicht mehr Demidows Grab … Wir fliegen! Jetzt gerät der Wald in schwankende Bewegung und gleitet unter den Flügeln des Flugzeugs davon.

»Guten Tag, Vera!«, sagte Viktorow.

39

Um fünf Uhr morgens begannen die Leute vom Stubendienst die Häftlinge zu wecken. Es herrschte stockdunkle Nacht; die Baracken wurden von dem unbarmherzigen Licht angestrahlt, mit dem Gefängnisse, Bahnhöfe an Eisenbahnknotenpunkten und Aufnahmeräume in städtischen Krankenhäusern beleuchtet werden.

Tausende zogen hustend und spuckend die wattierten Hosen an, wickelten sich Fußlappen um die Füße, kratzten sich Hüften, Bauch und Hals.

Wenn die Häftlinge, die auf den oberen Pritschen schliefen, beim Herunterklettern mit ihren Füßen an die Köpfe der sich unten Ankleidenden stießen, so schimpften die nicht, sondern drehten schweigend den Kopf zur Seite oder schoben die Füße, die sie störten, einfach mit der Hand weg.

Dieses nächtliche Erwachen der Menschenmasse, diese sich hastig hin und her bewegenden Köpfe und Rücken, diese Schwaden von Machorkarauch in dem flackernden, grellen elektrischen Licht hatten etwas zutiefst Unnatürliches. Die Taiga war über Hunderte von Quadratkilometern hinweg in frostiger Stille erstarrt, das Lager aber mit Menschen vollgestopft, voller Bewegung, Rauch und Licht.

Die ganze erste Hälfte der Nacht über hatte es geschneit, und die Schneewehen blockierten die Barackentüren und deckten die Wege zu den Gruben zu.

Gedehnt heulten die Grubensirenen, und vielleicht stimmten irgendwo in der Taiga Wölfe in ihr weithin hallendes, freudloses Heulen ein. Auf dem Lagerfeld bellten heiser die Schäferhunde, tönte dumpf das Rattern der Traktoren, die die Wege zu den Bergwerksgebäuden räumten, erklangen die Zurufe der Begleitposten.

Der trockene Schnee bekam im Licht der Scheinwerfer einen zarten, sanften Glanz. Begleitet von ununterbrochenem Hundegebell, begann auf dem weiten Lagerplatz der Appell. Die Stimmen der Begleitposten klangen erkältet und gereizt … Doch da strömte auch schon der breite, überquellende, lebendige Fluss auf die Fördertürme der Gruben zu, der Schnee knirschte unter den Schuhen und Filzstiefeln. Sein einsames Auge weit aufsperrend, glotzte der Wachtturm in die Nacht.

Aber die Sirenen, nah und fern, heulten immer noch – das vereinigte Orchester des Nordens. Es ertönte über der gefrorenen Krasnojarsker Erde, über der autonomen Republik Komi, über Magadan, über Sowjetskaja Gawan, über den Schneefeldern des Kolymaer Gebiets, über der Tundra Tschukotkas, über den Lagern des Nordens von Murmansk und des nördlichen Kasachstan.

Unter den Stimmen der Sirenen, unter den Schlägen der Metallstange auf ein an einem Ast schwingendes Schienenstück schritten die Ausbeuter des Kaliums von Solikamsk, des Kupfers aus Ridder und vom Balchaschsee, des Kolymaer Nickels und Bleis, der Kusnezker und Sachaliner Kohle, schritten die Erbauer der Eisenbahnlinie entlang der Küste des Eismeers und der Kolymaer Trassen, schritten die Holzfäller Sibiriens und des nördlichen Urals, des Murmansker und Archangelsker Gebiets …

Im nächtlichen Schnee begann zu dieser Stunde der Tag in den Lagern und Außenstellen des riesigen Lagerkomplexes Dalstroi in der Taiga.

40

In der Nacht überkam den Häftling Abartschuk ein Anfall von Verzweiflung. Es war nicht die gewohnte dumpfe Depression des Lagerlebens, sondern jene Verzweiflung, die wie Malaria den Menschen innerlich verbrennt, die ihn zwingt, Schreie auszustoßen, von der Pritsche aufzuspringen und sich mit den Fäusten gegen die Schläfen und auf den Kopf zu hämmern.

Am Morgen, als die Häftlinge hastig und widerwillig zugleich zur Arbeit antraten, fragte ihn sein Pritschennachbar, der langbeinige Neumolimow, ehemals Vorarbeiter im Gaswerk und im Bürgerkrieg Kommandeur einer Kavalleriebrigade: »Warum hast du dich heute Nacht so wild hin- und hergeworfen? Hast du von einer Frau geträumt? Gewiehert hast du.«

»Du denkst nur an Weiber«, erwiderte Abartschuk.

»Mir war so, als hättest du im Schlaf geweint«, sagte Abartschuks anderer Pritschennachbar, der einfältige Monidse, vormals Mitglied des Präsidiums der Kommunistischen Jugendinternationale. »Ich wollte dich schon wecken.«

Der ehemalige Professor der Medizin und jetzige Sanitäter Abrascha Rubin hatte nichts bemerkt. »Weißt du«, sagte er, als sie in die eisige Finsternis hinaustraten, »ich habe von Nikolai Iwanowitsch Bucharin geträumt. Er besuchte uns im Institut der Roten Professoren, gut gelaunt, voll Energie; wir hatten eine großartige Diskussion über die Henchman-Theorie.«

Abartschuk hatte einen Posten im Werkzeuglager. Während er sich an die Arbeit machte, heizte sein Gehilfe Barchatow, ein Raubmörder, der eine sechsköpfige Familie umgebracht hatte, mit Zedernholzabfällen aus dem Sägewerk den Ofen. Abartschuk packte Werkzeuge um, die in Kisten lagen. Die schneidende Kälte des Stahls von Feilen und Meißeln erinnerte ihn an die Qualen der vergangenen Nacht.

Der neue Tag unterschied sich durch nichts von den vorangegangenen. Seit dem frühen Morgen gingen von der Buchhaltung die genehmigten Bedarfsmeldungen der Außenstellen ein. Abartschuks Aufgabe bestand darin, das angeforderte Material herauszusuchen, es in Kisten zu verpacken und die Begleitpapiere zusammenzustellen. Für einige Werkzeuge, die nicht in Sätzen geliefert wurden, mussten Sonderverzeichnisse angefertigt werden.

Wie immer rührte Barchatow keinen Finger, und es war unmöglich, ihn zum Arbeiten zu bringen. Sobald er im Magazin erschien, interessierte er sich ausschließlich für sein leibliches Wohl. Schon seit dem frühen Morgen war er damit beschäftigt, sich in einem Henkeltopf eine Suppe aus Kartoffeln und Kohl zu kochen. Er wurde dabei nur kurz vom Lateinlehrer des Charkower Pharmazeutischen Instituts unterbrochen, dem Laufburschen des ersten Reviers, der mit zitternden roten Fingern eine Handvoll schmutziger Graupen auf den Tisch schüttete – Bestechungsgeld, das Barchatow von ihm aus irgendeinem Grunde kassierte.

Später am Tag wurde Abartschuk in die Finanzabteilung gerufen. Mehrere Posten der Abrechnung stimmten nicht überein. Der Abteilungsleiter schrie ihn an, er werde Meldung beim Lagerkommandanten machen. Abartschuk wurde übel bei dieser Drohung. Ohne Hilfe war seine Arbeit nicht zu schaffen. Aber er wagte nicht, sich über Barchatow zu beschweren. Er war müde und lebte in ständiger Angst, wieder in eine Kohlengrube oder zum Holzfällen geschickt zu werden. Abartschuk war vorzeitig ergraut, seine Kräfte waren verbraucht … Vielleicht lag hier die Ursache seiner Depressionen – alles Leben hatte ihn verlassen, war irgendwo im sibirischen Eis erstarrt.

Als er aus der Finanzabteilung zurückkam, fand er Barchatow schlafend, sein Kopf ruhte auf einem Paar Filzstiefel, die ihm vermutlich inzwischen irgendein Krimineller gebracht hatte. Daneben stand das leere Kochgeschirr. An seiner Backe klebten Reste der erbeuteten Graupen.

Abartschuk wusste, dass Barchatow von Zeit zu Zeit Werkzeug aus dem Magazin stahl. Auch die Filzstiefel verdankte er wahrscheinlich einem Tauschgeschäft mit gestohlenem Lagergut. Einmal, als Abartschuk entdeckt hatte, dass drei Feilen fehlten, sagte er: »Man sollte sich schämen, im Vaterländischen Krieg knappes Metall zu stehlen.« Aber Barchatow hatte ihn angefahren: »Du Laus, halt die Schnauze. Du weißt schon, was dir sonst blüht!«

Abartschuk hatte nicht den Mut, Barchatow kurzerhand zu wecken. Er begann, lärmend Bandfeilen umzupacken, hustete, ließ einen Hammer auf den Boden fallen, bis Barchatow endlich erwachte und mit trägen, missgelaunten Blicken seinen Bewegungen folgte.

Nach einer Weile sagte er beiläufig: »Ein junger Kerl, der gestern mit dem Massentransport eingeliefert wurde, hat erzählt, dass es noch üblere Lager gibt als die an den Seen. Die Häftlinge tragen dort Fußeisen, die Schädel werden zur Hälfte geschoren. Und keine Namen, nur aufgenähte Nummern auf der Brust und an den Knien, und auf dem Rücken ein Karoass.«19

»Lügen«, sagte Abartschuk.

Barchatow sagte träumerisch: »Dorthin sollte man alle diese Politischen, dieses Faschistenpack, expedieren und dich zuerst, du Aas, damit du mich nicht ständig weckst …«

»Verzeihen Sie, Bürger Barchatow, dass ich Ihre Ruhe gestört habe …«, sagte Abartschuk mit bitterer Ironie.

Bei aller Angst vor Barchatow gelang es ihm nicht immer, seine Gereiztheit zu verbergen.

Nach dem Schichtwechsel in den Gruben kam Neumolimow, schwarz vom Kohlenstaub, auf einen Sprung ins Werkzeugmagazin.

»Nun?«, erkundigte sich Abartschuk. »Was macht der sozialistische Wettbewerb? Machen die Leute jetzt mit?«

»Wir sind auf dem besten Weg. Kohle braucht man, um Krieg zu führen – das verstehen alle. Heute hat man uns Plakate aus der Kultur- und Erziehungsabteilung gebracht mit der Losung: Wir helfen dem Vaterland durch Stoßarbeit …«

Abartschuk seufzte und sagte dann: »Weißt du, man sollte eine Studie über Lagerdepressionen schreiben. Die eine Art presst dir die Brust zusammen, die andere fällt über dich her, die dritte würgt und erstickt dich. Und dann gibt es noch eine besondere Form von Verzweiflung, die nicht würgt, nicht drückt, nicht über dich herfällt – sie reißt den Menschen von innen auseinander, wie der Meeresdruck Tiefseeungeheuer auseinanderreißt.«

Neumolimow lächelte traurig und entblößte dabei eine Reihe verfaulter Zähne von der Farbe des Kohlenstaubs.

Barchatow hatte sich den beiden fast lautlos genähert. Abartschuk fuhr zu ihm herum: »Jedes Mal, wenn du so herumschleichst und plötzlich neben mir stehst, fahre ich zusammen.«

Barchatow, ein Mensch, der nie lächelte, sagte beunruhigt: »Ich geh mal schnell zum Verpflegungsmagazin. Du hast doch nichts dagegen?«

Als er hinausgegangen war, sagte Abartschuk zu Neumolimow: »Ich habe heute Nacht an meinen Sohn aus erster Ehe gedacht. Er muss an der Front sein.« Er beugte sich zu dem Freund hinüber. »Ich hoffe, dass aus dem Jungen ein guter Kommunist geworden ist. Ich habe mir vorgestellt, wie wir uns begegnen und ich ihm sage: ›Vergiss nicht, dass das Schicksal deines Vaters etwas Zufälliges ist, etwas ganz Nebensächliches. Die Sache der Partei ist eine geheiligte Sache! Das höchste Gesetz unserer Epoche!‹«

»Trägt er deinen Namen?«

»Nein. Ich fürchtete, er würde zu einem Spießer heranwachsen.«

Gestern hatte er den ganzen Abend an Ljudmila gedacht, hatte sie herbeigewünscht. Er suchte nach Fetzen von Moskauer Zeitungen. Vielleicht würde er plötzlich irgendwo lesen: »Leutnant Anatoli Abartschuk«? Dann wäre klar, dass sein Sohn den Namen des Vaters tragen wollte.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Bedürfnis, sich selbst zu bemitleiden. Er malte sich aus, wie er auf seinen Sohn zugehen würde, mit vor Erregung stockendem Atem, und wie er mit der Hand auf seine Kehle deuten und flüstern würde: »Ich kann nicht sprechen …«

Tolja würde ihn umarmen, und er würde den Kopf an die Brust seines Sohnes legen und hemmungslos, ohne Scham, weinen. So würden sie lange stehen, der Sohn den Vater um einen Kopf überragend …

Es würde sich herausstellen, dass der Sohn immer an den Vater gedacht hatte. Dass er Kameraden des Vaters ausfindig gemacht und von ihnen erfahren hatte, welche Rolle er in der Revolution gespielt hatte. Tolja würde sagen: »Mein Gott, Vater, dein Haar ist ja ganz weiß geworden, und dein Hals ist mager und faltig. Und all die Jahre hast du gekämpft, hast einen großen, einsamen Kampf geführt.«

In der Untersuchungshaft hatte man ihm drei Tage stark gesalzene Nahrung gegeben, ohne Wasser; man hatte ihn geschlagen.

Er hatte verstanden, dass man ihn beileibe nicht zwingen wollte, seine Unterschrift unter Aussagen über Sabotage und Spionage zu setzen oder Unschuldige zu belasten. Nein, man wollte ihn dazu bringen, an der Gerechtigkeit der Sache, der er sein Leben geweiht hatte, zu zweifeln. Während der ganzen Dauer der gerichtlichen Untersuchung war er überzeugt gewesen, Banditen in die Hände gefallen zu sein, und er war sicher, wenn es ihm gelänge, mit dem Chef der Staatssicherheit persönlich zu sprechen, würde man diesen Banditen von einem Untersuchungsrichter auf der Stelle festnehmen.

Aber die Zeit verging, und er hatte erkennen müssen, dass es sich keineswegs um eine Handvoll Sadisten handelte.

Er hatte die Gesetze der Massendeportation entdeckt, die in Güterzügen und Schiffsladeräumen herrschten. Er hatte gesehen, wie gemeine Verbrecher nicht nur das Eigentum, sondern selbst das Leben anderer beim Kartenspiel verspielten. Er hatte erbärmliche Laster, Verrat gesehen und mit der blutigen, unvorstellbar grausamen, rachsüchtigen und abergläubischen Unterwelt Bekanntschaft gemacht; er hatte die mörderischen Kämpfe zwischen den »Nutten«,20 arbeitswilligen Gelegenheitsgaunern, und den Dieben, professionellen Verbrechern, erlebt, die sich weigerten zu arbeiten.

Er hatte sich gesagt, niemand wird ohne Grund eingesperrt, und war überzeugt gewesen, dass nur wenige, darunter er selbst, irrtümlich im Gefängnis saßen, während alle Übrigen Feinde der Revolution waren, die das Schwert der Justiz getroffen hatte.

Er hatte Anbiederei, Verrat, Unterwürfigkeit, Grausamkeit gesehen … Er nannte diese Charaktereigenschaften »Muttermale des Kapitalismus«, wie man sie bei den »Gestrigen«, den Offizieren der Weißen, bei Kulaken und bürgerlichen Nationalisten fand. Sein Glaube war unerschütterlich, seine Ergebenheit gegenüber der Partei grenzenlos.

Neumolimow schickte sich an, das Werkzeuglager zu verlassen, da fiel ihm plötzlich ein:

»Oh, fast hätte ich es vergessen – jemand hat nach dir gefragt.«

»Hier? Wer denn?«

»Einer von denen, die mit dem gestrigen Transport angekommen sind. Man hat sie auf die verschiedenen Arbeitskommandos verteilt. Er hat sich nach dir erkundigt. ›Zufällig kenne ich Abartschuk‹, habe ich ihm gesagt, ›wir schlafen nämlich schon das vierte Jahr Seite an Seite.‹ Er hat mir seinen Namen genannt, er ist mir leider entfallen.«

»Wie sieht er aus?«, wollte Abartschuk wissen.

»Mickrig, weißt du, mit einer Narbe an der Schläfe …«

»Nein!«, rief Abartschuk. »Doch nicht etwa Magar?«

»Ja, genau – so heißt er.«

»Aber das ist ja mein ältester Freund, mein Lehrer! Er hat mich in die Partei eingeführt. Was hat er dich gefragt? Was hat er erzählt?«

»Die üblichen Fragen – wie viele Jahre du bekommen hast. Ich hab ihm gesagt: ›Er hat um fünf gebeten und zehn bekommen, jetzt hat er angefangen zu husten, da wird man ihn wohl vorzeitig entlassen.«

»Magar, Magar«, wiederholte Abartschuk. Er schien Neumolimow nicht mehr zuzuhören. »Er war eine Zeitlang bei der Tscheka. Ein ungewöhnlicher Mensch, weißt du, ein ganz ungewöhnlicher. Bereit, für einen Genossen alles herzugeben. Sich im Winter für ihn den Mantel auszuziehen, ihm sein letztes Stück Brot zu geben. Und dazu klug, gebildet. Von reinstem proletarischem Blut – der Sohn eines Fischers aus Kertsch.«

Er blickte um sich und neigte dann seinen Kopf näher zu Neumolimow hinüber.

»Erinnerst du dich, wir haben davon gesprochen, dass die Kommunisten im Lager eine Organisation schaffen müssen, die der Partei hilft. Und Abrascha Rubin hat gefragt: ›Wer soll Sekretär werden?‹ Nun, Magar ist unser Mann!«

»Nein, ich werde für dich stimmen«, sagte Neumolimow. »Ihn kenne ich nicht. Und wie willst du ihn finden? Man hat zehn Lastwagen mit Leuten in die Außenreviere geschickt, sicher ist er darunter.«

»Macht nichts, wir finden ihn schon. Ach, Magar, Magar – er hat sich also nach mir erkundigt?«

»Ach, fast hätte ich vergessen, warum ich zu dir gekommen bin«, sagte Neumolimow. »Gib mir etwas Schreibpapier. Mein Gedächtnis ist doch das reinste Sieb.«

»Willst du einen Brief schreiben?«

»Nein, eine Eingabe an Sjoma Budjonny.21 Ich will mich an die Front melden.«

»Sie werden dich nicht lassen …«

»An mich wird Sjoma sich erinnern.«

»Politische werden nicht in die Armee genommen. Wenn unsere Gruben mehr Kohle fördern, dafür werden unsere Frontkämpfer auch dankbar sein, da kannst du auch deinen Teil beitragen.«

»Ich will zum Heer.«

»Da wird Budjonny dir nicht helfen. Ich habe an Stalin persönlich geschrieben …«

»Er – mir nicht helfen? Das kann nicht dein Ernst sein … Budjonny! Oder tut es dir um das Papier leid? Ich würde dich ja gar nicht bitten, aber in der Abteilung für Kultur und Erziehung gibt man mir kein Papier mehr. Ich habe meine Ration bereits aufgebraucht.«

»Also schön, ich gebe dir einen Bogen«, sagte Abartschuk. Er hatte nur wenig Schreibpapier im Magazin, aber er brauchte über dessen Verwendung keine Rechenschaft abzulegen. In der Abteilung für Kultur und Erziehung hingegen wurde darüber genau Buch geführt, und man musste angeben, wofür man es verwendet hatte.

Der Abend in der Baracke verlief wie immer.

Der alte Kavalleriegardist Tungussow erzählte augenzwinkernd eine endlose Geschichte, einen ganzen Roman. Die Kriminellen hörten gespannt zu, kratzten sich und nickten beifällig.

Tungussow spann ein verworrenes, endloses Garn. In seine Handlung flocht er die Namen bekannter Tänzerinnen, Berühmtheiten wie Lawrence, Ereignisse aus dem Leben der drei Musketiere, die Reise der Nautilus von Jules Verne ein.

»Halt! Halt!«, fiel ihm einer seiner Zuhörer ins Wort. »Wie konnte sie die persische Grenze überschreiten? Gestern hast du uns erzählt, dass sie von den Schlitzaugen vergiftet wurde …«

Tungussow unterbrach sich, sah seinen Kritiker sanft an und fuhr geistesgegenwärtig fort: »Nadjas Zustand schien nur anfangs hoffnungslos. Die Kunst des tibetischen Arztes, der ihr ein paar Tropfen eines kostbaren Extrakts aus blauen Hochgebirgskräutern zwischen die halb geöffneten Lippen geträufelt hatte, brachte sie ins Leben zurück. Gegen Morgen trat in ihrem Befinden eine so erstaunliche Besserung ein, dass sie sich ohne fremde Hilfe im Zimmer bewegen konnte. Sie war wieder zu Kräften gekommen.«

Die Erklärung befriedigte die Zuhörer. Ungeduldige Rufe wie »Klar!«, »Mach weiter!« ertönten.

Aus einer Ecke, der man den Namen »Kolchossektor« gegeben hatte, kam wieherndes Gelächter. Dort hörte man dem alten Possenreißer, dem ukrainischen Dorfältesten Gassjutschenko, zu, der in singendem Ton unanständige Couplets vortrug.

»Dem Opa auf der Ofenbank

Wird mit Oma die Zeit nicht lang

Hopp! …«

Es folgten Reime, die so schamlos waren, dass sein Publikum sich vor Lachen den Bauch hielt. Der Moskauer Journalist und Schriftsteller – er litt an einem Leistenbruch –, ein kluger und schüchterner Mensch, verspeiste langsam weißen Zwieback. Er hatte am Tag zuvor ein Päckchen von seiner Frau erhalten. Der Geschmack und das Knacken des Zwiebacks schienen ihn an sein früheres Leben zu erinnern – Tränen standen in seinen Augen.

Neumolimow stritt sich mit einem Panzersoldaten, der wegen eines Mordes aus besonders niedrigen Beweggründen im Lager gelandet war. Der Panzersoldat verspottete zur Belustigung der Zuhörer die Kavallerie. Neumolimow, bleich vor Hass, herrschte ihn an: »Weißt du, was wir im Jahr zwanzig mit unseren Säbeln gemacht haben?«

»Jawohl – geklauten Hühnern die Köpfe abgehauen! Ein einziger Panzer wirft heute deine ganze 1. Reiterarmee über den Haufen. Vergleicht doch bloß nicht den Bürgerkrieg mit unserem Vaterländischen Krieg.«

Der junge Dieb Kolka Ugarow hatte sich Abrascha Rubin vorgenommen. Er wollte, dass Rubin seine Stiefel gegen ein Paar zerfetzter Hausschuhe mit aufgerissenen Sohlen tauschte.

Rubin, der Böses ahnte, gähnte nervös und blickte Hilfe suchend von einem Pritschennachbarn zum andern.

»Nimm dich in Acht, Jude«, warnte Kolka, der einem geschmeidigen, helläugigen wilden Kater glich. »Nimm dich in Acht, du Aas, du zerrst an meinen letzten Nerven.«

Dann herrschte er Rubin an: »Warum hast du meine Krankmeldung nicht unterschrieben?«

»Du bist doch gesund. Ich habe nicht das Recht dazu.«

»Du unterschreibst also nicht?«

»Kolka, mein Lieber, ich schwöre dir, ich würde es mit Freuden tun, aber ich kann nicht …«

»Du unterschreibst nicht?«

»Versteh doch, glaubst du wirklich, wenn ich es könnte …«

»Schon gut. Das war’s.«

»Wart, wart … kapier doch …«

»Ich hab kapiert. Und du wirst auch bald kapieren.«

Der Schwede Stedding, den man kaum mehr von einem Russen unterscheiden konnte – angeblich war er wirklich ein Spion –, riss sich einen Augenblick von dem Bild los, das er auf ein von der Kultur- und Erziehungsabteilung bewilligtes Stück Pappe malte, sah erst Kolka und dann Rubin an, schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seiner Malerei zu. Das Bild hieß »Mütterchen Taiga«. Stedding hatte keine Angst vor den Kriminellen, und aus irgendeinem Grund ließen sie ihn unbehelligt.

Als Kolka sich entfernt hatte, sagte Stedding zu Rubin: »Sie benehmen sich wie ein Idiot, Abram Jefimowitsch.«

Auch der Weißrusse Konaschewitsch fürchtete die Ganoven nicht. Bevor er ins Lager kam, war er Flugzeugmechaniker im Fernen Osten gewesen und hatte es zum Champion im Halbschwergewicht der Pazifikflotte gebracht. Die Kriminellen hatten Achtung vor Konaschewitsch, aber er nahm nie jemanden, den sie misshandelten, in Schutz.

Abartschuk schritt langsam den Gang zwischen den zweistöckigen, kreuzförmig angeordneten Pritschen entlang. Die Verzweiflung packte ihn wieder. Das ferne Ende der hundert Meter langen Baracke verschwamm im Machorkaqualm, und immer, wenn er auf dem Weg dahin war, hoffte Abartschuk, dort etwas Neues zu entdecken. Aber es war immer dasselbe: das Podest, auf dem die Häftlinge über Holzrinnen ihre Fußlappen wuschen, die Strohbesen an der gekalkten Wand, die gestrichenen Eimer, auf den Pritschen die zu kurzen Matratzen mit den zwischen den Nähten hervorquellenden Sägespänen, das eintönige Stimmengewirr, die blassen, ausgemergelten Gesichter der Lagerinsassen.

Die Häftlinge saßen fast alle auf ihren Pritschen und warteten auf das Signal zum Schlafengehen. Sie unterhielten sich über die Suppe, über Weiber, über die Unehrlichkeit des Brotschneiders, über das Schicksal ihrer Briefe an Stalin und ihrer Eingaben an den Generalstaatsanwalt, über die neuen Arbeitsnormen in der Kohlengrube, über den Frost des heutigen und den Frost des morgigen Tages.

Abartschuk schlenderte langsam weiter, fing hier und dort Gesprächsfetzen auf, und ihm schien, dass dasselbe endlose Gespräch zwischen Tausenden von Menschen seit Jahren andauerte – in der Etappe, bei Massentransporten, in Lagerbaracken. Bei den Jungen ging es um die Weiber, bei den Alten um das Essen. Besonders unangenehm war es jedoch, wenn alte Männer lüstern von Weibern sprachen, während junge Burschen vom guten Essen in der Freiheit schwärmten.

Als er an Gassjutschenkos Pritsche vorbeikam, beschleunigte er seine Schritte. Aus dem Mund dieses schon bejahrten Mannes, dessen Frau bereits Großmutter war, kamen so abscheuliche Dinge, dass es Abartschuk ekelte.

Wenn doch endlich das Signal zum Schlafengehen käme und man sich auf die Pritsche werfen dürfte, die Decke über den Kopf ziehen könnte und nichts zu sehen, nichts zu hören brauchte!

Abartschuk warf einen Blick auf die Tür – gleich würde Magar hereinkommen, Abartschuk würde den Barackenältesten überreden, sie nebeneinanderzulegen, sie würden die Nächte im Gespräch verbringen, aufrichtig und offen, zwei Kommunisten, der Lehrer und der Schüler, beide Mitglieder der Partei.

Auf den Pritschen der »Herren« ihrer Baracke, des Grubenbrigadiers Perekrest, Barchatows und des Barackenältesten Sarokow, feierte man ein Fressgelage. Perekrests Speichellecker Scheljabow, einst Spezialist für Wirtschaftsplanung, hatte ein Handtuch über ein Tischchen gebreitet und darauf Speck, Heringe und Pfefferkuchen gelegt – Leckerbissen, die Perekrest von allen als Abgabe einforderte, die in seiner Brigade arbeiteten.

Abartschuk ging an den Pritschen der »Herren« vorbei, und sein Herz drohte vor Erregung auszusetzen. Und wenn sie ihn riefen, ihn aufforderten, sich zu ihnen zu setzen? Er hatte solche Lust, etwas Gutes zu essen, Barchatow, dieser Halunke! Er macht im Werkzeugmagazin, was er will. Abartschuk wusste, dass er Nägel stahl, dass er drei Feilen beiseitegeschafft hatte, aber bei der Kontrolle hatte er kein Wort gesagt. Da könnte er ihm wirklich zurufen: »He, Verwalter, komm und setz dich zu uns!« Abartschuk verachtete sich wegen dieser geheimen Wünsche, er fühlte, dass es ihm nicht nur ums Essen ging, sondern dass da noch eine andere Regung mitspielte, eine niedrige, unwürdige Straflager-Regung: die Hoffnung, in den Kreis der Mächtigen aufgenommen zu werden, auf vertrautem Fuß mit einem Perekrest zu stehen, vor dem alle in diesem riesigen Lager zitterten.

Und Abartschuk sagte zu sich selbst: »Du Aas!«, und von Barchatow dachte er dasselbe: »Du Aas!«

Sie baten Abartschuk nicht zu sich, sie luden Neumolimow ein, und der Kommandeur einer Kavalleriebrigade, ausgezeichnet mit zwei Rotbannerorden, ging, mit seinen braunen Zähnen lächelnd, zu ihnen. Dieser lächelnde Mann, der jetzt an den Tisch der Diebe trat, hatte vor zwanzig Jahren Kavallerieregimenter in den Kampf für die Weltrevolution geführt. Warum nur hatte er heute mit Neumolimow über Tolja gesprochen, über das Teuerste, was er besaß?

Und er? War nicht auch er für den Kommunismus in den Kampf gezogen, hatte er nicht von seinem Dienstzimmer im Kusbass22 Stalin persönlich über den Aufbau im Kohlebecken von Kusnezk Bericht erstattet? Und jetzt hoffte er, Abartschuk, dass ihn die Diebe zu sich rufen würden, während er mit gesenktem Kopf und scheinbar gleichgültiger Miene an dem Tischchen mit dem schmutzigen bestickten Handtuch vorüberging.

Abartschuk blieb vor Monidses Pritsche stehen. Monidse stopfte eine Socke und sagte: »Weißt du, was ich gedacht habe? Ich beneide nicht, die draußen in Freiheit sind. Die in ein deutsches Konzentrationslager geraten sind, die beneide ich. Wie schön, wenn man einsitzt und weiß, dass man von einem Faschisten geprügelt wird. Wir sind hier doch in der schrecklichsten Lage, werden von unseren eigenen Leuten misshandelt.«

Monidse hob seine großen, traurigen Augen und fuhr fort: »Mir hat Perekrest heute gesagt: ›Pass auf, Kazo,23 dir werde ich mit der Faust eins auf den Schädel geben, und das werde ich sogar selbst auf der Kommandantur melden – man wird mir noch danke schön dafür sagen. Du bist der mieseste aller Verräter.«

Abrascha Rubin, der auf der Pritsche daneben saß, bemerkte: »Und das ist noch nicht das Schlimmste.«

»Ja, ja«, sagte Abartschuk. »Hast du gesehen, wie unser Brigadekommandeur sich gefreut hat, als die ihn eingeladen haben?«

»Aber dich hat es doch gekränkt, weil sie dich nicht eingeladen haben, stimmt’s?«, sagte Rubin.

Wut stieg in Abartschuk hoch, weil er sich ertappt fühlte, Wut auf Rubin, weil der recht hatte mit seinem Vorwurf, und er sagte: »Lies du in deiner eigenen Seele und lass meine in Ruhe!«

Rubins Lider fielen halb über die Augen, wie bei einem Huhn.

»Ich?«, sagte er. »Ich wage nicht einmal, beleidigt zu sein. Ich zähle zur niedersten Kaste, ich bin ein Paria. Hast du mein Gespräch mit Kolka nicht mitgehört?«

»Ach was!«, brach Abartschuk die Unterhaltung ab. Er wandte sich um und schritt den Gang wieder hinunter zum Podest. Und wieder schnappte er Worte dieses endlosen Gesprächs auf.

»Borschtsch mit Schweinefleisch, an Werk- und Feiertagen …«

»Brüste hat die, du glaubst es nicht …«

»Ich mag’s gern einfach, Hammelfleisch mit Kascha. Lasst mich mit euren Mayonnaisen in Ruhe, Bürger …«

Er machte wieder kehrt und ging zu Monidse, setzte sich auf den Rand seiner Pritsche und hörte dem Gespräch zu.

Monidse, der noch immer seine Socke stopfte, sagte: »Verdammte Sache! Denunzieren, das ist wohl das Letzte …«

»Das Letzte? Wieso?«, mischte sich Abartschuk ein. »Du bist doch ein Kommunist?«

»Genau wie du«, erwiderte Monidse. »Ein Exkommunist.«

»Ich bin kein Exkommunist. Und du auch nicht«, sagte Abartschuk.

Abermals erregten Rubins Worte Abartschuks Zorn, weil sie auch diesmal seine geheimsten Gedanken trafen:

»Der Kommunismus hat damit nichts zu tun«, sagte Rubin. »Dreimal am Tag ein Abwaschwasser aus Maismehl – ich hab’s satt. Ich kann diese Suppe nicht mehr sehen. Das zum ›Dafür‹ – und jetzt zum ›Dagegen‹: Wer will schon Opfer einer nächtlichen Aburteilung werden, nach der man dich am Morgen auf der Latrine findet – mit dem Kopf im Loch wie Orlow. Hast du mein Gespräch mit Kolka Ugarow mit angehört?«

»Kopf unten, Beine oben!«, sagte Monidse und lachte, wahrscheinlich weil es nichts zu lachen gab.

»Willst du etwa behaupten, dass mich niedere Instinkte beherrschen?«, fragte Abartschuk und empfand ein geradezu hysterisches Verlangen, Rubin ins Gesicht zu schlagen.

Er sprang auf und setzte seine Wanderung durch die Baracke fort.

Natürlich war auch ihm die Maismehljauche zuwider. Seit wie vielen Tagen schon versuchte er, sich vorzustellen, was es am Tag der Oktoberrevolution zu essen gegeben hätte: Gemüseragout? Makkaroni nach Marineart? Einen Auflauf?

Viel hing von einem Wort des Chefs des Lagergeheimdienstes ab, und die Wege, die zu den Höhen des Lebens – zum Verwalter der Bäder, zum Brotschneider – führten, waren geheimnisvoll, lagen im Nebel. Er könnte zum Beispiel im Labor arbeiten, im weißen Kittel, unter einer Leiterin, die eine Freie war, und wo er nicht den Kriminellen ausgeliefert wäre. Oder in der Planungsabteilung. Oder als Grubenverwalter … Trotzdem war Rubin im Unrecht, Rubin wollte herabwürdigen und untergraben, was stark war im Menschen, er spürte in der Seele auf, was sich dort, im Unterbewusstsein, verbarg wie ein Dieb. Rubin war ein Saboteur.

Sein ganzes Leben war Abartschuk den Opportunisten unversöhnlich entgegengetreten, hatte er die Doppelzüngler und die Lauen gehasst. Seine seelische Stärke, sein Glaube standen und fielen mit dem Glauben an die Gerechtigkeit der Justiz. Von seiner Frau hatte er sich getrennt, weil er an ihr zweifelte, weil er ihr nicht zutraute, dass sie ihren gemeinsamen Sohn zu einem unerschütterlichen Kämpfer erziehen würde. Dem eigenen Sohn hatte er verwehrt, seinen Namen zu tragen. Die Wankelmütigen waren von ihm angeprangert worden. Nörgler und Kleingläubige traf seine Verachtung. Im Kusbass pflegte er Strafgefangene, die als ITR, als ingenieurtechnische Mitarbeiter, eingesetzt waren und sich nach ihren Familien in Moskau zurücksehnten, der Justiz zu überantworten. Vierzig gesellschaftlich verdächtige Demente, Arbeiter, die von der Baustelle in ihre Dörfer geflohen waren, hatte er verurteilt. Von seinem kleinbürgerlichen Vater hatte er sich losgesagt.

Welche Wonne war es, unnachgiebig zu sein. Und wenn er über andere zu Gericht saß, fühlte er die eigene innere Stärke, seinen Idealismus und seine Reinheit bestätigt. Daraus schöpfte er seinen Optimismus und seinen Glauben. Er hatte sich nicht ein einziges Mal dem Ruf der Partei entzogen, hatte freiwillig auf sein Höchstgehalt als hauptamtlicher Parteifunktionär verzichtet. Und auch in diesen Opfern fand er seine Bestätigung.

Man sah ihn nie anders als in Soldatenbluse und hohen Stiefeln – im Dienst, bei den Sitzungen des Kollegiums des Volkskommissariats, im Theater; selbst auf der Strandpromenade in Jalta, wohin ihn die Partei zur Kur geschickt hatte. Er wollte in allem Stalin gleichen.

Als er das Recht verloren hatte, über andere zu Gericht zu sitzen, hatte er sich selbst verloren. Und Rubin spürte das. Es verging kaum ein Tag, da er nicht auf die Schwächen, die Feigheit, die armseligen Begierden anspielte, die sich heimtückisch in der Seele des Lagermenschen einnisteten.

Erst vor zwei Tagen musste Abartschuk sich die Bemerkung gefallen lassen: »Barchatow steckt den Ganoven Werkzeug aus dem Magazin zu, aber unser Robespierre schweigt. Die Küken wollen auch leben.«

Als Abartschuk, der gerade einen anderen verurteilen wollte, fühlte, dass gegen ihn selbst Anklage erhoben wurde, da begann er zu schwanken; Verzweiflung ergriff ihn, er verlor seinen inneren Halt.

Abartschuk blieb vor einem Pritschenkreuz stehen, dort unterhielt sich gerade der alte Fürst Dolgoruki mit dem jungen Professor Stepanow, der an einem Wirtschaftsinstitut gelehrt hatte. Stepanow benahm sich im Lager äußerst arrogant. Er weigerte sich aufzustehen, wenn die Lagerleitung die Baracke betrat, und äußerte offen antisowjetische Ansichten. Im Gegensatz zur großen Masse der Politischen rühmte er sich, für eine wirklich begangene Handlung verurteilt worden zu sein. Er hatte eine Schrift mit dem Titel »Der Staat Lenins und Stalins« verfasst und seinen Studenten zum Lesen gegeben. Der dritte oder vierte Leser hatte ihn angezeigt.

Dolgoruki war aus Schweden in die Sowjetunion zurückgekehrt. Zuvor hatte er viele Jahre in Paris gelebt und sich nach seiner Heimat gesehnt. Eine Woche nach seiner Ankunft wurde er verhaftet. Im Lager betete er, war mit Angehörigen religiöser Sekten befreundet und schrieb mystische Gedichte.

Auch jetzt rezitierte er vor Stepanow Verse.

Mit der Schulter an das Bretterkreuz zwischen der unteren und oberen Pritsche gelehnt, lauschte Abartschuk dem Vortrag. Dolgoruki sprach mit halb geschlossenen Augen und zitternden, aufgesprungenen Lippen. Seine schwache Stimme klang ebenfalls brüchig und zitternd:

»Hab ich nicht selbst die Stunde meiner Geburt,

Jahr und Ort, Reich und Volk gewählt,

um durch alle Qualen, alle Taufen

des Gewissens, des Feuers und des Wassers zu gehn?

Ich, in den gähnenden Schlund des apokalyptischen Tiers gestürzt,

tiefer gefallen, als ein Mensch je fiel,

in Verwesung und Gestank – ich glaube!

Ich glaube an die Gerechtigkeit der höchsten Macht,

die die ewigen Elemente entfesselt.

Und aus dem tiefsten Schoß des eingeäscherten Russland rufe ich:

Du hast recht geurteilt!

Denn die feste Masse des Seins

in ihrer ganzen Dichte

muss zu diamantener Weißglut erhitzt werden.

Und fehlte es im Schmelzofen an Scheiten –

o Herr, hier ist mein Leib!«

Das Gedicht war zu Ende, Dolgoruki aber saß noch eine Weile mit halb geschlossenen Augen da, und seine Lippen bewegten sich lautlos weiter.

»Schwachsinn«, meinte Stepanow, »Dekadenz.« Dolgoruki wies mit einer weiten Bewegung seiner bleichen, blutleeren Hand um sich.

»Hier sehen Sie, wohin Tschernyschewski und Herzen den russischen Menschen geführt haben. Erinnern Sie sich daran, was Tschaadajew in seinem dritten philosophischen Brief geschrieben hat?«

Stepanow sagte in schulmeisterlichem Ton: »Mit Ihrem mystischen Obskurantismus sind Sie mir ebenso zuwider wie die Organisatoren dieses Lagers. Sie vergessen beide den dritten und natürlichsten Weg Russlands: den Weg der Demokratie, der Freiheit.«

Abartschuk und Stepanow waren sich mehr als einmal in die Haare geraten. Doch diesmal hatte er keine Lust, sich in den Streit einzumischen, Stepanow als Feind und »inneren Emigranten« zu brandmarken. Er ging weiter, zur Ecke der Baptisten, und hörte zu, wie sie ihre Gebete murmelten.

In diesem Augenblick gellte die Stimme des Barackenältesten Sarokow: »Alles aufstehen!«

Alle sprangen von ihren Plätzen – in der Tür erschien die Lagerleitung. Abartschuk schielte zur Seite, sein Blick fiel auf das lange, bleiche Gesicht des strammstehenden Dolgoruki. Die Lippen des »Todeskandidaten«24 bewegten sich flüsternd. Vielleicht wiederholte er seine Verse. Stepanow neben ihm war sitzen geblieben – wie immer verboten ihm seine anarchistischen Prinzipien, sich den Regeln der Lagerordnung, selbst den vernünftigen, zu unterwerfen.

Ein Raunen lief durch die Reihe der Häftlinge: »Es wird gefilzt!« Aber es gab keine Durchsuchung. Zwei junge Begleitsoldaten in rotblauen Militärkappen schritten die Gänge zwischen den Pritschen entlang und musterten die Insassen. Bei Stepanow blieben sie stehen, und einer der Soldaten sagte: »Du sitzt, Professor? Hast wohl Angst, dir den Hintern zu erkälten?«

Stepanow wandte ihm sein plattnasiges, breites Gesicht zu und schrie mit schriller Papageienstimme den auswendig gelernten Satz: »Bürger Natschalnik,25 ich bitte Sie, mich mit ›Sie‹ anzureden – ich bin ein politischer Häftling!«

In der folgenden Nacht wurde Rubin umgebracht. Der Mörder hatte seinem schlafenden Opfer einen großen Nagel ans Ohr gesetzt und mit einem gewaltigen Schlag ins Gehirn getrieben. Fünf Insassen, darunter Abartschuk, wurden zum Chef des Lagergeheimdienstes befohlen, den offenbar vor allem die Herkunft des Nagels interessierte. Nägel wie dieser waren erst kürzlich eingelagert und von der Produktion noch nicht angefordert worden.

Beim Waschen stellte sich Barchatow neben Abartschuk an eine der Holzrinnen. Während er ihm sein nasses Gesicht zuwandte und sich die Wassertropfen von den Lippen leckte, sagte Barchatow, ohne die Stimme zu erheben: »Vergiss nicht, du Aas, falls es dir einfallen sollte, mich beim ›Chef‹ zu verpfeifen – mir wird nichts passieren, aber dich werde ich noch heute Nacht so zurichten, dass das ganze Lager zittert …«

Er trocknete sich ab, und sein ausdrucksloser, wässriger Blick suchte Arbatschuks Augen. Nachdem er in ihnen gelesen hatte, was er lesen wollte, drückte er Abartschuk die Hand.

In der Kantine schob Abartschuk seinen Napf mit der Maismehlsuppe Neumolimow zu.

Neumolimows Lippen zitterten.

»So eine Bestie! Unseren Abrascha! Was für ein Mensch!«, und er zog den Napf zu sich herüber.

Abartschuk verließ schweigend den Tisch.

Am Ausgang der Kantine wich die Menge vor einem Eintretenden zurück. Es war Perekrest. Er musste sich bücken, als er über die Schwelle schritt, die Deckenhöhe im Lager war nicht für seine Statur berechnet.

»Ich hab heute Geburtstag«, sagte er zu Abartschuk. »Komm und feiere mit uns. Es gibt Wodka.«

Entsetzlich! Dutzende von Männern hatten die nächtliche Abrechnung gehört, hatten den Mann gesehen, der an Rubins Pritsche getreten war.

Was hätte es gekostet, aufzustehen und in der Baracke Alarm zu schlagen? Ein paar hundert Männer hätten den Mörder mit vereinten Kräften binnen zwei Minuten überwältigen und den Kameraden retten können. Aber niemand hob den Kopf, niemand schrie. Ein Mensch wurde wie ein Schaf abgeschlachtet. Die Männer auf den Pritschen stellten sich schlafend, hatten die wattierten Jacken über den Kopf gezogen und bemühten sich, nicht zu husten und nicht zu hören, wie der Sterbende im Todeskampf um sich schlug.

Diese schändliche Niedertracht, diese lammfromme Ergebenheit!

Er hatte ja auch nicht geschlafen, hatte auch geschwiegen und den Kopf unter die wattierte Jacke gesteckt … Er wusste nur allzu gut, dass diese Ergebenheit Gründe hatte, dass sie schlimmer Erfahrung und dem Wissen um die Lagergesetze entsprang. Hätten sie dem Mörder in der Nacht Einhalt geboten, wäre der Mann mit dem Messer doch stärker als ein Mann ohne Messer gewesen. Die Stärke der Baracke lässt sich nur für einen Augenblick bündeln, aber ein Messer ist immer ein Messer.

Abartschuk dachte an das bevorstehende Verhör. Der Chef des Lagergeheimdienstes musste ja Aussagen einholen – er schlief nachts nicht in der Baracke, er wusch sich nicht im Vorraum, im Rücken einen Schlag gewärtig, er ging nicht durch die Grubenstollen, er betrat nicht die Barackenlatrine, wo einem plötzlich ein Sack über den Kopf gestülpt werden konnte.

Ja, ja, er hatte in der Nacht gesehen, wie ein Mann zu dem schlafenden Rubin gegangen war. Er hatte gehört, wie Rubin geröchelt und sterbend mit Armen und Beinen auf der Pritsche um sich geschlagen hatte.

Hauptmann Mischanin, der Chef des Lagergeheimdienstes, ließ Abartschuk zu sich kommen, schloss die Tür und sagte: »Setzen Sie sich.«

Er stellte die ersten Fragen, auf die er von den politischen Gefangenen stets rasche und genaue Antworten erhielt. Dann hob er die müden Augen und schaute Abartschuk sekundenlang an. Er wusste schon, dass der altgediente Gefangene aus Angst vor der unvermeidlichen Abrechnung in der Baracke niemals sagen würde, wie der Nagel in die Hände des Mörders geraten war.

Abartschuk sah ihn ebenfalls an, betrachtete das junge Gesicht des Hauptmanns, sein Haar, seine Augenbrauen, die Sommersprossen auf seiner Nase, und dachte dabei, Mischanin könnte höchstens zwei oder drei Jahre älter sein als Tolja.

Mischanin stellte jetzt die Frage, derentwegen er Abartschuk zu sich befohlen hatte und die schon in drei vorangegangenen Verhören unbeantwortet geblieben war.

Abartschuk schwieg beharrlich.

»Sind Sie taub?«

Wie sehr wünschte er, dass der »Chef« sagen würde – wenn auch nicht ohne Hintergedanken, aber sich damit zumindest an das bei gerichtlichen Untersuchungen übliche Verfahren haltend: »Hör zu, Genosse Abartschuk, du bist doch Kommunist. Heute sitzt du im Lager, aber morgen werden wir beide, du und ich, wieder in derselben Organisation unsere Mitgliedsbeiträge zahlen. Hilf mir wie ein Genosse dem anderen, wie ein Parteimitglied.«

Stattdessen sagte Hauptmann Mischanin: »Sind Sie eingeschlafen? Dann werde ich Sie gleich wecken.« Aber es war nicht nötig, Abartschuk zu wecken.

Mit heiserer Stimme antwortete er: »Die Nägel hat Barchatow aus dem Magazin gestohlen. Vor kurzem hat er sich auch drei Feilen geholt. Den Mord hat meiner Ansicht nach Nikolai Ugarow begangen. Ich weiß, dass Barchatow ihm den Nagel zugesteckt hat. Ugarow hat Rubin einige Male gedroht, ihn umzubringen. Und gestern hat er es ihm geschworen. Weil Rubin seine Krankmeldung nicht unterschreiben wollte.«

Er nahm die Zigarette, die der Hauptmann ihm anbot, und fügte hinzu: »Ich halte es für meine Pflicht als Parteimitglied, Sie davon in Kenntnis zu setzen, Genosse Bevollmächtigter. Genosse Rubin war ein altes Parteimitglied.«

Hauptmann Mischanin gab Abartschuk Feuer und begann zu schreiben, schnell, ohne zu sprechen. Dann sagte er mit sanfter Stimme: »Sie sollten wissen, Häftling, dass es Ihnen nicht zusteht, von Parteimitgliedschaft zu sprechen. Die Anrede Genosse ist Ihnen untersagt. Für Sie bin ich Bürger Natschalnik.«

»Verzeihung, Bürger Natschalnik.«

»Warten Sie ein paar Tage, bis ich die Untersuchung abgeschlossen habe, man wird dann für Sie hier eine Regelung finden. Später … Sie wissen ja, wir können Sie in ein anderes Lager verlegen …«

»Nein, ich habe keine Angst, Bürger Natschalnik«, sagte Abartschuk.

Auf dem Rückweg zum Magazin sagte sich Abartschuk, dass Barchatow ihm keine Fragen stellen würde. Er würde Abartschuk unverwandt ansehen, jede seiner Bewegungen mit den Augen verfolgen, hüsteln – bis er die Wahrheit aus ihm herausgebracht hatte.

Abartschuk war glücklich – er hatte sich selbst besiegt.

Er hatte das Recht, über andere zu richten, wiedererworben. Und er dachte an Rubin und bedauerte, dass er ihm jetzt nicht mehr sein schlechtes Urteil über ihn sagen konnte.

Drei Tage vergingen. Magar kam nicht. Abartschuk erkundigte sich bei der Grubenverwaltung nach ihm. Auf keiner ihrer Listen fanden die Kanzleischreiber Magars Namen.

Am selben Abend, als Abartschuk schon nicht mehr bezweifelte, dass das Schicksal sie wieder auseinandergeführt hatte, kam, wie vom Schneesturm hereingeweht, der Sanitäter Trjufelew zu ihm in die Baracke.

»Hören Sie«, sagte er, während er sich das Eis von den Augenlidern wischte, »man hat uns in der Krankenbaracke einen Häftling eingewiesen, der mich gebeten hat, Sie zu ihm zu schicken.«

Vertraulich fügte Trjufelew hinzu: »Das Beste ist, du kommst gleich mit, bitte den Barackenältesten um Erlaubnis – du weißt ja, die Häftlinge bei uns haben kein politisches Bewusstsein, ehe du dichs versiehst, hat sich dein Mann schon ins Leichentuch gehüllt. Du musst versuchen, erzieherisch auf ihn einzuwirken.«

41

Der Sanitäter führte Abartschuk zum Vorraum der Krankenabteilung. Hier herrschte ein anderer Gestank als in den Schlafbaracken. Sie gingen im Halbdunkel an aufgestapelten hölzernen Tragen vorbei und an alten Wattedecken, die zu Ballen zusammengebunden waren und offenbar desinfiziert werden sollten.

Magar lag im Isolierzimmer, einer engen Kammer mit Wänden aus rohen, zusammengenagelten Baumstämmen, in der zwei Eisenbetten eng nebeneinanderstanden. Ins Isolierzimmer wurden gewöhnlich Häftlinge mit ansteckenden Krankheiten oder Sterbende gelegt. Die dünnen Bettfüße schienen aus Draht gefertigt, waren aber nicht verbogen, denn Kranke mit normalem Gewicht lagen nie in diesen Betten.

»Hierher, hierher, weiter rechts!« Die Stimme war Abartschuk so vertraut, dass er mit einem Schlag vergaß, wo er sich befand. Jetzt war es für ihn wieder wie einst, und es gab nur noch das, was sein Leben ausmachte und wofür er bereit war, sich zu opfern.

Er sah Magar aufmerksam ins Gesicht und brachte vor Erregung immer nur heraus: »Guten Tag … guten Tag … guten Tag …«

Aus Furcht, seiner eigenen Erregung nicht Herr zu werden, antwortete Magar betont trocken: »Setz dich doch. Setz dich mir gegenüber auf das Bett.«

Er erkannte den Blick, den Abartschuk auf das andere Bett warf, und fügte hinzu: »Du störst ihn nicht. Den stört niemand mehr.«

Abartschuk beugte sich über ihn, um das Gesicht seines Kameraden besser zu sehen. Dann blickte er sich wieder zu dem abgedeckten Toten um.

»Ist er schon lange …?«

»Vor zwei Stunden. Die Wärter lassen ihn vorläufig in Ruhe. Sie warten auf den Arzt. Für uns nur gut, denn wenn erst einmal der Nächste dort liegt, können wir kein Wort miteinander reden.«

»Das ist wahr«, sagte Abartschuk. Er scheute sich, ihn nach jenen Dingen zu fragen, die ihn leidenschaftlich interessierten: Bist du zusammen mit Bubnow abgeurteilt worden oder im Sokolnikow-Prozess? Wie viele Jahre hat man dir gegeben? In welchem Politisolator26 warst du – in Wladimir oder in Susdal? Sondergericht oder Kriegsgericht? Hast du dich selbst bezichtigt?

Er blickte wieder auf den zugedeckten Körper und fragte: »Und wer ist er, woran ist er gestorben?«

»Am Lager … Ein Entkulakisierter. Hat nach einer Nastja gerufen. Wollte immerfort irgendwohin …«

Allmählich konnte Abartschuk im Halbdunkel Magars Gesichtszüge deutlicher sehen. Nein, er hätte ihn nicht wiedererkannt. Wie hatte er glauben können, ihn unverändert zu finden – vor ihm lag ein Greis im Sterben.

Im Rücken spürte er die Berührung des steifen, abgewinkelten Arms des Toten, er fühlte Magars Blick auf sich ruhen und dachte: »Du denkst wahrscheinlich auch: ›Nie im Leben hätte ich dich wiedererkannt.‹«

Magar sagte: »Jetzt verstehe ich erst – er hat immerfort etwas gemurmelt, es klang wie ›wa… wa… wa…‹. Er wollte Wasser haben. Der Becher stand neben ihm … Hätte ich doch wenigstens seinen letzten Wunsch erfüllt!«

»Siehst du, auch der Tote mischt sich in unser Gespräch ein.«

»Versteht sich«, sagte Magar, und Abartschuk hörte den vertrauten Tonfall, der ihn stets so bewegte. So pflegte Magar ein ernstes Gespräch einzuleiten. »Versteht sich – wir sprechen von ihm und meinen doch im Grunde uns.«

»Nein, nein!« Abartschuk ergriff Magars heiße Hand, drückte sie heftig, legte die Arme um Magars Schultern, und sein ganzer Körper wurde von lautlosem, ersticktem Schluchzen geschüttelt.

»Ich danke dir«, stammelte er, »ich danke dir … Danke, Genosse, mein Freund …«

Sie schwiegen bewegt. Ihr keuchender Atem vermischte sich, und Abartschuk hatte das Gefühl, dass nicht nur ihr Atem eins wurde.

Magar sprach als Erster.

»Hör mich an«, sagte er, »hör mich an, Freund, es ist das letzte Mal, dass ich dich so nenne.«

»Unsinn, du wirst weiterleben!«

Magar richtete sich im Bett auf.

»Ich schrecke davor zurück wie vor der Folter, aber ich muss es sagen. Auch du hör gut zu«, wandte er sich an den Toten. »Es geht dich an und deine Nastja. Dies ist meine letzte Pflicht als Revolutionär, und ich werde sie erfüllen! Du, Genosse Abartschuk, bist ein außergewöhnlicher Mensch. So wie die Zeit, in der wir uns begegnet sind, eine außergewöhnliche Zeit war – ich glaube, unsere beste. Und jetzt sage ich dir – wir haben uns geirrt. Unser Irrtum, siehst du, hat uns hierhergeführt. Und hier müssen wir den Toten beide, du und ich, um Verzeihung bitten … Gib mir was zu rauchen. Aber was nützt schon die Reue? Das hier kann keine Reue wiedergutmachen. Das wollte ich dir sagen. Erstens. Und zweitens: Wir haben nicht verstanden, was Freiheit ist. Wir haben sie zertreten. Auch Marx wollte nichts von ihr wissen, aber sie ist das Fundament, das allem Sinn gibt. Ohne Freiheit gibt es keine proletarische Revolution. Das also zweitens. Und jetzt hör zu, drittens: Wir sagen, wir gehen durch Lager, durch die Taiga, aber unser Glaube ist stärker als alles. Doch was wir meinen, ist nicht Stärke, das ist Schwäche, Selbsterhaltungstrieb. Draußen, jenseits des Stacheldrahts, befiehlt der Selbsterhaltungstrieb dem Menschen, sich zu ändern, wenn er nicht zugrunde gehen, nicht ins Lager kommen will – und so haben sich die Kommunisten ein Götzenbild gemacht, haben Achselstücke auf ihre Uniformen genäht, predigen den Nationalismus, und wenn es sein muss, werden sie bis zum Geist der Schwarzen Hundertschaft27 herabsinken … Hier aber, im Lager, befiehlt ihnen derselbe Instinkt, sich nicht zu ändern – wenn du dich nicht selbst ins Leichentuch hüllen willst, darfst du dich in Lagerjahrzehnten nicht ändern, das ist die Rettung … Zwei Seiten ein und derselben Medaille …«

»Hör auf!«, schrie Abartschuk, sprang auf und hielt Magar seine geballte Faust vors Gesicht. »Sie haben dich kaputt gemacht! Du hast kapituliert! Was du sagst, ist Lüge, Fieberwahn.«

»Schön wäre es, aber ich bin ganz klar. Ich rufe dich ja wieder! Wie vor zwanzig Jahren! Wenn wir nicht als Revolutionäre leben können, lass uns lieber sterben, so zu leben ist schlimmer.«

»Aus, genug!«

»Verzeih mir. Ich verstehe. Ich bin wie eine alte Hetäre, die um ihre verlorene Tugend weint. Doch ich sage dir: Denk dran! Verzeih mir, lieber Freund …«

»Verzeihen? Besser wär’s, ich, du, wir lägen nun so da wie dieser Tote und hätten unser Wiedersehen nicht mehr erlebt …«

Schon in der Tür, sagte Abartschuk: »Ich komme wieder … Werde dir den Kopf schon zurechtrücken … Ab nun bin ich dein Lehrer.«

Am nächsten Morgen begegnete Abartschuk auf dem Lagerplatz dem Sanitäter Trjufelew. Er zog einen Schlitten mit einer fest angebundenen Milchkanne hinter sich her. Es war merkwürdig, jenseits des Polarkreises Schweiß auf dem Gesicht eines Menschen zu sehen.

»Dein Freund braucht keine Milch mehr«, sagte er. »Hat sich heute Nacht erhängt.«

Es ist immer angenehm, einen anderen mit einer Neuigkeit zu überraschen, und der Sanitäter betrachtete Abartschuk mit gutmütigem Triumph.

»Hat er einen Brief hinterlassen?«, fragte Abartschuk und zog die eisige Luft ein. Er war sicher, dass ihm Magar ein paar Zeilen zurückgelassen hatte: Das gestern war eine zufällige Anwandlung gewesen.

»Wozu ein Brief? Was immer du schreibst, es kommt zum ›Chef‹.«

Diese Nacht war die schwerste in Abartschuks Leben. Er lag reglos da, die Zähne zusammengebissen, und starrte mit weit geöffneten Augen auf die von zerquetschten Wanzen fleckige Wand.

Er sprach mit dem Sohn, dem er einst seinen Namen verweigert hatte, er rief ihn: »Du bist jetzt das Einzige, was ich habe, du allein bist meine Hoffnung. Siehst du, mein Freund, der Lehrer Magar, wollte meinen Verstand, meinen Willen vernichten – und hat sich selbst vernichtet. Tolja, Tolja, mein Einziges, mein Einziges auf der ganzen Welt. Siehst du mich? Hörst du mich? Wirst du jemals erfahren, dass dein Vater in dieser Nacht aufrecht und ungebrochen geblieben ist?«

Um ihn herum aber schlief das Lager – schwer, laut, abstoßend, in schwerer, stickiger Luft, es war ein Schnarchen und Stammeln, ein Wimmern im Schlaf, Zähneknirschen, langes Stöhnen, ab und zu ertönte ein Aufschrei …

Plötzlich richtete sich Abartschuk auf der Pritsche auf. Es war ihm, als regte sich neben ihm ein flinker, lautloser Schatten.

42

Gegen Ende des Sommers 1942 hatten die Truppen der im Kaukasus operierenden Heeresgruppe Kleist das erste sowjetische Ölfeld nahe Maikop eingenommen. Die deutschen Truppen standen am Nordkap und auf Kreta, in Nordfinnland und am Ärmelkanal. Feldmarschall Erwin Rommel, der Soldat in der Sonne, stand achtzig Kilometer vor Alexandria. Auf dem Gipfel des Elbrus hissten Gebirgsjäger das Hakenkreuzbanner. Manstein hatte den Befehl erhalten, gigantische Kanonen und Werfer – die neue Raketen-Artillerie – auf Leningrad, die Zitadelle des Bolschewismus, zu richten. Der Skeptiker Mussolini entwickelte einen Angriffsplan auf Kairo und trainierte das Reiten auf einem Araberhengst. Der Soldat im Schnee, Dietl, stand in nördlichen Breiten, bis zu denen noch kein europäischer Eroberer vorgedrungen war. Paris, Wien, Prag und Brüssel waren zu deutschen Provinzstädten geworden.

Die Zeit war gekommen für die Verwirklichung der grausamsten Pläne des Nationalsozialismus, gerichtet gegen den Menschen, gegen sein Leben und seine Freiheit. Die Führer des Faschismus lügen, wenn sie behaupten, dass sie nur die Kampfanstrengungen dazu zwingen, so grausam zu sein. Im Gegenteil, die Gefahr ernüchtert sie, die Ungewissheit über ihre Stärke zwingt sie zur Zurückhaltung.

Die Welt wird an jenem Tag in Blut ertrinken, an dem der Faschismus sich seines endgültigen Triumphes völlig sicher sein wird. Hat der Faschismus einmal keine bewaffneten Feinde mehr auf der Welt, dann werden seine Henker, die Kinder, Frauen und Greise töten, völlig das Maß verlieren. Der Hauptfeind des Faschismus bleibt der Mensch.

Im Herbst 1942 verabschiedete die Reichsregierung eine Reihe besonders grausamer und unmenschlicher Gesetze.

Insbesondere wurden am 12. September 1942, auf dem Gipfel der militärischen Erfolge des Nationalsozialismus, die in Europa ansässigen Juden jeglicher Rechtsprechung durch Gerichte enthoben und der Gestapo ausgeliefert.

Die Parteiführung und Adolf Hitler persönlich fällten die Entscheidung zur gänzlichen Vernichtung der jüdischen Nation.

43

Sofja Ossipowna Lewinton dachte manchmal an früher – fünf Jahre an der Universität Zürich, Sommerreisen nach Paris und Italien, Konzerte im Konservatorium und Expeditionen in die Gebirgsregionen Zentralasiens, die Arzttätigkeit, die sie zweiunddreißig Jahre lang ausgeübt hatte, ihre Lieblingsspeisen, ihre Freunde, deren Leben mit schweren und heiteren Tagen in ihr Leben eingeflochten waren, die gewohnten Telefongespräche, die vertrauten, kleinen Redewendungen: »Grüß dich … bis bald …«, die Gesellschaftsspiele und Dinge, die in ihrem Moskauer Zimmer zurückgeblieben waren.

Sie erinnerte sich an die Monate in Stalingrad – an Alexandra Wladimirowna, Genia, Serjoscha, Vera, Marussja. Je näher ihr die Menschen gestanden hatten, desto weiter schienen sie sich nun von ihr entfernt zu haben.

Einmal gegen Abend im verschlossenen Güterwaggon des Massentransports, der auf dem Reservegleis irgendeines Knotenpunkts in der Nähe von Kiew stand, hatte sie Läuse im Kragen ihrer Feldbluse gesucht; neben ihr sprachen zwei ältere Frauen hastig und leise jiddisch miteinander. Da erst war ihr schlagartig bewusst geworden, dass all dies gerade mit ihr – Sonjetschka, Sonka, Sofja, Sofja Ossipowna Lewinton, Militärärztin im Majorsrang – geschah.

Die größte Veränderung in den Menschen bestand darin, dass ihr Gefühl für die eigene besondere Wesensart und Persönlichkeit immer schwächer, das Gefühl für das Schicksalhafte dagegen immer stärker wurde.

»Wer ist denn das nun wirklich, dieses Ich – ich, ich?«, dachte Sofja Ossipowna. »Der rotznäsige Knirps, der vor Vater und Großmutter Angst hatte, oder die herrische, etwas füllige Frau mit den Rangabzeichen auf den Kragenspiegeln oder jetzt diese verlauste Elendsgestalt?«

Der Wunsch nach Glück war vergangen; an seine Stelle jedoch waren viele andere kleine Träume getreten: die Läuse totschlagen … sich zum Spalt vorarbeiten und ein bisschen frische Luft schnappen … zu urinieren … wenigstens einen Fuß zu waschen … und der im ganzen Körper brennende Wunsch – zu trinken.

Man hatte sie in den Waggon gestoßen, und sie hatte, als sie sich im Halbdunkel umblickte, das ihr zuerst wie völlige Finsternis erschienen war, leises Lachen gehört.

»Lachen hier etwa Wahnsinnige?«, hatte sie gefragt.

»Nein«, hatte eine männliche Stimme geantwortet. »Hier erzählt man sich einen Witz.«

Jemand hatte melancholisch gemeint: »Noch eine Jüdin in unserem Unglückszug.«

Sofja Ossipowna war an der Tür stehen geblieben und hatte versucht, sich mit zusammengekniffenen Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen; währenddessen beantwortete sie Fragen.

Zugleich mit dem Weinen und Stöhnen, mit dem üblen Gestank, atmete sie plötzlich eine Atmosphäre, die getränkt war mit längst vergessenen Wörtern, Intonationen, die sie seit ihrer Kindheit nicht mehr vernommen hatte.

Sofja Ossipowna wollte ins Innere des Waggons vordringen, doch sie schaffte es nicht. Sie ertastete in der Dunkelheit ein mageres Bein in kurzen Hosen und sagte: »Entschuldige, Junge, habe ich dir wehgetan?«

Doch der Junge gab ihr keine Antwort. Sofja Ossipowna sagte in die Dunkelheit hinein: »Mamascha, vielleicht könnten Sie Ihren stummen jungen Mann da etwas zur Seite rücken? Ich kann doch nicht die ganze Zeit stehen bleiben.«

Aus einer Ecke rief eine hysterische männliche Schauspielerstimme: »Sie hätten vorher ein Telegramm aufgeben sollen, dann hätte man Ihnen ein Zimmer mit Bad hergerichtet.«

»Idiot«, konterte Sofja Ossipowna.

Eine Frau, deren Gesicht sie im Halbdunkel bereits unterscheiden konnte, meinte: »Setzen Sie sich neben mich, bei mir ist jede Menge Platz.«

Sofja Ossipowna merkte, dass ihre Finger rasch und kaum wahrnehmbar zitterten.

Dies war die Welt, die ihr aus der Kindheit vertraut war, die Welt des jüdischen Schtetl. Aber sie spürte, wie sich in dieser Welt alles verändert hatte.

Unter den Waggoninsassen waren Handwerker, ein Radiomonteur, Studentinnen der Lehrerbildungsanstalt, Lehrer der Gewerkschaftsschule, ein Ingenieur aus einer Konservenfabrik, ein Zootechniker, eine junge Tierärztin. Früher hatte man im Schtetl solche Berufe nicht gekannt. Aber hatte sich denn Sofja Ossipowna etwa nicht verändert, die Sofja, die einmal ihren Vater und ihre Großmutter gefürchtet hatte? Vielleicht war diese neue Welt ebenso unveränderlich wie die frühere. Und überhaupt, war nicht alles egal? Ob neu oder alt, das jüdische Schtetl rollte nun unaufhaltsam dem Abgrund zu.

Sie hörte, wie eine junge Frauenstimme sagte: »Die Deutschen von heute, das sind Wilde, die haben nicht einmal von Heinrich Heine etwas gehört.«

Aus einer anderen Ecke versetzte eine Männerstimme spöttisch: »Aber letzten Endes sind wir es, die von diesen Wilden wie Vieh befördert werden. Was hilft uns da schon dieser Heine?«

Sie fragten Sofja Ossipowna über die Lage an den Fronten aus; da sie aber nichts Gutes zu berichten hatte, erklärten sie ihr, dass ihre Auskünfte nicht stimmten, und sie begriff, dass es in dem Kälberwaggon eine eigene Strategie gab, die sich auf einen leidenschaftlichen Überlebenswillen gründete.

»Wissen Sie denn nicht, dass Hitler das Ultimatum bekommen hat, alle Juden unverzüglich freizulassen?«

Ja, natürlich, so war es. Das absurde Opium des Optimismus kommt den Menschen zu Hilfe, wenn das schneidende Gefühl des Entsetzens an die Stelle resignierter Verzweiflung tritt.

Bald interessierte sich niemand mehr für Sofja Ossipowna; sie wurde zur Weggenossin, die nicht wusste, wohin man sie verfrachtete, genauso wie alle Übrigen. Nach ihrem Vor- und Vatersnamen fragte niemand, ihren Familiennamen behielt auch niemand.

Sofja Ossipowna staunte. Wenige Tage hatten genügt, um den umgekehrten Weg vom Menschen zum schmutzigen, unglücklichen, des Namens und der Freiheit beraubten Vieh zurückzulegen, während doch der Weg zum Menschen Millionen Jahre gedauert hatte.

Sie war verblüfft, dass sich die Menschen in dem unfassbar großen Unglück, das sie heimgesucht hatte, weiter über Kleinigkeiten des täglichen Lebens aufregten und sich wegen Nichtigkeiten in die Haare gerieten.

Eine ältere Frau flüsterte ihr zu: »Gucken Sie mal, Frau Doktor, die vornehme Dame da, die sitzt am Spalt, als würde nur ihr Kind Sauerstoff brauchen. Die Dame fährt in den Kurort.«

In der Nacht hielt der Zug zweimal an; alle lauschten auf die knirschenden Schritte der Wachsoldaten und schnappten undeutliche russische und deutsche Brocken auf.

Schrecklich war die Sprache Goethes, wenn man sie in der Nacht auf kleinen russischen Bahnhöfen hörte, doch noch unheilvoller klang die eigene russische Muttersprache, gesprochen von Leuten, die in der deutschen Wachmannschaft dienten.

Wie all ihre anderen Gefährten litt Sofja Ossipowna gegen Morgen unter Hunger und träumte von einem Schluck Wasser.

Es war ein schüchterner, bescheidener Traum – sie stellte sich eine zerbeulte Konservenbüchse vor, auf deren Grund etwas warme Brühe schwamm. Sie kratzte sich mit raschen, kurzen Bewegungen wie ein Hund, der Flöhe hat.

Jetzt, so schien es Sofja Ossipowna, hatte sie den Unterschied zwischen Leben und Existieren begriffen. Das Leben hatte aufgehört, war abgebrochen, aber die Existenz dauerte an, ging weiter. Und war diese Existenz auch erbärmlich, so war sie doch bei dem Gedanken an einen gewaltsamen Tod vor Angst wie gelähmt.

Es regnete, ein paar Tropfen spritzten durch das vergitterte Fensterchen herein. Sofja Ossipowna riss von einem Zipfel ihrer Bluse einen dünnen Streifen ab, hielt ihn an die Stelle der Waggonwand, wo es einen kleinen Spalt gab, steckte das Stoffstückchen hindurch und wartete, bis der Fetzen von der Regenfeuchtigkeit durchtränkt war. Dann zog sie ihn durch den Spalt zurück und begann, an dem kühlen, feuchten Lappen zu kauen. Die Leute an den Außenwänden und in den Waggonecken fingen ebenfalls an, Fetzen abzureißen, und Sofja Ossipowna empfand Stolz – sie hatte eine Methode erfunden, den Regen einzufangen.

Der Junge, den Sofja Ossipowna angerempelt hatte, saß nicht weit von ihr und beobachtete, wie die Leute kleine Läppchen durch den Spalt zwischen Tür und Boden ins Freie hielten. Im Dämmerlicht erblickte sie sein mageres, spitznasiges Gesicht. Er war wohl sechs Jahre alt. Sofja Ossipowna überlegte, dass während der ganzen Zeit, die sie schon in diesem Waggon verbrachte, niemand mit diesem Jungen geredet hatte, er saß immer nur regungslos da und sprach mit keinem einzigen Menschen auch nur ein Wort. Sie reichte ihm den feuchten Lappen hin und sagte: »Nimm, Kleiner.«

Er schwieg.

»So nimm schon«, sagte sie; er streckte zögernd die Hand aus.

»Wie heißt du?«, fragte sie.

Leise antwortete er: »David.«

Ihre Nachbarin, Mussja Borissowna, erzählte, dass David aus Moskau zur Großmutter zu Besuch gekommen war und der Krieg ihn von der Mutter abgeschnitten hatte. Die Großmutter war im Ghetto umgekommen, und die Verwandte von David, Rebekka Buchman, die mit ihrem kranken Mann im Waggon mitfuhr, gestattete dem Jungen nicht einmal, neben ihr zu sitzen.

Als es Abend wurde, hatte Sofja Ossipowna viele Gespräche, Erzählungen und Streitereien mit angehört und hatte selbst geredet und gestritten. Sie wandte sich an ihre Gesprächspartner mit einem »Brider Jidden, hört mich mal an …«

Viele erwarteten hoffnungsvoll das Ende der Fahrt, glaubten, dass man sie in Lager brachte, wo jeder in seinem Beruf arbeiten würde und die Kranken in Sonderbaracken kämen. Alle sprachen beinahe ununterbrochen darüber. Doch während dieser ganzen Zeit verließ sie niemals das heimliche Grauen, das tief in ihren Seelen saß.

Sofja Ossipowna erfuhr aus den Geschichten, die man sich erzählte, dass der Mensch nicht nur von Menschlichkeit beseelt ist. Man berichtete ihr von einer Frau, die ihre gelähmte Schwester in einen Trog gesetzt und im Winter ins Freie geschleppt hatte und sie so hatte erfrieren lassen. Man erzählte ihr, dass es Mütter gegeben habe, die ihre Kinder umgebracht hätten, und dass im Waggon eine solche Frau sitze, und man erzählte ihr von Menschen, die wie Ratten heimlich monatelang in Kanalisationsröhren gelebt und sich von Unrat ernährt hätten, zu allen Entbehrungen bereit, nur um zu überleben.

Das Leben der Juden unter dem Faschismus war grauenhaft, doch die Juden waren weder Heilige noch Bösewichte – sie waren Menschen.

Das Mitleid, das Sofja Ossipowna für sie empfand, wurde besonders stark in ihrem Herzen, wenn sie den kleinen David betrachtete.

Meistens saß der kleine Junge unbeweglich und schweigend da. Manchmal zog er eine zerdrückte Streichholzschachtel aus der Tasche, warf einen Blick hinein und ließ das Schächtelchen wieder in seiner Tasche verschwinden.

Sofja Ossipowna hatte schon mehrere Nächte hindurch kein Auge zugemacht, sie hatte kein Bedürfnis nach Schlaf verspürt. Und auch in dieser Nacht saß sie in der stinkenden Dunkelheit schlaflos da. »Wo mag jetzt wohl Genia Schaposchnikowa sein?«, fragte sie sich plötzlich. Sie hörte Gemurmel, hörte Aufschreie und dachte, dass in den Köpfen der unglücklichen Schläfer jetzt mit furchtbarer Intensität Bilder aufschienen, die mit Worten nicht mehr zu beschreiben waren. Wie sollte man sie, diese Bilder, bewahren, wie sich daran erinnern, wenn der Mensch auf Erden überlebte und einmal von dem erfahren wollte, was geschehen war?

»Slata! Slata!«, rief eine schluchzende Männerstimme.

44

In Naum Rosenbergs vierzigjährigem Gehirn wird die gewohnte Buchhalterarbeit geleistet. Er geht die Straße entlang und rechnet: Vorgestern waren es einhundertzehn, gestern einundsechzig, dazu kommen sechshundertzwölf aus den fünf Tagen vorher, macht siebenhundertdreiundachtzig … Schade, dass er Männer, Frauen und Kinder nicht getrennt gezählt hat … Frauen verbrennen leichter. Ein erfahrener Brenner stapelt die Leichen so, dass die knochigen, viel Asche produzierenden Greise neben den Leichen von Frauen zu liegen kommen. Gleich würde das Kommando – »Runter von der Straße!« – erklingen; so hatten sie im Jahr zuvor die Menschen herumkommandiert, die sie jetzt ausgruben und mit an Seilen befestigten Haken aus den Massengräbern herauszerrten. Ein erfahrener Brenner erkennt an einem noch nicht aufgegrabenen Hügel, wie viele Leichen in der Grube liegen – fünfzig, hundert, zweihundert, sechshundert, tausend … Scharführer Elf verlangt, dass die Leichen Figuren genannt werden – hundert Figuren, zweihundert Figuren –, aber Rosenberg nennt sie Menschen: ein getöteter Mann, ein hingerichtetes Kind, ein hingerichteter Greis. Er nennt sie im Stillen so, sonst würde ihm der Scharführer neun Gramm Metall verpassen, aber er murmelt starrsinnig: Jetzt kommst du aus der Grube, du hingerichteter Mann … klammere dich nicht an deine Mama, Kind, ihr bleibt ja beisammen … »Was murmelst du denn da?« … »Ich? Nichts. Das scheint Ihnen nur so.« Und er murmelt weiter, kämpft seinen kleinen Kampf. Vorgestern hatten sie eine Grube, in der acht Menschen lagen. Der Scharführer schrie: »Das ist der reine Hohn, eine Mannschaft von zwanzig Brennern verbrennt acht Figuren.« Er hat ja recht, aber was hilft es, wenn in dem Dörfchen nur zwei jüdische Familien gelebt haben. Befehl ist Befehl: Alle Gräber aufgraben und alle Leichen verbrennen … Jetzt sind sie von der Straße abgebogen, gehen durchs Gras, und da liegt zum einhundertfünfzehnten Mal ein grauer Hügel auf einer grünen Waldwiese – ein Grab. Acht graben, vier fällen Eichenstämme und zersägen sie in Scheite von der Länge eines menschlichen Körpers, zwei spalten sie mit Beilen und Keilen, zwei tragen von der Straße trockene alte Bretter, Anheizmaterial und Benzinkanister heran, vier bereiten den Platz für das Feuer vor, graben eine Rinne für das Zugloch – mal überlegen, woher der Wind weht.

Auf einmal ist der modrige Waldgeruch weg, der Posten lacht, flucht, rümpft die Nase, der Scharführer spuckt aus und geht an den Waldrand. Die Brenner werfen die Schaufeln weg, greifen zu den Stangen, die am Ende mit einem Haken versehen sind, und binden sich Lappen vor Mund und Nase … Guten Tag, Großväterchen, Sie müssen noch mal die Sonne erblicken, wie schwer Sie sind … Eine tote Mutter und drei Kinder – zwei Jungen, einer schon ein Schulkind, das Mädchen Jahrgang neununddreißig; es war rachitisch – macht nichts, jetzt lebt es nicht mehr … Halt dich doch nicht so an der Mama fest, Kind, sie läuft dir schon nicht davon …

»Wie viele Figuren?«, schreit der Scharführer vom Waldrand herüber. »Neunzehn«, und leise für sich: »ermordete Menschen.« Alle fluchen – Mittag ist schon vorbei. Dafür haben sie in der vorigen Woche ein Grab aufgemacht – zweihundert Frauen, alles junge. Als sie die oberste Erdschicht weggenommen hatten, hing über dem Grab grauer Dampf, und der Posten hatte gelacht: »Heiße Weiber!« Über die Rinnen, durch die die Luft zieht, stapeln sie das Brennholz, darauf kommen die Eichenscheite – sie ergeben Kohle mit hohem Heizwert – darauf die toten Frauen, darauf Brennholz, darauf die toten Männer, darauf wieder Brennholz, darauf lose Leichenteile, dann ein Kanister Benzin darüber, dann mitten hinein eine Fliegerbrandbombe, dann kommandiert der Scharführer, und der Posten lächelt im Voraus – die Brenner singen im Chor. Der Scheiterhaufen brennt! Dann schaffen sie die Asche in die Grube. Wieder Stille. Es war still und ist wieder still geworden. Dann werden sie in den Wald geführt, sie erblicken keinen Hügel im Grün. Der Scharführer befiehlt, eine Grube zu graben – vier mal zwei; alle haben es kapiert; sie haben ihr Soll erfüllt: neunundachtzig Dörfer plus achtzehn Flecken plus vier Siedlungen plus zwei Bezirkskleinstädte plus drei Sowchosen, zwei getreide- und eine milchproduzierende, macht insgesamt einhundertsechzehn Ortschaften, einhundertsechzehn Hügel haben die Brenner aufgegraben … Während der Buchhalter Rosenberg die Grube für sich und die anderen Brenner ausschaufelt, rechnet er zusammen: Letzte Woche siebenhundertdreiundachtzig verbrannte Leichen, davor in drei Dekaden eine Summe von viertausendachthundertsechsundzwanzig verbrannten Leichen, das macht eine Gesamtsumme von fünftausendsechshundertundneun verbrannten Leichen. Er rechnet und rechnet, und dabei vergeht unmerklich die Zeit; er ermittelt die durchschnittliche Anzahl Figuren, nein, nicht Figuren, Anzahl von menschlichen Körpern – fünftausendsechshundertundneun geteilt durch die Zahl der Gräber, einhundertsechzehn – macht achtundvierzig Komma fünfunddreißig menschliche Körper im Massengrab; abgerundet ergibt das einen Schnitt von achtundvierzig Leichen pro Grab. Wenn man berücksichtigt, dass zwanzig Brenner siebenunddreißig Tage lang gearbeitet haben, dann kommen auf einen Brenner … »Antreten!«, schreit der Wachsoldat, und Scharführer Elf kommandiert mit kräftiger Stimme: »In die Grube, Marsch!« Aber er will nicht ins Grab. Er rennt, fällt hin, rennt wieder, rennt unbeholfen und langsam, der Buchhalter kann nicht rennen, doch sie haben ihn nicht umbringen können, und er liegt im Wald auf dem Gras, in der Stille, und denkt nicht an den Himmel über sich, auch nicht an Slatotschka, die sie ermordet haben, als sie im sechsten Monat schwanger war, er liegt da und rechnet aus, was er in der Grube nicht hatte zu Ende rechnen können: zwanzig Brenner, siebenunddreißig Tage, Brennertage insgesamt … das wäre das eine, zum Zweiten – wie viele Kubikmeter Brennholz pro Kopf, zum Dritten – wie viele Stunden Verbrennungsdauer pro Körper im Schnitt, wie viele …

Nach einer Woche griffen ihn Polizisten auf und brachten ihn ins Ghetto.

Und jetzt hier, im Waggon, murmelt er die ganze Zeit, rechnet, dividiert, multipliziert. Die Jahresabrechnung! Er muss sie Buchman, dem Hauptbuchhalter der Staatsbank, übergeben. Und plötzlich nachts, im Schlaf, steigen ihm heiße Tränen in die Augen, spülen den Schorf fort, der ihm Gehirn und Herz bedeckt hat.

»Slata! Slata!«, ruft er.

45

Das Fenster ihres Zimmers ging auf den Stacheldrahtzaun hinaus, der das Ghetto umgab. Eines Nachts erwachte die Bibliothekarin Mussja Borissowna, lüftete einen Zipfel ihres Vorhangs und sah, wie zwei Soldaten ein Maschinengewehr schleppten; auf seinem polierten Gehäuse blinkten blaue Flecken vom Mondlicht, die Brillengläser des vorangehenden Offiziers blitzten. Sie hörte leises Motorendröhnen. Die Fahrzeuge näherten sich dem Ghetto mit ausgeschalteten Scheinwerfern, und der schwere, nächtliche Staub, der sich um ihre Räder ballte, schimmerte silbern – sie schwebten, Gottheiten gleich, auf Wolken heran.

In diesen stillen, mondbeglänzten Minuten, als Unterabteilungen der SS und des SD, ukrainische Polizeieinheiten, Hilfstruppen und eine Autokolonne der Reserve der Reichssicherheitskontrolle auf die Tore des schlafenden Ghettos zurollten, ermaß die Frau das Verhängnis des zwanzigsten Jahrhunderts.

Das Mondlicht, die gemessene, erhabene Bewegung der bewaffneten Einheiten, die mächtigen schwarzen Lastwagen, das ängstliche Ticken der Pendeluhr an der Wand, die auf dem Stuhl erstarrten Kleider – Kopftuch, Leibchen und Strümpfe –, der warme Wohnungsgeruch, alles Unvereinbare fügte sich zusammen.

46

Die Tochter des 1937 verhafteten und umgekommenen alten Doktor Karassik, Natascha, versuchte im Waggon hin und wieder zu singen. Manchmal sang sie auch nachts, aber die Leute ärgerten sich nicht über sie.

Sie war immer schüchtern gewesen, sprach mit kaum hörbarer Stimme, hielt die Augen gesenkt, ging nur zu den nächsten Verwandten zu Besuch und staunte über den Mut der Mädchen, die auf Abendveranstaltungen tanzten.

In der Stunde, als die zur Vernichtung bestimmten Menschen ausgemustert wurden, war sie nicht dem Häuflein Handwerker und Ärzte zugeordnet worden, deren nützliches Leben man erhielt – die Existenz des verblühten, ergrauten Fräuleins war nicht nötig.

Der Polizist hatte sie zu einem staubigen Erdhaufen auf dem Marktplatz gestoßen, auf dem drei betrunkene Männer standen; einen von ihnen, nunmehr Polizeivorstand, hatte sie vor dem Krieg gekannt – er war Verwalter irgendeines Eisenbahndepots gewesen. Sie hatte nicht einmal begriffen, dass diese drei das Urteil über Leben und Tod eines Volkes sprachen. Der Polizist stieß sie in die brodelnde Masse aus Tausenden von Kindern, Frauen und Männern, die man für unnütz erklärt hatte.

Dann gingen sie in der für sie letzten Augusthitze zum Flugplatz, vorbei an staubigen Apfelbäumen, die die Straße säumten, zum letzten Mal stießen sie durchdringende Schreie aus, rissen sich die Kleider vom Leib, beteten. Natascha ging schweigend.

Sie hätte es nie für möglich gehalten, dass Blut in der Sonne so rot sein kann. Wenn für einen Augenblick das Schreien, Schießen, Röcheln verstummte, vernahm man aus der Grube das Gurgeln des Blutes – es lief über weiße Leiber wie über weiße Steine.

Dann geschah etwas ganz und gar nicht Schreckliches – sie hörte das gedämpfte Knattern der Maschinenpistole, sah das gutmütige, von der Arbeit erschöpfte Gesicht des Henkers, der geduldig wartete, bis sie sich ihm zaghaft genähert hatte und am Rand der gurgelnden Grube stand.

In der Nacht kehrte sie, nachdem sie ihr durchweichtes Hemd ausgewrungen hatte, in die Stadt zurück – Tote steigen nicht aus dem Grab, also war sie lebendig.

Und als Natascha sich durch die Höfe ins Ghetto schlug, sah sie plötzlich, dass auf dem Platz ein Volksfest im Gange war – ein gemischtes Blas- und Streichorchester spielte die wehmütig verträumte Melodie eines Walzers, der ihr schon immer gefallen hatte, und bei verhangenem Mond und trüben Straßenleuchten drehten sich die Paare, Mädchen und Soldaten, über den staubigen Platz – das Schleifen der Schritte vermischte sich mit der Musik.

In diesem Moment füllte sich das Herz des verblühten Fräuleins mit froher Gewissheit – und sie sang leise im Vorgefühl des sie erwartenden Glücks, und manchmal, wenn niemand sie sah, versuchte sie sogar, Walzer zu tanzen.

47

David erinnerte sich nur mühsam an alles, was nach dem Beginn des Krieges geschehen war. Doch eines Nachts im Waggon tauchte im Kopf des Knaben das kürzlich Durchlebte mit greller Klarheit wieder auf:

In der Dunkelheit bringt ihn die Großmutter zu den Buchmans. Der Himmel ist voll kleiner Sterne, der Himmelsrand hell, von grünlich zitronengelber Farbe. Klettenblätter streifen seine Wangen wie die kalten, feuchten Finger eines Unbekannten.

Auf dem Speicher, hinter einer falschen Ziegelmauer, sitzen Menschen in ihrem Versteck. Das schwarze Blechdach wird tagsüber glühend heiß. Manchmal riecht es in dem Speicherversteck nach Öl. Das Ghetto brennt. Am Tag liegen alle ganz unbeweglich in dem Versteck. Swetlanotschka, die Tochter der Buchmans, weint eintönig vor sich hin. Buchman hat ein krankes Herz; tagsüber halten ihn alle für tot. Nachts aber isst er und zankt sich mit seiner Frau.

Und plötzlich Hundegebell. Stimmen, die nicht Russisch sprechen: »Asta! Asta! Wo sind die Juden?« Über ihnen schwillt das Poltern an: Die Deutschen sind durch die Dachluke aufs Dach geklettert.

Dann hört der am schwarzen Blechhimmel dröhnende Donner von deutschen Stiefeleisen auf. Hinter der Wand sind heimtückische, gedämpfte Schläge zu hören – jemand klopft die Wände ab.

Im Versteck tritt Stille ein, beklemmende Stille. Schulter- und Halsmuskeln sind gespannt, die Augen quellen vor Anstrengung aus den Höhlen, die Münder sind aufgerissen.

Die kleine Swetlana hatte, kurz bevor das suchende Klopfen an der Wand begann, ihre Klage ohne Worte angestimmt. Das Weinen des Mädchens brach jäh ab. David drehte sich nach ihr um und begegnete den irr flackernden Augen von Swetlanas Mutter, Rebekka Buchman.

Später tauchten in seiner Vorstellung noch ein- oder zweimal diese Augen und der wie bei einer Stoffpuppe zurückgeworfene Kopf des Mädchens auf.

Aber das, was vor dem Krieg gewesen war, hatte er in deutlicher Erinnerung, das rief er sich oft ins Gedächtnis. Hier im Waggon lebte er wie ein Greis ganz in seiner Vergangenheit, pflegte und hätschelte sie.

48

Am zwölften Dezember, an Davids Geburtstag, hatte ihm Mama ein Märchenbuch gekauft. Auf einer Waldlichtung stand ein graues Zicklein, neben ihm wirkte der undurchdringlich dunkle Wald besonders unheimlich. Zwischen den dunkelbraunen Stämmen, den Fliegenpilzen und Giftschwämmen lugten der rote, aufgesperrte Rachen und die grünen Augen des Wolfs hervor.

Von dem Mord, der nicht verhindert werden konnte, wusste nur David. Er hieb mit der Faust auf den Tisch, verdeckte mit der Hand die kleine Lichtung vor dem Wolf, doch er sah ein, dass er das Zicklein nicht beschützen konnte.

In der Nacht schrie er: »Mama, Mama, Mama!«

Die Mutter erwachte und schwebte, einer weißen Wolke gleich, durch die nächtliche Finsternis zu seinem Bett – mit einem glücklichen Gähnen rekelte er sich, überzeugt, dass ihn die stärkste Kraft der Welt vor dem Dunkel des nächtlichen Waldes beschützte.

Als er älter wurde, hatte er Angst vor den roten Hunden aus dem Dschungelbuch. Einmal waren nachts lauter rote Raubtiere ins Zimmer gekommen, und David hatte sich barfuß mit Hilfe der herausgezogenen Kommodenschublade zu Mutters Bett hochgekämpft.

Wenn David hohes Fieber hatte, plagte ihn jedes Mal derselbe Fieberwahn. Er lag auf einem Sandstrand am Meer, winzige Wellen kitzelten ihn am Körper. Plötzlich türmte sich am Horizont ein lautloser blauer Wasserberg auf, wuchs immer höher und kam rasch heran. David lag im warmen Sand, der schwarzblaue Wasserberg wälzte sich auf ihn herab. Das war schrecklicher als der Wolf und die roten Hunde.

Morgens ging seine Mutter zur Arbeit. Er trat auf die Hintertreppe hinaus und schüttete eine Tasse Milch in eine Konservenbüchse, in der einmal Krabben gewesen waren; das wusste die magere, zugelaufene Katze mit dem dünnen, langen Schwanz, der fahlen Nase und den triefenden Augen. Eines Tages sagte die Nachbarin, dass im Morgengrauen Leute mit einer Kiste gekommen seien und das widerliche Katzenvieh, Gott sei Dank, endlich ins Institut geschafft hätten.

»Wo soll ich hin? Wo ist dieses Institut? Das ist doch völliger Unsinn, schlag dir diese unselige Katze aus dem Kopf«, hatte Mama gesagt und in seine flehenden Augen geblickt. »Wie willst du bloß in dieser Welt leben? Man darf nicht so verletzlich sein.«

Die Mutter wollte ihn in ein Sommerlager für Kinder schicken, doch er hatte geweint, sie angefleht, die Hände vor Verzweiflung über dem Kopf gerungen und geschrien: »Ich verspreche dir, dass ich zur Großmutter fahre, nur nicht in dieses Lager!«

Als die Mutter ihn zur Großmutter in die Ukraine brachte, hatte er im Zug fast nichts gegessen; er hatte geglaubt, sich schämen zu müssen, wenn er ein hart gekochtes Ei aß oder aus fettigem Papier eine Bulette auswickelte.

Mama blieb fünf Tage mit David bei der Großmutter, dann machte sie sich auf den Rückweg. Sie musste wieder arbeiten. Er nahm tränenlos Abschied, nur die Arme schlang er so fest um ihren Hals, dass sie sagte: »Du erwürgst mich ja, Dummerchen. Hier gibt’s so viele billige Erdbeeren, und in zwei Monaten komme ich dich holen.«

Neben dem Haus von Großmutter Rosa war eine Haltestelle der Omnibuslinie von der Stadt zur Lederfabrik. Auf Ukrainisch hieß Haltestelle »supynka«.

Der verstorbene Großvater war Bundist gewesen und ein berühmter Mann; irgendwann einmal hatte er in Paris gelebt. Das hatte der Großmutter viel Respekt und zahlreiche Entlassungen eingetragen.

Aus den offenen Fenstern tönte das Radio: »Achtung, Achtung! Hier spricht Radio Kiew …« Tagsüber war die Straße ganz verlassen; sie belebte sich, wenn die Studenten und Studentinnen des Technikums für Lederverarbeitung auf ihr entlanggingen und sich gegenseitig zuriefen: »Bella, bist du durchgekommen?« – »Jaschka, komm heute Abend zum Marxismus-Lernen!«

Gegen Abend kehrten die Arbeiter der Lederfabrik, die Verkäufer und der Monteur aus dem städtischen Funkhaus Sorok nach Hause zurück. Die Großmutter arbeitete im örtlichen Gewerkschaftskomitee der Poliklinik.

Wenn die Großmutter fort war, hatte David keine Langeweile.

Neben dem Haus lag ein alter Obstgarten, der niemandem gehörte. Zwischen morschen Apfelbäumen, die keine Früchte mehr trugen, graste dort eine betagte Ziege, bunte Hühner suchten ihre Körnchen, stumme Ameisen krabbelten auf den Grashälmchen herum. Lärmend und selbstsicher benahmen sich in dem Garten die Städter – die Raben und Spatzen –, während die Feldvögel, die sich in ihn verirrt hatten und deren Namen David nicht kannte, sich wie schüchterne Mädchen vom Lande gebärdeten.

Er hörte viele neue Wörter:

Gletschik … dikt … kaljuscha … rjaschenka … rjaska … puschalo … ljadatsche … koschenja … In diesen Wörtern erkannte er den Widerhall und Abglanz seiner russischen Muttersprache. Er hörte zum ersten Mal Jiddisch und war verblüfft, als Mama und die Großmutter in seinem Beisein jiddisch miteinander sprachen. Nie hatte er seine Mutter in einer Sprache sprechen hören, die er nicht verstand.

Die Großmutter hatte David zu ihrer Nichte, der dicken Rebekka Buchman, zu Besuch gebracht. In das Zimmer, das David mit seinen vielen weißen Spitzenvorhängen in Staunen versetzte, trat Eduard Isaakowitsch Buchman ein, Hauptbuchhalter der Staatsbank, gekleidet in Feldhemd und Stiefel.

»Chaim«, sagte Rebekka, »das ist unser Gast aus Moskau, der Sohn von Raja«, und fügte gleich hinzu: »Na, sag Onkel Eduard schön Guten Tag!«

David fragte den Hauptbuchhalter: »Onkel Eduard, warum nennt dich Tante Rebekka Chaim?«

»Das ist mir mal eine Frage«, sagte Eduard Isaakowitsch. »Weißt du denn nicht, dass in England alle Eduarde Chaim heißen?«

Dann kratzte die Katze an der Tür, und als es ihr endlich gelungen war, sie aufzudrücken, sahen alle ein kleines Mädchen mit bekümmerten Augen mitten im Zimmer auf dem Topf sitzen.

Am Sonntag ging David mit der Großmutter auf den Basar. Alte Frauen mit schwarzen Tüchern auf dem Kopf gingen auf der Straße, verschlafene, mürrisch blickende Eisenbahnschaffnerinnen, hochnäsige Ehefrauen führender Männer des Bezirks mit blauen und roten Einkaufstaschen und Landfrauen in Stiefeln.

Die jüdischen Bettler schrien mit barscher Stimme – anscheinend gaben ihnen die Leute nicht aus Mitleid ein Almosen, sondern aus Angst. Über das Kopfsteinpflaster fuhren die Anderthalbtonner-Lkws aus den Kolchosen, mit Kartoffel- und Kleiesäcken und geflochtenen Käfigen beladen, in denen Hühner saßen, die bei jedem Schlagloch gackerten wie alte, kränkliche Jüdinnen.

Die Fleischerzeile zog ihn am stärksten an, stürzte ihn am meisten in Verzweiflung und Erschrecken. David sah, wie von einem Fuhrwerk ein totes Kalb gehievt wurde; das Maul stand halb offen, auf dem Hals lockte sich weißes, blutverschmiertes Fell.

Die Großmutter kaufte ein scheckiges junges Huhn und trug es an den Beinen, die mit einem weißen Stoffläppchen zusammengebunden waren; David ging nebenher und wollte dem Huhn mit der Hand helfen, den kraftlosen Kopf hochzuheben. Bestürzt fragte er sich, woher diese Grausamkeit kam.

Er erinnerte sich an das, was Mama einmal – für ihn unverständlich – über seine Herkunft gesagt hatte, dass nämlich die Verwandtschaft von Großvaters Seite Leute der Oberschicht waren, die ganze Verwandtschaft aber von Großmutters Seite Kleinbürger und Krämer. Wahrscheinlich tat Großmutter deswegen das Huhn nicht leid.

Sie gingen in einen kleinen Hof; ein alter Mann mit einem Käppchen auf dem Kopf kam zu ihnen heraus, und die Großmutter redete mit ihm in jiddischer Sprache. Der Alte nahm das Huhn in die Hand, murmelte etwas, das Huhn gackerte vertrauensvoll; dann machte der Alte mit einer raschen, kaum wahrnehmbaren Bewegung irgendetwas Schreckliches und schleuderte das Huhn über die Schulter. Es stieß ein lautes Gackern aus, rannte flügelschlagend davon, und der Junge sah, dass es keinen Kopf hatte – der Hühnerrumpf rannte allein, ohne Kopf –, der Alte hatte es getötet. Nach ein paar Schritten fiel das kopflose Huhn nieder, scharrte die Erde mit seinen kräftigen, jungen Krallen auf und war tot.

In der Nacht schien es dem Knaben, als ströme ein feuchter Geruch von geschlachteten Kühen und abgestochenen Kälbern ins Zimmer.

Der Tod, der in dem gemalten Wald gelebt hatte, wo sich ein gemalter Wolf an ein gemaltes Zicklein heranschlich, war an diesem Tag aus dem Märchenbuch herausgetreten. Zum ersten Mal fühlte er, dass auch er sterblich war, aber nicht so wie im Märchen, sondern tatsächlich, mit unerhörter Offensichtlichkeit.

Er begriff, dass irgendwann einmal seine Mama sterben würde. Nicht aus dem Märchenwald, wo im Dämmerlicht die Tannen stehen, würde der Tod zu ihm und zu ihr kommen, sondern aus dieser Luft, aus dem Leben, aus den vertrauten Wänden, und sie würden sich nicht vor ihm verstecken können.

Er gewahrte den Tod mit solcher Klarheit und Tiefe, wie sie nur kleine Kinder und große Philosophen erreichen können.

Von den Stühlen mit den durchgesessenen Sitzen, auf die Sperrholzbrettchen gelegt waren, und vom behäbigen Kleiderschrank ging ein ruhiger, guter Duft aus, der gleiche wie von Großmutters Haar und von ihrem Kleid. Warme, trügerisch ruhige Nacht war um ihn herum.

49

In diesem Sommer löste sich das Leben von den bemalten Flächen der Bauklötzchen und von den Abbildungen in der Bilderfibel. David entdeckte, wie blau der schwarze Flügel des Erpels schillerte und wie viel lustiger Spott aus seinem Geschnatter sprach. Weiße Wachskirschen leuchteten zwischen den Blättern hervor; er kletterte den rauen Baumstamm hoch, reckte sich nach den Früchten und pflückte sie ab. Er ging zu dem Kälbchen, das auf einem Stück Brachland angepflockt war, und hielt ihm ein Zuckerstückchen hin – starr vor Glück blickte er in die sanften Augen des riesigen Säuglings.

Der rothaarige Pyntschik kam auf David zu und schlug ihm mit schnarrender Aussprache vor: »He du, woll’n wir rrraufen!«28

Die Juden und Ukrainer in Großmutters Hof waren einander ähnlich. Die alte Partynskaja kam zur Großmutter und sagte gedehnt: »Haben Sie schon gehört, Rosa Nussinowna? Sonja fährt nach Kiew, hat sich wieder mit ihrem Mann versöhnt.«

Die Großmutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen, lachte und antwortete: »Na, da habt ihr ja eine schöne Komödie erlebt.«

Diese Welt erschien David liebenswerter und schöner als die in der Kirowstraße, wo eine stark geschminkte alte Tante mit Kräusellöckchen namens Drako-Drakon ihren Pudel in dem asphaltierten Brunnen herumlaufen ließ, wo neben dem Haupteingang morgens eine SIS-101-Limousine stand, wo die Nachbarin mit dem Kneifer auf der Nase und der Zigarette zwischen den geschminkten Lippen wutschnaubend am Gemeinschaftsgasherd zischte: »Alte Trotzkistin, hast mir wieder meinen Kaffee von der Flamme runtergenommen.«

Mama hatte ihn nachts vom Bahnhof zur Großmutter gebracht. Sie waren durch die vom Mond erhellte Pflasterstraße gegangen, an der weißen katholischen Kirche vorbei, wo in einer Nische ein ausgemergelter Jesus Christus hing, so groß wie ein zwölfjähriger Junge, mit der Dornenkrone auf dem geneigten Haupt, und an der Lehrerbildungsanstalt vorbei, wo Mama früher einmal studiert hatte.

Ein paar Tage später, am Freitagabend, hatte David gesehen, wie die alten Männer im golden schimmernden Staub, den barfüßige Fußballspieler auf dem Brachfeld aufwirbelten, in die Synagoge gingen. Ein unwiderstehlicher Zauber lag in diesem Bild von ukrainischen weißen Katen, quietschenden Pumpenschwengeln, verblichenen Ornamenten auf den schwarzweißen Gebetsmänteln, die so ehrwürdig waren durch ihr biblisches Alter. Alles bestand nebeneinander: der »Kobsar«29 neben Puschkin und Tolstoi, die Lehrbücher der Physik neben »Kinderkrankheit des Linksradikalismus im Kommunismus«, die nach dem Bürgerkrieg zugezogenen Schuster- und Schneidersöhne neben dem Instrukteur des Bezirkskomitees und den Intriganten und Volkstribunen des Bezirksrats der Gewerkschaften, die Lastwagenfahrer und Polizeiinspektoren neben den Lektoren für Marxismuskunde.

Bei seinem Besuch bei der Großmutter erfuhr David, dass seine Mutter unglücklich war. Als Erste erzählte ihm die dicke Tante Rahel, die so rote Backen hatte, als schämte sie sich dauernd, etwas darüber: »So eine wundervolle Frau wie deine Mutter zu verlassen! Der wird mal kein gutes Ende nehmen!«

Und einen Tag später wusste David schon, dass sein Vater zu einer russischen Frau gezogen war, die acht Jahre älter war als er, dass er in der Philharmonie zweieinhalbtausend im Monat verdiente, dass Mama auf Alimente verzichtet hatte und nur von dem lebte, was sie selbst verdiente, nämlich dreihundertzehn Rubel im Monat.

Einmal hatte David der Großmutter den Kokon gezeigt, den er in einer Streichholzschachtel aufbewahrte.

Doch die Großmutter hatte gesagt: »Pfui, was willst du mit dem Dreck? Schmeiß ihn sofort weg!«

Zweimal war David mit den Buben zum Güterbahnhof gegangen und hatte zugesehen, wie Bullen, Hammel und Schweine in die Waggons verladen wurden. Er hatte gehört, wie ein Bulle laut brüllte; vielleicht beklagte er sich, vielleicht bettelte er auch um Mitleid. Entsetzen überkam den Jungen; neben den Güterwagen aber gingen die Bahnarbeiter her, in zerlumpten, speckigen Arbeitsjacken, und wandten nicht einmal das müde, abgehärmte Gesicht in die Richtung des brüllenden Bullen.

Eine Woche nach Davids Ankunft brachte die Nachbarin der Großmutter, Deborah, die Frau des in der Landmaschinenfabrik arbeitenden Schlossers Lasar Jankelewitsch, ihr erstes Kind zur Welt. Im Jahr zuvor hatte Deborah ihre Schwester in Kodyma besucht, und während eines Gewitters hatte sie der Blitz getroffen. Man hatte Wiederbelebungsversuche mit ihr angestellt, sie mit Erde zugeschüttet; zwei Stunden hatte sie wie tot dagelegen. In diesem Sommer aber brachte sie ein Kind zur Welt. Fünfzehn Jahre lang hatte sie keine Kinder gehabt. Die Großmutter erzählte David die Geschichte und fügte hinzu:

»So reden die Leute; sie ist aber außerdem voriges Jahr operiert worden.«

So gingen denn die Großmutter und David zu den Nachbarn.

»Na, Lusja, na, Deba«, sagte die Großmutter und betrachtete das zweibeinige Wesen, das in einem Wäschekorb lag. Sie sagte dies mit so drohender Stimme, als wolle sie Vater und Mutter davor warnen, dieses Wunder jemals auf die leichte Schulter zu nehmen.

In dem kleinen Haus an der Eisenbahnlinie wohnte die alte Sorkina mit ihren beiden Söhnen, den taubstummen Friseuren. Alle Nachbarn hatten Angst vor ihnen, und die alte Partynskaja hatte David auf Ukrainisch erzählt: »Sie sind ganz friedlich, solange sie sich nicht besaufen, aber wenn sie saufen, fallen sie übereinander her, schnappen sich Messer und schnauben wie die Pferde.«

Einmal hatte die Großmutter der Bibliothekarin Mussja Borissowna durch David ein Gläschen saure Sahne bringen lassen. Mussja Borissowna hatte ein winziges Zimmerchen. Auf dem Tisch stand ein kleines Tässchen, an der Wand hing ein kleines Regälchen, darauf standen kleine Büchlein, und über dem Bettchen hing eine kleine Fotografie. Auf der Fotografie war Mama mit David abgebildet, der in eine Windel gewickelt war. Als David die Fotografie anschaute, war Mussja Borissowna errötet und hatte gesagt: »Deine Mama und ich, wir haben in der gleichen Schulbank gesessen.«

Er hatte ihr laut die Fabel von der Grille und der Ameise vorgelesen und sie ihm mit leiser Stimme den Anfang des Gedichts: »Wie der Wald gerodet ward, musste Sascha weinen …«

Am Morgen war der ganze Hof in Aufruhr: Solomon Slepoi war der über den Sommer in einem Beutel vernähte und mit Naphthalin eingepuderte Pelz gestohlen worden.

Als die Großmutter von dem Verlust von Slepois Pelz erfuhr, sagte sie: »Gott sei Dank, wenigstens eine Strafe für diesen Schurken.«

David erfuhr, dass Slepoi ein Denunziant war; in der Zeit, als Fremdwährungsgeld und goldene Fünfrubelstücke konfisziert wurden, hatte er viele Leute verraten. Im Jahr 37 hatte er erneut Menschen denunziert. Von denen, die er verraten hatte, waren zwei erschossen worden, und einer war im Gefängniskrankenhaus gestorben.

Die schrecklichen Geräusche der Nacht, das unschuldige Blut und der Gesang der Vögel – alles vermischte sich zu einem brodelnden, siedend heißen Brei. Erst in ein paar Jahrzehnten würde David diese Mixtur verstehen können, doch er spürte Tag und Nacht in seinem kleinen Herzen ihren sengenden Reiz und ihr Grauen.

50

Für die Abschlachtung von verseuchtem Vieh werden vorbereitende Maßnahmen getroffen: Transport und Konzentration in Schlachtzentren, Instruktion von qualifizierten Arbeitern, Ausheben von Rinnen und Gruben.

Die Bevölkerung, die den Behörden hilft, das verseuchte Vieh in die Schlachtzentren zu schaffen oder entlaufene Rinder einzufangen, tut dies nicht aus Hass auf die Kälber und Kühe, sondern aus Eigennützigkeit.

Auch bei der Massenschlachtung von Menschen wird die Bevölkerung aus eigenem Antrieb nicht von Hass auf die zur Vernichtung bestimmten Greise, Kinder und Frauen gepackt. Deshalb muss die Aktion zur Massenschlachtung von Menschen auf besondere Weise vorbereitet werden. Hier reicht Eigennützigkeit nicht aus, hier müssen in der Bevölkerung Hass und Abscheu geweckt werden.

In ebendieser Atmosphäre des Hasses und des Abscheus wurde die Vernichtung ukrainischer und weißrussischer Juden vorbereitet und durchgeführt. Seinerzeit hatte Stalin auf dem gleichen Boden, die Wut der Massen mobilisierend und anschürend, den Vernichtungsfeldzug gegen das Kulakentum als Klasse und die Kampagne zur Ausrottung trotzkistisch-bucharinischer Missgeburten und Diversanten durchgeführt.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass der Großteil der Bevölkerung bei solchen Aktionen wie unter Hypnose allen Weisungen der Staatsmacht gehorcht. In der Masse der Bevölkerung gibt es nur einen verschwindend kleinen Prozentsatz, der das Klima der Aktion schafft: gehässige Menschen oder in eine bestimmte Idee verrannte, blutrünstige Idioten oder Leute, die entweder mit irgendjemandem persönlich abrechnen wollen oder es auf Besitz, Wohnungen oder frei werdende Posten abgesehen haben. Die meisten Menschen sind über die Massenmorde innerlich entsetzt, verbergen jedoch ihre Gefühle nicht nur vor ihren nächsten Angehörigen, sondern auch vor sich selbst. Diese Menschen füllen die Säle, in denen Versammlungen im Rahmen der Ausrottungsaktionen abgehalten werden; wie viele dieser Versammlungen auch stattgefunden haben mögen und wie viele Leute diese Säle auch zu fassen vermochten – es kam fast nicht vor, dass irgendjemand gegen den schweigenden Konsens gestimmt hätte. Und natürlich kam es noch seltener vor, dass ein Mensch beim Anblick eines unter Tollwutverdacht stehenden Hundes dessen flehendem Blick nicht ausgewichen wäre, sondern diesem Hund in seinem Haus, wo er mit Frau und Kindern lebte, ein Obdach gewährt hätte. Dennoch gab es solche Fälle.

Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wird als Epoche großer wissenschaftlicher Entdeckungen, Revolutionen, grandioser sozialer Umwandlungen und zweier Weltkriege bezeichnet werden.

Doch die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wird auch in die Geschichte der Menschheit eingehen als Epoche der verbrecherischen Ausrottung riesiger europäischer Bevölkerungsschichten, basierend auf Gesellschafts- und Rassentheorien. Die Gegenwart schweigt darüber mit verständlicher Diskretion.

Als eine der erstaunlichsten Eigenarten der menschlichen Natur, die in dieser Zeit bloßgelegt wurde, stellte sich ihre Unterwürfigkeit heraus. Es kam vor, dass die Menschen in riesigen Schlangen vor der Hinrichtungsstätte anstanden und die Opfer selbst das Vorrücken der Schlangen regelten. Es kam vor, dass man auf die Hinrichtung vom Morgen bis tief in die Nacht hinein warten musste, einen langen, heißen Tag lang, und die Mütter, die das wussten, vorsorglich ein Fläschchen Wasser und Brot für die Kinder mitgenommen hatten. Millionen Unschuldiger, die die Verhaftung vorausahnten, packten im Voraus Bündel mit Unterwäsche und einem kleinen Handtuch, nahmen im Voraus von ihren Lieben Abschied. Millionen lebten in gigantischen Lagern, die sie nicht nur selbst gebaut hatten, sondern auch selbst unterhielten.

Und nicht nur Zehntausende, sondern mehrere Zehnmillionen Menschen, gigantische Menschenmassen waren unterwürfige Zeugen der Vernichtung von Unschuldigen. Doch nicht nur Zeugen. Wenn es befohlen wurde, gaben sie ihre Stimme für die Vernichtung, bekundeten sie mit ihrem Stimmengetöse die Billigung der Massenmorde. In dieser grenzenlosen Unterwürfigkeit der Menschen offenbarte sich etwas ganz Überraschendes.

Natürlich gab es Widerstand, Mut und Hartnäckigkeit unter den zum Untergang Verdammten, natürlich gab es Aufstände, gab es Selbstaufopferung, wenn einer für die Rettung eines unbekannten Menschen sein Leben und das seiner Familie aufs Spiel setzte. Und dennoch erwies sich die Unterwürfigkeit der Massen als unbestreitbare Tatsache.

Wovon gibt sie Zeugnis? Von einem neuen Wesenszug, der urplötzlich in der Natur des Menschen entstanden und zum Vorschein gekommen ist? Nein, diese Unterwürfigkeit zeugt von einer neuen, furchtbaren Kraft, die auf den Menschen einwirkt. Die von den totalitären Gesellschaftssystemen verherrlichte Gewalt war fähig, auf ganzen Kontinenten den menschlichen Geist zu lähmen.

Die in den Dienst des Faschismus gestellte menschliche Seele erklärt eine unheilvolle, zum Untergang führende Sklavenhaltung zur einzig wahrhaften Tugend. Da sie nicht auf menschliche Gefühle verzichtet, stellt die Verräterin Seele die vom Faschismus begangenen Verbrechen als höchste Form des Humanismus dar und erklärt sich bereit, die Menschen in erhaltenswerte Reine und nicht erhaltenswerte Unreine zu scheiden. Der leidenschaftliche Selbsterhaltungstrieb äußert sich in der Kompromissbereitschaft des Gewissens.

Dem Trieb kommt die hypnotische Kraft weltumspannender Ideen zu Hilfe. Sie rufen dazu auf, jedes Opfer zu bringen und jedes Mittel einzusetzen, um das glorreiche Ziel – zukünftige Größe des Heimatlandes, Glück der Menschheit, der Nation, der Klasse, weltweiter Fortschritt – zu erreichen.

Und noch eine dritte Kraft wirkt im Verein mit dem Lebenstrieb und der hypnotischen Kraft großer Ideen auf die Menschen ein – die Angst vor schrankenloser Gewalt, vor dem sanktionierten Mord des allmächtigen Staats, zu dessen alltäglicher Praxis er gehört.

Die Gewalttätigkeit des totalitären Staates ist so groß, dass sie aufhört, Mittel zu sein, und sich in einen Gegenstand mystischer, religiöser Verehrung und Begeisterung verwandelt.

Wie anders wären sonst die Überlegungen einiger intelligenter Juden zu erklären, die in der Einsicht gipfeln, dass die Ermordung ihres Volkes für das Glück der Menschheit notwendig sei und dass auch sie im Bewusstsein dieser Tatsache bereit sein sollten, ihre eigenen Kinder zu den Schlachtbänken zu führen; um des Glücks des Heimatlandes willen sollten sie bereit sein, das Opfer zu bringen, das einst Abraham gebracht habe.

Wie anders könnte man es sonst erklären, dass ein Dichter, seiner Herkunft nach Bauer, ausgestattet mit Vernunft und Talent, in aller Aufrichtigkeit des Gefühls ein Poem schreibt, das die blutige Leidenszeit der Bauernschaft besingt, die Zeit, die auch seinen Vater, einen ehrlichen, einfachen Landarbeiter, verschlungen hat.

Ein Mittel, mit dem der Faschismus auf den Menschen einwirkt, ist dessen vollständige oder fast vollständige Blendung. Der Mensch glaubt nicht daran, dass ihn die Vernichtung erwartet. Man konnte nur staunen, wie groß noch der Optimismus der bereits am Rand des Grabes Stehenden war. Auf dem Nährboden der wahnwitzigen, manchmal schmutzigen, manchmal niederträchtigen Hoffnung erwuchs Unterwürfigkeit, die dieser Hoffnung entsprach – eine erbärmliche, manchmal auch niederträchtige Unterwürfigkeit.

Der Warschauer Aufstand, der Aufstand in Treblinka, der Aufstand in Sobibór, kleine Meutereien und der Aufstand der Brenner – sie entsprangen ohne Zweifel der Hoffnungslosigkeit.

Die totale und klar empfundene Hoffnungslosigkeit jedoch verursachte natürlich nicht nur Aufstände und Widerstand, sie erzeugte auch den einem normalen Menschen unverständlichen Wunsch, endlich hingerichtet zu werden.

Die Menschen stritten sich sogar um ihren Platz in der Schlange vor dem blutigen Graben, und eine hochgradig erregte Stimme verkündete beinahe jubelnd: »Juden, habt keine Angst, es passiert nichts Schlimmes – fünf Minuten, dann ist alles vorbei!«

Alles, alles war eine Frucht der Unterwürfigkeit, der Hoffnungslosigkeit und der Hoffnung. Menschen mit gleichem Schicksal haben ja nicht auch den gleichen Charakter.

Man muss auch darüber nachdenken, was ein Mensch erdulden und erfahren musste, damit er über die Gewissheit seiner baldigen Hinrichtung glücklich war. Darüber sollten einmal viele Menschen nachdenken, besonders diejenigen, die zu Belehrungen darüber neigen, wie man gegen die Umstände hätte ankämpfen müssen, von denen diese hohlköpfigen Schulmeister durch einen glücklichen Zufall keine Ahnung haben.

Stellt man die Unterwürfigkeit des Menschen der schrankenlosen Gewalttätigkeit gegenüber, so muss man eine Schlussfolgerung ziehen, die für das Verständnis des Menschen und seine Zukunft von grundlegender Bedeutung ist.

Macht die menschliche Natur einen Wandel durch? Ändert sie sich im Siedetopf der totalitären Gewalt? Geht dem Menschen der ihm eigene Drang nach Freiheit verloren? Mit der Beantwortung dieser Frage entscheidet sich das Schicksal des Menschen und das Schicksal des totalitären Staates. Eine Veränderung der ureigenen Natur des Menschen wird zum weltweiten und ewig währenden Triumph der Staatsdiktatur führen; in dem unabänderlichen menschlichen Bestreben nach Freiheit ist das Urteil über den totalitären Staat beschlossen.

Da sind die großen Aufstände im Warschauer Ghetto, in Treblinka und Sobibór, da ist die riesige Partisanenbewegung, die in unzähligen von Hitler versklavten Ländern aufloderte. Da ist der poststalinistische Berliner Aufstand im Jahr 1953 und der ungarische Aufstand im Jahr 1956, da sind die Aufstände, die nach Stalins Tod in den Lagern Sibiriens und des Fernen Ostens aufflammten. Die polnischen Bummelstreiks in der gleichen Zeit, die studentische Protestbewegung gegen die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die sich auf viele Städte ausgeweitet hatte, die Streiks in vielen Fabriken zeigen die Unauslöschlichkeit des dem Menschen wesenseigenen Freiheitsbestrebens. Es war unterdrückt, doch es existierte. Der in Versklavung gefallene Mensch wurde aufgrund seines Schicksals zum Sklaven, nicht aber aufgrund seiner Natur.

Der natürliche Freiheitsdrang des Menschen ist unauslöschlich; man kann ihn unterdrücken, doch ausmerzen kann man ihn nicht. Der Totalitarismus kann nicht auf Gewalt verzichten. Verzichtet er auf Gewalt, so bedeutet das seinen Untergang. Immerwährender, nie endender, offener oder getarnter Terror ist die Basis des Totalitarismus. Freiwillig verzichtet der Mensch nicht auf Freiheit. In dieser Erkenntnis leuchtet ein Licht für unsere Zeit, ein Licht für die Zukunft.

51

Eine Rechenmaschine führt mathematische Berechnungen durch, erinnert an historische Ereignisse, spielt Schach, übersetzt Bücher aus einer Sprache in die andere. Sie übertrifft den Menschen in seiner Fähigkeit, mathematische Aufgaben schnell zu lösen; ihr Gedächtnis ist untadelig.

Gibt es eine Grenze für den Fortschritt, der die Maschine nach dem Bild und Ebenbild des Menschen erschafft? Offenbar gibt es diese Grenze nicht.

Man kann sich die Maschine der zukünftigen Jahrhunderte und Jahrtausende vorstellen. Sie wird Musik hören, Malerei beurteilen, selbst Bilder malen, Melodien erschaffen, Verse schreiben.

Gibt es eine Grenze für ihre Vollkommenheit? Wird sie dem Menschen gleich werden, ihn übertreffen?

Die Nachbildung des Menschen durch die Maschine wird immer neue Zuwächse an Elektronik, Gewicht und Fläche erfordern.

Kindheitserinnerungen … Glückstränen … Trennungsschmerz … Freiheitsliebe … Mitleid mit einem kranken jungen Hund … Ängstlichkeit … mütterliche Zärtlichkeit … Todesgedanken … Trauer … Freundschaft … Liebe zu den Schwachen … unvermutete Hoffnung … eine glückliche Lösung … Schwermut … grundlose Fröhlichkeit … plötzliche Bestürzung …

Alles, alles wird die Maschine reproduzieren! Doch die Fläche der ganzen Erde wird nicht ausreichen, um diese Maschine aufzustellen, die sich in Umfang und Gewicht in dem Maße bis ins Unendliche vergrößert, wie sie die Besonderheiten des Verstandes und der Seele des durchschnittlichen, unauffälligen Menschen nacherschafft.

Der Faschismus hat zig Millionen Menschen vernichtet.

52

In einem geräumigen, hellen und sauberen Haus in einem Walddorf im Ural hatten der Kommandeur des Panzerkorps Nowikow und der Kommissar Getmanow die Meldungen der Brigadechefs überprüft, die den Befehl erhalten hatten, sich zum Abmarsch an die Front fertig zu machen.

Nach der Arbeit der letzten Tage, die keine Zeit für Schlaf gelassen hatte, konnten sie sich nun eine stille Stunde gönnen. Nowikow und seinen Untergebenen kam es, wie immer in ähnlichen Fällen, so vor, als hätten sie nicht genügend Zeit gehabt, um die Unterrichtsprogramme voll und ganz durchzuführen. Aber die Phase des Unterrichts über Motor und Fahrwerk, artilleristische Technik, Optik, Funkgerät war abgeschlossen; beendet waren die Übungen zur Lenkung des Feuers, zur Beurteilung, Auswahl und Verteilung der Ziele, zur Entscheidung über die Schussart, die Belehrungen darüber, wann das Feuer zu eröffnen sei, über die Beobachtung der Einschläge, die Korrektur und Änderung der Ziele.

Bald wird ein neuer Lehrer – der Krieg – die zurückgebliebenen Schüler unterrichten und ihre Wissenslücken schließen.

Getmanow beugte sich zu dem Schrank vor, der zwischen den Fenstern stand, klopfte mit dem Finger darauf und sagte: »He, Freund, geh in die vorderste Linie.«

Nowikow öffnete die Schranktür, nahm eine Flasche Cognac heraus und goss zwei bläuliche Gläser voll.

Der Korpskommissar sagte nachdenklich: »Auf wen wollen wir trinken?«

Nowikow wusste, auf wen man trinken musste, deshalb hatte Getmanow ja auch gefragt.

Nach einem sekundenlangen Zögern sagte Nowikow: »Also, Genosse Korpskommissar, trinken wir auf die, die wir beide in den Kampf führen. Mögen sie im Kampf nicht viel Blut lassen.«

»Richtig, zuallererst die Sorge für die anvertrauten Kader«, sagte Getmanow, »trinken wir auf unsere Jungs!«

Sie stießen an, tranken aus.

Nowikow konnte seine Eile nicht verbergen; er goss sofort wieder nach und sagte: »Auf den Genossen Stalin! Darauf, dass wir sein Vertrauen rechtfertigen!«

Er las in Getmanows freundlichen, aufmerksamen Augen leisen Spott und dachte über sich selbst verärgert: »Ach, ich bin mal wieder zu schnell gewesen.«

Getmanow sagte gutmütig: »Was denn, na gut, auf den Alten, auf unser Väterchen. Wir sind ja unter seiner Führung bis zur Wolga gekommen.«

Nowikow sah den Kommissar an, aber was kann man schon lesen auf dem dicken, breitwangigen, lächelnden Gesicht eines klugen vierzigjährigen Mannes mit zusammengekniffenen, fröhlichen und bösen Augen.

Unerwartet kam Getmanow auf den Stabschef des Korps, General Neudobnow, zu sprechen.

»Ein großartiger, guter Mann. Bolschewik. Ein echter Stalinist. Theoretisch beschlagen. Große Erfahrung in der Führungsarbeit. Große Ausdauer. Ich kenne ihn von 1937 her. Jeschow ließ ihn einen Militärbezirk säubern, und ich selber habe damals, wissen Sie, auch keinen Kinderhort geleitet. Der hat vielleicht losgelegt, hat sie der Liste nach ins Jenseits befördert, nicht schlechter als Ulrich, Wassili Wassiljewitsch, er hat das Vertrauen von Nikolai Iwanowitsch gerechtfertigt. Wir müssen ihn unbedingt gleich einladen, sonst nimmt er es noch übel.«

In seinem Ton schien Kritik an dem Kampf gegen die Volksfeinde mitzuklingen, dem Kampf, an dem Getmanow teilgenommen hatte, wie Nowikow wusste. Und wieder sah Nowikow Getmanow an und konnte ihn nicht verstehen.

»Ja«, sagte Nowikow langsam und unwillig, »damals hat so mancher gehobelt.«

Getmanow winkte ab.

»Heute ist ein schlimmer Bericht aus dem Generalstab gekommen: Die Deutschen nähern sich dem Elbrus, in Stalingrad stoßen sie die Unsrigen ins Wasser. Ich sage es offen, an diesen Dingen sind auch wir schuld – wir haben auf die eigenen Leute geschossen, haben die Kader zerhauen.«

Nowikow empfand plötzlich eine Anwandlung von Vertrauen zu Getmanow, er sagte: »Ja, diese Jungs haben sehr gute Leute umgebracht, Genosse Kommissar, sie haben in der Armee viel Unglück angerichtet. Dem Korpschef Kriworutschko haben sie beim Verhör ein Auge ausgeschlagen, und er hat dem Untersuchungsrichter mit dem Tintenfass den Schädel eingehauen.«

Getmanow nickte mitfühlend und sagte: »Unseren Neudobnow liebt Lawrenti Pawlowitsch sehr. Und Lawrenti Pawlowitsch irrt sich nicht in den Leuten, ein kluger Kopf, wirklich ein kluger Kopf.«

»Ja, ja«, dachte Nowikow gedehnt, sagte es nicht.

Sie schwiegen, hörten den leise zischelnden Stimmen aus dem Nachbarzimmer zu.

»Du lügst, das sind unsere Socken.«

»Wieso Ihre, Genosse Leutnant, wie denn, sind Sie denn ganz verrückt geworden«, und dieselbe Stimme setzte, nunmehr zum »du« übergehend, hinzu: »Lass das, fass das nicht an, das sind unsere Kragenbinden.«

»Also wie denn, Genosse Unterpolitruk, wieso sind das denn Ihre, guck doch her.« Es waren der Adjutant Nowikows und Getmanows Ordonnanzoffizier, die die Leibwäsche ihrer Vorgesetzten nach dem Waschen auseinandersortierten.

Getmanow sagte: »Ich beobachte sie die ganze Zeit, diese Satansbraten. Wir beide sind einmal zum Schießen zum Fatow’schen Bataillon gegangen, und die beiden waren hinter uns. Ich gehe auf den Steinen durch den Bach, und Sie springen rüber und schütteln den Fuß, damit der Dreck wieder abgeht. Da sehe ich: Mein Ordonnanzoffizier geht auf den Steinen durch den Bach, und Ihr Leutnant springt rüber und schüttelt den Fuß.«

»He, ihr Krieger, zankt euch leiser«, sagte Nowikow, und sofort erstarben die Stimmen nebenan.

Ins Zimmer trat General Neudobnow, ein bleicher Mann mit einer großen Stirn und dichtem, stark ergrautem Haar. Er sah auf das Glas, die Flasche, legte einen Stapel Papiere auf den Tisch und fragte Nowikow: »Was sollen wir mit dem Stabschef in der zweiten Brigade machen, Genosse Oberst? Michalew kommt in anderthalb Monaten zurück, ich habe den schriftlichen Befund aus dem Kreiskrankenhaus bekommen.«

»Was ist der denn für ein Stabschef, ohne Darm und nur mit einem Stück Magen?«, sagte Getmanow, goss ein Glas Cognac ein und bot es Neudobnow an. »Trinken Sie, Genosse General, solange der Darm noch da ist.«

Neudobnow zog die Brauen hoch, sah fragend mit hellgrauen Augen auf Nowikow.

»Aber bitte, Genosse General, bitte!«, sagte Nowikow.

Ihn reizte Getmanows Art, sich immer als Hausherr zu fühlen; er konnte sich, überzeugt von seinem Recht, auf Versammlungen wortreich über technische Fragen auslassen, von denen er gar nichts verstand. Und ebenso selbstverständlich und von seinem Recht überzeugt konnte Getmanow mit fremdem Cognac bewirten, einen Gast auf einer fremden Pritsche ruhen lassen, auf dem Tisch liegende fremde Papiere lesen.

»Vielleicht ernennen wir vorläufig Major Bassangow«, sagte Nowikow, »er ist ein gescheiter Kommandeur, hat an den Panzerschlachten bei Nowograd-Wolynsk teilgenommen. Hat der Brigadekommissar Einwände?«

»Natürlich habe ich keine Einwände«, sagte Getmanow, »was für Einwände sollte ich denn haben? … Aber ich sehe da etwas – der Stellvertretende Kommandeur der zweiten Brigade, der Oberstleutnant, ist Armenier, Stabschef bei ihm soll ein Kalmücke werden, und nehmen Sie noch in der dritten Brigade den Stabschef dazu, Oberstleutnant Lifschiz. Vielleicht geht es ohne den Kalmücken?«

Er schaute auf Nowikow, dann auf Neudobnow.

»Gemessen am gesunden Menschenverstand, stimmt das alles, das sage ich ehrlich, aber der Marxismus hat uns eine andere Methode gezeigt, die betreffende Frage anzugehen.«

»Wichtig ist, wie der betreffende Genosse gegen den Deutschen kämpft, das ist mein Marxismus«, sagte Nowikow, »aber wo sein Großvater zu Gott gebetet hat, ob in der Kirche oder in der Moschee –«, er dachte kurz nach und setzte hinzu, »… oder in der Synagoge, das ist mir gleich … Ich meine: Das Schießen Ist das Wichtigste im Krieg.«

»Richtig, genau so ist es«, sagte Getmanow fröhlich. »Warum sollen wir in einem Panzerkorps eine Synagoge oder sonst noch einen Tempel bauen? Schließlich verteidigen wir alle Russland.« Sein Gesicht verfinsterte sich plötzlich, und er sagte böse: »Ich sage Ihnen die Wahrheit, es langt! Es wird einem förmlich schlecht! Im Namen der Völkerfreundschaft opfern wir immer die russischen Menschen. So einer von den nationalen Minderheiten kann kaum das Abc, und wir befördern ihn zum Volkskommissar. Unser Iwan aber, auch wenn er noch so gescheit ist, kriegt gleich eins auf den Deckel – mach Platz für den Mitbürger! Das große russische Volk haben sie in eine nationale Minderheit verwandelt. Ich bin für die Völkerfreundschaft, aber nicht für so eine! Es reicht!«

Nowikow dachte nach, sichtete die Papiere auf dem Tisch, klopfte mit dem Fingernagel gegen das Glas und sagte: »Benachteilige ich etwa die Russen wegen besonderer Sympathien für die kalmückische Nation?«, und zu Neudobnow gewandt: »Also, geben Sie den Befehl – Major Sasonow wird vorläufiger Stabschef der zweiten Brigade.«

Getmanow sagte leise: »Sasonow ist ein ausgezeichneter Offizier.«

Und wieder spürte Nowikow, der gelernt hatte, grob, herrisch und hart zu sein, seine Unsicherheit gegenüber dem Kommissar … »Schon gut, schon gut«, tröstete er sich, »von Politik verstehe ich nichts. Ich bin ein proletarischer Militärspezialist. Unsereins hat bloß eine Aufgabe: die Deutschen in Stücke hauen.«

Und obwohl er sich innerlich über den in militärischen Dingen ungebildeten Getmanow lustig machte, war es unangenehm, sich die eigene Befangenheit ihm gegenüber einzugestehen.

Dieser Mann mit dem großen Kopf, dem wirren Haar, dem dicken Bauch, klein, aber breitschultrig und sehr behände, laut und spaßhaft, dieser Mann war unermüdlich aktiv.

Obwohl er nie an der Front gewesen war, hieß es über ihn bei den Brigaden: »Ach, was haben wir für einen schneidigen Kommissar!«

Er liebte es, Versammlungen der Rotarmisten zu veranstalten: Seine Reden kamen an, er sprach einfach, scherzte viel und benutzte mitunter ziemlich derbe Kraftausdrücke.

Er ging ein wenig schaukelnd, stützte sich meistens auf einen Stock, und wenn ihn ein Panzerfahrer, der eingenickt war, nicht grüßte, blieb Getmanow vor ihm stehen, stützte sich auf seinen berühmten Stock, nahm die Mütze ab und verbeugte sich tief wie ein alter Mann auf dem Dorf.

Er war aufbrausend und liebte keine Einwände; wenn man mit ihm stritt, schnaufte er und wurde finster; einmal war er in Wut geraten, hatte ausgeholt und den Stabschef des schweren Regiments, Hauptmann Gubenkow, einen störrischen und, wie seine Kameraden ihn beschrieben, »furchtbar prinzipientreuen« Mann, mit der Faust geschlagen.

Über den störrischen Hauptmann sagte Getmanows Stellvertreter missbilligend: »Der hat unseren Kommissar gereizt, der Teufel.«

Getmanow brachte denen, die die schweren ersten Tage des Krieges miterlebt hatten, keinen besonderen Respekt entgegen. Einmal sagte er über den Liebling Nowikows, Makarow, den Chef der ersten Brigade: »Dem treibe ich schon noch die Philosophie von 1941 aus!«

Nowikow hatte geschwiegen, obwohl er gern mit Makarow über die schrecklichen, irgendwie erregenden ersten Tage des Krieges sprach.

In der Kühnheit und Schärfe seiner Urteile war Getmanow offensichtlich das genaue Gegenteil von Neudobnow, wenngleich beide Männer jedoch auch gewisse Gemeinsamkeiten hatten.

Nowikow machte der ausdruckslose, aber aufmerksame Blick Neudobnows, seine glatten Phrasen, die stets leisen Worte, schwermütig.

Getmanow sagte lachend: »Unser Glück ist, dass die Deutschen unseren Bauern in einem Jahr mehr zuwider geworden sind als die Kommunisten in fünfundzwanzig Jahren.«

Ein anderes Mal sagte er spottend: »Was soll’s, unser Väterchen mag es eben gern, wenn in Zusammenhang mit ihm das Wort ›genial‹ gebraucht wird.«

Diese Kühnheit steckte den Gesprächspartner nicht an, im Gegenteil, sie erzeugte Unruhe.

Vor dem Krieg war Getmanow leitender Parteifunktionär auf Gebietsebene gewesen, hatte Reden gehalten über die Produktivität bei der Herstellung von Schamotteziegeln und über die Organisation der wissenschaftlich-experimentellen Arbeit in der Zweigstelle des Kohleinstituts, er hatte über die Backqualität der städtischen Brotfabrik gesprochen, über die ideologisch unklare Erzählung »Blaue Feuer«, die in einem lokalen Almanach erschienen war, über die Reparatur des Traktorenfuhrparks, über die niedrige Qualität der Warenlagerung in den Zentralen der Gebiets-Handelsorganisation und über eine Hühnerpestepidemie auf den kolchoseeigenen Geflügelfarmen.

Jetzt sprach er mit voller Überzeugung über die Qualität des Treibstoffes, über die Normen der Motoren und über die Taktik des Panzerkampfes, über die Zusammenarbeit von Infanterie, Panzern und Artillerie beim Durchbruch in die gegnerische Verteidigungslinie, über Panzer auf dem Marsch, über die medizinische Versorgung, über die Verschlüsselung von Funksprüchen, über die Wehrpsychologie des Panzersoldaten, über das Wesen der Beziehungen, welche die Mitglieder der Panzerbesatzungen untereinander pflegten, über vordringliche Reparaturen und Generalüberholungen, über den Abtransport beschädigten Geräts vom Kampffeld.

Einmal waren Nowikow und Getmanow in dem Bataillon von Hauptmann Fatow neben dem Panzer stehen geblieben, der beim Korps-Übungsschießen den ersten Platz errungen hatte.

Der Kommandant hatte, während er die Fragen seiner Vorgesetzten beantwortete, unmerklich mit der flachen Hand über die Panzerung des Fahrzeugs gestrichen.

Getmanow fragte ihn, ob es ihm schwergefallen sei, den ersten Platz zu erringen. Der Mann wurde plötzlich lebhaft und sagte: »Nein, gar nicht. Ich mag den Panzer sehr. Als ich einmal aus dem Dorf zur Schule gefahren bin, habe ich einen gesehen und mich gleich unsterblich in ihn verliebt.«

»Liebe auf den ersten Blick«, sagte Getmanow und lachte, und in seinem herablassenden Lachen war etwas, das die Liebe des Jungen zu dem Panzer verurteilte.

Nowikow fühlte in diesem Moment, dass auch er, Nowikow, schlecht war und dass auch er auf einfältige Art lieben konnte. Aber über diese Fähigkeit, einfältig zu lieben, wollte er nicht mit Getmanow sprechen, und als jener, wieder ernst, in belehrendem Ton zu dem Panzerfahrer sagte: »Gut so! Die Liebe zum Panzer ist eine starke Kraft. Du hast eben den Erfolg errungen, weil du dein Gerät liebst«, warf Nowikow spöttisch ein: »Wozu soll man ihn eigentlich lieben? Ein Panzer bietet ein großflächiges Ziel, ihn zu treffen ist kinderleicht, Panzer machen einen Höllenlärm, enttarnen sich selbst, und die Besatzung kommt vor Krach ganz um den Verstand. Während der Fahrt ruckeln sie so, dass man weder ordentlich beobachten noch gescheit zielen kann.«

Getmanow hatte damals aufgelacht und Nowikow angesehen. Und jetzt lachte Getmanow, während er die Gläser einschenkte, genauso auf, sah Nowikow an und sagte: »Auf unserer Marschroute liegt Kuibyschew. Unser Korpskommandant wird schon Gelegenheit haben, sich mit jemandem zu treffen. Trinken wir auf das Wiedersehen.«

»Das hat mir gerade noch gefehlt«, dachte Nowikow, der fühlte, dass er tief errötete wie ein kleiner Junge.

General Neudobnow war im Ausland vom Krieg überrascht worden. Erst Anfang 1942, als er nach Moskau ins Volkskommissariat für Verteidigung zurückgekehrt war, hatte er in dem Stadtteil jenseits der Moskwa Barrikaden und Panzersperren gesehen und Luftalarmsignale gehört.

Neudobnow hatte Nowikow ebenso wenig wie Getmanow je über den Krieg befragt, vielleicht war ihm seine Unkenntnis in Frontangelegenheiten peinlich.

Nowikow hätte gerne gewusst, für welche Qualitäten Neudobnow zum General befördert worden war, er dachte nach über das Leben des Stabschefs des Korps, das sich in den Blättern des Personalbogens spiegelte wie eine Birke im Teich.

Neudobnow war älter als Nowikow und Getmanow, 1916 war er wegen Mitgliedschaft in einem bolschewistischen Zirkel in ein zaristisches Gefängnis geraten.

Nach dem Bürgerkrieg hatte er, von der Partei mobilisiert, eine Zeitlang in der OGPU30 gearbeitet, bei den Grenztruppen gedient, war zum Studium in die Akademie entsandt worden, war während des Studiums Sekretär der Parteiorganisation seines Kurses gewesen … Dann hatte er in der Militärabteilung des ZK gearbeitet, im Zentralapparat des Volkskommissariats für Verteidigung.

Vor dem Krieg war er zweimal ins Ausland gereist. Er gehörte als Funktionär zur Nomenklatura und stand auf der Sondergehaltsliste – früher hatte Nowikow nicht recht begriffen, was das bedeutete, welche Besonderheiten und Vorzüge Funktionäre der Nomenklatura besitzen.

Erstaunlich schnell hatte Neudobnow die – gewöhnlich lange – Phase zwischen dem Vorschlag zur Ernennung und der Beförderung durchlaufen. Es schien, als habe der Volkskommissar nur darauf gewartet, den Vorschlag zu erhalten und ihn zu unterschreiben. Die Angaben im Personalbogen besaßen eine seltsame Eigenschaft: Sie erklärten alle Geheimnisse des menschlichen Lebens, die Gründe für Erfolge und Nichterfolge, aber eine Minute später, unter veränderten Umständen, stellte sich heraus, dass sie nichts erklärten, sondern vielmehr das Wesentliche verschleierten.

Der Krieg hatte auf seine Weise die Dienstlisten, die Biografien, die Beurteilungen und Auszeichnungslisten überprüft … Und der Funktionär der Nomenklatura Neudobnow war nun ein Untergebener von Oberst Nowikow.

Neudobnow war klar, dass der Krieg ebenso zu Ende gehen würde wie dieser unnormale Zustand …

Er hatte sein Jagdgewehr in den Ural mitgebracht, und alle Waffennarren im Korps waren baff gewesen. Nowikow sagte dazu, wahrscheinlich sei Zar Nikolai II. seinerzeit mit diesem Gewehr auf die Jagd gegangen.

Neudobnow hatte es 1938 auf eine gewisse Anweisung hin erhalten, ebenso wie er auf Anweisung aus gewissen besonderen Lagern Möbel, Teppiche, Porzellangeschirr und ein Landhaus bekommen hatte.

Sprach man vom Krieg oder von den Angelegenheiten der Kolchosen, von dem Buch General Dragomirows oder vom chinesischen Volk, von den Verdiensten General Rokossowskis oder vom sibirischen Klima, von der Qualität des russischen Manteltuchs oder davon, ob blonde oder brünette Frauen schöner seien – er blieb mit seinem Urteil immer im Rahmen der Norm.

Es war schwer zu sagen, ob dies aus Zurückhaltung geschah oder ob es der Ausdruck seines wahren inneren Wesens war.

Manchmal, nach dem Abendessen, wurde er gesprächig und erzählte Geschichten über die Entlarvung von Schädlingen und Diversanten, die in den ungewöhnlichsten Bereichen gearbeitet hatten: in der Produktion medizinischer Instrumente, in Schuhmacherwerkstätten der Armee, in Konditoreien, in Pionierpalästen, in den Pferdeställen der Moskauer Rennbahn, in der Tretjakow-Galerie.

Er hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis und las offenbar viel in den Werken Lenins und Stalins. Bei Disputen sagte er gewöhnlich: »Genosse Stalin sagte schon auf dem siebzehnten Kongress …«, und zitierte den Wortlaut.

Einmal hatte Getmanow zu ihm gesagt: »Zitat und Zitat ist nicht dasselbe. Es ist viel gesagt worden. Es hat geheißen: ›Wir wollen keinen fremden Boden, aber vom eigenen geben wir keinen Zollbreit her.‹ Und wo steht jetzt der Deutsche?«

Aber Neudobnow hatte nur mit den Schultern gezuckt, als ob die Deutschen, die an der Wolga standen, überhaupt nichts bedeuteten im Vergleich zu den Worten, dass wir keinen Zollbreit eigenen Bodens hergeben würden.

Plötzlich verschwand alles um Nowikow – die Panzer, die Gefechtsvorschriften, die Schießübungen, der Wald, Getmanow, Neudobnow … Genia! Wird er sie wirklich wiedersehen?

53

Nowikow fand es seltsam, dass Getmanow, nachdem er einen Brief von zu Hause gelesen hatte, sagte: »Meine Frau bedauert uns; ich habe ihr geschrieben, unter welchen Umständen wir hier leben.«

Dieses Leben, das dem Kommissar so schwer erschien, verwirrte Nowikow durch seinen Luxus.

Zum ersten Mal hatte er sich selbst ein Haus zum Wohnen ausgesucht. Einmal, als er gerade zur Brigade gehen wollte, hatte er gesagt, dass ihm das Sofa der Hausleute nicht gefalle; als er heimgekommen war, hatte anstelle des Sofas ein Sessel mit Holzlehne im Zimmer gestanden, und sein Adjutant Werschkow hatte sich besorgt erkundigt, ob dieser Sessel nun auch dem Geschmack des Korpskommandeurs entspreche.

Der Koch fragte: »Wie soll der Borschtsch sein, Genosse Oberst?«

Seit seiner Kindheit hatte er Tiere geliebt. Jetzt hauste unter seinem Bett ein Igel, pochte gebieterisch mit den Pfötchen und lief nachts im Zimmer umher; im Käfig mit dem Panzeremblem, den Mechaniker des Reparaturdienstes gebaut hatten, saß ein junges Erdhörnchen und knabberte Nüsse. Das Erdhörnchen hatte sich rasch an Nowikow gewöhnt; manchmal hockte es sich auf sein Knie und blickte ihn mit kindlich vertrauensvollen, wissbegierigen Augen an. Alle – der Adjutant Werschkow, der Koch Orlenjew und der Fahrer des Jeeps Charitonow – waren nett und aufmerksam zu dem Tierchen.

Dies alles war für Nowikow keineswegs unwichtig und nebensächlich. Als er vor dem Krieg ein junges Hündchen ins Haus der Kommandeure mitgebracht und dieses einen Schuh der Obristin, die in der Nachbarschaft wohnte, angenagt und innerhalb einer halben Stunde drei Pfützen gemacht hatte, war in der Gemeinschaftsküche derartig der Teufel los gewesen, dass sich Nowikow gleich wieder von dem Hund hatte trennen müssen.

Es kam der Tag des Abmarschs, und immer noch gab es einen ungeschlichteten Streit zwischen dem Kommandeur des Panzerkorps und seinem Stabschef.

Es kam der Tag des Abmarschs und mit ihm das Kopfzerbrechen über die Versorgung mit Treibstoff und Marschproviant, über die richtige Reihenfolge beim Beladen des Militärzugs.

Allmählich machte er sich auch Gedanken darüber, wer seine künftigen Nachbarn sein könnten, wessen Schützen- und Artillerieregimenter heute aus der Reserve ausrücken und auf dem Marsch zur Eisenbahnlinie sein würden; er wurde ganz unruhig bei dem Gedanken, wer der Mann sein werde, vor dem er auf das Kommando »Stillgestanden« strammstehen und sagen würde: »Melde gehorsamst, Genosse Generaloberst…«

Es kam der Tag des Abmarschs, und es war ihm nicht gelungen, seinen Bruder und seine Nichte zu besuchen. Er war im Ural gewesen, hatte gedacht, der Bruder wohne ganz in der Nähe – und hatte keine Zeit für einen Besuch bei ihm gefunden.

Schon wurden dem Korpskommandeur Meldungen über den Abmarsch der Brigaden erstattet, über die Bereitstellung offener Waggons für das schwere Material und darüber, dass man seinen Igel und sein Erdhörnchen in den Wald gebracht und dort freigelassen hatte.

Als Oberhaupt des Korps hatte er es schwer; für jede Lappalie verantwortlich, musste er jede Kleinigkeit überprüfen. Da waren nun schon die Panzer auf die Waggons verladen worden. Doch hatte man auch nicht vergessen, die Bremsen in den Kampffahrzeugen anzuziehen, hatte man den ersten Gang eingelegt, die Drehtürme mit dem Geschützrohr nach vorne festgezurrt, waren die Lukendeckel auch dicht verschlossen? Hatte man Holzleisten bereitgestellt, um die Panzer zu befestigen und ein Schlingern der Waggons zu verhindern?

»Wie wär’s, spielen wir noch eine kleine Partie Préférence zum Abschied?«, fragte Getmanow.

»Ich sage nicht nein«, erklärte Neudobnow.

Doch Nowikow wollte lieber ins Freie gehen und allein sein.

In dieser frühen Abendstunde nahm die Luft eine erstaunliche Klarheit an, und die unscheinbarsten Dinge bekamen ein deutliches und plastisches Aussehen. Rauch stieg aus den Schornsteinen auf; ohne sich zu kräuseln, verflüchtigte er sich in kerzengeraden, senkrechten Säulen nach oben. In den Feldküchen prasselten die Holzscheite. Mitten auf der Straße stand ein Panzerschütze mit dunklen Augenbrauen, ein Mädchen umarmte den jungen Soldaten, legte den Kopf an seine Brust und weinte. Aus den Stabsunterkünften wurden Kisten, Koffer und Schreibmaschinen in schwarzen Schutzgehäusen herausgetragen. Soldaten der Nachrichtentruppe montierten die Leitungen ab, die zu den Brigadestäben verlegt worden waren; schwarze, schmierige Kabel wurden auf Spulen aufgewickelt. Hinter den Schuppen schnaubte ein Stabspanzer, gab ein paar Schüsse ab und qualmte; er wurde marschbereit gemacht. Die Fahrer der neuen Ford-Lkws schütteten Benzin in die Tanks und zogen die Kälteschutzplanen von den Kühlerhauben herunter. Im ganzen Umkreis aber war alles still und starr.

Nowikow stand unter dem Vordach, sah sich nach allen Seiten um, und langsam fiel alle Angst, fielen alle nichtigen Sorgen von ihm ab.

Gegen Abend fuhr er mit dem Jeep zur Straße, die zum Bahnhof führte. Die Panzer kamen aus dem Wald heraus. Unter ihrem schweren Gewicht klirrte die gefrorene Erde. Die Abendsonne erleuchtete die Wipfel des fernen Tannenwaldes, aus dem die Brigade von Oberstleutnant Karpow kam. Die Regimenter von Makarow fuhren durch junges Birkengehölz. Die Panzerschützen hatten die Panzerung mit Zweigen geschmückt; es sah so aus, als seien die Tannennadeln und Birkenblätter mit der Panzerung, dem Motorendröhnen und dem silberhellen Knirschen der Raupen eins geworden.

Im Soldatenjargon heißt es beim Anblick einer an die Front rollenden Reserveeinheit: »Da gibt’s eine Hochzeit!«

Nowikow hatte die Straße verlassen und betrachtete die an ihm vorbeirumpelnden Panzerkampfwagen.

Wie viele Dramen, wie viele seltsame und komische Geschichten hatten sich hier abgespielt! Wie viele besondere Vorkommnisse hatte man ihm gemeldet … Im Bataillonsstab war beim Frühstück ein Frosch in der Suppe entdeckt worden … Unterleutnant Roschdestwenski, ein Mann mit Hochschulreife, hatte eine Maschinenpistole gereinigt und einem Kameraden durch einen Schuss, der sich zufällig gelöst hatte, eine Bauchverletzung zugefügt; danach hatte Unterleutnant Roschdestwenski Selbstmord begangen … Ein Rotarmist des Kradschützenregiments hatte sich geweigert, einen Eid zu leisten mit der Begründung: »Schwören werde ich nur in der Kirche.«

Zartblaue und graue Rauchschleier legten sich auf das Gebüsch entlang der Straße.

Wie verschiedenartig waren die Gedanken, die jetzt durch die Köpfe unter den Lederhelmen gingen. Natürlich waren es die Gedanken, die zurzeit das ganze Volk bewegten; die Trauer über den Krieg, die Liebe zum eigenen Land. Aber es herrschte in diesen Köpfen auch die erstaunliche Vielfalt an Ideen, durch die das, was die Menschen vereinte, erst seine Schönheit gewann.

Oje … wie viele fuhren an ihm vorbei in ihren schwarzen Kampfanzügen, die breiten Gurte um die Hüften geschlungen! Die Heeresführung hatte Burschen von kleinem Wuchs mit breiten Schultern ausgesucht, weil die leichter in die Luken klettern konnten und im Panzerinneren wendig waren. Wie viele identische Antworten hatte er in den Fragebogen gelesen über ihre Väter und Mütter, über das Geburtsdatum, den Schulabschluss, die Traktoristenausbildung! Die grünen, flach gebauten Panzer rollten einer nach dem anderen an ihm vorüber, verschmolzen zu einem gleichförmigen Band – ausschließlich Panzer vom Typ T-34, alle mit aufgeklappten Lukendeckeln und über die grüne Panzerung festgezurrten Schutzplanen.

Der eine Panzerschütze singt vor sich hin; der zweite hält die Augen halb geschlossen und ist voller Angst und schlimmer Vorahnungen; der dritte denkt an sein Zuhause; der vierte kaut an einem Wurstbrot und denkt an seine Wurst; der fünfte müht sich mit offenem Mund, einen Vogel auf dem Baum zu erkennen – ist es nicht ein Wiedehopf? –; der sechste macht sich Sorgen, ob er gestern etwa seinen Kameraden durch eine grobe Äußerung beleidigt haben könnte; der siebte träumt voll arglistigem, schwelendem Groll davon, seinem Widersacher, dem vor ihm fahrenden Kommandeur der Vierunddreißiger, eins in die Fresse zu geben; der achte schreibt im Geist ein Gedicht – Abschied vom Herbstwald; der neunte denkt an die Brüste eines Mädchens; der zehnte denkt voller Mitleid an seinen Hund – der begriffen hatte, dass man ihn in den leeren Unterständen zurücklassen wollte, und sich auf den Panzer geworfen und mit raschem, kläglichem Schwanzwedeln versucht hatte, den Panzerschützen dazu zu bewegen, ihn mitzunehmen; der elfte sinnt darüber nach, wie schön es wäre, in den Wald zu ziehen, allein in einer kleinen Hütte zu leben, sich von Beeren zu ernähren, Quellwasser zu trinken und barfuß zu laufen; der zwölfte überlegt hin und her, ob er sich nicht krank stellen und in irgendeinem Lazarett einnisten solle; der dreizehnte erzählt sich ein Märchen, das er in der Kindheit gehört hat; der vierzehnte erinnert sich an den Abschied von seinem Mädchen und ist gar nicht traurig, sondern froh darüber, dass es ein Abschied für immer ist; der fünfzehnte denkt an die Zukunft – schön wäre es, wenn er nach dem Krieg Direktor einer Gaststätte werden könnte.

»Ach, ihr Jungs«, denkt Nowikow.

Sie blicken ihn an. Wahrscheinlich kontrolliert er, ob die Uniform intakt ist, horcht auf das Motorengeräusch, schließt vom Klang auf die Erfahrung – oder auf die Unerfahrenheit – der Fahrer, die auch die technische Wartung besorgen, passt auf, ob der vorgeschriebene Abstand zwischen den Fahrzeugen und Unterabteilungen eingehalten wird und ob sich nicht ein paar Rücksichtslose gegenseitig überholen.

Er blickt sie an und ist einer von ihnen: Was in ihnen vorgeht, geht auch in ihm vor. Er denkt an die Cognacflasche, die Getmanow eigenmächtig entkorkt hat, denkt, was für ein schwieriger Mensch Neudobnow ist und dass er jetzt nicht mehr im Ural jagen kann, dass die letzte Jagd jedoch – mit reichlich viel Wodka und Pistolenknallen und idiotischen Witzen – gründlich misslungen war. Er denkt an die Frau, die er seit vielen Jahren liebt und die er bald wiedersehen wird. Als er vor sechs Jahren von ihrer Heirat erfahren hatte, hatte er eine Notiz im Dienst hinterlassen: »Fahre in unbefristeten Urlaub, beiliegend mein Revolver Nr. 10322« – damals hatte er in Nikolsk-Ussurisk gedient –, ja, und dann hatte er eben nicht abgedrückt.

Die Schüchternen, die Mürrischen und die Lachlustigen, die Zurückhaltenden und die Nachdenklichen, die Schürzenjäger und die harmlosen Egoisten, die Spendierfreudigen und die Geizkragen, die Besinnlichen und die Gutmütigen … Da ziehen sie nun in den Kampf für die gemeinsame gerechte Sache. Diese Wahrheit ist so einfach, dass es einem fast peinlich ist, sie auszusprechen. Doch gerade diese allereinfachste Wahrheit vergessen ausgerechnet diejenigen, die eigentlich von ihr ausgehen müssten.

Irgendwo lag hier die Lösung der alten Streitfrage, ob denn der Mensch um des Sabbats willen lebe.31

Wie geringfügig waren diese Gedanken an Stiefel, an ein verlassenes Hündchen, an eine Hütte Gott weiß wo auf dem Land, wie nichtig war der Groll auf den Kameraden, der einem das Mädchen ausgespannt hatte … Doch darum ging es eben.

Zusammenschlüsse von Menschen erhalten ihren Sinn nur durch ein einziges, in erster Linie angestrebtes Ziel – nämlich den Menschen das Recht auf eine unterschiedliche, individuelle, jedem Einzelnen angemessene Daseinsform zu erkämpfen, das Recht, individuell zu fühlen, zu denken und die Erde zu bewohnen.

Um sich dieses Recht zu erkämpfen, es zu behalten oder auszuweiten – dafür schließen sich die Menschen zusammen. Doch dann entsteht sofort wieder das schreckliche, aber mächtige Vorurteil, dass in solchen Zusammenschlüssen im Namen einer Rasse, Gottes, einer Partei oder eines Staates der Sinn des Lebens zu sehen sei, nicht aber ein Mittel zur Erreichung eines Zwecks. Nein, nein, nein! Der Mensch, seine bescheidene Individualität und sein Recht auf diese Individualität geben dem Kampf ums Leben den einzigen, wahrhaften und ewig gültigen Sinn.

Nowikow spürte, dass sie ihr Ziel erreichen würden, dass sie den Feind bezwingen, überlisten und im Kampf besiegen würden. Diese ungeheure Masse an Verstand, Fleiß, Verwegenheit und Berechnung, an handwerklichem Können und an Zorn, dieser geistige Reichtum der Burschen aus dem Volk – Studenten und Schüler aus den Abschlussklassen, Dreher, Traktoristen, Lehrer, Elektriker, Bus- und Lkw-Fahrer –, die bösartig, gütig, schroff und heiter sein konnten, dieser Haufen von Vorsängern, Harmonikaspielern, vorsichtigen, schwerfälligen und unerschrockenen Männern vereinte sich, strömte zusammen – vereint mussten sie siegen, sie waren doch so reich.

Wenn nicht der eine, dann der andere, wenn nicht im Zentrum, dann an der Flanke, wenn nicht in der ersten Stunde der Schlacht, dann in der zweiten, doch schaffen würden sie es. Sie würden den Feind überlisten und dann mit ihrer ganzen Wucht zerschmettern, in die Knie zwingen … Den Erfolg im Kampf würden diese Jungs bringen, die hier an ihm vorüberfuhren; sie würden ihn in Staub und Qualm erringen, in jenem Augenblick, da es ihnen gelänge, einen Sekundenbruchteil früher als der Gegner die Lage zu erfassen, sich zu entfalten, zu stürmen und loszuschlagen, einen Bruchteil sicherer, fröhlicher und stärker als der Feind.

Sie waren die Lösung, die Jungs auf den Panzerkampfwagen mit den Kanonen und Maschinengewehren, sie waren die tragende Kraft des Krieges.

Doch das Wesentliche war: Würde es allen diesen Menschen gelingen, ihren inneren Reichtum zu einer Kraft zu bündeln?

Nowikow konnte sich an ihnen nicht sattsehen, und während er an die Frau dachte, erfüllte ihn immer stärker die glückliche Gewissheit: »Mein wird sie sein, mein.«

54

Was waren das für erstaunliche Tage!

Krymow hatte den Eindruck, die Geschichte habe die Seiten der Bücher verlassen, um mit dem Leben eins zu werden.

Mit wacheren Sinnen nahm er die Farbe des Himmels und der Wolken über Stalingrad und das Glitzern der Sonne auf dem Wasserspiegel wahr. Diese Empfindungen erinnerten ihn an seine Kindheit, wenn ihn der erste Schnee, ein sommerliches Gewitter oder ein Regenbogen mit Glück erfüllten. Dieses wunderbare Gefühl kommt mit den Jahren fast allen Lebewesen, die sich an das Wunder ihres Daseins gewöhnt haben, abhanden.

Alles, was Krymow im gegenwärtigen Leben falsch und verfehlt erschienen war, hier in Stalingrad war es nicht zu spüren.

»So war’s, als Lenin noch gelebt hat«, dachte er.

Er hatte das Gefühl, dass er hier ein anderes Verhältnis zu den Leuten hatte, ein besseres als vor dem Krieg. Er empfand sich nicht als Stiefsohn der Zeit, nein, es war genau so wie während der Einkesselung zu Beginn des Krieges. Erst vor kurzem hatte er sich noch jenseits der Wolga mit Vergnügen auf seine Referate vorbereitet und es nur für selbstverständlich gehalten, dass ihn die politische Abteilung auf eine Lektorenstelle gesetzt hatte.

In jüngster Zeit aber bohrte in ihm ständig ein bedrückendes Gefühl des Gekränktseins. Weshalb hatte man ihn vom Posten des Kriegskommissars abgesetzt? Er hatte doch sein Amt nicht schlechter, eher besser als viele andere ausgefüllt.

Gut kam er in Stalingrad mit den Leuten aus. Gleichheit und Würde lebten nebeneinander auf diesem blutüberströmten lehmigen Abhang.

Fast überall in Stalingrad war Interesse vorhanden für den Aufbau der Kolchosen nach dem Krieg, für die künftigen Beziehungen zwischen den großen Völkern und ihren Regierungen. Der Kriegsalltag der Rotarmisten und ihre Arbeit mit dem Spaten, mit dem Kartoffelschäler oder mit dem Schustermesser, wenn sie Bataillonsschuster waren – alles schien einen direkten Bezug zum Leben des eigenen Volkes und dem der anderen Völker und Staaten nach dem Krieg zu haben.

Fast alle glaubten, dass das Gute im Krieg siegen würde und dass rechtschaffene Männer, die ihr eigenes Leben nicht geschont hatten, ein gutes und gerechtes Dasein würden aufbauen können. Zu diesem rührenden Glauben bekannten sich Männer, die der Meinung waren, dass es ihnen wohl selbst kaum beschieden sei, je wieder den Frieden zu erleben, die jeden Abend darüber staunten, dass sie den Tag überlebt hatten.

55

Am Abend fand sich Krymow nach einem Referat im Unterstand bei Oberstleutnant Batjuk zu Gast, dem Kommandeur der Division, die auf den Hängen des Mamajew-Hügels und bei der Banny-Schlucht Stellung bezogen hatte.

Batjuk, ein Mann von gedrungenem Wuchs mit dem von der Erschöpfung des Kampfes gezeichneten Gesicht des Frontsoldaten, freute sich über den Besuch Krymows.

Auf Batjuks Tisch wurden zum Abendessen eine gute Sülze und eine heiße hausgemachte Pirogge aufgetragen. Batjuk schenkte Krymow Wodka ein und meinte dabei augenzwinkernd: »Als ich hörte, dass Sie mit Ihren Referaten zu uns kommen würden, fragte ich mich, zu wem Sie wohl zuerst gehen würden – zu Rodimzew oder zu mir. Aber dann waren Sie doch zuerst bei Rodimzew.«

Er ächzte und lachte.

»Wir leben hier wie auf dem Dorf. Wenn es abends still wird, fangen wir an, uns gegenseitig zuzurufen – ›was hast du zu Mittag gegessen, wer ist bei dir gewesen, zu wem gehst du, was hat die Führung zu dir gesagt, wer hat die bessere Sauna und über wen ist in der Zeitung geschrieben worden‹; über uns schreibt keiner, immer bloß über Rodimzew; wenn man nach den Zeitungen geht, ist er der Einzige, der in Stalingrad kämpft.«

Batjuk bewirtete den Gast, nahm selbst jedoch nur Tee und Brot zu sich. Er machte sich nichts aus gutem Essen.

Krymow fiel auf, dass Batjuks gelassene Gesten und seine schwerfällige ukrainische Redeweise nicht den schwierigen Gedankengängen entsprachen, denen er gerade nachhing.

Nikolai Grigorjewitsch war betrübt, dass ihm Batjuk keine einzige Frage stellte, die sich auf sein Referat bezog, so als hätte dieses gar nicht die Themen berührt, die Batjuk wirklich beschäftigten.

Batjuks Schilderung der ersten Kriegsstunden setzte Krymow in Erstaunen. Während des allgemeinen Rückzugs von der Grenze hatte Batjuk sein Regiment nach Westen geführt, um die Übergangsstellen von den Deutschen zurückzuerobern. Das auf der Landstraße zurückweichende Oberkommando glaubte, dass er zu den Deutschen überlaufen wolle. Auf dieser Landstraße wurde nach einem Verhör, das aus hemmungslosem Fluchen und hysterischem Geschrei bestand, an Ort und Stelle der Befehl zu seiner Erschießung erteilt. In letzter Minute – er stand schon unter dem Baum – hatten die Rotarmisten ihren Kommandeur freibekommen können.

»Ja, Genosse Oberstleutnant«, sagte Krymow, »das war kein Scherz.«

»Einen Herzschlag habe ich nicht bekommen«, antwortete Batjuk, »aber einen Herzfehler habe ich mir doch geholt, das schon.«

Krymow sagte in etwas theatralischem Ton: »Hören Sie die Schüsse in Rynok? Irgendwas ist da bei Gorochow im Gange.«

Batjuk warf ihm einen schrägen Blick zu.

»Was wird der schon machen, wahrscheinlich spielt er Karten.«

Krymow sagte, dass man ihn auf das Treffen hingewiesen habe, das Batjuk mit den Scharfschützen abhalten wolle; er fände es interessant, bei diesem Treffen dabei zu sein.

»Aha, interessant, ja natürlich, warum nicht«, sagte Batjuk.

Sie sprachen über die Lage an der Front. Batjuk war über die geheime, sich in den Nächten vollziehende Konzentration deutscher Streitkräfte am nördlichen Frontabschnitt beunruhigt.

Als sich die Scharfschützen im Unterstand des Divisionskommandeurs versammelten, wurde Krymow klar, für wen die Pirogge gebacken worden war.

Auf den Bänken, die an den Wänden und um den Tisch herum aufgestellt waren, ließen sich Männer in wattierten Jacken nieder; sie waren verlegen, befangen und doch selbstbewusst. Die Neuankömmlinge stellten ihre Maschinenpistolen und Gewehre in die Ecke, bemüht, keinen Lärm zu machen, wie Arbeiter, die ihre Spaten und Äxte aus der Hand legen.

Das Gesicht des berühmten Scharfschützen Saizew wirkte freundlich und anziehend – ein netter, ruhiger Bauernbursche. Doch als Wassili Saizew den Kopf wandte und die Augen zukniff, hatte es plötzlich fast brutale Züge.

Krymow erinnerte sich an eine Beobachtung, die er zufällig einmal vor dem Krieg gemacht hatte: Eines Tages, auf einer Sitzung, hatte er einen alten Bekannten aufmerksam betrachtet und dabei plötzlich festgestellt, dass dessen sonst stets so energisch wirkendes Gesicht vollkommen verändert aussah – die blinzelnden Augen, die hängende Nase, der halb geöffnete Mund und das fliehende Kinn ergaben zusammen das Porträt eines willenlosen, ausdrucksleeren Mannes.

Neben Saizew saßen der Granatwerferschütze Besdidko, ein schmalbrüstiger Mann mit braunen, lachenden Augen, und der junge Usbeke Suleiman Chalimow, dessen Gesicht mit dem weichen Mund noch einen fast kindlichen Ausdruck trug. Artilleriescharfschütze Mazegur, der sich ständig mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte, wirkte wie ein friedlicher Familienvater – ein Aussehen, das mit der schrecklichen Tätigkeit eines Scharfschützen ganz und gar nicht zu vereinbaren war.

Die übrigen Scharfschützen – die Artillerieleutnants Schuklin, Tokarew, Manschulja, Bulatow und Solodki, machten allesamt einen schüchternen und gehemmten Eindruck.

Batjuk fragte die Ankömmlinge aus; mit seinem gesenkten Kopf wirkte er wie ein wissbegieriger Schüler und nicht wie einer der erfahrensten und kenntnisreichsten Kommandeure von Stalingrad.

Als er sich an Besdidko wandte, leuchtete in den Augen aller Anwesenden die fröhliche Erwartung eines Scherzes auf.

»Na, wie steht’s bei dir, Besdidko?«

»Gestern hab ich den Deutschen gründlich den Marsch geblasen, Genosse Oberstleutnant, das haben Sie ja alle gehört; seit heute Morgen habe ich fünf Fritzen umgelegt und dabei vier Granaten verbraucht.«

»Das reicht aber noch nicht an Schuklins Leistung heran; mit einer Kanone hat er vierzehn Panzer zerstört.«

»Er hat sie mit einer Kanone zerstört, weil ihm nur eine Kanone in seiner Batterie übrig geblieben war.«

»Ein Bordell hat er den Deutschen kaputtgemacht«, sagte der schöne Bulatow und wurde rot.

»Ich habe es als ganz gewöhnlichen Unterstand eingetragen.«

»Aha, Unterstand«, meinte Batjuk, »heute hat mir eine Granate die Tür rausgerissen.« An Besdidko gewandt, fügte er vorwurfsvoll hinzu: »Und ich dachte, jetzt schau einer mal diesen Hundesohn Besdidko an, was der da macht. Hab ich ihm etwa beigebracht, so zu schießen?«

Der Richtkanonier Manschulja, der besonders verlegen schien, nahm ein Stück Pirogge und sagte leise: »Ein guter Teig, Genosse Oberstleutnant.«

Batjuk klopfte mit einer Gewehrpatrone ans Glas.

»Also, Genossen, jetzt aber Spaß beiseite.«

Es war eine Produktionsberatung, die in den Feldstützpunkten in der gleichen Weise abgehalten wurde wie in den Fabriken. Hier saßen jedoch keine Weber, Bäcker oder Schneider beisammen, und nicht über Getreide und Dreschertrag wurde gesprochen.

Bulatow erzählte, wie er, als er einen Deutschen eng umschlungen mit einer Frau auf der Straße habe gehen sehen, die beiden gezwungen habe, sich auf den Boden zu werfen, und wie er sie, bevor er sie tötete, etwa dreimal habe aufstehen und sich wieder hinwerfen lassen, während er zwei bis drei Zentimeter vor ihren Füßen durch Kugeleinschläge kleine Staubwölkchen aufgewirbelt habe.

»Ich hab ihn umgelegt, als er sich über sie beugte, so lagen sie dann über Kreuz auf der Straße.«

Bulatow erzählte seine Geschichte träge; und es war eine so schreckliche Geschichte, wie sie Soldaten sonst nie erzählen.

»He, Bulatow, gib doch nicht so an«, unterbrach ihn Saizew.

»Ich gebe nicht an«, sagte Bulatow verständnislos. »Nach meiner Rechnung waren es heute achtundsiebzig. Der Genosse Kommissar lässt keinen Schwindel zu, hier – seine Unterschrift.«

Krymow hätte sich gern in das Gespräch eingemischt und gesagt, dass unter den von Bulatow niedergestreckten Deutschen doch auch Arbeiter, Revolutionäre und Internationalisten hätten sein können. Das müsse man doch im Auge behalten, sonst könne man ja leicht zum Chauvinisten werden. Doch Nikolai Grigorjewitsch schwieg. Diese Gedanken taugten nicht für den Krieg, sie stärkten nicht den Kampfgeist, sondern schwächten ihn eher.

Der lispelnde weißblonde Solodki erzählte, wie er gestern acht Deutsche getötet habe. Dann setzte er hinzu: »Also, ich selbst bin Bauer von einer Kolchose bei Umansk. Die Faschisten haben in meinem Dorf großes Unheil angerichtet. Ich selbst hab ganz schön Blut verloren – war dreimal verwundet. Da hab ich eben die Kolchose an den Nagel gehängt und bin Scharfschütze geworden.«

Der mürrische Tokarew erklärte, dass man sich am besten eine Stelle an der Straße aussuchen solle, auf der die Deutschen zum Wasserholen und zu den Küchen gingen; dann fügte er wie beiläufig hinzu: »Meine Frau schreibt, dass vor Moschaisk viele in der Gefangenschaft umgekommen sind. Den Sohn haben sie mir umgebracht, weil ich ihn Wladimir Iljitsch genannt habe.«

Chalimow erzählte aufgeregt: »Ich beeile mich nie; ich schieße erst, wenn ich richtig wütend bin. Ich kam an die Front, mein Freund war Sergeant Gurow, ich brachte ihm Usbekisch bei und er mir Russisch. Der Deutsche hat ihn umgelegt; dafür hab ich zwölf erledigt. Hab einem Offizier den Fernstecher abgenommen und mir um den Hals gehängt. Befehl ausgeführt, Genosse Politruk.«

Schrecklich waren diese Abrechnungen der Scharfschützen über ihre Tagesleistungen. Sein ganzes Leben lang hatte Krymow die gebildeten Waschlappen verlacht; Jewgenia Nikolajewna und Strum hatte er verspottet, als sie sich über die Leiden der Entkulakisierten zur Zeit der Kollektivierung entsetzten. Über die Ereignisse des Jahres 1937 hatte er zu Jewgenia Nikolajewna gesagt: »Es ist nicht schlimm, wenn sie die Feinde vernichten, die kann von mir aus der Teufel holen, schrecklich ist es, wenn sie die eigenen Leute umbringen.«

Jetzt hätte er gern sagen wollen, dass er stets, ohne zu zögern, bereit gewesen sei, die weißgardistischen Schurken, das menschewikische und sozialrevolutionäre Gesindel, die Popen und Kulaken zu vernichten, dass sich in seinem Herzen niemals auch nur eine Spur von Mitleid für die Feinde der Revolution geregt habe, dass man sich jedoch nicht darüber freuen dürfe, dass man in einem Aufwasch mit den Faschisten auch deutsche Arbeiter töte. Diese Berichte waren grauenvoll, mochten die Scharfschützen auch noch so gut wissen, für welches Ziel sie ihre Arbeit verrichteten.

Saizew fing an, von seinem mehrtägigen Wettkampf mit einem deutschen Scharfschützen am Fuß des Mamajew-Hügels zu erzählen. Der Deutsche wusste, dass Saizew ihm auf den Fersen war, und war selbst hinter Saizew her. Sie schienen beide ungefähr ebenbürtige Gegner zu sein und konnten einander nicht bezwingen.

»An dem Tag hatte er drei von uns niedergemacht, ich aber sitze in meinem Unterstand, keinen einzigen Schuss hab ich abgegeben. Da feuert er seinen letzten Schuss ab, keiner war danebengegangen, der Soldat fällt um, liegt auf der Seite, den Arm seitlich ausgestreckt. Da kommt aus ihrer Richtung ein Soldat mit einem Papier, ich sitz noch immer da, schaue nur … Er aber – das ist mir klar – weiß ganz genau, dass ein Scharfschütze, wenn er hier auf seinem Platz säße, den Typ mit dem Papier umgelegt hätte, der Typ aber kommt unbehelligt durch. Und ich begreife, dass er von dort, wo er sich befindet, nicht den Soldaten sehen kann, den er getötet hat, und dass er ihn sich gern ansehen möchte. Dann Stille. Ein zweiter Deutscher kommt vorbei, mit einem Wassereimer — ich schieße immer noch nicht. Es vergehen noch sechzehn Minuten – da fängt er an, sich aufzurichten. Steht auf. Und auch ich steh in voller Größe auf …«

Alles noch einmal erlebend, hatte Saizew sich vom Tisch erhoben; und jener besondere Ausdruck von Stärke, der vor kurzem über sein Gesicht gehuscht war, war jetzt zum einzig beherrschenden Gesichtsausdruck geworden. Das war nicht mehr der gutmütige, breitnasige Bursche – die geblähten Nüstern, die breite Stirn und die Augen, in denen die Begeisterung über einen furchtbaren Triumph brannte, hatten nun etwas Mächtiges, Löwenhaftes, Unheildrohendes angenommen.

»Er kapiert, hat mich erkannt. Und ich schieße.«

Einen Augenblick lang herrschte Stille. So still war es wahrscheinlich gestern nach dem kurzen Knall des Schusses gewesen; es war, als hörte man wieder den dumpfen Aufprall des menschlichen Körpers. Batjuk wandte sich plötzlich an Krymow und fragte: »Na, wie finden Sie das? Interessant?«

»Gut gemacht«, sagte Krymow, nichts weiter.

Er übernachtete bei Batjuk.

Batjuk zählte, nur die Lippen bewegend, die Tropfen einer Herzmedizin in ein Schnapsglas und goss Wasser dazu.

Gähnend erzählte er Krymow, was in der Divison alles passiert war; er sprach nicht über die Kämpfe, sondern über alle möglichen Vorkommnisse des täglichen Lebens.

Krymow hatte den Eindruck, als stünde alles, was Batjuk sagte, in direktem Zusammenhang mit dem, was Batjuk selbst in den ersten Kriegsstunden widerfahren war; alle seine Gedanken waren von dieser Geschichte bestimmt.

Seit seinen ersten Stalingrader Stunden hatte Krymow ein gewisses merkwürdiges Gefühl nicht loswerden können.

Manchmal kam es ihm so vor, als sei er irgendwohin geraten, wo es keine Partei gab. Dann wieder schien ihm genau das Gegenteil der Fall zu sein, und es war ihm, als atme er die Luft der ersten Stunden der Revolution.

Plötzlich fragte Krymow: »Sind Sie schon lange in der Partei, Genosse Oberstleutnant?«

»Was soll das heißen, Genosse Bataillonskommissar? Haben Sie etwa den Eindruck, ich sei nicht linientreu?«

Krymow antwortete nicht sofort.

Dann sagte er zum Divisionskommandeur: »Wissen Sie, ich gelte als ganz guter Parteiredner und bin auf großen Arbeiterkundgebungen aufgetreten. Hier aber habe ich die ganze Zeit das Gefühl, dass nicht ich es bin, der lenkt, sondern dass ich gelenkt werde. Das ist seltsam. So hätte ich mich zum Beispiel gern in die Unterhaltung Ihrer Scharfschützen eingemischt und da einiges richtigstellen wollen. Aber dann habe ich mir überlegt, die Klugen zu belehren hieße, sie zu verderben. Doch wenn ich die Wahrheit sagen soll, ich habe nicht nur deshalb geschwiegen. Die Politabteilung weist ihre Referenten an, den Soldaten bewusstzumachen, dass die Rote Armee eine Armee der Rächer ist. Ich aber komme hier an und will über Internationalismus und Klassengeist reden. Die Hauptsache ist doch, die Wut der Massen gegen die Feinde zu mobilisieren! So wäre es mir nur ergangen wie dem Dummkopf im Märchen – er ging auf eine Hochzeit und hielt eine Grabrede.«

Nach kurzem Nachdenken sagte er: »Ja, und die Gewohnheit … gewöhnlich mobilisiert die Partei den Zorn und die Wut der Massen gegen den Feind mit dem Ziel, ihn zu schlagen und zu vernichten. Der christliche Humanismus taugt nicht für unsere Sache. Unser sowjetischer Humanismus ist rau … Wir machen nicht lang Federlesen …«

Wieder dachte er nach und sagte: »Natürlich spreche ich jetzt nicht von Fällen wie dem Ihren, als man Sie damals wegen nichts und wieder nichts erschießen wollte. Und auch siebenunddreißig ist es vorgekommen, dass man die eigenen Leute umgebracht hat: All das ist ein wahres Unglück für uns. Die Deutschen aber sind ins Vaterland der Arbeiter und Bauern einmarschiert, also, was soll’s? Krieg ist Krieg! Es geschieht ihnen ganz recht.«

Krymow wartete auf eine Antwort von Batjuk, doch der schwieg, nicht etwa, weil er über Krymows Äußerungen bestürzt, sondern weil er eingeschlafen war.

56

In der Halle mit den Martinsöfen des Werks »Roter Oktober« liefen im hohen Halbdämmer Männer in wattierten Jacken hin und her, fielen widerhallend Schüsse, sprang rasch eine Flamme auf, war die Luft halb von Qualm und halb von Nebel eingetrübt.

Divisionskommandeur Gurjew hatte die Regimentsgefechtsstände in den Schmelzöfen eingerichtet. Krymow dachte einen Augenblick lang, dass die Männer, die da in den Öfen saßen, in denen noch vor kurzem Stahl gekocht wurde, von einem besonderen Schlag sein mussten – ihre Herzen mussten aus Stahl sein.

Hier waren bereits die Schritte deutscher Stiefel zu vernehmen und Kommandoschreie, aber auch das gedämpfte Klicken und Klirren, wenn die Deutschen ihre Maschinenpistolen mit den hornförmigen Magazinen nachluden.

Als Krymow, den Kopf zwischen den Schultern, durch die Feuertür in den Ofen hineinkroch, in dem sich der Gefechtsstand des Schützenregimentskommandeurs befand, und an den Händen die selbst nach einigen Monaten noch nicht ganz ausgekühlte Wärme spürte, die sich in dem feuerfesten Stein verborgen hielt, überkam ihn eine gewisse Scheu – es schien ihm, als würde sich ihm jetzt das Geheimnis des großen Widerstands eröffnen.

Im Halbdämmer machte er einen kauernden Mann aus, sah sein breites Gesicht, hörte eine angenehme Stimme: »Da haben wir ja einen Gast in unserem Facettenpalast. Seien Sie willkommen. Wie wär’s mit einem Zehntelchen Wodka und einem harten Ei als Sakuska?«

Krymow ging durch den Kopf, dass er wohl niemals Jewgenia Nikolajewna erzählen würde, wie sehr er an sie gedacht hatte, als er in die Stalingrader Martinshöhle hineingekrochen war. Früher hatte er sie um jeden Preis loswerden, sie vergessen wollen. Doch jetzt hatte er sich damit abgefunden, dass sie ihm unablässig folgte. Da war sie auch in den Ofen gekrochen, die Hexe, man konnte sich einfach nicht vor ihr verstecken.

Natürlich, es war ja alles sonnenklar. Wer brauchte schon einen Stiefsohn der Zeit? Zu den Invaliden, zur Verseifung, zu den Rentnern mit ihm! Ihr Weggang hatte die ganze Hoffnungslosigkeit seines Lebens bestätigt – selbst hier, in Stalingrad, gab es für ihn keine echte militärische Aufgabe.

Abends nach seinem Referat unterhielt sich Krymow in ebendieser Werkshalle mit General Gurjew. Gurjew saß ohne Uniformjacke da, ab und zu wischte er sich sein rotes Gesicht mit dem Taschentuch ab; mit lauter, heiserer Stimme bot er Krymow Wodka an und schrie zugleich die Befehle für seine Regimentskommandeure ins Telefon; mit derselben lauten, heiseren Stimme fuhr er den Koch an, der es nicht verstanden hatte, einen Schaschlik nach allen Regeln der Kochkunst zuzubereiten, und telefonierte dann seinen Nachbarn Batjuk an, um ihn zu fragen, ob er Zeit hätte, oben auf dem Mamajew-Hügel eine Runde Domino zu spielen.

»Die Leute bei uns sind im Allgemeinen in Ordnung«, sagte Gurjew, »Batjuk ist ein gescheiter Kerl; General Scholudew in der Traktorenfabrik ist ein uralter Freund von mir. Der Oberst Gurtjew auf den ›Barrikaden‹ ist auch ein netter Bursche, aber er ist schon wirklich zu enthaltsam, hat dem Wodka gänzlich abgeschworen. Das ist natürlich falsch.«

Dann begann er Krymow zu erklären, dass kein anderer nur noch so wenige Bajonette habe wie er; dass man zu keinem so schwierig übersetzen könne wie zu ihm – ein Drittel müsse manchmal verwundet von den Motorschiffen geborgen werden; höchstens Gorochow in Rynok sei noch genauso schlecht dran.

»Gestern hat Tschuikow meinen Stabschef Schuba zu sich beordert, irgendwas stimmte nicht bei seiner Berichtigung der vordersten Linie, da kam mein Oberst Schuba ganz geknickt zurück.«

Er sah Krymow eine Weile an und sagte dann: »Glauben Sie, ich hätte ihm den Kopf gewaschen?«, und lachte. »Was ist schon so eine Abreibung? Jeden Tag wasche ich ihm den Kopf. Die Zähne hab ich ihm ausgeschlagen, die ganze vordere Reihe.«

»Ja«, sagte Krymow gedehnt. Dieses »ja« drückte aus, dass die Achtung vor der Menschenwürde auf dem Stalingrader Abhang offenbar nicht immer Vorrang hatte.

Dann erging sich Gurjew in Überlegungen, warum die Journalisten so schlecht über den Krieg schrieben.

»Die warten in Sicherheit ab, die Hundesöhne, selber sehen sie nichts, sitzen jenseits der Wolga in der hintersten Etappe und schreiben. Wer sie am besten bewirtet, über den schreiben sie. Lew Tolstoi dagegen hat ›Krieg und Frieden‹ geschrieben. Das ist ein Buch, das haben die Leute schon hundert Jahre lang gelesen und werden es noch hundert Jahre lang lesen. Und warum? Weil er selbst am Krieg teilgenommen, selbst gekämpft hat; der hat gewusst, über wen er schreiben musste.«

»Entschuldigen Sie, Genosse General«, sagte Krymow, »Tolstoi hat nicht am Vaterländischen Krieg teilgenommen.«

»Was soll das heißen, wie soll er denn nicht teilgenommen haben?«, fragte der General.

»Ganz einfach, er hat nicht teilgenommen«, erwiderte Krymow. »Tolstoi war noch nicht einmal geboren, als der Krieg gegen Napoleon stattfand.«

»War noch nicht geboren?«, fragte Gurjew zurück. »Wie denn das, war noch nicht geboren? Wer hat es dann für ihn geschrieben, wenn er noch nicht geboren war? Ha? Was meinen Sie?«

Plötzlich entbrannte ein wütender Streit zwischen ihnen. Dies war der erste Streit, der nach einem Referat von Krymow ausbrach. Zu dessen Verwunderung endete er damit, dass es ihm nicht gelang, den Gesprächspartner von seinen Argumenten zu überzeugen.

57

Am folgenden Tag kam Krymow in die Fabrik »Barrikaden«, wo die Sibirische Schützendivision von Oberst Gurtjew lag.

Von Tag zu Tag zweifelte er stärker daran, ob denn seine Referate überhaupt nötig waren. Manchmal schien es ihm, als höre man ihm nur aus Höflichkeit zu, so wie Ungläubige einem alten Geistlichen zuhören. Zugegeben, man war über sein Kommen erfreut, doch er verstand, dass man sich über seinen Besuch freute und nicht über seine Reden. Er war nun einer jener Mitarbeiter der Politabteilung in der Armee, die sich mit Papierkrieg beschäftigten, herumlungerten und die aktiv Kämpfenden störten. Nur diejenigen Mitarbeiter für politische Bildungsarbeit wurden akzeptiert, die nicht fragten, nicht aufklärten, keine langen Rechenschaftsberichte und Meldungen schrieben und keine Agitation betrieben, sondern einfach kämpften.

Er erinnerte sich an seine Universitätsvorlesungen über den Marxismus-Leninismus vor dem Krieg; sowohl er wie auch seine Hörer hatten sich tödlich gelangweilt, als sie den »Kurzen Lehrgang der Parteigeschichte« wie den Katechismus durchnahmen.

Damals, im Frieden, war diese Langeweile unumgänglich gewesen wie ein Gesetz, hier jedoch, in Stalingrad, wurde sie zum blanken Unsinn. Was sollte das alles?

Krymow traf sich mit Gurtjew am Eingang zum Stabsunterstand; in dem hageren Mann, der mit einem knappen, seiner Größe nicht entsprechenden Soldatenmantel bekleidet war und wasserdichte Stiefel trug, erkannte er nicht sogleich den Divisionskommandeur.

Krymows Referat fand in dem weiträumigen, niedrig gebauten Unterstand statt. Während seines ganzen Aufenthalts in Stalingrad hatte Krymow noch nie ein solches Artilleriefeuer gehört wie diesmal. Man musste dauernd schreien.

Der Divisionskommissar Swirin, ein Mann, der laut und gewandt Reden halten konnte, die sich durch ihren Reichtum an Humor und scharfsinnigen Bemerkungen auszeichneten, sagte vor Beginn des Referats: »Weshalb sollten wir hier die Zuhörerschaft auf die oberen Kommandeurkader beschränken? Also, meine Herren Topografen, freie Soldaten der Wachkompanie, nicht diensttuende Funker und Melder, ich lade Sie ein zu dem Referat über die internationale Lage! Nach dem Referat gibt’s einen Film und danach Tanz bis zum Morgengrauen.« Er zwinkerte Krymow zu, als wolle er sagen: »Na denn, dann haben wir heute noch eine Veranstaltung außer der Reihe, damit Sie auf Ihre und wir auf unsere Kosten kommen.«

An der Art, wie Gurtjew lächelnd den lärmenden Swirin ansah und wie Swirin wiederum Gurtjew den Mantel zurechtzupfte, den dieser sich um die Schultern gehängt hatte, spürte Krymow den freundschaftlichen Geist, der in diesem Unterstand herrschte.

Und aus der Art, wie Swirin, die ohnehin schon schmalen Augen zukneifend, den Stabschef Sawrassow anblickte und wie dieser unwillig, mit unzufriedener Miene, einen ärgerlichen Blick zu Swirin hinüberwarf, schloss Krymow, dass nicht nur der Geist der Freundschaft und Kameradschaft in diesem Unterstand herrschte.

Sofort nach dem Referat verließen der Divisionskommandeur und der Divisionskommissar auf den dringenden Anruf des Armeeoberbefehlshabers hin den Unterstand. Krymow unterhielt sich mit Sawrassow, einem Mann von sichtlich schwierigem und heftigem Charakter, ehrgeizig und leicht beleidigt. Vieles an ihm – der Ehrgeiz, die Heftigkeit, der spöttische Zynismus, mit dem er über andere sprach – war abstoßend.

Sawrassow stimmte, zu Krymow gewandt, einen Monolog an: »In Stalingrad kommst du in irgendein Regiment und weißt – der Stärkste und Entschlossenste im Regiment ist der Regimentskommandeur! Das steht schon mal fest. Hier schaut man nicht mehr drauf, wie viel Heu einer hat. Man schaut nur auf eins – ob er Grips hat … Hat er ihn, dann ist’s gut. Hier kann man niemandem etwas weismachen. Aber im Frieden, wie war’s denn da?« Er lächelte Krymow mit seinen gelben Augen gerade ins Gesicht. »Wissen Sie, ich kann Politik nicht ausstehen. Alle diese Rechten, Linken, Opportunisten und Theoretiker. Die ganzen Halleluja-Schreier kann ich einfach nicht leiden. Mich wollten sie aber auch ohne Politik an die zehnmal drankriegen. Es ist noch ein Glück, dass ich nicht in der Partei bin – mal wollen sie mir anhängen, ich sei ein Saufbold, mal stellt sich heraus, dass ich ein Weiberheld bin. Soll ich mich etwa selbst verleugnen? Das kann ich nicht.«

Krymow hätte Sawrassow gern gesagt, dass sein eigenes Schicksal gerade hier in Stalingrad unter keinem günstigen Stern stand, dass er ohne rechte Aufgabe herumhing. Warum war Wawilow und nicht er Kommissar in Rodimzews Division? Warum vertraute die Partei Swirin mehr als ihm? Er war doch auch intelligent, hatte einen breiteren Horizont und mehr Parteierfahrung als dieser; an Mut fehlte es ihm nicht, und wenn es sein musste, fehlte es ihm auch nicht an Grausamkeit, seine Hand zitterte nicht … Im Grunde genommen sind sie doch im Vergleich mit ihm nur Likbesowzy!32 Deine Zeit ist um, Genosse Krymow, troll dich!

Dieser gelbäugige Oberst fachte seinen Zorn bis zur Weißglut an.

Ja, was gab es denn hier noch zu zweifeln, lieber Gott, auch im Privatleben war er ja gescheitert, war es bergab mit ihm gegangen. Natürlich lag es nicht daran, dass Genia seine materiell äußerst begrenzten Möglichkeiten klar erkannt hatte. Das war ihr egal. Sie war ein integrer Mensch. Sie liebte ihn nicht mehr, das war’s! In die von gestern, in die Geschlagenen verliebt man sich nicht. Ein Mann ohne Heiligenschein. Ja, ja, er war aus der Nomenklatura rausgeflogen … Übrigens, integer war sie, da war nichts zu sagen, doch auch für sie spielte das Materielle durchaus eine Rolle. Dem armen Maler war sie auch nicht gefolgt, obwohl sie seine stümperhaft zusammengeklecksten Hirngespinste als genial bezeichnet hatte.

Viel davon hätte er dem gelbäugigen Obersten ins Gesicht sagen mögen, doch schließlich ging er nur auf das ein, worin er mit ihm übereinstimmte.

»Na, nun mal aber langsam, Genosse Oberst, Sie vereinfachen schon sehr. Vor dem Krieg schaute man nicht nur darauf, wie viel Heu einer hatte. Die Kader nur nach sachlichen Kriterien auswählen, das darf man ja nun auch wieder nicht.«

Aber der Krieg gestattete ihnen nicht, ein Gespräch über das, was vor dem Krieg gewesen war, zu führen. Schwerer Detonationsdonner brach los, aus Nebel und Qualm tauchte ein sorgenvoller Hauptmann auf, es kamen Anrufe aus dem Regiment an den Stab. Ein deutscher Panzer hatte das Feuer auf den Regimentsstab eröffnet, und die MP-Schützen, die im Schutz des Panzers durchgeschlüpft waren, waren in das Steinhaus eingedrungen, in dem sich die Kommandeure der Schwerartilleriedivision befanden; die Kommandeure, die im ersten Stock saßen, hatten den Kampf mit den Deutschen aufgenommen. Der Panzer hatte das benachbarte Holzhaus in Brand gesteckt, und ein starker, von der Wolga her wehender Wind hatte die Flammen in den Gefechtsstand des Regimentskommandeurs Tschamow hinübergetragen; Tschamow und sein Stab waren nahe am Ersticken gewesen, sodass sich Tschamow entschloss, den Gefechtsstand zu verlegen. Doch den Gefechtsstand am Tage zu verlegen, unter Artilleriefeuer und peitschenden Feuerstößen aus schweren Maschinengewehren – das war sehr schwierig.

Dies alles vollzog sich gleichzeitig im Verteidigungsabschnitt der Division. Die einen fragten um Rat, die anderen baten um Artillerieunterstützung, die Dritten baten um Rückzugserlaubnis, die Vierten gaben Informationen, die Fünften wollten Informationen. Jeder hatte ein besonderes Anliegen, allen gemeinsam war nur, dass es um Leben oder Tod ging.

Kaum hatte sich die Lage etwas beruhigt, da fragte Sawrassow Krymow: »Genosse Bataillonskommissar, wollen wir nicht zu Mittag essen, solange die Führung noch nicht wieder aus dem Armeestab zurück ist?«

Er ordnete sich nicht der vom Divisionskommando eingeführten Regel unter – und verzichtete nicht auf Wodka. Deshalb schlug er vor, getrennt zu essen.

»Gurtjew ist ein guter Soldat«, sagte der schon leicht angetrunkene Sawrassow kurz darauf beim Mittagstisch, »gebildet, ehrlich. Das Schlimme ist nur, dass er ein grässlicher Asket ist. Ein Kloster hat er gegründet. Ich aber bin ganz scharf auf Mädchen, bin spitz wie Lumpi. Wenn Gurtjew dabei ist, dann gnade dir Gott, wenn du es wagst, einen Witz zu reißen. Doch kämpfen lässt sich’s mit ihm im Allgemeinen prima. Aber der Kommissar mag mich nicht, obwohl er seiner Natur nach ebenso wenig ein Mönch ist wie ich. Glauben Sie, Stalingrad hätte mich älter werden lassen? Dank dieser Freunde bin ich hier wieder völlig auf den Damm gekommen.«

»Ich gehöre ja auch diesem Schlag an«, sagte Krymow.

»Ja und nein. Der Wodka allein macht’s nicht, sondern das da« – er tippte mit dem Finger an die Flasche und dann an die Stirn.

Sie hatten die Mahlzeit schon beendet, als der Kommandeur und der Kommissar der Division von Tschuikows Gefechtsstand zurückkehrten.

»Was gibt’s Neues?«, fragte Gurtjew rasch und streng mit einem Blick auf den Tisch.

»Also, den Führer des Verbindungstrupps haben sie uns verwundet, an der Naht sind die Deutschen mit Scholudew zusammengerempelt, das Häuschen an der Naht von Tschamow und Michalew haben sie angezündet. Tschamow hat geniest und ein bisschen zu viel Rauch geschluckt, aber im Allgemeinen war nichts Besonderes«, antwortete Sawrassow.

Swirin betrachtete Sawrassows gerötetes Gesicht und sagte gedehnt in liebevoll-spöttischem Ton: »Nur zu, Genosse Oberst, immer mal wieder einen heben.«

58

Der Divisionskommandeur erkundigte sich bei dem Regimentskommandeur, Major Berjoskin, nach der Lage im Haus »sechs Strich eins«; ob es nicht besser wäre, die Leute von dort wegzuholen?

Berjoskin riet dem Divisionskommandeur, die Leute nicht herauszuholen, obwohl dem Haus die Einkesselung drohe. In dem Haus befänden sich die Beobachtungsstände, die die Artillerie jenseits der Wolga im Auge behielten und wichtige Daten über den Gegner übermittelten. In dem Haus befände sich außerdem ein Pioniertrupp, der die Bewegung der Deutschen in panzergefährdeten Frontabschnitten lahmlegen könne. Die Deutschen würden kaum zu einem allgemeinen Angriff ansetzen, bevor sie nicht dieses Widerstandsnest ausgeräumt hätten, ihre Regeln kenne man gut. Aber mit etwas Unterstützung könne sich das Haus »sechs Strich eins« lange halten und damit das deutsche Konzept durcheinanderbringen. Da die Melder sich nur in wenigen Nachtstunden in das belagerte Haus durcharbeiten könnten, die Fernsprechverbindung aber dauernd abreiße, wäre es gut, einen Funker mit einem Sendegerät hinüberzuschaffen.

Der Divisionskommandeur stimmte Berjoskin zu. In der Nacht konnte der Politruk Soschkin mit einer Gruppe Rotarmisten in das Haus »sechs Strich eins« vordringen und seinen Verteidigern ein paar Kisten Patronen und Handgranaten übergeben. Zugleich brachte Soschkin eine junge Funkerin und einen Sender, den man aus der Nachrichtenzentrale geholt hatte, dorthin.

Der gegen Morgen zurückgekehrte Politruk erzählte, dass der Kommandeur des Trupps sich geweigert habe, einen Rechenschaftsbericht zu schreiben, mit der Begründung: »Ich hab keine Zeit, mich mit blödem Papierkram zu befassen. Wir legen nur vor den Fritzen Rechenschaft ab.«

»Überhaupt blickt man bei denen dort nicht durch«, sagte Soschkin, »alle fürchten diesen Grekow, er aber geht mit ihnen wie mit Gleichgestellten um; sie schlafen alle in einer Reihe und er mitten unter ihnen; sie duzen ihn und nennen ihn ›Wanja‹. Verzeihen Sie, Genosse Regimentskommandeur, das ist keine militärische Unterabteilung, sondern eine Pariser Kommune.«

Berjoskin fragte kopfschüttelnd: »Hat sich geweigert, den Rechenschaftsbericht zu schreiben? So ein Teufelskerl!«

Daraufhin hielt der Regimentskommissar Piwowarow eine Rede über die Partisanenkommandeure.

Berjoskin sagte besänftigend: »Partisanentum, was ist schon dabei? Initiative und Selbstständigkeit ist das. Manchmal träume ich selber davon. Wenn ich doch nur mal in einen Kessel geriete und mich von all diesem Papierkrieg erholen könnte.«

»Apropos Papierkrieg«, sagte Piwowarow. »Sie schreiben einen ausführlichen Bericht. Ich werde ihn dem Divisionskommissar übergeben.«

In der Division zog Soschkins Rapport ernste Konsequenzen nach sich.

Der Divisionskommissar befahl Piwowarow, ausführliche Angaben über die Lage im Haus »sechs Strich eins« einzuholen und Grekow den Kopf zurechtzusetzen. Zugleich erstattete der Divisionskommissar einem Mitglied des Kriegsrats und dem Leiter der Politabteilung der Armee Meldung über den moralisch-politischen Missklang.

In der Armee nahm man die Aussagen des Politruks noch ernster als in der Division. Der Divisionskommissar erhielt die Weisung, sich unverzüglich der Angelegenheit mit dem eingeschlossenen Haus anzunehmen. Der Leiter der Politabteilung der Armee, ein Brigadekommissar, schrieb einen dringenden Bericht an den Leiter der Politabteilung der Front, einen Divisionskommissar.

Die Funkerin Katja Wengrowa kam nachts in das Haus »sechs Strich eins«. Am Morgen stellte sie sich dem »Hausoberhaupt« Grekow vor; der nahm die Meldung des Mädchens entgegen und sah ihr dabei in die verwirrten, ängstlichen und zugleich schelmischen Augen.

Sie hatte einen großen Mund mit blutleeren Lippen. Grekow wartete einige Sekunden ab, bevor er auf ihre Frage »Darf ich gehen?« antwortete.

In diesen Sekunden gingen ihm Gedanken durch den Kopf, die mit dem Krieg nichts zu tun hatten: »Nichts zu sagen, ein hübsches Mädchen … schöne Beine … sie hat Angst … offensichtlich Mamas Liebling. Wie alt mag sie sein, höchstens achtzehn. Dass sich meine Jungs nur nicht an sie ranmachen.«

Alle diese Überlegungen mündeten überraschend in den Gedanken: »Wer ist denn hier der Herr im Haus? Wer hat denn hier die Deutschen zur Weißglut gebracht?«

Dann antwortete er auf ihre Frage.

»Wo wollen Sie denn hin, Fräulein? Bleiben Sie neben Ihrem Apparat. Wir werden uns was ausdenken.«

Er tippte mit dem Finger auf das Funkgerät und schielte zum Himmel hinauf, an dem deutsche Bomber heulten.

»Sind Sie aus Moskau, Fräulein?«, fragte er.

»Ja«, erwiderte sie.

»Setzen Sie sich. Hier bei uns geht alles ganz einfach zu, wie auf dem Land.«

Die Funkerin trat zur Seite, die Ziegelbrocken knirschten unter ihren Stiefeln, die Sonne schien auf die Maschinengewehrmündungen und auf das schwarze Gehänge von Grekows erbeuteter Pistole. Sie setzte sich und betrachtete die Soldatenmäntel, die vor der zerstörten Wand auf einen Haufen geworfen waren. Einen Augenblick lang fand sie es seltsam, dass dieses Bild schon nichts Erstaunliches mehr für sie hatte. Sie wusste, dass die Maschinengewehre, die aus den Mauerbreschen ragten, vom System Degtjarew waren, wusste, dass im Patronenrahmen der erbeuteten »Walters« acht Patronen saßen, dass die »Walters« stark durchschlug, dass man aber schlecht mit ihr zielen konnte, wusste, dass die in der Ecke zusammengeworfenen Mäntel den Gefallenen gehört hatten und dass die Gefallenen nicht sehr tief begraben waren – der Brandgeruch mischte sich mit einem anderen Geruch, an den sie sich auch schon gewöhnt hatte. Und auch das Funkgerät, das sie diese Nacht bekommen hatte, glich dem, mit dem sie vor Kotluban gearbeitet hatte – die gleiche Empfangsskala, der gleiche Wellenschalter. Sie erinnerte sich daran, wie sie eines Tages, mitten in der Steppe, die staubige Scheibe des Amperemeters als Spiegel benutzt und ihre unter der Feldmütze hervorgerutschten Haare in Ordnung gebracht hatte.

Niemand sagte etwas zu ihr; es war, als ginge das stürmische, schreckliche Leben des Hauses an ihr vorüber.

Doch als ein grauhaariger Mann – aus der Unterhaltung hatte sie entnommen, dass er Granatwerferschütze war – einen hässlichen Fluch ausstieß, sagte Grekow: »Alter, was soll denn das? Hier sitzt doch unser Fräulein. Einen anständigeren Ton bitte!«

Katja lief es kalt den Rücken hinunter, aber nicht wegen der Flüche des Alten, sondern wegen des Blicks, den Grekow ihr dabei zuwarf.

Obwohl niemand mit ihr sprach, spürte sie, dass ihr Erscheinen in dem Haus einigen Aufruhr verursachte. Es war, als fühlte sie unter ihrer Haut die Spannung, die um sie herum entstanden war und die sogar anhielt, als die Sturzkampfflugzeuge aufheulten, Bomben ganz in der Nähe einschlugen und Ziegelbrocken auf sie herunterprasselten.

Sie hatte sich ja schließlich schon ein wenig an die Bombardierungen und an das Pfeifen der Splitter gewöhnt und verlor nicht mehr so schnell den Kopf. Aber die aufmerksamen Blicke der Männer, die sie schwer auf sich lasten fühlte, verwirrten sie immer noch.

Am Abend des Vortages hatten die Funkerinnen sie bedauert und gesagt: »Ach, angst und bange wird dir dort sein.«

Nachts hatte sie dann ein Verbindungsmann in den Regimentsstab geführt. Dort spürte man bereits deutlich die Nähe der Front, die Zerbrechlichkeit des Lebens. Die Menschen wirkten zerbrechlich – jetzt waren sie noch da, aber in einer Minute würde es sie vielleicht schon nicht mehr geben.

Der Regimentskommandeur hatte den Kopf geschüttelt und bekümmert ausgerufen: »Wie kann man nur solche Kinder in den Krieg schicken?«

Dann hatte er gesagt:

»Keine Angst, meine Kleine, wenn irgendwas nicht so ist, wie es sein soll, teilen Sie es mir direkt über den Sender mit.«

Er hatte das mit so gütiger, väterlicher Stimme gesagt, dass Katja nur mühsam die Tränen unterdrücken konnte.

Dann hatte sie ein anderer Verbindungsmann in den Bataillonsstab gebracht. Dort spielte das Koffergrammofon, und der rothaarige Bataillonskommandeur hatte Katja zum Trinken eingeladen und sie aufgefordert, zur »Chinesischen Serenade« mit ihm zu tanzen.

Aber im Bataillon war die Atmosphäre äußerst beklemmend gewesen, und Katja hatte den Verdacht, dass der Bataillonskommandeur nicht zum Spaß trank, sondern um das unerträgliche Grauen zu betäuben und zu vergessen, dass er zerbrechlich wie Glas war.

Und nun saß sie auf einem Ziegelhaufen im Haus »sechs Strich eins«, und aus unerfindlichen Gründen hatte sie keine Angst mehr, sie dachte an ihr Leben vor dem Krieg, das ihr in der Erinnerung märchenhaft schön erschien.

Die Männer in dem eingekesselten Haus waren besonders sicher und stark; diese Sicherheit wirkte beruhigend. Die gleiche überzeugende Sicherheit fand man auch bei berühmten Ärzten, verdienten Arbeitern in Walzwerken, Zuschneidern, die kostbare Stoffe in Stücke schnitten, Feuerwehrleuten und alten Lehrern, die etwas an der Tafel erklärten.

Vor dem Krieg hatte Katja die Vorstellung, dass ihr ein unglückliches Leben bestimmt sei. Vor dem Krieg hatte sie ihre Freundinnen und Bekannten, die mit dem Omnibus fuhren, für Verschwender gehalten. Die Leute, die aus irgendwelchen schäbigen Restaurants herauskamen, waren in ihren Augen außergewöhnliche Geschöpfe; manchmal folgte sie einer solchen Gesellschaft, die gerade aus dem »Darjal« oder »Terek« herauspolterte, und belauschte ihre Gespräche. Einmal kam sie von der Schule nach Hause und erklärte feierlich ihrer Mutter: »Weißt du, was heute los war? Ein Mädchen hat mir Sprudel mit Sirup spendiert, mit echtem, der nach echten schwarzen Johannisbeeren schmeckte!«

Es war ihnen nicht leichtgefallen, von dem, was von Mutters Gehalt von vierhundert Rubeln nach Abzug der Einkommen- und Kultursteuer und der Staatsanleihe übrig blieb, einen Haushalt zu führen. Sie kauften keine neuen Kleider, sondern änderten die alten; an der Bezahlung der Hausbesorgerin, die in der Wohnung die gemeinsam benutzten Räume putzte, beteiligten sie sich nicht, sondern Katja wischte die Böden und leerte den Mülleimer, wenn sie mit dem Reinemachen an der Reihe waren; die Milch holten sie nicht bei den Milchfrauen, sondern im staatlichen Laden, wo man in sehr langen Schlangen anstehen musste, doch so sparten sie etwa sechs Rubel im Monat; wenn es dort keine Milch gab, ging Katjas Mutter abends auf den Markt – dort gaben die Milchfrauen, die es eilig hatten, ihren Zug zu erreichen, die Milch billiger ab als am Morgen, fast genauso billig wie im staatlichen Laden. Mit dem Omnibus fuhren sie nie, das war zu teuer; die Straßenbahn nahmen sie nur, wenn sie eine große Entfernung zurücklegen mussten. Zum Friseur ging Katja nicht, die Mutter schnitt ihr die Haare. Natürlich wuschen sie ihre Wäsche selbst; die Glühbirnen leuchteten trübe, kaum heller als die, die in den Gemeinschaftsräumen brannten. Das Mittagessen kochten sie für drei Tage. Es bestand aus Suppe, manchmal aus Grütze mit Speiseöl; einmal hatte Katja drei Teller Suppe gegessen und gesagt: »Siehst du, heute gab es bei uns drei Gänge zum Mittagessen.«

Die Mutter dachte nicht daran zurück, wie sie gelebt hatten, als der Vater noch da war, und Katja hatte keine Erinnerung mehr an diese Zeit. Nur Vera Dmitrijewna, Mamas Freundin, sagte manchmal, wenn sie zusah, wie Mutter und Tochter eine Mahlzeit bereiteten: »Ja, einst waren auch wir edle Pferde …«33 Doch die Mutter schien verärgert, und Vera Dmitrijewna ließ sich nicht weiter über jene Zeit aus, als Katja und ihre Mutter »edle Pferde« gewesen waren.

Einmal hatte Katja im Schrank eine Fotografie ihres Vaters gefunden. Sie sah zum ersten Mal sein Gesicht, und doch begriff sie sofort, dass es ihr Vater war. Auf der Rückseite der Fotografie stand: »Für Lida – ich bin vom Stamme jener Asra, welche sterben, wenn sie lieben;34 in Liebe entbrannt, sterben wir schweigend.« Sie hatte der Mutter nichts gesagt, doch wenn sie aus der Schule kam, holte sie die Fotografie heraus und betrachtete lange die dunklen und, wie sie fand, traurigen Augen ihres Vaters.

Eines Tages hatte sie gefragt: »Wo ist Papa jetzt?«

Die Mutter hatte gesagt: »Weiß nicht.«

Als Katja in die Armee einrückte, hatte die Mutter zum ersten Mal mit ihr über den Vater gesprochen, und Katja erfuhr, dass der Vater 1937 verhaftet worden war, erfuhr die Geschichte seiner zweiten Heirat.

Sie taten die ganze Nacht kein Auge zu, sondern redeten nur. Und alles geriet durcheinander. Die Mutter, gewöhnlich sehr zurückhaltend, sprach mit der Tochter darüber, wie ihr Mann sie verlassen hatte, sprach von ihrer Eifersucht, ihrer Erniedrigung, ihrer Kränkung, ihrer Liebe, ihrem Mitleid. Zu Katjas Verwunderung erwies sich die Welt der menschlichen Seele als so unermesslich weit, dass selbst der rings um sie wütende Krieg davor verblasste. Am Morgen hatten sie Abschied voneinander genommen. Die Mutter hatte Katjas Kopf an sich gedrückt, und der Rucksack hatte Katjas Schultern nach unten gezogen. Katja hatte gesagt: »Mamotschka, auch ich bin vom Stamme der armen Asra – in Liebe entbrannt, sterben wir schweigend.«

Dann hatte die Mutter sie leicht gegen die Schulter geboxt: »Es ist Zeit, Katja, geh!«

Und Katja ging, wie in dieser Zeit Millionen junger und älterer Menschen gingen, aus dem Haus der Mutter, um vielleicht niemals wieder oder auch als eine andere zurückzukehren, für immer getrennt von der Zeit ihrer entbehrungsreichen und doch so behüteten Kindheit.

Da saß sie jetzt neben dem Herrn des Stalingrader Hauses, Grekow, und betrachtete seinen großen Kopf und sein finsteres Gesicht mit den leicht aufgeworfenen Lippen.

59

Am ersten Tag funktionierte ausnahmsweise die Fernsprechverbindung.

Die Untätigkeit im Haus »sechs Strich eins« und das Gefühl, völlig vom Leben ausgeschlossen zu sein, lasteten schwer auf der jungen Funkerin.

Doch auch an diesem ersten Tag im Haus »sechs Strich eins« geschah bereits vieles, was dazu beitrug, sie dem Leben, das ihr bevorstand, näherzubringen.

Sie erfuhr, dass in den Trümmern des ersten Stocks Beobachter der Artillerie saßen, die den Verbänden jenseits der Wolga Daten übermittelten, dass der Ranghöchste im ersten Stock ein Leutnant im schmutzigen Feldhemd war, dem ständig die Brille von seiner Himmelfahrtsnase rutschte.

Sie verstand, dass der reizbare Alte, der so gerne deftige Kraftausdrücke gebrauchte, aus der Landwehr hierhergeraten und stolz auf seinen Rang als Kommandeur einer Granatwerfer- Bedienungsmannschaft war. Zwischen der hohen Wand und dem Schutthaufen hatten sich die Pioniere eingerichtet; dort herrschte ein fülliger Mann, der beim Gehen ächzte und das Gesicht verzog, als litte er an Hühneraugen.

Die einzige Kanone im Haus bediente ein glatzköpfiger Mann im Matrosenhemd. Er hieß mit Familiennamen Kolomeizew. Katja hörte, wie Grekow schrie: »He, Kolomeizew, was seh ich? Du hast wieder ein Weltklasseziel verschlafen.«

Die Infanterie und die Maschinengewehre befehligte ein Unterleutnant mit blondem Bart. Sein Gesicht wirkte durch den Bart besonders jung, der Leutnant aber glaubte wahrscheinlich, dass ihm der Bart das Aussehen eines dreißigjährigen, gereiften Mannes verlieh.

Mittags gab man ihr zu essen: Brot und Hammelwurst. Dann erinnerte sie sich, dass sie in der Tasche ihrer Feldbluse noch ein Bonbon hatte, und steckte es sich unbemerkt in den Mund. Nach dem Essen wurde sie sehr schläfrig, obwohl ganz in der Nähe geschossen wurde. Sie schlief ein; im Schlaf lutschte sie an ihrem Bonbon weiter, und auch die bange Ahnung eines nahenden Unheils fiel im Schlaf nicht von ihr ab. Plötzlich klang ein getragener Singsang an ihr Ohr. Ohne die Augen zu öffnen, lauschte sie den Worten:

»… doch wird, wie Wein, der Schmerz, den ich erfahren,

nur stärker noch und schwerer mit den Jahren …«35

Im steinernen Lichtschacht, der von abendlichem, ätherischem Bernstein erleuchtet wurde, stand ein struppiger, schmutziger Junge und hielt ein Büchlein vor sich in der Hand. Auf den roten Ziegeln saßen fünf oder sechs Männer. Grekow lag auf einem Soldatenmantel und hatte das Kinn auf die Fäuste gestützt. Ein Bursche, der aussah wie ein Georgier, hörte misstrauisch zu, so als wolle er sagen: »Nein, mich kaufst du nicht mit solchem Blödsinn, hör auf.«

Von einer nahen Explosion ausgelöst, erhob sich eine Wolke von Ziegelstaub; es schien, als stiege wie im Märchen Nebel auf; die Männer auf den blutroten Ziegelhaufen und ihre Waffen im roten Nebel ließen an jenen schrecklichen Tag denken, von dem das »Lied von der Heerfahrt Igors«36 berichtet. Und plötzlich überkam das Mädchen die absurde Gewissheit, dass ihr Glück nahe sei.

Am zweiten Tag geschah etwas, was die doch an vieles gewöhnten Hausbewohner zutiefst aufrührte.

Der verantwortliche Hauptmieter des ersten Stocks war Leutnant Batrakow. Ihm zur Seite standen ein Rechner und ein Beobachter. Katja sah sie mehrmals am Tag – den mürrischen Lampassow, den schlauen und zugleich einfältigen Buntschuk und den sonderbaren, dauernd in sich hineinlächelnden, bebrillten Leutnant.

Wenn gerade einmal Stille herrschte, waren ihre Stimmen durch eine Spalte in der Decke zu hören.

Lampassow hatte vor dem Krieg etwas mit Geflügelzucht zu tun gehabt und unterhielt sich mit Buntschuk über die Intelligenz und das treulose Verhalten von Hühnern. Buntschuk meldete, hinter das Scherenfernrohr geklemmt, in gedehntem, singendem Ukrainisch seine Beobachtungen: »Jetzt seh ich, von Kalatsch her kommt eine Autokolonne Fritzen … jetzt ein mittelschwerer Panzer … jetzt Fritzen zu Fuß, ungefähr ein Bataillon … An drei Stellen rauchen, wie gestern, Feldküchen. Die Fritzen kommen mit Kochgeschirr an …« Einige Beobachtungen hatten keine strategische Bedeutung, sondern waren nur von allgemeinem Interesse. Dann sang er: »Jetzt seh ich … ein Kommandeursfritz geht mit seinem Hund spazieren, der Hund schnuppert an einem Pfahl, will pinkeln, so ist es, wahrscheinlich eine Hündin, der Offizier steht da und wartet; jetzt seh ich zwei Mädchen, Städterinnen, sie schwatzen mit den Soldatenfritzen, lachen, ein Soldat zieht Zigaretten heraus, das eine Mädchen nimmt eine, pafft Rauch in die Luft, die andere schüttelt den Kopf, wahrscheinlich sagt sie: ›Ich bin Nichtraucherin‹ …«

Auf einmal meldete Buntschuk mit der gleichen, singenden Stimme: »Jetzt seh ich … auf dem Platz ist Infanterie angetreten … ein Orchester steht da … mitten auf dem Platz steht irgendeine Tribüne … nein, da sind Holzscheite aufgestapelt …« Dann sagte er lange nichts, darauf rief er mit verzweifelter, aber immer noch singender Stimme aus: »Oi, Genosse Leutnant, jetzt seh ich … sie führen eine Frau im Hemd an, die schreit irgendwas … das Orchester spielt … Sie binden die Frau an einen Pfahl, oi, Genosse Leutnant, neben ihr seh ich einen kleinen Jungen, den binden sie auch an … Genosse Leutnant, wenn meine Augen das nur nicht gesehen hätten, zwei Fritzen schütten Benzin aus einem Kanister …«

Batrakow gab die Vorgänge telefonisch an die Truppe jenseits der Wolga weiter. Er klemmte sich hinter das Scherenfernrohr und brach, in seinem Kalugaer Dialekt die Stimme Buntschuks nachahmend, in Wehklagen aus: »Oi, Jungs, ich seh, alles ist voll Rauch, und das Orchester spielt …«

»Feuer!«, brüllte er, an die Kameraden jenseits der Wolga gerichtet, mit schrecklicher Stimme.

Doch jenseits der Wolga blieb es still.

Ein paar Minuten später jedoch lag der Hinrichtungsplatz unter konzentriertem Beschuss schwerer Artillerie. Rauch- und Staubwolken hüllten den Platz ein.

Einige Stunden darauf wurde durch den Späher Klimow bekannt, dass die Deutschen vorgehabt hatten, eine Zigeunerin und einen Zigeunerjungen, die der Spionage verdächtigt wurden, zu verbrennen. Am Vortag hatte Klimow einer alten Frau, die mit ihrer Enkelin und ihrer Ziege in einem Erdbunker wohnte, etwas schmutzige Wäsche und Fußlappen dagelassen und versprochen, am nächsten Tag die gewaschene Wäsche wieder abzuholen. Von der Alten wollte er nun etwas über die Zigeunerin und den Zigeunerjungen erfahren – ob sie von den sowjetischen Granaten getötet oder ob sie tatsächlich auf dem deutschen Scheiterhaufen verbrannt seien. Klimow schlängelte sich auf nur ihm allein bekannten Pfaden durch die Trümmer, doch auf die Stelle, wo die Erdbunker gewesen waren, hatte ein sowjetischer Nachtbomber eine schwere Bombe abgeworfen – weder die Großmutter noch die Enkelin, noch die Ziege, noch Klimows Hemden und Unterhosen gab es mehr. Zwischen den zersplitterten Balken und Verputzscherben entdeckte er nur ein schmutziges Kätzchen. Das Kätzchen war in einem kläglichen Zustand, es bat um nichts und klagte über nichts, in der Meinung, dass dies – Getöse, Hunger, Feuer – eben das Leben auf Erden sei.

Klimow begriff selbst nicht ganz, warum er plötzlich das Kätzchen in die Tasche steckte.

Katja wunderte sich über den Umgangston bei den Leuten im Haus »sechs Strich eins«. Klimow erstattete Grekow nicht vorschriftsmäßig, nämlich im Stehen, Meldung, sondern setzte sich neben ihn; sie redeten wie Kameraden miteinander. Klimow zündete sich eine Zigarette an Grekows Zigarette an.

Nach Beendigung des Gesprächs kam Klimow zu Katja und sagte: »Fräulein, was es nicht alles Schlimmes auf der Welt gibt.«

Sie seufzte und errötete, als sie seinen scharfen, durchdringenden Blick auf sich fühlte.

Er zog das Kätzchen aus der Tasche und legte es auf den Ziegelstein neben Katja.

An diesem Tag kamen ein Dutzend Leute zu Katja und plauderten mit ihr über Katzen, niemand sprach jedoch mit ihr über die Zigeunerin, obgleich der Vorfall alle erschüttert hatte. Diejenigen, die ein aufrichtiges, teilnahmsvolles Gespräch mit Katja suchten, sprachen mit ihr spöttisch und grob; diejenigen aber, die in aller Unschuld mit ihr schlafen wollten, schlugen einen salbungsvoll-förmlichen und zugleich gezierten Ton an.

Das Kätzchen wurde von einem Schüttelanfall gepackt und zitterte am ganzen Körper. Offenbar hatte es innere Quetschungen erlitten.

Der alte Granatwerferschütze meinte abfällig: »Das gehört erschlagen, und damit hat sich’s.« Und im gleichen Atemzug: »Du könntest es wenigstens von seinen Flöhen befreien!«

Der zweite Granatwerferschütze, der schöne, braungebrannte Landsturmmann Tschenzow, riet Katja: »Schmeißen Sie dieses Miststück raus, Fräulein. Wenn’s wenigstens eine sibirische Katze wäre!«

Der mürrische Pionier Ljachow mit dem verkniffenen, bösen Gesicht interessierte sich als Einziger wirklich für die Katze und blieb von den Reizen der Funkerin unberührt.

»Als wir in der Steppe lagen«, erzählte er Katja, »da kriegte ich plötzlich einen Schlag verpasst; ich dachte – ein mattes Geschoss. Es war aber ein Hase. Bis zum Abend saß er bei mir. Als es wieder still war, lief er davon.«

Er fuhr fort: »Sie sind zwar ein Mädchen, aber Sie verstehen mich trotzdem: Da wird aus einem Hundertacht-Millimeter-Kaliber gefeuert, dort an einem ›Wanjuscha‹ – und hier: ein Aufklärer, der gerade über die Wolga fliegt. Der Hase aber, der Einfaltspinsel, blickt überhaupt nicht durch. Er kann nicht mal einen Granatwerfer von einer Haubitze unterscheiden. Der Deutsche hat Leuchtkugeln am Himmel aufgehängt, und der Hase zittert – kannst du ihm das etwa erklären? Und deswegen tun sie mir eben leid.«

Da sie spürte, dass es ihrem Gesprächspartner damit ernst war, erwiderte sie genauso ernst: »Da bin ich nicht ganz einverstanden. Hunde, zum Beispiel, kennen sich bei der Luftwaffe aus. Als wir auf dem Land lagen, gab es dort so einen Köter, Kerson hieß er. Wenn unsere ILs drüberflogen, blieb er liegen und hob nicht mal den Kopf. Aber kaum heulte eine Junkers heran, da rannte dieser Kerson schon in den Splittergraben. So gewitzt war der.«

Die Luft erbebte unter einem ohrenbetäubenden Geknatter – der deutsche »Wanjuscha« spielte aus allen zwölf Rohren auf. Die eiserne Trommel wurde gerührt, schwarzer Qualm vermischte sich mit blutrotem Ziegelstaub, Brocken von zerbrochenen Steinen prasselten herab. Nach einer Minute aber, als sich der Staub zu setzen begann, unterhielten sich Ljachow und die Funkerin weiter, so als hätten sie sich zwischendurch nicht auf den Boden geworfen. Auch Katja war sichtlich von der Selbstsicherheit angesteckt, die die Männer in dem eingeschlossenen Haus zu besitzen schienen. Es war, als seien sie überzeugt, dass alles im Haus – Stein und Eisen – spröde und brüchig sei, nur nicht sie selbst.

An der Spalte, in der sie saßen, peitschte heulend und pfeifend ein Feuerstoß eines Maschinengewehrs vorbei, und darauf noch einer.

Ljachow sagte: »Im Frühling lagen wir vor Swjatogorsk. Da pfiff es nur so über unsere Köpfe hinweg, doch Schüsse waren nicht zu hören. Völlig unbegreiflich. Was war? Die Stare hatten gelernt, die Kugeln nachzuäffen … Der Oberleutnant, den wir als Kommandeur hatten, hat uns Einsatzalarm gegeben, so haben sie gepfiffen.«

»Zu Haus hab ich mir den Krieg so vorgestellt: Kinder schreien, alles steht in Flammen, Katzen rennen hin und her. Als ich nach Stalingrad kam, war alles ganz genau so.«

Bald danach kam der bärtige Subarew zur Funkerin Wengrowa.

»Na, wie geht’s?«, fragte er teilnahmsvoll. »Lebt der junge Mann mit dem Schwanz noch?« Er hob den von einem Fußlappen abgerissenen Fetzen, mit dem das Kätzchen zugedeckt war, hoch. »Ach, was für ein armes, schwaches Kätzchen«, sagte er, aber in seinen Augen blitzte ein frecher Ausdruck.

Am Abend war es den Deutschen nach einem kurzen Gefecht gelungen, sich ein wenig an die Flanke des Hauses »sechs Strich eins« vorzuschieben und den Weg zwischen dem Haus und der sowjetischen Verteidigungsstellung durch Maschinengewehrfeuer abzuriegeln. Die Telefonverbindung zum Stab des Schützenregiments war unterbrochen. Grekow befahl, einen kleinen Gang aus dem Keller zu dem unterirdischen Werkstunnel zu schlagen, der in der Nähe des Hauses vorbeiführte.

»Sprengstoff haben wir«, sagte der beleibte Feldwebel Anziferow, in der einen Hand einen Napf Tee und in der anderen ein Stück Würfelzucker haltend.

Die Hausbewohner, die sich in einer Grube vor der Hauptwand niedergelassen hatten, unterhielten sich miteinander. Alle bewegte das Schicksal der Zigeunerin, doch wie schon in den Stunden zuvor, so sprach auch jetzt niemand darüber. Es schien, als mache es ihnen überhaupt nichts aus, eingekesselt zu sein.

Diese Ruhe mutete Katja seltsam an, doch sie war besänftigend; selbst das schreckliche Wort »Einkesselung« hatte hier, unter den selbstbewussten Hausbewohnern, nichts Schreckliches für sie. Sie erschrak nicht einmal dann, als irgendwo ganz in der Nähe ein Maschinengewehr klickte und Grekow schrie: »Schlagt zu, schlagt zu, jetzt sind sie drin!« Und sie erschrak auch nicht, als Grekow sagte: »Jeder, wie er will: mit Granate, Messer oder Spaten. Euch zu belehren hieße euch verderben. Ich bitte euch nur – schlagt zu, jeder, womit es ihm passt!«

Wenn es gerade still war, diskutierten die Bewohner des Hauses ausführlich und in aller Ruhe über das Äußere der Funkerin. Batrakow, dem diese Dinge sonst völlig fernzuliegen schienen und der überdies noch kurzsichtig war, zeigte sich gründlich über alle Einzelheiten von Katjas Schönheit informiert.

»Für mich ist die Hauptsache an einer Frau der Busen«, sagte er.

Der Artillerist Kolomeizew war anderer Ansicht; in dem Streit, der darüber entbrannte, »redete er Klartext«, wie Subarew sich auszudrücken pflegte.

»Na, aber hast du etwa wegen der Katze ein Gespräch mit ihr angefangen?«, fragte Subarew.

»Was denn sonst?«, erwiderte Batrakow. »Sogar Papascha hat wegen der Katze eins angekurbelt.«

Der alte Granatwerferschütze spuckte aus und fuhr sich mit der Hand über die Brust.

»Wo ist denn bei ihr all das, was sich für ein gestandenes Mädel gehört? He? Ich frage euch!«

Ganz besonders ärgerte er sich, als er hörte, dass die Funkerin Grekow gefiel.

»Natürlich, in unserer Lage tut’s auch so eine Katka, in der Not frisst der Teufel Fliegen. Die Beine lang wie bei einem Kranich, hinten nichts dran. Große Kuhaugen. Ist das etwa ein Mädel?«

Tschenzow widersprach ihm: »Dir gefällt bloß eine Vollbusige. Das ist ein überholter, vorrevolutionärer Standpunkt.«

Kolomeizew, Schandmaul und Zotenreißer aus Passion, in dessen großem, kahlem Kopf sich allerlei Absonderliches und Widersprüchliches vereinte, sagte, die trüben grauen Augen spöttisch zusammenkneifend: »Das Mädel ist schon in Ordnung. Aber ich hab halt einen besonderen Geschmack. Ich mag gern kleine Frauen, Armenier- und Judenweibchen, flink und behänd, mit großen Augen und kurzen Haaren!«

Subarew blickte nachdenklich zum dunklen Himmel auf, an dem Scheinwerferstrahlen dekorative Muster bildeten, und meinte gedämpft: »Trotzdem wüsste ich gerne, wie die Sache ausgeht.«

»Wer sie kriegt?«, fragte Kolomeizew. »Grekow – das steht fest.«

»Nein, das steht nicht fest«, sagte Subarew, hob einen Ziegelstein vom Boden auf und schleuderte ihn kraftvoll gegen die Wand.

Die Kameraden schauten ihn an, schauten seinen Bart an und brachen in schallendes Gelächter aus.

»Womit willst du sie denn verführen? Mit deiner Haarpracht?«, erkundigte sich Batrakow.

»Mit seinem Gesang!«, verbesserte Kolomeizew. »Im Sendestudio am Mikrofon: die Infanterie. Er singt, und sie schickt das Programm in den Äther. Ein Paar wie aus dem Bilderbuch!«

Subarew blickte sich nach dem Jungen um, der am Abend vorher Gedichte gelesen hatte.

»Und was ist mit dir?«

Der alte Granatwerferschütze sagte herausfordernd: »Er schweigt, das heißt, er will nicht reden«, und im Ton eines Vaters, der seinen Sohn schilt, weil er die Gespräche der Erwachsenen belauscht, setzte er hinzu: »Du solltest besser in den Keller gehen und schlafen, solange es die Umstände erlauben.«

»Da wird jetzt gleich Anziferow mit Trinitrotoluol einen Durchgang sprengen«, sagte Batrakow.

Unterdessen diktierte Grekow der Funkerin Wengrowa einen Bericht.

Er teilte dem Armeestab mit, alles deute darauf hin, dass die Deutschen einen Schlag auf die Traktorenfabrik vorbereiteten. Er teilte allerdings nicht mit, dass das Haus, in dem er mit seinen Leuten saß, seiner Meinung nach auf der deutschen Angriffsachse liegen würde. Doch wenn er Katjas dünnen Hals, ihre Lippen und ihre halb gesenkten Wimpern betrachtete, stellte er sich, und zwar sehr lebhaft, auch diesen zarten Hals gebrochen vor – perlmuttschimmernd sprang ein Halswirbel aus der zerfetzten Haut. Im Geiste sah er diese Wimpern über glasigen Fischaugen, sah tote Lippen wie aus grauem, staubigem Kautschuk.

Es drängte ihn, sie zu packen, ihre Wärme, ihr Leben zu spüren, solange es ihn und sie noch gab, solange noch so viel Anmut in diesem jungen Geschöpf existierte. Es schien ihm, als wolle er das Mädchen einzig und allein aus Mitleid umarmen, doch rauschte es etwa aus Mitleid in seinen Ohren, pochte ihm das Blut aus Mitleid in den Schläfen?

Der Stab antwortete nicht sofort.

Grekow streckte sich so heftig, dass seine Knochen leise knackten, holte geräuschvoll Luft, dachte: »Schon gut, schon gut, die Nacht haben wir noch vor uns«, und fragte schmeichelnd: »Wie geht’s denn diesem Kätzchen, das Klimow gebracht hat? Hat es sich erholt, ist es zu Kräften gekommen?«

»Wie sollte es«, antwortete die Funkerin.

Als sich Katja die Zigeunerin und das Kind auf dem Scheiterhaufen vorstellte, begannen ihre Finger zu zittern, und sie schielte zu Grekow hinüber, ob der es wohl bemerke.

Gestern hatte sie den Eindruck gehabt, als würde niemand im Haus »sechs Strich eins« mit ihr reden wollen, heute aber, als sie ihre Grütze aß, war ein Bärtiger mit einer Maschinenpistole in der Hand an ihr vorbeigelaufen und hatte ihr wie einer alten Bekannten zugeschrien: »Katja, mehr Mumm!«, und hatte mit der Hand gezeigt, wie man mit Schwung den Löffel in den Napf eintauchen musste.

Den Jungen, der gestern Gedichte gelesen hatte, hatte sie gesehen, als er auf einer Zeltplane Minen schleppte. Ein andermal hatte sie sich umgeschaut und ihn am Wasserkessel stehen sehen; da hatte sie gemerkt, dass sie seinen Blick auf sich gefühlt und sich deshalb umgesehen hatte. Er aber hatte sich noch schnell abwenden können.

Sie ahnte schon, wer ihr morgen Briefe und Fotos zeigen würde, wer seufzen und sie schweigend ansehen würde, wer ihr ein Geschenk – eine halbe Feldflasche Wasser oder Zwieback – bringen würde, wer ihr erzählen würde, er glaube nicht an die Liebe der Frauen und würde sich nie mehr verlieben … Und der bärtige Infanterist würde sich wahrscheinlich an sie heranmachen und sie betätscheln wollen.

Endlich antwortete der Stab – Katja teilte Grekow die Antwort mit: »Ich befehle Ihnen, täglich Punkt zwölf Uhr ausführlich Meldung zu erstatten.«

Plötzlich schlug ihr Grekow auf die Hand und damit auf den Schalter und unterbrach so die Verbindung – sie stieß einen erschrockenen Schrei aus.

Er lachte auf und sagte: »Ein Granatsplitter ist in das Sendegerät eingeschlagen, die Verbindung wird wiederhergestellt sein, wenn Grekow sie brauchen wird.«

Die Funkerin schaute ihn verwirrt an.

»Verzeih, Katjuscha«, sagte Grekow und nahm ihre Hand.

60

Gegen Morgen war aus Berjoskins Regiment die Mitteilung in den Divisionsstab gelangt, dass die in Haus »sechs Strich eins« eingeschlossenen Männer einen Gang ausgeschachtet hätten, der mit dem betonierten Werkstunnel zusammenstoße, und danach in die Werkshalle der Traktorenfabrik ausgebrochen seien. Der Diensthabende im Divisionsstab hatte die Meldung über den Vorfall an den Armeestab weitergeleitet, dort war er General Krylow gemeldet worden, und Krylow hatte befohlen, ihm einen der Ausgebrochenen zur Vernehmung zu bringen. Ein Verbindungsoffizier brachte einen Jungen in den Armeegefechtsstand, der vom Stabsdiensthabenden ausgewählt worden war. Sie gingen durch die Schlucht zum Ufer, unterwegs machte der Junge ständig Ausflüchte, stellte Fragen und schien äußerst beunruhigt.

»Ich muss nach Hause zurück; ich sollte nur den Tunnel auskundschaften, damit die Verwundeten evakuiert werden können.«

»Nichts da«, antwortete der Verbindungsoffizier. »Du gehst zu einem Kommandeur, der über dem deinen steht. Was der befiehlt, wirst du auch tun!«

Auf dem Weg erzählte der Junge dem Verbindungsoffizier, dass sie die dritte Woche im Haus »sechs Strich eins« säßen und sich eine Zeitlang von Kartoffeln, die im Keller lagerten, ernährt hätten; das Wasser nähmen sie aus dem Dampfheizungskessel, und den Deutschen hätten sie die Hölle so heiß gemacht, dass die einen Parlamentär geschickt und angeboten hätten, die Eingeschlossenen in die Fabrik durchzulassen, doch natürlich habe sein Kommandeur (der Junge nannte ihn uprawdom, Hausverwalter) als Antwort befohlen, aus allen Geschützen zu feuern. Als sie zur Wolga gelangten, legte sich der Junge auf die Erde und trank Wasser; als er sich satt getrunken hatte, streifte er die Tropfen behutsam von seiner wattierten Jacke in die hohle Hand und leckte sie auf, wie ein Hungernder Brotkrumen aufleckt. Er sagte, dass das Wasser im Dampfheizungskessel faul sei und in den ersten Tagen alle an Magenkrämpfen gelitten hätten, doch dann habe der uprawdom befohlen, das Wasser in den Näpfen abzukochen, danach hätten die Magenstörungen aufgehört. Dann gingen sie schweigend weiter. Der Junge horchte auf die Nachtbomber und schaute zum Himmel auf, der gefärbt war von den roten und grünen Leuchtkugeln und den schnurförmigen Flugspuren der Geschosse und Granaten. Er blickte auf die schlaffen, ermatteten Flammen der immer noch nicht erloschenen Stadtbrände, auf die weißen Mündungsblitze, auf die blauen Detonationen schwerer Geschosse im Leib der Wolga und verlangsamte seinen Schritt immer mehr, bis der Verbindungsoffizier ihn anrief: »Los, los, ein bisschen flotter!«

Sie gingen durch Ufergeröll; Granaten schwirrten pfeifend über sie hinweg; Posten riefen sie an. Dann stiegen sie auf einem kleinen Pfad die Böschung hinauf, zwischen den gewundenen Laufgräben und den in den lehmigen Berg gehauenen Unterständen hindurch; sie stiegen Erdstufen hinauf, sie klapperten mit den Absätzen über Bretterbohlen, schließlich kamen sie zu einem Durchgang, der mit Stacheldraht abgeriegelt war – das war der Gefechtsstand der 62. Armee. Der Verbindungsoffizier rückte den Gurt zurecht und ging durch den Verbindungsgraben zu den Unterständen des Kriegsrats, die sich von den übrigen durch besonders dicke Balken unterschieden.

Der Posten ging den Adjutanten rufen; einen Augenblick lang blitzte durch die halb offene Tür anheimelnd das Licht einer elektrischen Tischlampe unter ihrem Schirm hervor.

Der Adjutant leuchtete mit einer kleinen Laterne, fragte nach dem Familiennamen des Jungen und befahl ihm zu warten.

»Wie komme ich denn nach Haus?«, fragte der Junge.

»Das wird schon gehen. Mit Fragen kommt man durch die ganze Welt«, sagte der Adjutant und fügte streng hinzu: »Kommen Sie in den Vorraum, sonst trifft Sie noch eine Granate, und ich muss mich vor dem General dafür verantworten.«

Im warmen, schummrigen Gang setzte sich der Junge auf die Erde, lehnte sich an die Wand und schlief ein.

Eine Hand rüttelte ihn kräftig, und in den Wirrwarr seiner Träume, in denen sich die grausamen Kriegsschreie der vergangenen Tage mit dem friedlichen Flüstern seines längst nicht mehr existierenden Elternhauses vermischten, brach eine verärgerte Stimme ein: »Schaposchnikow, rasch zum General…«

61

Serjoscha Schaposchnikow verbrachte zwei ganze Tage im Unterstand des Stabsschutzes. Das Leben im Stab zermürbte ihn; es schien ihm, als plagten sich die Leute von morgens bis abends mit Nichtstun ab.

Er erinnerte sich daran, wie er einmal mit der Großmutter in Rostow acht Stunden lang auf den Zug nach Sotschi warten musste; die jetzige Warterei erinnerte ihn an dieses Umsteigeerlebnis vor dem Krieg. Dann kam ihm sein Vergleich des Hauses »sechs Strich eins« mit dem Kurort Sotschi lächerlich vor. Er bat den Major, der Stabskommandant möge ihn entlassen, doch der zögerte seine Entscheidung hinaus – vom General lag kein Befehl vor. Nachdem er Schaposchnikow aufgerufen hatte, hatte er ihm insgesamt nur zwei Fragen gestellt, und das Gespräch war durch einen Telefonanruf des Armeeoberbefehlshabers unterbrochen worden. Der Stabskommandant hatte entschieden, den Jungen einstweilen noch nicht zu entlassen – vielleicht würde sich der General noch an ihn erinnern.

Beim Eintreten in den Unterstand begegnete der Stabskommandant Schaposchnikows Blick und sagte: »Schon gut, ich denk dran.«

Manchmal ärgerten ihn die bittenden Augen des Jungen, dann sagte er: »Warum fühlst du dich hier eigentlich nicht wohl? Man gibt dir anständig zu essen, und du sitzt im Warmen. Die bringen dich dort noch früh genug um.«

Wenn der Tag vom Lärm des Kampfes erfüllt ist, wenn der Mensch bis über die Ohren in den Hexenkessel des Krieges eingetaucht ist, dann ist er außerstande, sein Leben zu sehen, zu begreifen – er muss zumindest einen Schritt beiseitetreten. Erst dann, gleichsam vom Ufer aus, sehen seine Augen, wie gewaltig der Fluss ist – schwamm er wirklich selbst gerade noch in dieser tobenden, schäumenden Flut?

Still dünkte Serjoscha das Leben im Reserveregiment: die Nachtwache in der dunklen Steppe, der ferne Feuerschein am Himmel, die Gespräche der Soldaten …

Nur drei Landwehrleute hatte es in die Siedlung bei der Traktorenfabrik verschlagen. Poljakow, der Tschenzow nicht mochte, sagte: »Vom ganzen Reserveregiment sind nur drei übrig – ein Alter, ein Junger und ein Narr.«

Das Leben im Haus »sechs Strich eins« hatte alles verblassen lassen, was bis dahin gewesen war. Obgleich dieses Leben in höchstem Maße unwahrscheinlich war, erwies es sich doch als das einzig Wirkliche, alles Frühere hingegen war zum Schein geworden.

Nur nachts sah er manchmal Alexandra Wladimirownas ergrauten Kopf vor sich, die spöttischen Augen von Tante Genia, und sein Herz füllte sich mit Zärtlichkeit.

Während der ersten Tage im Haus »sechs Strich eins« hatte er gedacht, wie seltsam und ungeheuerlich es wäre, wenn plötzlich Grekow, Kolomeizew oder Anziferow zu ihm nach Hause kämen. Nun aber stellte er sich manchmal vor, wie absurd sich seine Tanten, seine Kusine oder Onkel Viktor Pawlowitsch in seinem jetzigen Leben ausnehmen würden.

O weh, wenn die Großmutter hören könnte, wie unflätig Serjoscha jetzt fluchte!

Grekow!

Es war nicht ganz klar, ob sich nun im Haus »sechs Strich eins« lauter erstaunliche und ungewöhnliche Menschen eingefunden hatten oder ob gewöhnliche Menschen, einmal in dieses Haus geraten, zu besonderen Menschen geworden waren.

Grekow! Was für eine erstaunliche Mischung aus Kraft, Kühnheit, herrischem Wesen und Sinn fürs Praktische! Er wusste noch, was Kinderstiefel vor dem Krieg gekostet hatten, was für einen Lohn eine Putzfrau oder ein Schlosser bekommen hatte und wie viel Getreide und Geld für einen Arbeitstag in der Kolchose, in der sein Onkel arbeitete, ausbezahlt worden war.

Manchmal sprach er über die Vorkriegsscherereien in der Armee mit den Säuberungen, Attestationen und Schiebereien bei der Wohnungsverteilung, sprach über gewisse Leute, die 1937 zu Generalswürden gelangt waren, nachdem sie Dutzende von Denunziationen und Entlarvungen angeblicher Volksfeinde geschrieben hatten.

Dann wieder schien es, als liege seine Stärke in der wahnwitzigen Kühnheit, mit der er, aus einer Mauerbresche hervorspringend, schrie: »Ich lass euch nicht, ihr Hunde!«, und Granaten auf die anstürmenden Deutschen warf.

Ein andermal schien es, dass seine Stärke in seinem Sinn für Freundschaft lag, in seinem Geschick, mit allen Bewohnern des Hauses bestens auszukommen.

Sein Leben vor dem Krieg hatte sich durch nichts Besonderes ausgezeichnet; irgendwann einmal war er Grubensteiger gewesen, dann Bautechniker, dann wurde er Hauptmann der Infanterie in einer der vor Minsk stationierten Heereseinheiten, führte militärische Ausbildung im Gelände und in der Kaserne durch, fuhr nach Minsk zur Umschulung, las abends allerlei Bücher, trank Wodka, ging ins Kino, spielte mit den Kameraden Préférence, zankte sich mit seiner Frau, die völlig zu Recht auf viele Mädchen und Damen im Bezirk eifersüchtig war. Das erzählte er alles selbst. Und auf einmal war er für Serjoscha, und nicht nur für ihn, zum kühnen Ritter aus dem Märchen, zum heldenhaften Kämpfer für die Wahrheit geworden.

Neue Menschen umgaben Serjoscha und verdrängten sogar diejenigen aus seinem Herzen, die ihm am nächsten gestanden hatten.

Der Artillerist Kolomeizew war Marinekader gewesen, auf Kriegsschiffen gefahren und dreimal in der Ostsee versenkt worden.

Serjoscha gefiel es, dass Kolomeizew, der sich oft verächtlich über Leute äußerte, über die man besser nicht mit Verachtung sprach, Wissenschaftlern und Schriftstellern eine ungewöhnliche Verehrung entgegenbrachte. Seiner Meinung nach taugten alle Vorgesetzten, die über Rang und Würden verfügten, nichts im Vergleich zu irgend so einem kahlköpfigen Lobatschewski oder vertrockneten Romain Rolland.

Manchmal redete Kolomeizew über Literatur. Was er sagte, hatte nichts mit Tschenzows Ausführungen über patriotische Erbauungsliteratur zu tun. Irgendein englischer oder vielleicht auch amerikanischer Schriftsteller hatte es ihm angetan. Obwohl Serjoscha niemals etwas von diesem Schriftsteller gelesen und Kolomeizew seinen Namen vergessen hatte, war Serjoscha davon überzeugt, dass dieser Schriftsteller gut schrieb. Mit solch saftigen, farbigen, oft auch obszönen Ausdrücken hatte ihn Kolomeizew gelobt.

»Was mir an ihm gefällt«, sagte Kolomeizew, »ist, dass er mich nicht belehren will. Ein Kerl geht zu einem Weib – fertig; ein Soldat hat sich besoffen – fertig; einem Alten ist seine Alte weggestorben, das wird genau geschildert. Und das ist komisch und kläglich und interessant, und man weiß ja ohnehin nicht, wozu die Menschen da sind.«

Mit Kolomeizew war der Späher Wassja Klimow befreundet.

Einmal hatten sich Klimow und Schaposchnikow in eine deutsche Stellung vorgearbeitet; sie waren über einen Eisenbahndamm gekrochen und hatten sich an einen Trichter, der von einer deutschen Bombe stammte, herangeschlichen; die Bedienungsmannschaft eines schweren Maschinengewehrs und ein Beobachtungsoffizier saßen darin. Eng an den Trichterrand geschmiegt, hatten sie dem deutschen Treiben zugeschaut. Ein untergeordneter MG-Schütze hatte sich die Uniformjacke aufgeknöpft, ein rot kariertes Tuch in den Halsausschnitt seines Hemdes gesteckt und sich rasiert. Serjoscha hörte das Kratzen der staubigen, starren Bartstoppeln unter der Rasierklinge. Der zweite Deutsche löffelte eine flache Konservendose aus; Serjoscha betrachtete einen kurzen, aber eindringlichen Moment lang sein großes Gesicht, auf dem sich konzentriertes Behagen spiegelte. Der Beobachtungsoffizier zog seine Armbanduhr auf. Serjoscha hätte gerne halblaut, um den Offizier nicht zu erschrecken, gefragt: »Heda, hallo, hören Sie, wie spät ist es?«

Klimow hatte den Vorstecker aus der Handgranate gerissen und sie in den Trichter fallen lassen. Als der Staub noch in der Luft hing, warf Klimow die zweite Granate und sprang nach der Explosion in den Trichter. Die Deutschen waren tot, so als hätten sie nicht noch eben, vor einer Minute, gelebt. Klimow, vor Staub und Explosionsgasen niesend, nahm alles an sich, was er brauchen konnte – das Schloss des schweren Maschinengewehrs, das Fernglas; dem noch warmen Offizier zog er vorsichtig, um sich nicht mit Blut zu besudeln, die Uhr vom Arm und holte aus den zerfetzten Uniformen der MG-Schützen die Soldbücher heraus.

Die Beutestücke hatte er abgegeben, über die Vorfälle berichtet, Serjoscha gebeten, ihm ein wenig Wasser in die Hand zu schütten, sich neben Kolomeizew gesetzt und gemeint: »Jetzt wollen wir eine rauchen.«

Da war der Melder von Grekow, Perfiljew, gerannt gekommen, der von sich zu sagen pflegte: »Ich bin ein friedlicher Rjasaner Bürger und Hobbyangler.«

»Hör mal, Klimow, wieso hast du dir’s bequem gemacht?«, hatte Perfiljew geschrien, »der uprawdom sucht dich, du musst noch mal in die deutschen Häuser.«

»Komme sofort«, hatte Klimow mit schuldbewusster Stimme gesagt und angefangen, sein Rüstzeug — die Maschinenpistole und die kleine Segeltuchtasche mit den Granaten – zusammenzusuchen. Er fasste die Sachen behutsam an, als fürchte er, ihnen wehzutun. Viele redete er mit »Sie« an, nie fluchte er.

»Bist du vielleicht Baptist?«, hatte der alte Poljakow einmal Klimow, der einhundertzehn Menschen getötet hatte, gefragt.

Klimow gehörte nicht zu den Schweigsamen und erzählte besonders gern von seiner Kindheit. Sein Vater war Arbeiter im Putilow-Werk. Klimow selbst war Universaldreher und hatte vor dem Krieg in einer Werksgewerbeschule unterrichtet. Serjoscha amüsierte sich über Klimows Geschichte, wie ein Gewerbeschüler eine Schraube verschluckt, zu keuchen begonnen hatte, blau geworden war und wie Klimow ihm mit der Flachzange die Schraube aus dem Rachen gezogen hatte, noch ehe der Rettungswagen eintraf.

Doch einmal hatte Serjoscha Klimow gesehen, als der sich an erbeutetem Schnaps betrunken hatte – er war furchtbar gewesen, selbst Grekow schien damals Angst vor ihm gehabt zu haben.

Der Schlampigste im Haus war Leutnant Batrakow. Seine Stiefel putzte er nie, eine seiner Sohlen war abgetrennt, und er schleifte sie beim Gehen nach, die Rotarmisten brauchten nicht einmal den Kopf zu heben, schon wussten sie, dass der Artillerieleutnant an ihnen vorbeikam. Dafür rieb der Leutnant wohl ein Dutzend Mal am Tag seine Brille mit einem Wildlederläppchen sauber; die Brille entsprach nicht der Sehstärke seiner Augen, Batrakow aber glaubte, dass ihm Staub und Explosionsqualm die Augengläser trübten. Ein paarmal brachte ihm Klimow Brillen, die er gefallenen Deutschen abgenommen hatte. Doch Batrakow hatte immer Pech – das Gestell war gut, aber die Gläser stimmten nicht.

Vor dem Krieg hatte Batrakow am Technikum Mathematik unterrichtet; er hatte eine auffallend hohe Meinung von sich selbst und sprach über Schulversager in abfälligem Ton.

Serjoscha hatte er einer Mathematikprüfung unterzogen, bei der dieser sich blamierte. Die Hausbewohner hatten gelacht und gedroht, Schaposchnikow im zweiten Studienjahr sitzenbleiben zu lassen.

Einmal, während eines deutschen Luftangriffs, als es sich anhörte, als ob toll gewordene Hammerschmiede mit schweren Vorschlaghämmern auf Stein, Erde und Eisen einschlugen, hatte Grekow Batrakow entdeckt, wie er, auf dem Fragment des Treppenhauses sitzend, irgendeine Schwarte las.

Grekow hatte gesagt: »Nein, das gibt’s doch nicht! Einen Dreck werden die Deutschen erreichen. Was können sie denn schon einem solchen Trottel anhaben?«

Alle Anstrengungen der Deutschen bewirkten bei den Bewohnern des Hauses »sechs Strich eins« nicht Schrecken, sondern nur herablassenden Spott: »Ach, wie sich der Fritz heute wieder anstrengt!« – »Schau, was diese Halunken sich da ausgedacht haben …« – »Na, was ist denn das für ein Dummkopf, wo legt der denn seine Bomben hin …«

Batrakow war mit dem Kommandeur des Pionierzugs, Anziferow, befreundet, einem vierzigjährigen Mann, der gerne über seine chronischen Leiden sprach – eine seltene Erscheinung an der Front; unter dem feindlichen Feuer heilten die Geschwüre und Bandscheibenleiden meist von selbst.

Doch Anziferow litt in der Stalingrader Hölle weiter an zahlreichen Krankheiten, die in seinem massigen Körper nisteten. Der deutsche Doktor hatte ihn nicht kuriert.

Die Erscheinung dieses mondgesichtigen Mannes mit dem runden, kahlen Schädel und den runden Augen hatte etwas Fantastisches, wenn er, vom Widerschein der Brände beleuchtet, dasaß und seelenruhig mit seinen Pionieren Tee trank. Gewöhnlich zog er dabei die Schuhe aus, weil er Hühneraugen hatte, und dazu auch das Feldhemd – es war ihm immer heiß. Aus einer blaugeblümten Tasse schlürfte er heißen Tee, wischte sich mit einem Tuch von beträchtlicher Größe die Glatze ab, schnaufte, lächelte und machte sich daran, in die Tasse zu blasen, in die der mürrische Ljachow, ein Soldat mit verbundenem Kopf, immer wieder aus einer riesigen, verrußten Teekanne abgestandenes Wasser nachgoss. Manchmal stieg Anziferow, ohne die Stiefel anzuziehen, missmutig ächzend auf einen Ziegelhaufen, um nachzusehen, was draußen in der Welt vorging. So stand er da, barfuß, ohne Hemd, ohne Feldmütze, einem Bauern gleich, der im stürmischen Gewitterregen auf die Schwelle seiner Kate tritt, um nach Haus und Hof zu sehen.

Vor dem Krieg hatte er als Bauführer gearbeitet. Jetzt hatte sich seine Bauerfahrung umgekehrt. In seinem Gehirn kreiste ständig die Frage, wie Häuser, Wände und Kellerdecken zerstört werden könnten.

Die Gespräche Batrakows und des Pioniers drehten sich fast ausschließlich um philosophische Probleme. Bei Anziferow, der vom Bauen zum Zerstören übergegangen war, hatte sich das Bedürfnis eingestellt, diesen ungewöhnlichen Wandel zu reflektieren.

Zuweilen stiegen ihre Gespräche von den philosophischen Höhen – worin besteht der Sinn des Lebens? Gibt es eine Sowjetmacht in der Welt der Gestirne? Worin besteht die Überlegenheit des männlichen Geistes gegenüber dem weiblichen? – hinab zu gewöhnlichen Alltagsfragen.

Hier, inmitten der Stalingrader Ruinen, war alles anders, und die Weisheit, nach der die Menschen lechzten, war oft aufseiten des tollpatschigen Batrakow.

»Glaub mir, Wanja«, sagte Anziferow zu Batrakow, »erst durch dich hab ich angefangen, etwas zu begreifen. Früher hab ich gemeint, ich würde das Leben bis ins Letzte durchschauen – wer einen halben Liter Wodka mit Sakuska braucht, wem man eine neue Kühlerhaube beschaffen muss und wem man einfach nur einen Hunderter zuzustecken braucht.«

Batrakow, der allen Ernstes glaubte, dass er Anziferow mit seinen verquasten Betrachtungen zu einer neuen Einstellung den Menschen gegenüber verholfen hatte, und nicht Stalingrad, antwortete herablassend: »Ja, Verehrtester, im Großen und Ganzen muss man es bedauern, dass wir uns vor dem Krieg nicht begegnet sind.«

Im Keller aber hausten die Infanteristen; sie waren es, die den deutschen Vorstoß abgeschlagen hatten und auf Grekows durchdringenden Befehlsschrei hin zum Gegenstoß übergegangen waren.

Die Infanterie war Leutnant Subarew unterstellt. Vor dem Krieg hatte er am Konservatorium Gesang studiert. Manchmal schlich er sich nachts zu den deutschen Häusern und fing an zu singen: »Oh, weck mich nicht, du Frühlingshauch«, oder die Arie Lenskis aus »Eugen Onegin«.

Subarew gab keine Antwort, wenn man ihn fragte, weshalb er sich denn in die Ziegelhaufen einschlich und dort sang, mit dem Risiko, getötet zu werden. Vielleicht wollte er hier, wo Tag und Nacht Leichengestank die Luft verpestete, nicht nur sich und seinen Kameraden, sondern auch den Feinden beweisen, dass die Kräfte der Zerstörung, so gewaltig sie auch sein mochten, nie das Schöne des Lebens bezwingen konnten.

Konnte man denn überhaupt leben, ohne etwas von Grekow, Kolomeizew, Poljakow, Klimow, Batrakow und dem bärtigen Subarew zu wissen?

Serjoscha, der sein ganzes Leben im Milieu der gebildeten Oberschicht verbracht hatte, erkannte jetzt, dass seine Großmutter, die ständig behauptete, die einfachen Arbeiter seien gute Menschen, durchaus recht gehabt hatte.

Einem Irrtum der Großmutter war der kluge Serjoscha dennoch auf die Spur gekommen – sie hielt die einfachen Leute trotzdem für einfach.

Die Menschen im Haus »sechs Strich eins« waren nicht einfach. Grekow hatte Serjoscha einmal mit dem Ausspruch verblüfft: »Man darf den Menschen nicht antreiben wie ein Schaf; so klug Lenin auch war, aber das hat er nicht begriffen. Eine Revolution macht man, damit kein Mensch mehr von einem anderen angetrieben wird. Lenin aber hat gesagt: ›Früher hat man euch dumm regiert, ich aber werde euch klug regieren!‹«

Nie hatte Serjoscha jemanden so offen über die Narkomwnudelzen37 urteilen hören, die 1937 Zehntausende unschuldiger Menschen ins Verderben gestürzt hatten.

Niemals hatte Serjoscha jemanden mit solchem Schmerz über die Not und das Leid sprechen hören, die über die Bauernschaft während der Zwangskollektivierung hereingebrochen waren. Es war vor allem Grekow, der sich über diese Themen ausließ, doch oft führten auch Kolomeizew und Batrakow solche Gespräche.

Jetzt im Stabsunterstand erschien Serjoscha jede Minute, die er außerhalb des Hauses »sechs Strich eins« verbringen musste, qualvoll lange. Die Unterhaltungen über den Dienst und über Aufrufe zu den Abteilungschefs kamen ihm sinnlos vor. Er stellte sich vor, was wohl Poljakow, Kolomeizew oder Grekow jetzt taten.

In der ruhigen Stunde am Abend würden wieder alle über die Funkerin reden. Wenn Grekow sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er durch nichts mehr aufzuhalten, selbst dann nicht, wenn ihn Buddha oder Tschuikow persönlich daran zu hindern suchten.

Die Bewohner des Hauses waren außergewöhnliche, starke, zu allem entschlossene Menschen. Wahrscheinlich würde Subarew auch heute wieder eine Arie anstimmen … Und sie saß dort hilflos und erwartete ihr Schicksal.

»Ich bring ihn um!«, dachte er, wusste jedoch nicht genau, wen er eigentlich umbringen wollte.

Was bildete er sich denn ein? Er hatte noch kein einziges Mal ein Mädchen geküsst; diese erfahrenen Teufel aber würden sie natürlich täuschen, ihr den Kopf verdrehen.

Er hatte schon viele Geschichten über Krankenschwestern, Telefonistinnen, Entfernungsmesserinnen und Abhörerinnen gehört, über Schulmädchen, die gegen ihren Willen zur »Pepesche«, zur Feldfrau, von Regimentskommandeuren und Divisionschefs der Artillerie geworden waren. Diese Geschichten hatten ihn bisher nicht berührt.

Er sah zur Tür des Unterstands. Wieso war es ihm denn nicht schon eher in den Sinn gekommen, dass er aufstehen und ohne einen Menschen zu fragen einfach gehen könnte?

Er stand auf, öffnete die Tür und ging.

In diesem Augenblick erhielt der Operationsoffizier vom Dienst im Armeestab einen Anruf aus der Politabteilung; man bat darum, umgehend einen Soldaten aus dem eingeschlossenen Haus zum Kommissar zu schicken.

Die Geschichte von Daphnis und Chloe rührt die Herzen der Menschen immer wieder aufs Neue, aber nicht, weil ihre Liebe unter blauem Himmel und zwischen Weinreben entstand.

Die Geschichte von Daphnis und Chloe wiederholt sich zu allen Zeiten und überall – auch im stickigen Keller, der nach gebratenem Dorsch riecht, auch im Bunker eines Konzentrationslagers, auch unter dem Rascheln von Rechnungen in einem Buchhaltungsbüro, auch in der staubigen Luft einer Spinnerei.

Und diese Geschichte erwachte zu neuem Leben inmitten von Ruinen, unter dem Geheul deutscher Sturzkampfflieger, dort, wo Menschen ihre schmutzigen, schweißverklebten Körper nicht mit Honig nährten, sondern mit faulen Kartoffeln und Wasser aus einem alten Heizungskessel, dort, wo es keine Stille gab, sondern nur geborstenen Stein, Lärm und Gestank.

62

Der alte Andrejew, der als Wächter im Elektrizitätswerk »Stalgres« arbeitete, erhielt einen eingeschriebenen Brief aus Leninsk, wohin seine Schwiegertochter evakuiert worden war; sie schrieb, dass seine Frau Warwara Alexandrowna an Lungenentzündung gestorben war.

Auf diese Nachricht hin verdüsterte sich Andrejew völlig, ging nur noch selten zu den Spiridonows, saß an den Abenden am Eingang des Arbeiterwohnheims und sah zu, wie das Geschützfeuer und die Scheinwerferbündel über den bewölkten Himmel huschten. Manchmal redete man ihn im Wohnheim an, er aber schwieg. Dann wiederholte derjenige, der ihn angesprochen hatte, in der Annahme, der Alte höre schlecht, seine Frage lauter. Andrejew sagte finster: »Ich hör schon, bin doch nicht taub«, und schwieg wieder.

Der Tod seiner Frau hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Sein Leben hatte sich im Leben seiner Frau gespiegelt; Schlimmes und Gutes, das ihm widerfahren war, fröhliche und traurige Stimmungen, alles existierte erst, wenn es sich in Warwara Alexandrownas Seele spiegelte.

Während eines besonders heftigen Angriffs, als tonnenschwere Bomben explodierten, hatte Andrejew auf die Woge aus Erde und Qualm geblickt, die zwischen den Werkshallen von »Stalgres« aufwirbelte, und dabei gedacht: »Ja, wenn das meine Alte sehen könnte … Ach, Warwara, das ist schon eine Wucht …« Doch zu der Zeit war sie bereits nicht mehr am Leben.

Es schien ihm, als seien die Trümmer der durch Bomben und Granaten zerstörten Gebäude, der vom Krieg umgepflügte Hof, die Klumpen aus Erde und verbogenem Eisen, der bittere, feuchte Qualm und die echsenhaft kriechende gelbe Flamme der brennenden Ölisolatoren Ausdruck seines Lebens – das war ihm für den Rest seiner Tage geblieben.

Hatte er wirklich einmal in einem hellen Zimmer gesessen, vor der Arbeit gefrühstückt, während seine Frau neben ihm stand und seine Bewegungen verfolgte, um ihm, falls es nötig war, noch einmal nachzuschenken?

Ja, jetzt blieb ihm nichts mehr übrig, als allein zu sterben.

Plötzlich erinnerte er sich an sie, als sie jung war, mit sonnengebräunten Armen und fröhlichen Augen.

Was soll’s, die Stunde wird kommen, sie ist gar nicht mehr so fern.

Eines Abends stieg er langsam die knarrenden Stufen zu den Spiridonows in den Unterstand hinunter. Stepan Fjodorowitsch betrachtete das Gesicht des Alten und fragte: »Geht’s schlecht, Pawel Andrejewitsch?«

»Sie sind noch jung, Stepan Fjodorowitsch«, antwortete Andrejew. »Sie sind nicht so stark wie ich, aber nur ruhig Blut. Ich habe genug Kraft; ich komme allein hin.«

Vera, die gerade einen Topf abwusch, blickte sich nach dem Alten um, da sie den Sinn seiner Worte nicht gleich erfasste.

Andrejew, der das Gespräch auf ein anderes Thema lenken wollte – er brauchte von niemandem Mitgefühl –, sagte: »Es ist Zeit, Vera, Sie müssen von hier fort. Hier gibt’s kein Krankenhaus, nur Panzer und Flugzeuge.«

Sie lächelte ein wenig und machte mit den nassen Händen eine abwehrende Bewegung.

Stepan Fjodorowitsch stimmte verärgert zu: »Sogar unbekannte Leute reden ihr schon zu, sagen ihr, dass es für sie Zeit ist, sich ans linke Ufer zu schlagen. Gestern kam ein Mitglied des Armeekriegsrats vorbei, trat zu uns in den Unterstand, schaute Vera an – er sagte nichts, stieg ins Auto ein und beschimpfte mich: ›Sie sind doch wohl ihr Vater oder etwa nicht? Wenn Sie wollen, setzen wir sie auf dem Panzerboot über die Wolga.‹ Was soll ich denn machen? Sie will nicht, basta.«

Er redete schnell, in einem Atemzug, wie Leute reden, die tagaus, tagein über ein und dasselbe streiten. Andrejew betrachtete den Ärmel seines Jacketts mit der ihm vertrauten Stopfstelle, die sich immer weiter ausgebreitet hatte, und schwieg.

»Was können denn hier für Briefe ankommen?«, fuhr Stepan Fjodorowitsch fort. »Gibt’s hier etwa Post? Solange wir hier sind, haben wir noch kein einziges Lebenszeichen erhalten, weder von der Großmutter noch von Genia, noch von Ljudmila … Wo ist Tolja, wo Serjoscha? Meinst du, du wirst das hier erfahren?«

Vera sagte: »Pawel Andrejewitsch hat doch auch einen Brief bekommen.«

»Die Benachrichtigung über einen Todesfall hat er bekommen.« Stepan Fjodorowitsch erschrak über seine eigenen Worte; er deutete mit der Hand auf die engen Wände des Unterstands und den Vorhang, der Veras Schlafstelle abtrennte, und sagte dann verlegen: »Ja, und was ist denn das hier für ein Leben für sie? Sie ist doch ein Mädchen, eine Frau, und hier lungern dauernd Männer herum, Tag und Nacht – mal Arbeiter, mal Militärschutz, immer ist ein Haufen Volk da –, die laut herumquatschen und rauchen.«

Andrejew sagte: »Haben Sie Mitleid mit dem Kind, es wird hier umkommen.«

»Und denk doch bloß, die Deutschen würden plötzlich eindringen. Was geschieht dann?«, sagte Stepan Fjodorowitsch.

Vera schwieg.

Sie redete sich ein, dass Viktorow eines Tages durch das zerstörte Tor von »Stalgres« treten würde und dass sie ihn schon von weitem in seinem Fliegeroverall, den hohen Schaftstiefeln und der schräg umgehängten Kartentasche erblicken würde.

Sie trat auf die Landstraße hinaus – vielleicht kam er gerade? Rotarmisten fuhren auf Lastwagen vorbei und schrien ihr zu: »He, Mädel, auf wen wartest du? Steig ein zu uns!«

Sie fand für einen Augenblick ihre Fröhlichkeit wieder und antwortete: »Der Lkw bringt mich nicht ans Ziel.«

Als sowjetische Flugzeuge über sie hinwegflogen, starrte sie auf die tieffliegenden Jäger, und ihr war, als würde sie jeden Augenblick Viktorow erkennen können.

Einmal hatte ein Jagdflugzeug, das über »Stalgres« flog, grüßend die Flügel geschwenkt; Vera hatte einen verzweifelten Schrei ausgestoßen, der wie der Schrei eines Vogels klang, war gerannt, gestolpert und gestürzt. Nach diesem Sturz hatte sie ein paar Nächte lang Schmerzen im Kreuz.

Ende Oktober hatte sie ein Luftgefecht über dem Elektrizitätswerk verfolgt. Der Kampf war unentschieden ausgegangen; die sowjetischen Maschinen flogen gen Wolken davon, die deutschen drehten ab und flogen nach Westen. Vera aber stand da und starrte in den leeren Himmel, und in ihren geweiteten Augen zeichnete sich eine solch irrsinnige Spannung ab, dass ein Monteur, der über den Hof ging, sie fragte: »Genossin Spiridonowa, was ist mit Ihnen? Sind Sie vielleicht angeschossen worden?«

Sie glaubte fest daran, dass sie Viktorow gerade hier, im »Stalgres«, wiedersehen würde, doch sie hatte das Gefühl, dass es ihr das Schicksal verübeln und ihnen daher das Wiedersehen versagen würde, wenn sie ihrem Vater etwas davon sagte. Manchmal war sie sich seines Kommens so sicher, dass sie sich eilig daranmachte, Roggenpiroschki mit Kartoffeln zu backen, hastig den Boden fegte, ihre Sachen umräumte und die schmutzigen Schuhe putzte. Manchmal, wenn sie mit dem Vater am Tisch saß, horchte sie auf und sagte: »Wart mal, ich komm gleich wieder.« Den Mantel um die Schultern geworfen, stieg sie aus ihrer unterirdischen Behausung an die Oberfläche und blickte sich um, ob nicht im Hof ein Flieger stünde und fragte, wie man zu den Spiridonows käme.

Nicht ein einziges Mal, nicht eine einzige Minute lang kam ihr in den Sinn, dass er sie vergessen haben könnte. Sie war überzeugt, dass Viktorow Tag und Nacht ebenso fest an sie dachte wie sie an ihn.

Das Elektrizitätswerk lag fast jeden Tag unter dem Beschuss schwerer deutscher Geschütze. Die Deutschen waren geschickter geworden und hatten sich eingeschossen; die Geschosse trafen gezielt auf die Wände der Werkshallen, ab und zu erschütterte Explosionsdonner die Erde. Oft kamen vereinzelt herumschwirrende Bomber angeflogen und warfen Bomben ab. Tief über den Boden schwärmende »Messer« feuerten Maschinengewehrsalven ab, wenn sie über das Elektrizitätswerk hinwegflogen. Manchmal tauchten auf den entfernten Hügeln deutsche Panzer auf, dann war das hastige Geknatter von Maschinengewehren deutlich zu hören.

Es schien, als hätte sich Stepan Fjodorowitsch an die Beschießungen und Bombardierungen gewöhnt; auch die übrigen Arbeiter des Elektrizitätswerks hatten sich anscheinend daran gewöhnt. Doch bei dieser scheinbaren Gewöhnung wurden die seelischen Kraftreserven bis aufs Letzte ausgeschöpft; manchmal wollte sich Spiridonow, von Erschöpfung übermannt, nur noch aufs Bett legen, die wattierte Jacke über den Kopf ziehen und so liegen bleiben, ohne sich zu rühren, ohne die Augen zu öffnen. Manchmal betrank er sich. Manchmal wäre er gern bis zum Ufer der Wolga gerannt, um sich nach Tumak durchzuschlagen und dann die Steppe am linken Ufer zu durchqueren, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach »Stalgres« umzusehen; er war bereit, die Schande der Fahnenflucht auf sich zu nehmen, nur um nicht mehr das furchtbare Geheul der deutschen Granaten und Bomben zu hören. Als sich Stepan Fjodorowitsch bei dem in der Nähe liegenden Stab der 64. Armee über den heißen Draht mit Moskau hatte verbinden lassen und der Vertreter des Volkskommissars gesagt hatte: »Genosse Spiridonow, übermitteln Sie dem heldenhaften Kollektiv, dem Sie vorstehen, einen Gruß aus Moskau«, war das Stepan Fjodorowitsch peinlich gewesen – von welcher Heldenhaftigkeit konnte man denn da sprechen? Hier waren schon die ganze Zeit Gerüchte im Umlauf, dass die Deutschen einen massierten Schlag auf »Stalgres« vorbereiteten, um es mit tonnenschweren Bomben in Grund und Boden zu stampfen. Von solchen Gerüchten bekam man kalte Hände und Füße. Tagsüber schielten die Augen dauernd zum grauen Himmel, ob sie nicht angeflogen kämen. Nachts aber fuhr Spiridonow plötzlich hoch, es war ihm, als hörte er das dichte, immer stärker anschwellende Brummen der herannahenden deutschen Luftgeschwader. Vor Angst wurden Brust und Rücken feucht.

Offensichtlich waren nicht nur seine Nerven strapaziert. Der Oberingenieur Kamyschow sagte einmal zu ihm: »Ich hab einfach keine Kraft mehr; ich sehe ständig irgendeinen Teufelsspuk vor mir. Ich schau auf die Landstraße und denke: ›Ach, türmen sollte man.‹« Und eines Abends war der Partorg38 Nikolajew zu ihm gekommen und hatte gebeten: »Stepan Fjodorowitsch, schenk mir ein Glas Wodka ein, meiner ist alle. Irgendwie kann ich in der letzten Zeit ohne dieses Antibombin überhaupt nicht schlafen.« Stepan Fjodorowitsch hatte Nikolajew Wodka eingeschenkt und dabei gesagt: »Lange leben heißt lange lernen. Man müsste sich einen Beruf aussuchen, in dem sich die Ausrüstung leicht evakuieren lässt, aber hier sind die Turbinen dageblieben und wir mit. Die Belegschaften von den anderen Fabriken feiern dagegen längst in Swerdlowsk blau.«

In der Absicht, Vera zum Weggehen zu überreden, hatte Stepan Fjodorowitsch einmal gesagt: »Ich muss mich nur wundern: Meine Leute kommen zu mir und bitten darum, dass sie sich unter irgendeinem Vorwand aus dem Staub machen dürfen. Dich aber versuche ich ehrlich zu überzeugen, und du willst nicht. Wenn man’s mir erlauben würde, ich würde keine Sekunde zögern.«

»Ich bleibe deinetwegen hier«, hatte sie schroff geantwortet. »Ohne mich verfällst du doch völlig dem Suff.«

Natürlich gab es nicht nur die Angst vor dem deutschen Feuer. In »Stalgres« gab es auch Mut, schwere Arbeit, Gelächter, Scherze und das berauschende Gefühl, einem erbarmungslosen Schicksal zu trotzen.

Vera quälte ständig die Sorge um das Kind. Würde es auch gesund zur Welt kommen, würde es ihm auch nicht schaden, dass sie in dem stickigen, verrauchten Kellerraum lebte und jeden Tag die Erde unter den Bomben erbebte? In letzter Zeit wurde ihr oft übel und schwindelig. Was für ein trauriges, furchtsames, trübsinniges Kind musste da zur Welt kommen, wenn die Augen seiner Mutter die ganze Zeit nur Ruinen, Feuer, die zerstörte Erde und die Flugzeuge mit den schwarzen Kreuzen am grauen Himmel sahen. Vielleicht hörte es sogar das Gebrüll der Explosionen, vielleicht erstarrte sein kleiner zusammengekrümmter Körper, das kleine Köpfchen zwischen den Schultern vergraben, bei dem Jaulen der Bomben.

Aber an ihr vorbei liefen Männer in ölverschmierten Mänteln mit Soldatenkoppeln aus Gurtband, winkten ihr im Gehen zu, lächelten und riefen: »Vera, wie geht’s? Vera, denkst du an mich?«

Sie spürte die Zärtlichkeit, mit der man sie, die werdende Mutter, behandelte. Vielleicht spürte auch der Kleine diese Zärtlichkeit, und sein Herz wurde rein und gut.

Manchmal betrat sie die Mechanikerabteilung, wo Panzer repariert wurden und wo früher einmal Viktorow gearbeitet hatte. Sie überlegte – an welcher Werkbank hatte er gestanden? Sie versuchte, sich ihn in Arbeitskleidung vorzustellen oder in Sommeruniform, aber immer erschien er ihr im Lazarettkittel.

In der Werkstatt kannten sie nicht nur die Arbeiter des Kraftwerks, sondern auch die Panzersoldaten aus dem Armeestützpunkt. Man konnte sie nicht auseinanderhalten – die Fabrikarbeiter und die Werkmänner des Krieges waren einander vollkommen gleich – mit ihren verschmierten Jacken, zerdrückten Mützen und schwarzen Händen.

Vera war ganz in Anspruch genommen von den Gedanken an Viktorow und das Kind, dessen Dasein sie Tag und Nacht spürte, und die Sorge um die Großmutter, um Tante Genia, um Serjoscha und Tolja wich aus ihrem Herzen, sie empfand lediglich Sehnsucht, wenn sie an sie dachte.

Nachts sehnte sie sich nach ihrer Mutter, rief sie, bat sie um Hilfe, flüsterte: »Mamotschka, Liebe, hilf mir!«

Und in diesen Minuten empfand sie sich als hilflos und schwach, gar nicht so wie wenn sie ruhig zu ihrem Vater sagte: »Bitte mich nicht, ich werde nirgendwohin fahren.«

63

Während des Mittagessens bemerkte Nadja nachdenklich: »Tolja mochte gekochte Kartoffeln lieber als gebratene.«

Ljudmila Nikolajewna sagte: »Morgen wird er genau neunzehn Jahre und sieben Monate alt.« Am Abend sagte sie: »Wie hätte sich Marussja gegrämt, wenn sie gewusst hätte, wie die Faschisten in Tolstois Jasnaja Poljana gewütet haben.«

Bald darauf kehrte Alexandra Wladimirowna von einer Werksversammlung zurück und sagte zu Strum, der ihr aus dem Mantel half: »Herrliches Wetter, Viktor, die Luft ist trocken und eisig kalt. Ihre Mutter pflegte zu sagen: ›wie Wein‹.«

»Und über Sauerkraut sagte Mama: ›wie Trauben‹«, antwortete Strum.

Das Leben trieb dahin wie eine Eisscholle auf dem Meer, der Teil, der unter Wasser durch kaltes Dunkel glitt, verlieh dem oberen Teil die Festigkeit, um die Wellen abzufangen, dem Rauschen und Plätschern des Wassers zu lauschen, zu atmen …

Wenn junge Leute aus befreundeten Familien ihr Studium abschlossen, Dissertationen schrieben, sich verliebten oder heirateten, mischte sich in die Gratulationen und Familiengespräche ein Gefühl von Trauer.

Wenn Strum vom Tod eines Bekannten an der Front erfuhr, schien auch in ihm ein Stück Leben zu sterben und eine Farbe zu verblassen. Aber die Stimme des Verstorbenen klang im Lärm des Lebens weiter.

Strums Gedanken und Gefühle waren gefangen von der furchtbaren Zeit, sie hatte sich gegen Frauen und Kinder erhoben. Auch in seiner Familie: Zwei Frauen und einen jungen Mann, fast noch ein Kind, hatte sie getötet.

Oft kamen Strum zwei Zeilen aus einem Gedicht von Mandelstam in den Sinn, das er irgendwann von einem Verwandten Sokolows, dem Historiker Madjarow, gehört hatte:

»Mein Wolfshund-Jahrhundert, mich packt’s, mich befällt’s,

Doch bin ich nicht wölfischen Bluts.«

Doch dieses Jahrhundert war seine Zeit, er lebte mit ihm und würde auch nach dem Tod mit ihm verbunden bleiben.

Strums Arbeit ging unverändert schlecht voran.

Die noch vor dem Krieg begonnenen Experimente lieferten nicht die von der Theorie vorhergesagten Resultate.

Aus dem Flickenteppich der experimentellen Werte und dem unübersehbaren Widerspruch zur Theorie ergab sich ein entmutigendes Chaos.

Zunächst war Strum überzeugt gewesen, dass die Ursache seiner Misserfolge in der Unzulänglichkeit der Versuche und am Fehlen moderner Apparate lag. Er ließ seinen Missmut an den Mitarbeitern im Labor aus, verdächtigte sie der Nachlässigkeit, nahm an, dass sie sich durch Alltagssorgen zu sehr ablenken ließen.

Es lag indes nicht daran, dass der begabte, fröhliche und herzensgute Sawostjanow ständig herumzog, um Wodka-Bons zu ergattern, auch nicht daran, dass der allwissende Markow während der Arbeitszeit Vorlesungen hielt oder den Kollegen auseinandersetzte, wie dieses oder jenes Akademiemitglied zu seiner Sonderration kam, die dann zwischen den zwei ehemaligen und der jetzigen Gattin aufgeteilt wurde, und nicht daran, dass Anna Naumowna sich in langatmigen Ausführungen über die Querelen mit ihrer Vermieterin erging.

Sawostjanow hatte einen klaren und lebendigen Geist. Markow begeisterte Strum immer noch durch sein enormes Wissen, durch seine ruhige Logik und die artistische Begabung für die feinsten Experimente. Anna Naumowna wohnte zwar in einem kalten Durchgangszimmer, einer Art Abstellkammer, aber in der Arbeit war sie ungeheuer ausdauernd und verlässlich. Und nach wie vor war Strum stolz darauf, mit Sokolow arbeiten zu können.

Nichts brachte Fortschritte in die Arbeit – weder die präzise Einhaltung aller Versuchsbedingungen noch Kontrollberechnungen, noch eine abermalige Eichung der Rechengeräte. Das Chaos war in ihre Untersuchungen eingedrungen, die sie an organischen Salzen eines Schwermetalls unter hochgradiger Bestrahlung anstellten. Dieses Salzstäubchen erschien Strum bisweilen als ein Gnom ohne Verstand und Anstand, ein Gnom mit rotbackigem Gesicht und einer roten Zipfelmütze, die ihm übers Ohr gerutscht war, und dieser Gnom schnitt Grimassen, verrenkte sich in anzüglichen Bewegungen und streckte dem gestrengen Antlitz der Theorie die winzige Zunge heraus. An der Formulierung der Theorie hatten weltbekannte Physiker mitgewirkt, die mathematischen Grundlagen waren untadelig, das in den berühmten Laboratorien Deutschlands und Englands durch Jahrzehnte gespeicherte experimentelle Material passte fugenlos hinein. Kurz vor dem Krieg war in Cambridge ein Experiment durchgeführt worden, das das von der Theorie prophezeite Verhalten der Teilchen unter besonderen Verhältnissen hatte bestätigen sollen. Der Erfolg dieses Experiments wurde zum höchsten Triumph der Theorie. Für Strum war es ebenso poetisch und erhaben wie jenes berühmte Experiment, durch das die theoretisch vorhergesagte Abweichung des von einem Stern ausgehenden Lichtstrahls im Gravitationsfeld der Sonne bestätigt worden war.

Gegen die Theorie zu rebellieren schien genauso undenkbar, wie dass ein Soldat einem Marschall die goldenen Epauletten von der Uniform riss.

Der Gnom aber schnitt weiterhin Grimassen und zeigte ihnen die lange Nase: Nichts konnte ihn zur Räson bringen. Kurz bevor Ljudmila Nikolajewna nach Saratow gefahren war, hatte Strum den Einfall, den Rahmen der Theorie zu erweitern, allerdings mit Hilfe von zwei willkürlichen Hypothesen und um den Preis eines wesentlich erschwerten mathematischen Apparats.

Die neuen Gleichungen betrafen jenen Zweig der Mathematik, der besonders Sokolows Stärke war. Strum bat ihn um Hilfe – er selbst fühlte sich unsicher auf diesem Gebiet. Sokolow gelang es recht schnell, die neuen Gleichungen für die erweiterte Theorie zu formulieren.

Das Problem schien gelöst, die experimentellen Werte hatten aufgehört, der Theorie zu widersprechen. Strum freute sich über den Erfolg und gratulierte Sokolow. Sokolow gratulierte Strum, aber Gewissheit und Befriedigung stellten sich nicht ein.

Bald verfiel Strum abermals in trübe Stimmung. Er sagte zu Sokolow: »Ich habe beobachtet, Pjotr Lawrentjewitsch, dass ich schlechte Laune bekomme, sobald Ljudmila Nikolajewna abends Strümpfe zu stopfen beginnt. Es erinnert mich an uns beide: Wir haben die Theorie geflickt. Grobe Arbeit, der Faden hat die falsche Farbe, Pfuscherei.«

Er machte aus seinen Zweifeln keinen Hehl; es war nicht seine Art, sich in die eigene Tasche zu lügen, instinktiv fühlte er, dass Selbstbetrug zu einer Niederlage führt.

Die Erweiterung der Theorie hatte nichts gebracht. Mit den Flickstellen verlor sie ihre innere Harmonie, die willkürlichen Hypothesen beraubten sie ihrer souveränen Kraft, ihres eigenständigen Lebens. Ihre Gleichungen wurden plump, es fiel nun schwer, sie zu handhaben. Sie bekam etwas Talmudisches, Bedingtes, Anämisches, als hätte sie ihr lebendiges Muskelfleisch eingebüßt.

Und wieder geriet eine neue Versuchsreihe, vom brillanten Markow angestellt, in Widerspruch zu den abgeleiteten Gleichungen. Um den neuen Widerspruch zu erklären, hätte eine neue willkürliche Hypothese, hätten wieder Zündhölzer und Späne als Stützen herhalten müssen.

»Pfusch«, sagte sich Strum. Er begriff, dass er den falschen Weg eingeschlagen hatte.

Ein Brief von Ingenieur Krymow traf ein: Die Arbeit an der von Strum bestellten Apparatur, das Gießen und Drehen, müsse für einige Zeit aufgeschoben werden, da der Betrieb mit Kriegsaufträgen überlastet sei, die Lieferung der bestellten Apparatur werde sich wahrscheinlich um anderthalb bis zwei Monate verzögern.

Strum war aber nicht traurig über den Brief, er wartete nicht mehr mit der früheren Ungeduld auf die neuen Apparate, er glaubte nicht, dass sie die Versuchsergebnisse verändern konnten. Bisweilen überkam ihn allerdings Zorn, dann wollte er möglichst rasch die neuen Geräte bekommen, um sich ein für alle Mal zu überzeugen, dass das reiche, erweiterte Versuchsmaterial auf endgültige und hoffnungslose Weise der Theorie widersprach.

Der Misserfolg in der Arbeit verband sich in seinem Bewusstsein mit persönlichen Kümmernissen, alles war zu grauer Aussichtslosigkeit verschmolzen.

Seit Wochen hielt dieser Trübsinn an, er war gereizt, interessierte sich plötzlich für häuslichen Kleinkram, mischte sich in Küchenbelange ein und wunderte sich, wie es Ljudmila Nikolajewna schaffte, so viel Geld auszugeben.

Neuerdings fand er sogar ein Ohr für Ljudmilas Streitereien mit den Wohnungsbesitzern, die eine Zusatzmiete für den Holzschuppen verlangten.

»Na, was machen die Verhandlungen mit Nina Matwejewna?«, fragte er, und nachdem ihm Ljudmila Bericht erstattet hatte, sagte er: »Was für ein niederträchtiges Weib, Teufel noch mal.«

Er dachte nicht mehr an den Zusammenhang zwischen Wissenschaft und menschlichem Dasein, fragte sich nicht, ob sie ihm zum Glück oder Unglück gereichte. Um solche Gedanken zu haben, musste man sich als Beherrscher und Sieger fühlen. Er aber empfand sich in diesen Tagen als Versager.

Es schien ihm, als würde er niemals mehr wie früher arbeiten können, als habe ihn das erlebte Leid der Forscherkraft beraubt.

In Gedanken ließ er die Namen von Physikern, Mathematikern, Schriftstellern Revue passieren, die bereits in jungen Jahren ihre größten Leistungen vollbracht hatten, ab fünfunddreißig, vierzig aber nicht mehr Wesentliches zu leisten vermochten. Sie hatten etwas zustande gebracht, worauf sie stolz sein konnten, doch er musste sein Leben zu Ende leben, ohne auf etwas in der Jugend Geleistetes zurückblicken zu können. Galois, der viele Erkenntnisse der Mathematik auf Jahrhunderte vorausbestimmt hatte, war im Alter von einundzwanzig Jahren bei einem Duell gefallen. Einstein hatte mit sechsundzwanzig seine Arbeit über die Elektrodynamik beweglicher Körper veröffentlicht, Hertz war noch nicht vierzig, als er starb. Was für eine Kluft lag zwischen dem Schicksal dieser Männer und ihm, Strum!

Strum sagte zu Sokolow, dass er für eine Weile die Laborarbeit einstellen wollte. Sokolow war jedoch der Ansicht, man müsse fortfahren, er erwartete sich viel von der neuen Apparatur. Dagegen hatte Strum sogar vergessen, ihm sofort vom Brief aus dem Werk zu berichten.

Viktor Pawlowitsch sah, dass seine Frau von seinen Misserfolgen wusste, sie brachte aber niemals die Rede darauf.

Sie hatte kein Interesse für das Allerwichtigste in seinem Leben, aber für den Haushalt, für eine Plauderei mit Marja Iwanowna, für das Gezänk mit der Vermieterin, für das Nähen eines Kleides für Nadja, für Zusammenkünfte mit Postojews Frau – dafür fand sie Zeit genug. Er war verbittert über Ljudmila Nikolajewna, erkannte ihren Zustand nicht.

Er glaubte, seine Frau habe ins gewohnte Leben zurückgefunden, sie aber verrichtete alle gewohnten Dinge eben aus dem Grund, weil sie gewohnt waren und ihr nicht seelische Kräfte abverlangten, die sie nicht mehr besaß.

Sie kochte Nudelsuppe und sprach über Nadjas Schuhe, weil sie sich viele Jahre lang um den Haushalt gekümmert hatte und jetzt mechanisch die gewohnten Griffe wiederholte. Was er jedoch nicht sah, war, dass sie, die ihr altes Leben fortführte, nicht im Geringsten daran teilnahm. Ein Wanderer geht in Gedanken versunken den vertrauten Weg, weicht Gruben aus und springt über Gräben, ohne sie überhaupt zu bemerken.

Um mit ihrem Mann über seine Arbeit sprechen zu können, hätte Ljudmila einen neuen seelischen Anstoß gebraucht, eine neue Kraft. Sie hatte keine Kraft. Strum aber schien es, als habe Ljudmila für alles ihr Interesse bewahrt, nur nicht für seine Arbeit. Es kränkte ihn, dass sie sich immer, wenn sie über den Sohn sprach, an Fälle erinnerte, in denen er nicht nett zu Tolja gewesen war. Sie zog gleichsam ein Resümee der Beziehung zwischen Tolja und seinem Stiefvater, und das Resümee fiel nicht zugunsten Viktor Pawlowitschs aus.

Ljudmila sagte zur Mutter: »Wie unglücklich er war, der Arme, als er eine Zeitlang Pickel im Gesicht hatte. Er bat mich sogar, bei der Kosmetikerin eine Creme zu holen. Und Viktor hat ihn dauernd gehänselt.«

So war es tatsächlich gewesen.

Strum hatte seinen Stiefsohn gern aufgezogen; wenn Tolja nach Hause kam und Viktor Pawlowitsch begrüßte, war es dessen Gewohnheit, den Jungen aufmerksam zu mustern und nachdenklich zu äußern: »Da zieht wieder eine ganze Milchstraße über dein Gesicht, mein Lieber.«

In letzter Zeit mochte Strum abends nicht zu Hause bleiben. Manchmal schaute er bei Postojew vorbei, und sie spielten Schach und hörten Musik: Postojews Frau war eine recht gute Pianistin. Manchmal besuchte er seinen neuen Kasaner Bekannten, Karimow. Doch am häufigsten war er bei den Sokolows.

Ihm gefiel ihr kleines Zimmer, er mochte das liebe Lächeln der gastfreundlichen Marja Iwanowna, und vor allem gefielen ihm die Gespräche, die sie am Tisch führten.

Wenn er dann spätabends heimkehrte und vor seinem Haus stand, packte ihn wieder die für eine kurze Weile gewichene Niedergeschlagenheit.

64

Vom Institut ging Strum, ohne vorher zu Hause vorbeizuschauen, direkt zu seinem neuen Bekannten Karimow. Sie wollten gemeinsam die Sokolows besuchen.

Karimow war pockennarbig und fast hässlich. Seine dunkle Haut unterstrich das Grau der Haare, und die Haare ließen sein Gesicht noch dunkler erscheinen.

Karimow sprach ein korrektes Russisch. Erst wenn man genau hinhörte, merkte man die Spur eines Akzents in der Aussprache und im Satzbau.

Strum hatte früher nie von ihm gehört, erfuhr nun, dass sein Name nicht nur in Kasan bekannt war. Karimow hatte die »Göttliche Komödie« und »Gullivers Reisen« ins Tatarische übersetzt und arbeitete in letzter Zeit an einer Nachdichtung der »Ilias«.

Als sie noch gar nicht miteinander bekannt waren, waren sie sich oft im Raucherzimmer der Universitätsbibliothek begegnet. Die Bibliothekarin, eine schlampig gekleidete, gesprächige alte Frau mit geschminkten Lippen, teilte Strum viele Einzelheiten über Karimow mit: dass er die Sorbonne absolviert hatte, ein Sommerhaus auf der Krim besaß und vor dem Krieg die meiste Zeit des Jahres am Meer verbracht hatte. Der Krieg hatte seine Frau und seine Tochter auf der Krim ereilt – er hatte keine Nachricht von ihnen. Die Alte machte Andeutungen, dass es im Leben dieses Menschen acht Jahre schweren Leidens gab, aber Strum nahm diese Mitteilung mit verständnislosem Blick auf. Auch Karimow musste die Alte etwas über Strum erzählt haben. So wussten sie voneinander und empfanden Verlegenheit, dass sie nicht persönlich miteinander bekannt waren, aber wenn sie sich trafen, lächelten sie einander nicht zu, sondern machten stattdessen düstere Gesichter. Diese Situation endete damit, dass sie einander einmal in der Bibliotheksgarderobe in die Arme liefen, gleichzeitig loslachten und ein Gespräch begannen.

Strum wusste nicht, ob seine Gedanken für Karimow interessant waren, aber er, Strum, hatte Gefallen am Reden, wenn Karimow ihm zuhörte. Aus eigener Erfahrung wusste Viktor Pawlowitsch, wie oft es vorkam, dass man auf einen Gesprächspartner stieß, der scheinbar klug und scharfsinnig, zugleich aber unerträglich langweilig war.

Es gab Menschen, in deren Anwesenheit Strum kaum ein Wort über die Lippen brachte, seine Stimme wurde spröde, das Gespräch verlor alle Würze und Farbe, als unterhielten sich Blinde und Taube miteinander.

Es gab Menschen, in deren Anwesenheit jedes aufrichtige Wort geheuchelt klang.

Es gab Menschen, alte Bekannte, in deren Anwesenheit sich Strum besonders einsam fühlte.

Woher kam das? Nun, ebenso plötzlich konnte einem ein Mensch begegnen – der Reisegefährte, der Bettnachbar im Schlafwagen, ein zufälliger Gesprächspartner –, in dessen Anwesenheit man dieses tief in einem sitzende Schweigen auf einmal brach.

Sie gingen nebeneinanderher, unterhielten sich, und Strum bemerkte, dass ihm neuerdings seine Arbeit manchmal stundenlang nicht in den Sinn kam, besonders während der abendlichen Gespräche bei Sokolow. Er hatte das noch nie erlebt, war stets im Geist bei seiner Arbeit gewesen – in der Straßenbahn, beim Essen, während er Musik hörte oder sich morgens im Badezimmer das Gesicht abtrocknete.

Es musste wohl wirklich eine schlimme Sackgasse sein, in die er geraten war, da er unbewusst die Gedanken an die Arbeit von sich schob.

»Wie kamen Sie heute voran, Achmet Usmanowitsch?«, fragte er.

Karimow sagte: »Das Gehirn nimmt nichts auf. Ich habe dauernd an meine Frau und meine Tochter denken müssen, manchmal ist mir, als würde alles gut werden, und dann plagt mich die Ahnung, dass sie umgekommen sind.«

»Ich verstehe Sie«, sagte Strum.

»Ich weiß«, erwiderte Karimow.

Strum dachte: Merkwürdig, mit einem Mann, den er erst einige Wochen kannte, war er bereit, über Dinge zu sprechen, über die er vor Frau und Tochter kein Wort verlor.

65

Im kleinen Kasaner Zimmer der Sokolows versammelten sich fast jeden Abend Menschen, die in Moskau wahrscheinlich nie zusammengekommen wären.

Sokolow, ein überaus begabter Mann, erging sich in hochgestochenen Tiraden. Es war kaum zu glauben, dass er der Sohn eines Wolgamatrosen war, so glatt kamen ihm die Worte über die Lippen. Er hatte ein gutes Herz und ein romantisches Gemüt, sein Gesichtsausdruck aber war schlau und hart.

Der Unterschied zum Wolgamatrosen bestand auch darin, dass Sokolow keinen Wodka anrührte, Angst vor Zugwind und Infektionen hatte, sich ständig die Hände wusch und die Brotkruste an jener Stelle abschnitt, an der er sie mit den Fingern berührt hatte.

Immer wenn Strum seine Arbeiten las, kam er aus dem Staunen nicht heraus: Dieser Mann – mit so eleganten und mutigen Gedankengängen, so lakonisch in seiner Darlegung und Beweisführung, solange es um die kompliziertesten und subtilsten Ideen ging – sonderte am Teetisch, langweilig und wortreich, heiße Luft ab.

Strum seinerseits liebte es, wie viele Menschen, die von Büchern umgeben im intellektuellen Milieu aufgewachsen waren, auch mal ein Slangwort in der Unterhaltung fallenzulassen, im Gespräch mit einem weißhäuptigen Akademiemitglied eine zänkische gelehrte Dame »dummes Weib« oder gar »alte Fuchtel« zu nennen.

Vor dem Krieg hatte Sokolow keine politischen Gespräche geduldet. Sobald Strum auf etwas Politisches zu sprechen kam, verstummte Sokolow, verschloss sich oder wechselte mit Nachdruck das Thema.

Er zeigte eine Art seltsamer Unterwürfigkeit und Arglosigkeit gegenüber den grausamen Ereignissen der Kollektivierung und der Säuberungen im Jahr 1937. Den Zorn des Staates empfand er gleichsam als Zorn der Natur oder Zorn einer Gottheit. Strum vermutete, dass Sokolow an Gott glaubte und dass dieser Glaube auch in seiner Arbeit, in der demütigen Ergebenheit vor den Mächtigen dieser Welt sowie in seinen persönlichen Beziehungen zum Ausdruck kam.

Einmal hatte ihn Strum geradeheraus gefragt: »Glauben Sie an Gott, Pjotr Lawrentjewitsch?« Doch Sokolow hatte eine finstere Miene aufgesetzt und keine Antwort gegeben.

Es war erstaunlich, dass sich nun Menschen abends bei den Sokolows einfanden, die über politische Themen sprachen, und Sokolow diese Gespräche nicht nur duldete, sondern sich sogar manchmal daran beteiligte.

Marja Iwanowna, klein, mager und in ihren Bewegungen so ungeschickt wie ein junges Mädchen, hörte ihrem Mann besonders aufmerksam zu. In dieser rührenden Aufmerksamkeit war alles enthalten: die schüchterne Ehrfurcht einer Schülerin, die Begeisterung einer verliebten Frau und die Nachsicht und Besorgtheit einer Mutter.

Zu Beginn der Gespräche tauschte man sich natürlich über die neuesten Kriegsmeldungen aus, doch dann entfernte man sich weit vom Krieg. Aber worüber auch gesprochen wurde, alles stand doch in Verbindung mit der Tatsache, dass die Deutschen bis zum Kaukasus und zum Unterlauf der Wolga vorgedrungen waren.

Die trübsinnigen Gedanken über die militärischen Schlappen erzeugten ein Gefühl verzweifelter Nonchalance – dann gehen wir eben alle vor die Hunde!

Man sprach über vieles an den Abenden in dem kleinen Zimmer; es war, als seien die Trennwände in dem begrenzten, abgeschlossenen Raum verschwunden und als redeten die Menschen nicht wie sonst miteinander.

Madjarow, der Historiker mit den dicken Lippen, dem großen Kopf und einer Haut, die wie eine Maske aus bläulich-bräunlichem Kautschuk wirkte – er war der Mann von Sokolows verstorbener Schwester –, erzählte manchmal Ereignisse aus dem Bürgerkrieg, die in den Geschichtsbüchern nicht zu finden waren. Er berichtete von dem Ungarn Gawro, dem Kommandeur des internationalen Regiments, vom Korpskommandeur Kriworutschko, von Boschenko und von dem blutjungen Offizier Schtschors, der befohlen hatte, die Mitglieder der Kommission, die seinen Stab im Auftrag des Revolutionären Kriegsrats überprüfen sollten, in seinem Waggon auszupeitschen. Er schilderte das schreckliche Schicksal von Gawros Mutter, einer alten ungarischen Bäuerin, die kein Wort Russisch verstand. Sie hatte ihren Sohn in der Sowjetunion besucht, und nach Gawros Verhaftung wurde sie von allen gemieden; man hatte Angst vor ihr, und sie irrte wie eine Verrückte durch Moskau, ohne sich verständigen zu können.

Madjarow sprach über die Wachtmeister und Unteroffiziere in den scharlachroten Reithosen mit Ledereinsatz, deren kahlgeschorene Schädel einen bläulichen Schimmer hatten; waren sie Divisions- und Korpskommandeure geworden, straften und begnadigten sie Menschen nach eigenem Gutdünken, und auf der Jagd nach einer Frau, auf die sie ein Auge geworfen hatten, verließen sie schon mal ihre Einheit … Er erzählte von den Kommissaren in den Regimentern und Divisionen, die schwarze Budjonny-Mützen aus Leder trugen, Nietzsches »Also sprach Zarathustra« lasen und die Kämpfer gegen die Ketzereien Bakunins wappneten … Er berichtete von zaristischen Fähnrichen, die zu Marschällen und Kommandeuren ersten Ranges aufrückten.

Einmal sagte er mit gedämpfter Stimme: »Das geschah in einer Zeit, als Lew Dawidowitsch39 noch Lew Dawidowitsch war.« Und seine traurigen Augen – Augen, wie man sie bei dicken, kranken, klugen Männern findet – bekamen einen besonderen Ausdruck.

Dann lächelte er und sagte: »In unserem Regiment gründeten wir ein Orchester aus Blas-, Saiten- und Zupfinstrumenten. Es spielte immer dieselbe Melodie: ›Ein Krokodil ging auf der Straße, es war so groß und grün …‹ Bei jeder Gelegenheit, ob zum Angriff oder beim Begräbnis der Helden, wurde dieses ›Krokodil‹ geschmettert. Als wir auf dem entsetzlichen Rückzug waren, kam Trotzki zu uns, um unseren Kampfgeist zu stärken – das ganze Regiment wurde zu einer Kundgebung zusammengetrommelt, eine staubige, langweilige Kleinstadt, Hunde streunten umher, mitten auf dem Platz war eine Rednerbühne errichtet, ich weiß noch, es war eine Gluthitze, wir waren wie benommen, und da rief Trotzki mit der großen roten Schleife und glänzenden Augen: ›Genossen Rotarmisten‹ – und seine Stimme klang wie Donnerhall. Dann schmetterte das Orchester das ›Krokodil‹. Und merkwürdig, dieses Balalaika-Krokodil benebelte uns mehr den Verstand als die ›Internationale‹, gespielt von einem großen Orchester, wir wären mit bloßen Händen, unbewaffnet, nach Warschau oder Berlin marschiert …«

Madjarows Bericht war ruhig und gelassen, er rechtfertigte nicht jene Divisions- und Korpskommandeure, die später als Feinde des Volkes und als Landesverräter erschossen wurden, er rechtfertigte auch Trotzki nicht, aber aus seiner Begeisterung für Kriworutschko oder Dubow, aus der Achtung, mit der er die Namen der 1937 vernichteten Kommandeure und Kommissare nannte, konnte man heraushören, dass er an eine Schuld der Marschälle Tuchatschewski, Blücher, Jegorow, des Oberkommandierenden des Moskauer Militärkreises Muralow, der Armeekommandeure Lewandowski, Gamarnik, Dybenko und Bubnow nicht glaubte und sie alle, wie auch Unschlicht und den Ersten Stellvertreter Trotzkis, Skljanski, nicht für Volksfeinde und Landesverräter hielt.

Die ruhige Gelassenheit von Madjarows Stimme schien unglaublich. Hatte nicht der Staat in seiner Allmacht eine neue Vergangenheit geschaffen, die Geschichte der Feldzüge umgeschrieben, neue Helden bereits geschehener Ereignisse ernannt und die wahren Helden aus dem Dienst entlassen? Der Staat war mächtig genug, alles, was geschehen war, was jahrhundertelang Gültigkeit hatte, neu zu inszenieren, Granit neu zu behauen und Bronze umzugießen, verklungene Reden umzuschreiben, Personen auf Dokumentarfotos neu zu gruppieren.

Es entstand in der Tat eine neue Geschichte. Selbst jene, die die alten Zeiten miterlebt hatten, lernten nun aufs Neue ihr gelebtes Leben kennen, machten freiwillig die Wandlung von Helden zu Feiglingen durch, von Revolutionären zu ausländischen Agenten.

Aber wenn man Madjarow zuhörte, hatte man das Gefühl, dass unweigerlich eine neue Logik kommen würde, die Logik der Wahrheit. Vor dem Krieg hatte es solche Gespräche nicht gegeben.

Einmal sagte er: »Alle, alle diese Menschen würden heute gegen den Faschismus kämpfen, selbstlos und bis zum letzten Blutstropfen. Schlimm, dass man sie vernichtet hat.«

Dem Chemiker Wladimir Romanowitsch Artelew, einem alten Kasaner, gehörte die Wohnung, die die Sokolows gemietet hatten. Seine Frau kam erst abends von der Arbeit nach Hause. Zwei Söhne waren an der Front. Artelew selbst war Werksleiter in einem chemischen Betrieb. Seine Kleidung war ärmlich, einen Wintermantel besaß er nicht; um warm zu bleiben, trug er unter dem Regenmantel eine wattierte Jacke und auf dem Kopf eine zerknitterte, speckige Schirmmütze, die er sich auf der Straße tief über die Ohren zog.

Wenn er bei Sokolows eintrat, auf die steifen roten Finger hauchte und schüchtern in die Runde lächelte, schien es Strum, als wäre nicht der Hausherr, nicht der Chef einer großen Werkshalle eines großen Betriebs hereingekommen, sondern ein mittelloser Nachbar oder einer, der von Almosen lebt.

So auch an diesem Abend: Da stand er mit unrasierten, eingefallenen Wangen an der Tür, ängstlich besorgt, keine Diele knarren zu lassen, und lauschte den Worten Madjarows.

Marja Iwanowna ging auf dem Weg in die Küche an ihm vorbei und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er schüttelte erschrocken den Kopf, offensichtlich lehnte er eine Einladung zu Tisch ab.

»Gestern«, sagte Madjarow, »erzählte mir ein Oberst, der zur Behandlung hier ist, die Front-Parteikommission habe eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet, weil er einen Leutnant verprügelt hat. Im Bürgerkrieg war so ein Übergriff unmöglich.«

»Haben Sie nicht selbst erzählt, dass der Partisanenführer Schtschors die Mitglieder einer Kommission des Revolutionären Kriegsrats auspeitschen ließ?«, fragte Strum.

»In diesem Fall prügelte ein Untergebener seinen Vorgesetzten«, erwiderte Madjarow, »das ist ein Unterschied.«

»In der Industrie ist es dasselbe«, sagte Artelew. »Unser Direktor duzt alle Ingenieure, sagt man aber zu ihm ›Genosse Schurjew‹, ist er beleidigt, will mit Vor- und Vatersnamen, Leonti Kusmitsch, angeredet werden. Dieser Tage hat ein alter Chemiker seinen Zorn geweckt, zuerst beschimpfte Schurjew den Alten ganz unflätig, dann brüllte er ihn an: ›Was ich gesagt habe, hast du zu machen, sonst kriegst du einen Tritt in den Arsch und fliegst aus meinem Betrieb‹ – der Alte aber ist einundsiebzig.«

»Und die Gewerkschaft schweigt?«, fragte Sokolow.

»Ach was, Gewerkschaft«, sagte Madjarow, »die Gewerkschaft ruft zu Opfern auf: Vor dem Krieg steckt man in den Kriegsvorbereitungen, während des Kriegs heißt es: Alles für die Front, und nach dem Krieg wird die Gewerkschaft zum Wiederaufbau aufrufen. Wer hat schon Zeit für einen alten Mann?«

Marja Iwanowna fragte Sokolow leise: »Soll ich den Tee auftragen?«

»Natürlich, natürlich, her mit dem Tee.«

»Wie wunderbar lautlos sie sich bewegt«, dachte Strum, sein zerstreuter Blick lag auf den mageren Schultern Marja Iwanownas, die durch die halb geöffnete Tür in die Küche schlüpfte.

»Ach, meine lieben Genossen«, sagte plötzlich Madjarow. »Könnt ihr euch vorstellen, was das ist, die Pressefreiheit? Da schlagt ihr an einem friedlichen Nachkriegsmorgen die Zeitung auf und findet darin – statt eines jubelnden Leitartikels, statt der Briefe der Werktätigen an den großen Stalin, statt der Berichte über die Arbeitswacht einer Stahlgießerbrigade zu Ehren der Wahlen zum Obersten Sowjet und darüber, wie die Werktätigen der Vereinigten Staaten das neue Jahr in gedrückter Stimmung wegen der wachsenden Arbeitslosigkeit und Armut begonnen haben –, wisst ihr, was ihr stattdessen in der Zeitung findet? Information! Könnt ihr euch eine solche Zeitung vorstellen? Eine Zeitung, die Information liefert!

Und da könnt ihr nun lesen: eine Notiz über die Missernte im Kursker Gebiet, den Bericht einer Kontrollkommission über die Zustände im Butyrka-Gefängnis, eine Polemik über Sinn und Unsinn des Weißmeer-Ostsee-Kanals. Und ihr könnt erfahren, dass sich der Arbeiter Golopusow gegen eine neue Staatsanleihe ausgesprochen hat.

Kurzum, ihr wisst, was im Lande passiert: Ernten und Missernten, Enthusiasmus und Einbruchsdiebstahl, die Inbetriebnahme von neuen Gruben und Grubenunglücke in alten, Differenzen zwischen Molotow und Malenkow … Ihr lest Berichte über den Verlauf eines Streiks, der ausgebrochen war, weil der Betriebsdirektor einen siebzigjährigen Chemiearbeiter beleidigt hat; ihr lest die Reden von Churchill und Blum und nicht, was sie angeblich gesagt haben; ihr wisst, wie viele Menschen am Vortag in Moskau Selbstmord begangen haben, wie viele Unfallopfer in die Krankenhäuser eingeliefert worden sind. Man sagt euch, warum es keinen Buchweizen in den Geschäften gibt, nicht bloß, dass aus Taschkent per Flugzeug die ersten Erdbeeren angeliefert worden sind. Aus der Zeitung erfahrt ihr, wie viel Gramm Getreide man in der Kolchose pro Tagesleistung bekommt, und nicht von eurer Putzfrau, deren Nichte nach Moskau gekommen ist, um hier Brot zu kaufen. Ja, ja, und bei alldem bleibt ihr voll und ganz sowjetische Menschen.

Ihr betretet einen Buchladen, kauft ein Buch und lest, ohne eure Staatszugehörigkeit zu verleugnen, amerikanische, englische, französische Philosophen, Historiker, Wirtschaftler, politische Kommentatoren. Ihr kommt von selbst darauf, worin sie unrecht haben; ihr geht durch die Straßen spazieren, und keiner hat sich an eure Fersen geheftet.«

In dem Moment, als Madjarow mit seiner Rede zu Ende war, kam Marja Iwanowna mit dem Teegeschirr aus der Küche.

Sokolow schlug plötzlich mit der Faust auf den Tisch.

»Genug! Ich bitte nachdrücklich darum, derlei Gespräche zu unterlassen!«

Marja Iwanowna sah mit halb offenem Mund auf ihren Gatten. Das Geschirr in ihren Händen begann zu klirren, sie zitterte.

Strum brach in schallendes Gelächter aus:

»Seht, unser Pjotr Lawrentjewitsch hat die Pressefreiheit aufgehoben! Von langer Dauer war sie nicht. Gut, dass Marja Iwanowna diese aufrührerische Hetze nicht mit angehört hat.«

»Unser System«, verkündete Sokolow gereizt, »hat seine Kraft bewiesen. Die bürgerlichen Demokratien haben ein Fiasko erlitten.«

»Na ja, das hat es«, sagte Strum. »Die überlebte bürgerliche Demokratie prallte 1940 in Finnland auf unseren Zentralismus, und wir gerieten in arge Bedrängnis. Ich bin kein Anhänger der bürgerlichen Demokratie, aber Tatsachen bleiben Tatsachen. Und was hat das eigentlich mit dem alten Chemiker zu tun?«

Strum sah sich um und fing den aufmerksamen Blick Marja Iwanownas auf, die ihm zugehört hatte.

»Es lag nicht an Finnland, sondern am finnischen Winter«, berichtigte Sokolow.

»Ach, lass das, Pjotr«, sagte Madjarow.

»Sagen wir’s so«, meinte Strum, »während des Krieges offenbarte der sowjetische Staat sowohl seine Vorzüge als auch seine Schwächen.«

»Was für Schwächen denn?«, wollte Sokolow wissen.

»Na, beispielsweise die, dass viele, die heute kämpfen könnten, eingelocht wurden«, sagte Madjarow. »Schaut euch doch um, wir stehen an der Wolga.«

»Was aber hat das mit dem System zu tun?«, fragte Sokolow.

»Was heißt da, was?«, sagte Strum. »Hat sich Ihrer Meinung nach die Unteroffizierswitwe im Jahre 1937 selbst erschossen?«

Wieder sah er die aufmerksamen Augen von Marja Iwanowna. Er wusste, dass er sich in diesem Gespräch recht seltsam aufführte: Kaum setzte Madjarow mit seiner Kritik ein, verteidigte er schon den Staat; sobald aber Sokolow über Madjarow herfiel, gab er Sokolow Kontra.

Sokolow machte sich gerne ab und zu über einen dummen Artikel oder eine ignorante Rede lustig, doch sobald man auf die Parteilinie zu sprechen kam, wurde er hart wie Beton. Madjarow hingegen machte aus seinen Ansichten kein Geheimnis.

»Sie suchen die Ursachen für unser militärisches Zurückweichen in Mängeln des sowjetischen Systems«, sagte Sokolow, »doch der Schlag, zu dem die Deutschen gegen unser Land ausgeholt haben, war so gewaltig, dass der Staat, der diesem Schlag standhielt, ebendadurch mit ausreichender Anschaulichkeit seine Stärke bewiesen hat – nicht seine Schwäche. Sie sehen den Schatten, den ein Gigant wirft, und sagen uns: Seht her, was für ein Schatten. Aber Sie vergessen den Giganten. Unser Zentralismus ist doch der soziale Motor einer gigantischen Macht, durchaus imstande, Wunder zu vollbringen. Und er hat sie bereits vollbracht. Und wird sie in Zukunft vollbringen.«

»Wenn der Staat Sie nicht braucht, macht er Sie mitsamt all Ihren Ideen, Plänen und Aufsätzen kaputt«, bemerkte Karimow, »wenn aber Ihre Idee mit jener des Staates konform geht, legt Ihnen der Staat einen fliegenden Teppich unter die Füße.«

»Genau das ist es«, sagte Artelew. »Ich hatte einen Monat dienstlich in einem besonders wichtigen Rüstungsbetrieb zu tun. Stalin selbst hat den Fortgang der Montagearbeiten verfolgt und mit dem Direktor telefoniert. Diese Maschinen! Rohstoffe, Ersatzteile – alles war da, wie von Zauberhand. Und die Bedingungen! Ein Badezimmer … Sahne zum Frühstück, ins Haus geliefert. Nie im Leben ist es mir so gut gegangen. Die Versorgung klappte wie am Schnürchen! Und vor allem: von Bürokratie keine Spur. Es ging alles ohne Papierkram.«

»Wenn in staatswichtigen Rüstungsbetrieben eine derartige Vollkommenheit erreicht wurde, dann steht doch grundsätzlich fest, dass es möglich ist, dasselbe System in der ganzen Industrie einzuführen«, sagte Sokolow.

»Settlement!«, sagte Madjarow. »Es handelt sich um zwei grundverschiedene Prinzipien, nicht um ein und dasselbe. Stalin baut, was der Staat, nicht was der Mensch braucht. Die Schwerindustrie nützt dem Staat und nicht dem Volk. Der Weißmeer-Ostsee-Kanal ist für die Menschen nutzlos. Auf der einen Seite liegen die Bedürfnisse des Staates, auf der anderen jene der Menschen. Das lässt sich nicht unter einen Hut bringen.«

»So ist es, aber einen Schritt von diesem ›settlement‹ weg blüht der reine Unsinn«, sagte Artelew. »Auf unsere Produktion warten die Kasaner von nebenan, ich aber muss sie nach Tschita in Sibirien liefern, woraufhin man sie aus Tschita wieder zurück nach Kasan bringt. Ich brauche Monteure, habe aber nur noch Kredit für die Kinderkrippe, also führe ich die Monteure als Kindergärtnerinnen. Der Zentralismus hält uns an der Gurgel! Ein Erfinder schlug dem Direktor vor, anderthalbtausend Maschinenteile statt der geplanten zweihundert herzustellen, der Direktor wies ihm die Tür. Der Plan wird schließlich nach Gesamtgewicht und nicht nach Stückzahl erfüllt, wozu sich also unnütz Sorgen schaffen. Und wenn der ganze Betrieb stillsteht, weil es an Material fehlt, das man auf dem Basar für dreißig Rubel kaufen könnte, wird er lieber einen Verlust von zwei Millionen hinnehmen, ehe er das Risiko eingeht, das Zeug für dreißig Rubel zu erstehen.«

Artelew ließ einen raschen Blick über seine Zuhörer schweifen und sprach hastig weiter, so als fürchtete er, man würde ihm das Wort abschneiden.

»Der Arbeiter bekommt wenig, aber der Lohn entspricht seiner Leistung. Ein Limonadenverkäufer auf der Straße bekommt fünfmal so viel wie ein Ingenieur. Und die Oberen, der Direktor, die Leute in der Verwaltung, die wissen nur eines: Erfüll den Plan! Hast du auch nichts zu fressen – der Plan muss erfüllt werden! Wir hatten einen Direktor, Schmatkow hieß er, der brüllte in den Sitzungen: ›Der Betrieb ist euch mehr als die leibliche Mutter, jeder muss Blut schwitzen, um den Plan zu erfüllen, und wer das nicht kapiert, dem werde ich selbst das Blut heraustreiben.‹ Und plötzlich erfahren wir, dass unser Schmatkow nach Woskressensk versetzt wird. Ich frage ihn: ›Wie können Sie den Betrieb im Stich lassen, Genosse Schmatkow?‹ Und er darauf, ganz unbekümmert, ohne Demagogie: ›Ja, wissen Sie, unsere Kinder gehen in Moskau auf die Hochschule, und von Woskressensk ist es nach Moskau nicht so weit. Außerdem hat man uns dort eine bessere Wohnung versprochen, mit Garten, meine Frau ist ja nicht gesund, braucht frische Luft.‹ Das eben wundert mich: Wie kann der Staat solchen Menschen vertrauen, während die Arbeiter und die großen Gelehrten, die nicht in der Partei sind, jede Kopeke zehnmal umdrehen müssen?«

»Na, sehr einfach«, sagte Madjarow, »diesen Burschen ist mehr anvertraut als bloß Betriebe und Hochschulen, sie verwalten das Herz des Systems, das Allerheiligste: die Leben spendende Kraft der sowjetischen Bürokratie.«

»Das sage ich ja«, fuhr Artelew fort, ohne auf den Scherz zu achten, »ich mag meine Arbeit, ich schone mich nicht. Aber fürs Wichtigste reicht es bei mir nicht. Ich bringe es nicht zustande, lebendige Menschen Blut schwitzen zu lassen. Ich selbst gebe mein Letztes, aber die Arbeiter tun mir irgendwie leid.«

Strum aber, der nicht verstehen wollte, fühlte das Bedürfnis, Madjarow zu widersprechen, obwohl ihm alles, was Madjarow gesagt hatte, berechtigt erschien.

»Sie lassen die Logik vermissen«, sagte er. »Ist es denn heute wirklich so, dass sich die Interessen des Menschen nicht voll mit den Interessen des Staates decken, der die Rüstungsindustrie geschaffen hat? Ich glaube, jeder von uns braucht die Kanonen, Panzer und Flugzeuge, mit denen unsere Kinder und Brüder bewaffnet sind.«

»Vollkommen richtig«, sagte Sokolow.

66

Marja Iwanowna begann Tee auszuschenken. Man sprach über Literatur.

»Dostojewski gerät bei uns in Vergessenheit«, sagte Madjarow. »In den Bibliotheken sieht man es ungern, wenn einer nach ihm fragt, die Verlage bringen keine Neuauflagen heraus.«

»Weil er ein Reaktionär ist«, erklärte Strum.

»Stimmt. Er hätte die ›Dämonen‹ nicht schreiben sollen«, pflichtete ihm Sokolow bei.

Doch da widersprach Strum: »Sind Sie sicher, Pjotr Lawrentjewitsch, dass die ›Dämonen‹ nicht hätten geschrieben werden sollen? Das trifft doch wohl eher auf das ›Tagebuch eines Schriftstellers‹ zu.«

»Genies werden nicht zurechtfrisiert«, sagte Madjarow. »Dostojewski lässt sich nicht in unsre Ideologie zwängen. Den Majakowski, zum Beispiel, den hat Stalin ganz zu Recht den besten und begabtesten Dichter unserer Zeit genannt. Er ist ganz Staatlichkeit in seinen Emotionen. Dostojewski aber – ganz Menschlichkeit, menschlich selbst in seiner Staatlichkeit.«

»Wenn man so denkt«, erwiderte Sokolow, »passt die ganze Literatur des neunzehnten Jahrhunderts nicht in unsere Ideologie.«

»Aber nein, sagen Sie das nicht«, verwies ihn Madjarow. »Tolstoi hat den Gedanken des Volkskriegs poetisiert, und wer steht heute an der Spitze des gerechten Volkskrieges? Der Staat. Wie Achmet Usmanowitsch es ausgedrückt hat: Die Ideen gehen konform, und schon ist der fliegende Teppich da – Tolstoi im Rundfunk, Tolstoi in Lesungen, Tolstoi in neuen Ausgaben und als Zitat in den Reden der Führer.«

»Am leichtesten ist es für Tschechow. Den hat man früher anerkannt und ebenso in unserer Zeit«, bemerkte Sokolow.

»Na, da liegen Sie aber ganz falsch!«, rief Madjarow und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Bei uns basiert die Anerkennung Tschechows auf einem Missverständnis. Genauso geschah es mit Soschtschenko,40 der gewissermaßen sein Nachfolger war.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Sokolow. »Tschechow ist ein Realist, durch die Mangel gezogen werden bei uns aber nur die Dekadenzler.«

»Du verstehst nicht?«, fragte Madjarow. »Dann will ich es dir erklären.«

»Tschechow lasst bitte in Ruh«, sagte Marja Iwanowna, »den liebe ich mehr als jeden anderen.«

»Und tust recht daran, Maschenka«, sagte Madjarow. »Und du, Pjotr, suchst du bei den Dekadenzlern Menschlichkeit?«

Sokolow winkte ärgerlich ab. Aber Madjarow ließ nicht locker, es ging ihm darum, einen Gedanken zu äußern, und dazu war es nötig, dass Sokolow bei den Dekadenzlern nach Menschlichkeit suchte.

»Individualismus ist nicht Menschlichkeit. Ihr verwechselt das. Alle verwechseln es. Ihr glaubt, man nimmt die Dekadenzler aufs Korn. Blödsinn. Sie sind dem Staat nicht feind, sondern einfach unnütz, sind ihm gleichgültig. Ich bin überzeugt, dass es zwischen dem sozialistischen Realismus und der Dekadenz keine Kluft gibt. Es ist viel darüber gestritten worden, was das sei – der sozialistische Realismus. Na, was denn? Ein Spieglein, das auf die Frage von Partei und Regierung: ›Wer ist die Schönste im ganzen Land?‹, prompt die Antwort gibt: ›Du, du, Partei und Regierung und Staat, du bist schöner als alle andern.‹

Der Dekadenzler aber antwortet auf dieselbe Frage: ›Ich, ich, ich bin schöner als alle andern.‹ Der Unterschied ist nicht allzu groß. Der sozialistische Realismus ist die Behauptung der staatlichen Einmaligkeit, während das Dekadenzlertum die Behauptung der Individuellen Einmaligkeit ist. Die Methoden sind verschieden, das Wesen der Sache aber gleich: die Begeisterung über die eigene Einmaligkeit. Ein genialer, makelloser Staat pfeift auf alles, was ihm unähnlich ist. Und der wachsweichen dekadenzlerischen Persönlichkeit sind alle anderen Persönlichkeiten zutiefst gleichgültig, außer zweien: Mit der einen führt sie ein erlesenes Gespräch, mit der anderen pflegt sie Amouren. Oberflächlich betrachtet hat es den Anschein, als ringe der Individualismus, die Dekadenz, um den Menschen. Den Teufel ringen sie. Den Dekadenzlern ist der Mensch egal und dem Staat genauso. Da gibt es keine Kluft.«

Sokolow hörte Madjarow mit zusammengekniffenen Augen zu, und da er ahnte, dass dieser nun gleich über das absolut Unerlaubte sprechen würde, unterbrach er ihn: »Erlaube mal, was hat das mit Tschechow zu tun?«

»Über ihn spreche ich ja. Zwischen ihm und der Gegenwart – da liegt eine riesige Kluft. Denn Tschechow hatte sich der in Russland nie verwirklichten Demokratie angenommen. Der Weg Tschechows ist der Weg der russischen Freiheit. Wir aber haben einen anderen Weg eingeschlagen. Versucht mal, alle seine Helden zu erfassen. Vielleicht hat lediglich Balzac eine derartige Menge von Menschen in das öffentliche Bewusstsein eingebracht. Aber nein, auch er nicht. Überlegt: Ärzte, Ingenieure, Rechtsanwälte, Lehrer, Professoren, Gutsherren, Ladenbesitzer, Fabrikanten, Gouvernanten, Lakaien, Studenten, Beamte aller Ränge, Grossisten, Schaffner, Heiratsvermittlerinnen, Kirchendiener, Erzbischöfe, Bauern, Arbeiter, Schuster, Malermodelle, Gärtner, Zoologen, Schauspieler, Gastwirte, Feldjäger, Prostituierte, Fischer, Fähnriche, Unteroffiziere, Künstler, Köchinnen, Schriftsteller, Hausmeister, Nonnen, Soldaten, Hebammen, Kettensträflinge von Sachalin …«

»Genug, genug«, schrie Sokolow.

»Genug?«, fragte mit komischer Drohung Madjarow. »Nein, noch nicht. Tschechow hat das ganze Riesenreich Russland in unser Bewusstsein gelegt, all seine Klassen, Stände, Alt und Jung … Doch dessen nicht genug! Er hat uns diese Millionen als Demokrat zugeführt, versteht ihr, als russischer Demokrat! Er sagte, wie keiner vor ihm, nicht einmal Tolstoi: Wir alle sind zuerst einmal Menschen, versteht ihr, Menschen, Menschen, Menschen! Hat es so gesagt, wie keiner vor ihm im russischen Land. Er hat das Wichtigste gesagt: dass Menschen Menschen sind und erst danach Erzbischöfe, Russen, Ladenbesitzer, Tataren, Arbeiter. Versteht ihr? Die Menschen sind nicht gut oder schlecht, weil sie Erzbischöfe oder Arbeiter sind, Tataren oder Ukrainer, nein, die Menschen sind gleich, weil sie Menschen sind. Vor einem halben Jahrhundert haben Leute in engstirniger Parteilichkeit gemeint, Tschechow sei der Ausdruck einer zeitlosen Epoche. In Wahrheit war er der Träger des größten Banners, das je in Russland während seiner tausendjährigen Geschichte gehisst worden ist – der wahren, russischen, gütigen Demokratie, versteht ihr, der russischen Menschenwürde, der russischen Freiheit. Unsere Menschlichkeit ist ja immer sektiererisch unversöhnlich und hart. Vom Protopopen Awwakum41 bis zu Lenin waren unsere Menschlichkeit und unsere Freiheit parteilich und fanatisch – unbarmherzig wird der Mensch einer abstrakten Menschlichkeit geopfert. Selbst Tolstoi mit seiner Predigt des gewaltlosen Widerstands gegen das Böse ist unduldsam und geht dabei, was noch wesentlicher ist, nicht vom Menschen, sondern von Gott aus. Für ihn ist es wichtig, dass die Idee triumphiert, die das Gute behauptet, und ist es nicht immer so, dass die Propheten bestrebt sind, Gott den Menschen mit Gewalt aufzuzwingen? Und bei uns in Russland macht man dabei vor gar nichts halt, da herrscht dann Mord und Totschlag – ohne Pardon.

Tschechow sagte: Möge Gott uns ein wenig Platz machen, mögen die sogenannten großen fortschrittlichen Ideen ein wenig zur Seite treten, beginnen wir mit dem Menschen, seien wir gut und aufmerksam zum Menschen, wer immer es sei – ein Erzbischof, ein Bauer, ein millionenschwerer Fabrikant, ein Kettensträfling aus Sibirien oder ein Kellner aus dem Restaurant; beginnen wir damit, dass wir den Menschen achten, bedauern, lieben wollen, anders geht es ganz und gar nicht. Genau das heißt Demokratie – die bislang nicht verwirklichte Demokratie des russischen Volkes.

Der russische Mensch hat in dem einen Jahrtausend allerlei erlebt: Größe und Übergröße, eines jedoch hat er nie erfahren – die Demokratie. Das ist, nebenbei, der Unterschied zwischen den Dekadenzlern und Tschechow. Dem Dekadenzler kann der Staat in seinem Groll auch mal eins über den Schädel hauen, einen Tritt in den Hintern versetzen. An Tschechow aber hat der Staat das Wesentliche nicht verstanden, darum nur duldet er ihn. Die Demokratie können wir in unserem Haushalt nicht gebrauchen, die wahre, versteht sich, die menschliche.«

Man sah, dass die Schärfe von Madjarows Worten Sokolow aufs Äußerste missfiel.

Strum aber, der es bemerkte, sagte mit einem ihm selbst unverständlichen Vergnügen: »Gut gesagt, wahr und klug. Ich ersuche lediglich um Nachsicht für Skrjabin. Der fällt, scheint’s, unter die Dekadenzler, aber ich liebe ihn.«

Er winkte ab, als Sokolows Frau eine Schüssel mit Marmelade vor ihn stellte, und sagte: »Nein danke, ich mag nicht.«

»Schwarze Johannisbeeren«, sagte sie.

Er sah in ihre kastanienbraunen, gelb durchzogenen Augen und fragte: »Habe ich Ihnen denn meine Schwäche gebeichtet?«

Sie nickte schweigend, lächelte. Sie hatte unregelmäßige Zähne, schmale und matte Lippen. Das Lächeln ließ ihr blasses, ein wenig graues Gesicht plötzlich ganz reizvoll und anziehend erscheinen.

»Eine prächtige Frau, sie kann wirklich hübsch sein, wenn bloß das Näschen nicht dauernd rot anliefe«, dachte Strum.

Karimow wandte sich an Madjarow: »Erklären Sie mir nur, wie sich Ihr leidenschaftliches Plädoyer für die Tschechow’sche Menschlichkeit mit Ihrer Hymne auf Dostojewski in Einklang bringen lässt? Für Dostojewski sind nicht alle Menschen in Russland gleich. Hitler hat Tolstoi einen Kretin genannt, aber Dostojewskis Porträt hängt, heißt es, in seinem Arbeitszimmer. Ich bin ein Tatar, gehöre einer nationalen Minderheit an, bin in Russland geboren und will dem russischen Schriftsteller seinen Hass gegen das, was er Polenpack, Judenpack nannte, nicht verzeihen. Ich kann es nicht, mag er auch noch so ein großes Genie sein. Zu viel Blut haben wir im zaristischen Russland vergossen, zu oft sind wir bespuckt und in Pogromen malträtiert worden. In Russland hat ein großer Schriftsteller nicht das Recht, über Minderheiten herzuziehen, Polen und Tataren, Juden, Armenier oder Tschuwaschen zu verachten.«

Der grauhaarige dunkle Tatar sagte mit einem bösen und hochmütigen mongolischen Grinsen zu Madjarow: »Haben Sie vielleicht Tolstois ›Hadschi Murat‹ gelesen? Vielleicht seine ›Kosaken‹? Seine Erzählung ›Der Gefangene im Kaukasus‹? Ein russischer Graf hat das alles geschrieben, mehr Russe als der Litauer Dostojewski. Solange es Tataren gibt, werden sie für Tolstoi zu Allah beten.«

Strum sah auf Karimow. »So einer bist du also«, dachte er.

»Achmet Usmanowitsch«, bemerkte Sokolow. »Ich respektiere vollauf Ihre Liebe zu Ihrem Volk. Gestatten allerdings auch Sie mir, stolz darauf zu sein, dass ich Russe bin, und Tolstoi nicht nur dafür zu lieben, dass er über die Tataren Gutes geschrieben hat. Wir Russen dürfen aus irgendeinem Grund nicht auf unser Volk stolz sein, im Nu stempelt man es als Chauvinismus und Dunkelmännertum ab.«

Karimow erhob sich, über sein Gesicht perlte der Schweiß, und er sagte: »Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, wirklich, wozu soll ich lügen, wenn es die Wahrheit gibt. Wenn man sich dran erinnert, wie noch in den zwanziger Jahren Menschen ans Messer geliefert wurden, auf die das tatarische Volk stolz war, große kulturelle Persönlichkeiten, dann muss man sich fragen, wozu noch das ›Tagebuch eines Schriftstellers‹ verbieten?«

»Nicht nur eure Leute kamen dran, auch unsre«, sagte Artelew.

»Bei uns wurden aber nicht nur Menschen vernichtet, nein, auch die nationale Kultur«, entgegnete Karimow. »Die heutigen tatarischen Intellektuellen sind Wilde im Vergleich zu früher.«

»Ja, ja«, meinte Madjarow spöttisch. »Jene hätten nicht bloß eine Kultur schaffen, sondern auch eine eigene tatarische Innen- und Außenpolitik machen können. Und das gehört sich nicht.«

»Ihr habt doch jetzt euren Staat«, sagte Sokolow, »eure Schulen, Opern, Bücher, tatarische Zeitungen, alles hat euch die Revolution gegeben.«

»Stimmt genau. Wir haben eine staatliche Oper und einen opernhaften Staat. Von Moskau aber werden unsere Ernten eingesackt, und von Moskau werden wir eingelocht.«

»Na, wissen Sie, wenn euch nicht ein Russe, sondern ein Tatar einsperren würde, ginge es euch um nichts besser«, sagte Madjarow.

»Und wenn man das Einsperren ganz sein ließe?«, fragte Marja Iwanowna.

»Ach, Maschenka, du verlangst zu viel«, sagte Madjarow. Er blickte auf die Uhr. »Oh, spät ist es geworden.«

Marja Iwanowna warf hastig ein: »Bleiben Sie doch über Nacht, ich stelle das Klappbett auf.«

Einmal hatte Madjarow Marja Iwanowna sein Leid geklagt, dass er abends, wenn er heimkam, seine Einsamkeit ganz besonders fühlte: Niemand erwarte ihn, er betrete ein leeres, dunkles Zimmer.

»Nun, ich sage nicht nein. Pjotr, hast du was dagegen?«, wandte er sich an Sokolow.

»Nein, nicht das Geringste«, sagte Sokolow, und Madjarow fügte scherzhaft hinzu: »Sprach der Hausherr ohne jegliche Begeisterung.«

Man erhob sich vom Tisch, verabschiedete sich. Sokolow begleitete die Gäste zur Tür, und Marja Iwanowna raunte Madjarow zu: »Wie gut, dass Pjotr Lawrentjewitsch solchen Gesprächen nicht ausweicht. In Moskau hat eine Andeutung genügt, dass er sich absonderte und verstummte.«

Sie hatte Namen und Vatersnamen ihres Gatten in einem besonders zärtlichen und ehrfürchtigen Ton ausgesprochen. In den Nächten schrieb sie mit der Hand seine Arbeiten ins Reine, ordnete seine Aufzeichnungen, klebte zufällige Notizen auf Karton. Sie hielt ihn für einen bedeutsamen Mann und sah in ihm gleichzeitig ein hilfloses Kind.

»Dieser Strum gefällt mir«, sagte Madjarow. »Ich verstehe nicht, warum er als unangenehmer Mensch gilt.« Und er fügte vergnügt hinzu: »Ich habe beobachtet, dass er den Mund nur aufmachte, wenn Sie anwesend waren, Maschenka. Sobald Sie in der Küche verschwanden, hielt er mit seiner Rhetorik hinterm Berg.«

Sie stand mit dem Gesicht zur Tür, schwieg, als hätte sie Madjarow nicht gehört, äußerte dann: »Was Sie nicht sagen! Für ihn bin ich ein Wurm. Pjotr hält ihn für einen hartherzigen, spöttischen, hochmütigen Menschen, deswegen sei er bei den Physikern unbeliebt, manche fürchten ihn. Aber ich bin nicht einverstanden, ich glaube, er hat ein sehr gutes Herz.«

»Na, gutherzig ist er kaum zu nennen«, erwiderte Madjarow. »Hat eine scharfe Zunge und liegt mit allen quer. Aber sein Verstand, der ist frei, ohne Scheuklappen.«

»Nein, er ist gut, verletzlich.«

»Man muss aber zugeben«, sagte Madjarow, »dass Pjotr auch jetzt kein überflüssiges Wort fallenlässt.«

In diesem Augenblick trat Sokolow ins Zimmer. Er fing Madjarows Worte auf.

»Ich bitte dich, Leonid Sergejewitsch, behalt deine Belehrungen für dich. Und außerdem ersuche ich dich, in Zukunft in meiner Anwesenheit derlei Gerede zu unterlassen.«

Madjarow sagte: »Und du, Pjotr Lawrentjewitsch, behalt deine Belehrungen auch für dich. Ich stehe selbst für meine Worte gerade, nicht anders als du für die deinen.«

Sokolow wollte offensichtlich scharf antworten, hielt sich aber zurück und verließ wieder den Raum.

»Na ja, ich werde wohl nach Hause gehen«, bemerkte Madjarow.

»Sie würden mich sehr kränken«, sagte Marja Iwanowna. »Sie wissen ja, wie gutmütig er ist, er würde sich die ganze Nacht lang mit Vorwürfen quälen.«

Sie begann zu erklären, Pjotr Lawrentjewitsch habe eine verwundbare Seele, weil er Schlimmes durchgemacht habe: 1937 hatten sie ihn zu scharfen Verhören geholt, danach hatte er vier Monate in einer Nervenklinik verbracht.

Madjarow hörte zu und nickte.

»Schön, Maschenka, in Ordnung.« Dann fügte er mit jähem Ärger hinzu: »Das stimmt ja alles, aber es kam ja nicht nur Ihr lieber Pjotr dran. Erinnern Sie sich, wie man mich elf Monate in der Lubjanka eingesperrt hielt? Pjotr hat meine Klawa damals nur einmal angerufen. Die eigene Schwester, wie? Und wenn Sie sich genau erinnern, hat er auch Ihnen verboten, sie anzurufen. Klawa tat es sehr weh … Er mag ein großer Physiker sein, aber in seinem Herzen sitzt ein kleiner Lakai.«

Marja Iwanowna hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und saß schweigend vor ihm.

»Niemand, kein Mensch wird begreifen, wie sehr mich das alles schmerzt«, sagte sie leise.

Sie allein wusste, wie zuwider ihm das Jahr 1937 und die Grausamkeiten der Kollektivierung waren, ja, er hatte ein reines Herz. Doch nur sie allein wusste, wie groß seine Befangenheit, seine sklavische Untertänigkeit waren.

Ebendarum war er zu Hause der launenhafte Pascha, gewohnt, dass Maschenka ihm die Schuhe putzte, ihm bei Hitze mit ihrem Tüchlein Luft zufächelte und beim Spaziergang die Mücken von seinem Gesicht verscheuchte.

67

Einmal, als sie Studenten im letzten Semester waren, hatte Strum plötzlich zu einem Kollegen aus dem Seminar gesagt: »Unerträglich, das zu lesen, leeres Geschwätz und öde Langeweile« – und hatte eine Ausgabe der »Prawda« auf den Boden geworfen.

Kaum hatte er es gesagt, ergriff ihn Panik. Er hob die Zeitung auf, wischte sie sauber und verzog das Gesicht zu einem seltsam niederträchtigen Lächeln; noch Jahre später wurde ihm heiß, wenn er sich an das hündische Lächeln erinnerte.

Einige Tage später reichte er demselben Kameraden eine »Prawda« hin und sagte lebhaft:

»Lies mal den Leitartikel, Grischa, vorzüglich geschrieben.«

Der andre nahm das Blatt und meinte mitleidig: »Der arme Viktor hat es mit der Angst gekriegt. Glaubst du, ich zeige dich an?«

Ebendamals, noch als Student, schwor sich Strum, über gefährliche Gedanken entweder zu schweigen oder aber, hatte er sie erst einmal ausgesprochen, zu ihnen zu stehen. Aber er brach seinen Schwur, vergaß oft alle Vorsicht, platzte aufbrausend mit etwas Unbesonnenem heraus, woraufhin er ebenso oft den Mut verlor und das von ihm selbst angezündete Feuerchen zu löschen begann.

Nach dem Bucharin-Prozess, 1938, hatte er zu Krymow gesagt: »Halten Sie’s, wie Sie wollen, aber ich kenne Bucharin persönlich, hab mich zweimal mit ihm unterhalten – ein großer Kopf, ein nettes kluges Lächeln, kurzum, ein sauberer und äußerst einnehmender Mann.«

Da fing er aber den verlegenen, düsteren Blick Krymows auf und murmelte sogleich: »Im Übrigen, weiß der Teufel! Spionage, Spitzel der zaristischen Polizei, was rede ich da noch von Sauberkeit und Sympathie, eine Gemeinheit!«

Und wieder war er hineingeschlittert: Mit dem gleichen düsteren Blick, mit dem er ihm zugehört hatte, sagte Krymow: »Da wir ja verwandt sind, kann ich es Ihnen sagen: Bucharin und Polizeispitzel, das passt in meinem Kopf nicht zusammen.«

Und Strum, in plötzlicher Wut gegen sich selbst, gegen die Kraft, die die Menschen nicht Menschen sein ließ, schrie auf: »Ach, mein Gott, ich glaube nicht an diesen grausamen Unsinn. Dieser Prozess ist der Albtraum meines Lebens. Warum gestehen sie bloß, wozu?«

Doch Krymow brach das Gespräch ab, offensichtlich hatte er schon zu viel gesagt …

Oh, die wunderbare, klare Kraft eines offenen Gesprächs, die Kraft der Wahrheit! Welch einen furchtbaren Preis zahlten die Menschen für ein paar mutige, unvorsichtig geäußerte Worte. Wie oft lag Strum wach und lauschte auf den Autolärm draußen.

Er sah Ljudmila barfüßig ans Fenster treten, sie zog die Gardinen auseinander, schaute hinaus, wartete, kehrte dann lautlos – sie glaubte, dass Strum schlief – ins Bett zurück. Am Morgen fragte sie dann: »Wie hast du geschlafen?«

»Danke, es geht. Und du?«

»Es war etwas schwül, ich habe das Fenster geöffnet.«

»Ach so.«

Wie dieses nächtliche Gefühl der Schuldlosigkeit, wie dieses Gefühl der völligen Hoffnungslosigkeit wiedergeben?

»Denk daran, Viktor, die erfahren jedes Wort, du bringst dich und mich und die Kinder ins Unglück.«

Ein anderes Gespräch: »Ich kann dir nicht alles sagen, aber um Gottes willen – kein Wort zu niemandem, Viktor, wir leben in einer schrecklichen Zeit, du hast ja keine Ahnung. Denke daran, Viktor, kein Wort zu niemandem …«

Und vor Viktor Pawlowitsch erscheinen die trüben, unglücklichen Augen eines Mannes, den er seit seiner Kindheit kennt, und ihn erfasst die Angst – nicht vor dem, was der alte Freund sagen könnte, sondern vor dem, was er verschweigt, und auch, weil Viktor nicht den Mut findet, die direkte Frage zu stellen: »Bist du ein Spitzel? Laden sie dich vor?«

Er erinnert sich an das Gesicht seines Assistenten, in dessen Anwesenheit er einmal ironisch verlauten ließ, Stalin habe das Gravitationsgesetz lange vor Newton formuliert.

»Sie haben nichts gesagt, ich habe nichts gehört«, hatte der junge Physiker heiter erwidert.

Wozu, wozu diese Scherze? Witze reißen war nun wirklich dumm, gerade so, als würde man mit dem Fingernagel gegen ein Gefäß mit Nitroglyzerin klopfen.

Oh, klare Kraft eines freien, heiteren Wortes! Sie äußert sich ebendann, dass man aller Angst zum Trotz das Wort plötzlich ausspricht.

Ob Strum die Tragik der jetzigen freien Gespräche verstand? Sie alle, die daran teilnahmen, hassten den deutschen Faschismus und fürchteten ihn … Warum also winkte ihnen die Freiheit gerade in den Tagen dieses Krieges, der die Wolga erreicht hatte, nun, da sie alle das Leid der militärischen Niederlagen erfuhren, die ihnen nichts als die verhasste deutsche Sklaverei verhießen?

Strum ging schweigend neben Karimow einher.

»Ist doch merkwürdig«, sagte er plötzlich, »da liest man ausländische Romane, nehmen wir Hemingway, und seine Helden, intellektuelle Leute, saufen immerzu, wenn sie sich unterhalten. Cocktails, Whisky, Rum, Cognac, wieder Cocktails, wieder Cognac, wieder Whisky aller Marken. Die russische Intelligenz aber, die hat ihr wichtigstes Gespräch bei einem Glas Tee geführt. Bei dem sprichwörtlichen Glas Tee einigten sich die Narodniki und die Sozialdemokraten, und Lenin hat mit seinen Freunden bei einem Glas Tee die große Revolution besprochen. Es heißt allerdings, Stalin bevorzuge Cognac.«

Karimow bemerkte: »Ja, ja. Zum heutigen Gespräch gab’s ebenfalls Tee. Sie haben recht.«

»Eben. Der kluge Madjarow! Ein mutiger Mann! Sie packen einen, seine ungewöhnlichen, fast wahnwitzigen Reden.«

Karimow nahm Strum beim Arm.

»Viktor Pawlowitsch, haben Sie bemerkt, dass bei Madjarow sich das unschuldigste Ding zur Verallgemeinerung auswächst? Ich mache mir Sorgen darüber. Er ist ja schon 1937 mehrere Monate lang verhaftet gewesen, und dann ließen sie ihn laufen. Damals ist aber niemand rausgekommen. Nicht so ohne Weiteres. Verstehen Sie?«

»Gewiss verstehe ich, wie denn nicht?«, sagte Strum langsam. »Ob er denunziert?«

Sie verabschiedeten sich an der Ecke, und Strum schritt auf sein Haus zu.

»Der Teufel hol ihn, sei’s, wie es wolle«, dachte er. »Zumindest haben wir uns wie Menschen unterhalten, ohne Furcht und über alles, Gott und die Welt, ja, ohne Andeutungen, ohne Heuchelei. Es hat sich gelohnt.«

Gut, dass es noch Menschen wie Madjarow gab, Menschen ohne innere Zwangsjacke. Und Karimows Worte zum Abschied ließen ihn nicht die übliche Kälte im Herzen verspüren.

Er erinnerte sich, dass er wieder vergessen hatte, Sokolow von dem Brief aus dem Ural zu erzählen.

Er ging durch die dunkle, öde Straße.

Der Gedanke kam plötzlich. Und sofort, ohne jeden Zweifel, wusste er, fühlte er, dass der Gedanke richtig war. Er sah eine neue, ungeheuer neue Erklärung für jene Erscheinungen im Atomkern, die scheinbar keine Erklärung hatten. Die Abgründe wurden jäh zu Brücken. Welch eine Einfachheit, welch ein Licht! Der Gedanke war herrlich und schön, es schien, als hätte nicht Strum ihn geboren, er war aufgetaucht, einfach und leicht wie eine weiße Wasserpflanze aus der ruhigen Tiefe des Sees, und Strum wollte aufschreien vor Glück über seine Schönheit.

Ein merkwürdiger Zufall, dachte er plötzlich, der Gedanke war ihm gekommen, als sein Verstand ganz fern von der Wissenschaft war, als die Streitgespräche über das Leben ihn in Bann hielten – Gespräche freier Menschen, bei denen nichts als die bittere Wahrheit seine Worte und die seiner Gesprächspartner bestimmte.

68

Die kalmückische Grassteppe wirkt armselig und traurig, wenn man sie zum ersten Mal sieht, wenn der Mensch in seinem Auto voller Aufregung und Sorgen ist und wenn seine Augen zerstreut das Anwachsen und Schmelzen der flachen Hügel verfolgen, die langsam aus dem Horizont auftauchen und langsam wieder hinter dem Horizont verschwinden … Darenski kam es vor, als zöge immer wieder ein und derselbe vom Wind abgeschliffene Hügel vor ihm her, als schlängelte sich ein und dieselbe Wegkrümmung hin und her, verschwände wieder und wieder unter den Reifen des Autos. Auch die Reiter in der Steppe wirkten immer gleich, obwohl die einen bartlos und jung waren, andere wieder grauhaarig, die einen auf falben Pferden und andere auf schwarzen Rappen dahinsprengten …

Das Auto fuhr durch Dörfer und Kalmückensiedlungen, an Häuschen mit winzigen Fenstern vorbei, hinter denen dicht an dicht die Geranien blühten, wie im Aquarium – würde man die Scheiben zerschlagen, dann strömte wohl die Leben spendende Luft in die umgebende Wüste hinaus, und die Pflanzen würden verdorren –, und es fuhr an runden, mit Lehm bestrichenen Jurten vorbei, fuhr und fuhr durch das matte Steppengras, durch das stachelige Kamelgras, über salzige Erde, vorbei an den staubigen kleinen Klauen der Schafe, vorbei an den vom Wind bewegten rauchlosen Feuern …

Für den Reisenden, der auf Reifen, vollgepumpt mit rauchiger Stadtluft, dahinrollte, verschwamm hier alles zu armseliger grauer Einförmigkeit, alles wurde zum monotonen Einerlei … Salzbinsen, Wolldisteln, Steppengras, Zichorienstauden, Wermut … Die Hügel zerflossen in der Ebene, platt gewalzt unter dem Druck gewaltiger Zeitspannen. Eine erstaunliche Eigenschaft hat diese südöstliche Kalmückensteppe, die allmählich in die Sandwüste übergeht, die sich im Osten von Elista nach Jaschkul erstreckt, bis unmittelbar an die Mündung der Wolga, an das Ufer des Kaspischen Meers … In dieser Steppe haben sich Himmel und Erde so lange angeschaut, dass sie einander ähnlich geworden sind wie ein Mann und eine Frau, die ihr Leben miteinander verbracht haben. Und es lässt sich nicht erkennen, was was ist – ob das staubige oder aluminiumfarbene Grau des Steppengrases sich ausgedehnt hat auf das eintönige, matte Blau des Steppenhimmels oder ob sich der Himmel in der Steppe widerspiegelt. Himmel und Erde lassen sich nicht länger unterscheiden, haben sich vermischt im weißlichen Staub. Und wenn man auf das dicke, schwere Wasser des Zaza- und jenes des Barmanzak-Sees blickt, scheint es, als trete hier das Salz an die Erdoberfläche, und wenn man auf die blanken Salzflächen schaut, glaubt man nicht Land, sondern einen See vor sich zu haben …

Seltsam ist der Weg durch die Kalmückensteppe in den schneefreien Tagen des November und Dezember – dieselbe trockene graugrüne Vegetation, derselbe Staub weht über dem Weg, man sieht nicht, ob die Steppe von Frost oder von Sonne gehärtet und ausgetrocknet ist.

Vielleicht entstehen hier deshalb Fata Morganen – die Grenze zwischen Luft und Erde, zwischen Wasser und Salzstellen ist verwischt. Diese Welt ändert ihre kristallene Form unter dem Stoß, den ihr das Hirn des dürstenden Menschen gibt, unter dem Ruck der Gedanken, und die heiße Luft wird zu einem bläulichen, schmalen Stein, die armselige Erde wellt sich wie stilles Wasser, bis zum Horizont ziehen sich Palmengärten hin, und die Strahlen der grausamen, vernichtenden Sonne, die sich mit den Staubschwaden vermischt haben, verwandeln sich in goldene Kuppeln von Tempeln und Palästen … Im Moment der Erschöpfung erschafft der Mensch aus Erde und Himmel eine Welt seiner Wünsche.

Das Auto fährt unentwegt durch triste Steppe.

Doch dann öffnet sich diese Welt der Steppenwüste dem Menschen überraschend ganz neu, ganz anders …

Die Kalmückensteppe! Uralte, edle Schöpfung der Natur, wo es keine einzige schreiende Farbe gibt, wo die Oberfläche keine einzige scharfe, zackige Linie zeigt, wo die karge Trauer der Nuancen von Grau und Blau mit der überwältigenden Farblawine des herbstlichen russischen Waldes wetteifern könnte, wo die weichen, kaum gewellten Linien der Hügel die Seele stärker bezaubern als die schroffen Gebirgszüge des Kaukasus und wo die kargen kleinen Seen mit ihren dunklen, stillen, uralten Wassern das Wesen des Wassers intensiver widerzuspiegeln scheinen als alle Meere und Ozeane.

Alles vergeht, aber diese riesige, gusseiserne, schwere Sonne im Abenddunst, dieser bittere Wind, gesättigt mit dem Duft von Wermut, lassen sich nicht vergessen. Und dann geschieht es, dass sich die Steppe erhebt – nicht in Armut, sondern in Reichtum.

Im Frühling ist sie jung, übersät mit Tulpen, ein Ozean, in dem nicht die Wogen tosen, sondern die Farben. Und das böse stachelige Kamelkraut ist grün gefärbt, und seine jungen spitzen Dornen sind zart und weich, noch nicht erstarrt.

Und in einer Sommernacht in der Steppe sieht man, wie der ganze galaktische Wolkenkratzer emporstrebt – von den blauen und weißen Sternenballungen des Fundaments zu den unter dem Weltendach verschwindenden Dunstschwaden und schwebenden Kuppeln der kugelförmigen Sternenhaufen.

Die Steppe hat eine ganz besondere Eigenschaft, die sich zu keinem Zeitpunkt ändert, so wie auch sie immer da ist – am Morgen und am Abend, im Winter und im Sommer, in dunkler Unwetter- und in heller Mondnacht: Immer und vor allen Dingen spricht sie zum Menschen von der Freiheit … Die Steppe ruft sie jenen in Erinnerung, die sie verloren haben.

Als Darenski aus dem Auto stieg, erblickte er einen Reiter, der einen Hügel erklomm. In seinem weiten orientalischen Mantel, um den er eine Schnur gebunden hatte, saß er auf einem kleinen, zottigen Pferd und überschaute von dem Hügel aus die Steppe. Er war alt, sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt.

Darenski rief den alten Mann und hielt ihm, während er ihm entgegenging, sein Zigarettenetui hin. Der Alte wandte sich schnell mit dem ganzen Leib im Sattel um. Er vereinigte in sich die Beweglichkeit der Jugend und das nachdenkliche Zögern des Alters. Er musterte die Hand mit dem Etui, dann das Gesicht Darenskis, dann die Pistole an seiner Seite, seine drei Balken, die ihn als Oberstleutnant auswiesen, seine blankgeputzten Stiefel. Dann nahm er eine Papirossa und drehte sie zwischen den dünnen braunen Fingern – sie waren so klein und dünn, man hätte sie als Fingerchen bezeichnen können.

Das breitknochige, harte Gesicht des alten Kalmücken veränderte sich schlagartig, und aus den Runzeln blickten zwei gütige, kluge Augen. Der Blick dieser alten schwarzen Augen, forschend und vertrauensvoll zugleich, barg offenbar einen sehr guten Kern. Darenski wurde grundlos heiter zumute. Das Pferd des Alten, das böse und abweisend die Ohren angelegt hatte, als Darenski auf die beiden zukam, beruhigte sich, stellte neugierig erst das eine, dann das andere Ohr auf und lächelte schließlich, seine großen Zähne entblößend, mit seinem ganzen Maul und seinen schönen Augen.

»Danke«, sagte der Alte mit dünner Stimme.

Er strich Darenski mit der Hand über die Schulter und sagte: »Ich hatte zwei Söhne in einer Kavalleriedivision, einer ist gefallen, der Ältere« – und er zeigte mit der Hand über den Kopf des Pferdes, »aber der andere, der Jüngere« – und er zeigte in eine Höhe unterhalb des Pferdekopfes –, »der ist Maschinengewehrschütze, drei Orden hat er bekommen.« Dann fragte er: »Hast du Familie?«

»Meine Mutter lebt noch, aber mein Vater ist tot.«

»Ai, schlecht«, der Alte schüttelte den Kopf, und Darenski dachte, dass er nicht aus Höflichkeit Bedauern zeigte, sondern aus wirklicher Anteilnahme, weil der Vater des russischen Oberstleutnants, der ihm eine Papirossa geschenkt hatte, gestorben war.

Dann stieß der Alte plötzlich einen Schrei aus, winkte unbekümmert mit der Hand, und das Pferd stürmte mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit und unbeschreiblicher Leichtigkeit den Hügel hinab.

Woran dachte der Reiter, als er durch die Steppe sprengte: an seine Söhne, daran, dass dem russischen Oberstleutnant, der neben dem defekten Auto stand, der Vater gestorben war?

Darenski verfolgte den schnellen Galopp des Alten, und in seinen Schläfen hämmerte nur dieses eine Wort: Freiheit … Freiheit … Freiheit…

Und ihn überkam Neid auf den alten Kalmücken.

69

Darenski fuhr vom Frontstab aus auf eine längere Dienstreise zu der Armee, die am äußersten linken Flügel stand. Reisen zu dieser Armee galten unter den Stabsangehörigen als besonders unangenehm; sie scheuten den Mangel an Wasser und Unterkünften, die schlechte Versorgung, die großen Entfernungen und die erbärmlichen Straßenverhältnisse. Das Kommando hatte keine genauen Nachrichten über die Verfassung der Truppen, die sich im Sand zwischen der kaspischen Meeresküste und der kalmückischen Steppe verloren hatten. So hatte die Heeresführung Darenski in diesen Bezirk entsandt und reichlich mit Aufträgen eingedeckt.

Nachdem er Hunderte von Kilometern durch die Steppe zurückgelegt hatte, spürte Darenski, wie er von Trübsal überwältigt wurde. Hier machte sich niemand Gedanken über einen Angriff; die Lage der Truppen, die von den Deutschen ans Ende der Welt gejagt worden waren, schien aussichtslos.

Hier merkte man keine Spur von der im Stab Tag und Nacht unvermindert herrschenden Spannung, vom Rätselraten über die Länge der Zeitspanne bis zum Angriff, vom Anmarsch der Reserveverbände, von den Telegrammen und Chiffrierungen, von der Arbeit der Frontnachrichtenzentrale rund um die Uhr, vom Dröhnen der von Norden anrollenden Auto- und Panzerkolonnen. Hatte er das alles nur geträumt?

Während er den resignierten Gesprächen der Kommandeure der Artillerie und der allgemeinen Truppeneinheiten zuhörte, Daten über den Zustand des Geräts sammelte und prüfte, die Artilleriedivisionen und -batterien inspizierte, die finsteren Gesichter der Rotarmisten und Kommandeure betrachtete und zusah, wie sich die Leute langsam und träge durch den Steppenstaub fortbewegten, überließ sich Darenski allmählich dem eintönigen Trübsinn dieser Standorte. So weit war es mit ihm gekommen, dachte er, dorthin, in die Kamelsteppen, zu den wandernden Sanddünen war Russland geraten, da lag es entkräftet auf feindselig abweisender Erde darnieder, und keine Hoffnung bestand mehr, dass es sich jemals wieder erheben und aufrichten würde.

Darenski kam im Armeestab an und wurde zum Oberkommando befohlen.

In dem geräumigen, schummrigen Zimmer spielte ein kräftiger junger Mann mit wohlgenährtem Gesicht und schütter werdendem Haar, der nur ein Feldhemd ohne Rangabzeichen trug, mit zwei Frauen in Uniform Karten. Als der Oberstleutnant eintrat, unterbrachen der junge Mann und die Frauen, zwei Leutnants, das Spiel nicht, sondern fuhren nach einem zerstreuten Blick auf ihn fort, verbissen zwischen den Zähnen hervorzustoßen:

»Vorhand oder Volte?«

Darenski wartete ab, bis alle Karten ausgeteilt waren, und fragte dann: »Ist hier der Armeeoberbefehlshaber stationiert?«

Eine der jungen Frauen antwortete: »Er ist an die rechte Flanke gefahren und wird erst am Abend wieder zurück sein.« Sie musterte ihn mit dem erfahrenen Blick einer Armeeangehörigen und fragte: »Sie sind wahrscheinlich aus dem Frontstab, Genosse Oberstleutnant?«

»Jawohl«, antwortete Darenski und fragte, wobei er kaum merklich mit den Augen zwinkerte: »Entschuldigen Sie bitte, könnte ich dann vielleicht das Mitglied des Kriegsrats sprechen?«

»Er ist mit dem Befehlshaber weggefahren und wird erst am Abend zurück sein«, antwortete die zweite Frau und fragte: »Sind Sie vielleicht aus dem Artilleriestab?«

»Jawohl«, erwiderte Darenski.

Die Erste, die über den Befehlshaber Auskunft gegeben hatte, erschien Darenski besonders interessant, obwohl sie offenbar bedeutend älter war als die, die über das Mitglied des Kriegsrats Auskunft gegeben hatte. Es gibt Frauen, die manchmal sehr schön, manchmal jedoch, bei einer zufälligen Kopfbewegung, plötzlich welk, gealtert und uninteressant wirken. Und diese da, die er jetzt vor sich hatte, war von diesem Schlag, mit einer geraden, schönen Nase und blauen, abweisenden Augen, die davon sprachen, dass sie genau über ihren eigenen Wert und den anderer Leute Bescheid wusste.

Ihr Gesicht wirkte besonders jung – na, gib ihr vielleicht fünfundzwanzig Jahre, mehr nicht –, aber kaum zog sie die Brauen zusammen und dachte nach, wurden die Fältchen in den Mundwinkeln sichtbar und die schlaffe Haut unter dem Kinn, und man konnte sie für mindestens fünfundvierzig halten. Aber die Beine in den nach Maß gefertigten Chromlederstiefeln waren wirklich hübsch.

Alle diese Details, mit denen man sich ziemlich lange aufhalten könnte, hatte Darenski mit erfahrenem Blick sofort erfasst.

Die Zweite war jung, jedoch in die Breite gegangen und füllig; alles an ihr war, für sich genommen, nicht besonders schön – die fettigen Haare, die breiten Backenknochen, die Augen von unbestimmbarer Farbe –, doch sie war jung und sehr feminin, und zwar so feminin, dass wohl auch ein Blinder, hätte er sich neben ihr befunden, ihre Weiblichkeit hätte empfinden müssen.

Auch das bemerkte Darenski sogleich, innerhalb einer Sekunde.

Mehr noch, innerhalb dieser einen Sekunde wog er auch die Vorzüge der Ersten gegen die der Zweiten ab. So traf er diese Wahl, die keine praktischen Folgen nach sich zieht und die Männer fast immer treffen, wenn sie Frauen betrachten. Darenski, der sich Gedanken machte, wie er den Befehlshaber finden sollte und ob der ihm die benötigten Daten herausrücken würde, wo er zu Mittag essen und sein Nachtlager aufschlagen würde, ob der Weg zur Division weit und beschwerlich sein würde, schaffte es tatsächlich, irgendwie von selbst und ganz beiläufig und zugleich doch nicht so ganz beiläufig zu denken: »Diese da!«

Es ergab sich, dass er nicht sofort zum Stabschef der Armee ging, um die notwendigen Informationen einzuholen, sondern dablieb und Schafkopf spielte.

Während des Spiels – er war der Partner der blauäugigen Frau – klärten sich eine Menge Fragen: Seine Partnerin hieß Alla Sergejewna, die Zweite, die Jüngere, arbeitete in der Verbandsstelle des Stabes, der junge Mann mit dem Vollmondgesicht ohne militärischen Rang hieß Wolodja, war offenbar mit irgendjemandem aus dem Kommando verwandt und arbeitete als Koch in der Kantine des Kriegsrats.

Darenski spürte sofort, dass Alla Sergejewna sehr mächtig war; das konnte man aus dem fast ehrerbietigen Tonfall heraushören, mit dem die Leute sie begrüßten, wenn sie das Zimmer betraten. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der Armeeoberbefehlshaber ihr gesetzlicher Ehemann und nicht, wie Darenski zunächst vermutet hatte, ihr Geliebter.

Er begriff nicht recht, wieso Wolodja so vertraut mit ihr war. Doch dann kam plötzlich Licht ins Dunkel: Wolodja war der Bruder der ersten Frau des Befehlshabers. Natürlich blieb dabei noch unklar, ob die erste Frau noch lebte oder ob der Befehlshaber offiziell von ihr geschieden war.

Die junge Frau, Klawdia, lebte offenbar in wilder Ehe mit dem Mitglied des Kriegsrats. Im Umgang mit ihr legte Alla Sergejewna eine gewisse herablassend arrogante Haltung an den Tag: Natürlich, wir spielen zusammen Schafkopf, wir duzen uns, doch das erfordern eben die Interessen des Krieges, an dem wir beide teilnehmen.

Doch auch an Klawdia bemerkte man ein Gefühl der Überlegenheit über Alla Sergejewna. Darenski deutete es ungefähr so: Obwohl ich nicht offiziell getraut bin, sondern nur eine Kriegsliebe, so bin ich doch meinem Mitglied des Kriegsrats treu; über dich aber, obwohl du gesetzlich getraut bist, ist uns doch so allerhand bekannt. Probier’s nur, nenn mich mal »Pepesche«!

Wolodja machte kein Hehl daraus, wie sehr ihm Klawdia gefiel. Er schien zu sagen: Meine Liebe ist hoffnungslos, wie könnte ich’s denn – ich, ein Koch – mit einem Mitglied des Kriegsrats aufnehmen … aber … obwohl ich nur ein Koch bin, so liebe ich dich doch in reiner Liebe, du selbst fühlst es – wenn ich nur in deine schönen Augen schauen darf; das aber, wofür dich das Mitglied des Kriegsrats liebt, das ist mir völlig gleichgültig.

Darenski spielte schlecht Schafkopf, und Alla Sergejewna nahm ihn in ihre Obhut. Der hagere Oberstleutnant gefiel ihr: Er sagte »ich danke Ihnen«, murmelte »verzeihen Sie bitte«, wenn sich ihre Hände beim Kartenausteilen berührten; bekümmert betrachtete er Wolodja, wenn der sich die Nase mit den Fingern schnäuzte und diese dann mit einem Taschentuch abwischte; er lächelte höflich über die Witze der andern und erzählte selbst welche.

Auf einen von Darenskis Scherzen hin sagte Alla Sergejewna: »Ja, richtig, ich hab’s nicht gleich kapiert. In diesem Steppendasein hier ist mir der Verstand eingetrocknet.«

Sie sagte dies in gedämpftem Ton, als wolle sie ihm zu verstehen, besser gesagt, zu spüren geben, dass sich zwischen ihnen ein eigenes Gespräch, an dem nur sie beide teilhatten, anspinnen könnte, das Gespräch, bei dem einem kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen, jenes besondere Gespräch, das als einziges zwischen Mann und Frau zählt.

Darenski fuhr fort, Fehler zu machen, sie verbesserte ihn, zugleich entwickelte sich ein anderes Spiel zwischen ihnen; in diesem Spiel machte Darenski keine Fehler mehr, dieses Spiel beherrschte er bis in die feinsten Nuancen … Obgleich zwischen ihnen nichts anderes gesagt wurde als etwa: »Ja, halten Sie nicht das kleine Pik zurück«, »Werfen Sie ab, werfen Sie ab, keine Angst, sparen Sie nicht Ihren Trumpf auf …«, wusste und schätzte sie schon alles, was er an Anziehendem an sich hatte: seine Sanftheit und seine Kraft, seine Zurückhaltung und seine Kühnheit. All dies spürte Alla Sergejewna, weil sie diese Züge an Darenski heimlich beobachtete und weil er sie ihr zu zeigen wusste. Und sie wusste ihm zu zeigen, dass sie seine Blicke verstand, die ihrem Lächeln, ihren Handbewegungen, ihrem Achselzucken, ihren Brüsten unter der eleganten Gabardinefeldbluse, ihren Beinen und ihren sorgfältig manikürten Fingernägeln galten. Er merkte, dass ihre Stimme einen kaum wahrnehmbaren, unnatürlich gedehnten Ton annahm, dass ihr Lächeln länger anhielt als ein gewöhnliches Lächeln, damit er das Weiß ihrer Zähne und die Grübchen in ihren Wangen gebührend würdigen konnte …

Darenski war erregt und erschüttert über das Gefühl, das ihn so plötzlich überfiel. Nie hatte er sich an dieses Gefühl gewöhnen können, jedes Mal schien es ihm, als sei es zum ersten Mal. Seine große Erfahrung hatte den Umgang mit Frauen nicht zur Routine werden lassen – es gab die Erfahrung auf der einen Seite und das Staunen über das ihm widerfahrende Glück auf der anderen. Gerade darin unterscheiden sich die aufrichtigen Frauenliebhaber von den verlogenen.

Irgendwie ergab es sich so, dass er diese Nacht im Gefechtsstand der Armee verbrachte.

Am Morgen ging er zum Stabschef, einem schweigsamen Obersten, der ihm keine einzige Frage über Stalingrad, über Neuigkeiten von der Front oder über die Lage nordwestlich von Stalingrad stellte. Nach diesem Gespräch hatte Darenski begriffen, dass der Stabsoberst wohl kaum seine Inspektorenneugier würde befriedigen können, er bat ihn darum, seine schriftliche Order mit einem Stempel zu versehen, und fuhr zu den Truppen hinaus.

Als er in das Auto stieg, fühlte er eine seltsame Leere und Leichtigkeit in den Gliedern, er war ohne Gedanken, ohne Wünsche, satt und leer zugleich. Es war, als sei auch ringsum alles fade und öd geworden – der Himmel, das Gras und die Hügel der Steppe, die ihm noch gestern so gefallen hatten. Er hatte keine Lust, mit dem Fahrer zu reden und Witze zu machen. Und wenn er an die Kämpfe in der Wüste, am Rande der russischen Erde, dachte, so tat er dies gelöst, ohne Erregung, ohne Leidenschaft.

Darenski spuckte hin und wieder aus, schüttelte den Kopf und murmelte mit einer Art dumpfer Verwunderung: »Was für ein Weib …«

In ihm regte sich nun ein vages Gefühl der Reue, er sagte sich, dass solche Eskapaden gewöhnlich zu nichts Gutem führten. Er erinnerte sich, dass er irgendwann einmal, vielleicht bei Kuprin, vielleicht auch in irgendeinem übersetzten Roman gelesen hatte, dass die Liebe wie Kohle sei: Glühend verbrenne sie, kalt aber beschmutze sie. Am liebsten hätte er sogar ein bisschen geweint oder noch lieber geflennt und irgendjemandem sein Leid geklagt, denn nicht aus freien Stücken war er zu dieser Art Liebe gekommen. Das Schicksal hatte ihn, den armen Oberstleutnant, dahin gebracht. Dann schlief er ein, doch als er wieder erwachte, dachte er plötzlich: »Wenn sie mich nicht umbringen, schaue ich auf dem Rückweg unbedingt bei Allotschka vorbei.«

70

Von der Arbeit zurückkehrend, blieb Major Jerschow an Mostowskois Pritsche stehen und sagte: »Ein Amerikaner will im Radio gehört haben, dass unser Widerstand bei Stalingrad die Deutschen ganz schön aus dem Konzept bringt.« Er runzelte die Stirn und fügte hinzu: »Ja, und noch was, aus Moskau – die Komintern soll aufgelöst sein.«

»Sind Sie verrückt geworden?«, fuhr Mostowskoi auf und schaute forschend in die klugen Augen Jerschows, die kalt waren und trüb wie Frühlingswasser.

»Vielleicht hat’s der Ami auch falsch verstanden«, meinte Jerschow wieder und kratzte sich die Brust. »Vielleicht wird die Komintern im Gegenteil erweitert.«

Mostowskoi hatte im Laufe seines Lebens allerhand Menschen getroffen, die wie eine Membran die Ideale, Leidenschaften und Gedanken der ganzen Gesellschaft auffingen und aussprachen und denen nie ein wichtiges Ereignis in Russland zu entgehen schien. Hier im Lager war es Jerschow, der die Gedanken und Ideale der Lagergesellschaft zum Ausdruck brachte. Aber das Gerücht von der Auflösung der Komintern schien den Meister der Gedanken herzlich wenig zu interessieren.

Auch Brigadekommissar Ossipow, einst verantwortlich für die politische Erziehung einer großen Militäreinheit, nahm die Nachricht gelassen auf. Sein Kommentar lautete: »General Guds hat mir mal gesagt: ›Mit eurer internationalen Erziehung, Genosse Kommissar, hat der ganze Ärger angefangen; man hätte das Volk im patriotischen, russischen Geist erziehen sollen.‹«

»Ja, wie denn«, spottete Mostowskoi, »für Gott, Zar und Vaterland?«

»Unsinn«, entgegnete Ossipow, nervös gähnend, »es geht ja jetzt nicht um die Orthodoxie, sondern darum, dass uns die Deutschen bei lebendigem Leib das Fell abziehn, Genosse Mostowskoi.«

Der spanische Soldat, den die Russen Andrjuschka nannten und der auf einer der obersten Pritschen schlief, hatte das Wort »Stalingrad« auf eine kleine Holzleiste geschrieben, die er nachts betrachtete. Morgens drehte er die Leiste um, damit die Kapo-Schnüffler nicht das berühmte Wort entdeckten.

Major Kirillow sagte zu Mostowskoi: »Früher, als sie mich nicht mit Gewalt zur Arbeit jagten, hab ich mich tagelang auf der Pritsche rumgewälzt. Aber jetzt hab ich mir sogar das Hemd gewaschen und kaue Kiefernspäne gegen den Skorbut …«

Und die SS-Sträflinge, denen man den Spitznamen »die fröhlichen Jungs« gegeben hatte – sie gingen immer singend zur Arbeit –, schikanierten die Russen jetzt noch grausamer.

Mit der Stadt an der Wolga verknüpften alle Bewohner der Lagerbaracken Hoffnung, die Komintern dagegen war ihnen gleichgültig.

Etwa um die gleiche Zeit kam der Emigrant Tschernezow zum ersten Mal zu Mostowskoi. Mit einer Hand seine leere Augenhöhle verdeckend, begann er von der Radiosendung zu sprechen, die der Amerikaner abgehört hatte.

Mostowskoi empfand ein solches Bedürfnis nach diesem Gespräch, dass er sich aufrichtig freute.

»Das kommt doch aus ganz unautorisierter Quelle«, sagte Mostowskoi, »alles purer Unsinn.«

Tschernezow zog die Brauen hoch. Schrecklich sah das aus, die leere Augenhöhle und darüber eine neuralgisch hochgezogene Braue.

»Was soll denn daran nicht stimmen?«, fragte der einäugige Menschewik. »Es ist doch ganz wahrscheinlich. Die Herren Bolschewiki haben die Dritte Internationale erfunden, und sie haben die Theorie des sogenannten Sozialismus in einem Land erfunden. Die Internationale ist also Nonsens – überholt … Plechanow hat in einem seiner letzten Artikel geschrieben: ›Der Sozialismus kann entweder als internationales, weltweites System existieren oder gar nicht.‹«

»Der sogenannte Sozialismus?«, fragte Michail Sidorowitsch.

»Ja, genau, der sogenannte, der sowjetische Sozialismus«, bestätigte Tschernezow und musste lächeln. Er bemerkte, dass auch Mostowskoi lächelte. Sie mussten lächeln, weil in diesen bösen Worten, in diesen höhnischen und gehässigen Untertönen ihre Vergangenheit wieder lebendig wurde. Durch die Schicht der Jahrzehnte hindurch blitzte der scharfe Stahl ihrer Jugendfeindschaft auf, und diese Begegnung in einem Hitler’schen Konzentrationslager erinnerte sie an jahrelangen Hass, aber auch an ihre Jugend.

Dieser feindliche, fremde Mithäftling hatte einst geliebt und gekannt, was auch Mostowskoi in seiner Jugend geliebt und gekannt hatte. Nicht Ossipow und nicht Jerschow, sondern dieser Mann erinnerte sich noch an die Zeiten des ersten Parteikongresses, an die Namen von Leuten, die nur für sie beide noch eine Bedeutung besaßen. Beide hatten sich über die Beziehung zwischen Marx und Bakunin ereifert und über das, was Lenin und was Plechanow über den weichen und den harten Flügel im Redaktionskollegium der Zeitung »Iskra« gesagt hatte. Sie erinnerten sich an den herrlichen Empfang, den der blinde, greise Engels den jungen russischen Sozialdemokraten bereitet hatte, die zu ihm gekommen waren, und daran, welche Plage Ljubotschka Axelrod in Zürich gewesen war.

Der einäugige Menschewik, der offenbar dasselbe empfand wie Mostowskoi, sagte grinsend: »Das Wiedersehen von Jugendfreunden haben die Schriftsteller ja oft sehr ergreifend geschildert, aber was ist mit dem Wiedersehen von Jugendfeinden, von so grauen und räudigen Hunden wie uns beiden?«

Mostowskoi bemerkte eine Träne auf Tschernezows Wange. Beide begriffen: Bald würde der Lagertod alles, was in einem langen Leben war – alles Richtige, alles Falsche und auch die Feindschaft –, hinwegfegen und mit Sand bedecken.

»Ja«, sagte Mostowskoi, »wer einen sein Leben lang bekämpft hat, der wird wohl oder übel zum Teil des eigenen Lebens.«

»Seltsam«, erwiderte Tschernezow, »dass man sich in dieser Wolfsgrube wiedertrifft.« Und plötzlich setzte er hinzu: »Was für wunderbare Worte: Weizen, Korn, warmer Herbstregen …«

»Ja, dieses Lager ist wirklich furchtbar«, lachte Mostowskoi. »Im Vergleich dazu erscheint einem sogar die Begegnung mit einem Menschewiken angenehm.«

Tschernezow nickte traurig. »Ja, für euch ist es wirklich hart.«

»Der Nazismus«, sagte Mostowskoi, »der Nazismus: Ich hätte nicht gedacht, dass es eine solche Hölle geben kann.«

»Na, Sie brauchen sich doch nicht zu wundern«, erwiderte Tschernezow, »für Sie ist Terror doch nichts Neues.«

Mit einem Schlag war die gemeinsame Trauer und alles, was sie einander nähergebracht hatte, wie weggewischt. Schonungsloser, offener Streit brach aus.

Tschernezows Verleumdung war deshalb so verletzend, weil sie etwas Wahres enthielt; er machte aus den Grausamkeiten, die den Aufbau des Sozialismus begleitet hatten, aus vereinzelten Fehlgriffen eine Gesetzmäßigkeit und fuhr fort: »Sie meinen natürlich – das ist ja auch sehr bequem –, dass es sich im Jahre 1937 nur um ein paar Ausschreitungen gehandelt hat und dass den Leuten bei der Kollektivierung eben nur der Erfolg zu Kopf gestiegen ist und dass Ihr teurer, großer Führer eben nur ein wenig grausam und machtgierig ist. Aber umgekehrt wird ein Stiefel draus: Gerade seine ungeheuerliche Unmenschlichkeit hat Stalin zum Nachfolger Lenins gemacht. Sie und Ihresgleichen schreiben ja so gern: Stalin, das ist Lenin heute. Sie glauben immer noch, dass die Armut der Landbevölkerung und die Rechtlosigkeit der Arbeiter temporäre Erscheinungen, Kinderkrankheiten sind. Der Weizen, den Sie, die wahren Kulaken, die wahren Monopolisten, dem Bauern für einen Kilopreis von fünf Kopeken abkaufen und demselben Bauern für einen Rubel pro Kilo verkaufen, der bildet die Grundlage für Ihren Aufbau des Sozialismus.«

»Und Sie, ein Menschewik, ein Emigrant, sagen mir hier, Stalin sei Lenin heute«, erwiderte Mostowskoi. »Wir sind die rechtmäßigen Erben sämtlicher Generationen russischer Revolutionäre, von Rasin und Pugatschow bis heute. Wir sind keine landesflüchtigen menschewistischen Renegaten, und Stalin ist der Nachfolger Rasins, Dobroljubows und Herzens.«42

»Von wegen«, gab Tschernezow zurück. »Wissen Sie eigentlich, was die freien Wahlen zur Konstituierenden Versammlung für Russland bedeutet haben? Nach tausendjähriger Knechtschaft! Nach tausend Jahren Unfreiheit war Russland kaum ein halbes Jahr frei. Ihr Lenin hat die russische Freiheit nicht geerbt, sondern zerstört. Wenn ich an die Prozesse des Jahres ’37 denke, dann kommt mir eine ganz andere Erbschaft in den Sinn. Erinnern Sie sich an Oberst Sudeikin, den Chef der dritten Abteilung? Er wollte zusammen mit Degajew Verschwörungen anzetteln, den Zaren einschüchtern und so die Macht ergreifen. Und Sie behaupten, Stalin sei der Nachfolger Herzens?«

»Ja, sind Sie denn total verrückt?«, ereiferte sich Mostowskoi. »Ist das Ihr Ernst mit Sudeikin? Und die größte soziale Revolution, die Expropriation der Expropriateure, die Enteignung der kapitalistischen Fabrikherren und der Grundbesitzer? Die haben Sie wohl übersehen? Wessen Erbe ist denn das – etwa Sudeikins? Und die Abschaffung des Analphabetentums und die Schwerindustrie? Und das Vordringen des vierten Standes, der Arbeiter und Bauern, in alle Bereiche menschlicher Tätigkeit? Ist das vielleicht Sudeikins Erbe? Sie können einem leidtun.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Tschernezow. »Fakten lassen sich nicht bestreiten, nur erklären. Alle Ihre Marschälle, Schriftsteller und Doktoren der Wissenschaft, Ihre Künstler und Volkskommissare sind keine Diener des Proletariats, sondern des Staates. Und die, die auf dem Feld und in den Fabriken arbeiten, die werden doch nicht einmal Sie als die Herrschenden bezeichnen. Schöne Herrscher sind mir das.«

Er beugte sich plötzlich zu Mostowskoi hinüber und sagte: »Von euch allen imponiert mir nur Stalin. Er macht die Drecksarbeit. Und ihr seid die Saubermänner! Stalin weiß: Eiserner Terror, Straflager, mittelalterliche Hexenprozesse – das sind die Pfeiler, auf denen der ›Sozialismus in einem Land‹ ruht.«

Michail Sidorowitsch erwiderte ruhig: »Mein Lieber, Ihre Gemeinheiten sind mir nichts Neues. Allerdings haben Sie, das muss ich offen sagen, schon eine besonders unangenehme Art zu reden. So widerlich und ekelhaft kann nur einer sprechen, der von Kindesbeinen an in einem fremden Haus schmarotzt hat und schließlich fortgejagt wurde. Wissen Sie, wie man so jemanden nennt? Einen Lakaien!«

Er sah Tschernezow durchdringend an und fuhr fort: »Eigentlich wollte ich mich an das erinnern, was uns im Jahr 1898 verband, und nicht an das, was uns 1903 trennte.«43

»Aha, über die Zeit plaudern, als der Lakai noch nicht rausgeflogen war?«

Aber Michail Sidorowitsch war ernstlich böse.

»Ja, genau! Ein verstoßener, flüchtiger Lakai mit Zwirnhandschuhen. Wir tragen keine Handschuhe, das geben wir offen zu. Wir haben blutbeschmierte Hände! Na und! Wir sind ohne Plechanow’sche Handschuhe zur Arbeiterbewegung gekommen. Und was haben Ihnen Ihre Lakaienhandschuhe eingebracht? Jüdische Silberlinge für ein paar Artikelchen in Ihrem ›Sozialistischen Boten‹? An uns aber glauben die Engländer, Franzosen, Polen, Norweger und Holländer hier im Lager! In unseren Händen, in den Händen der Roten Armee, liegt das Schicksal der Welt. Sie ist die Armee der Freiheit.«

»Soso«, unterbrach ihn Tschernezow, »schon immer? – Und wie war das mit der Besetzung Polens im Jahr ’39 nach dem Pakt mit Hitler? Und mit Litauen, Estland und Lettland, die von euren Panzern niedergewalzt wurden? Und mit der Invasion Finnlands? – Ihre Armee und Stalin haben den kleinen Völkern das weggenommen, was ihnen die Revolution gebracht hatte. Und die Niederschlagung der Bauernunruhen in Mittelasien? Und die Unterdrückung des Kronstädter Aufstandes? All das für Freiheit und Demokratie? Dass ich nicht lache.«

Mostowskoi hielt Tschernezow seine Hände vor das Gesicht und sagte: »Da, schauen Sie, keine Lakaienhandschuhe.«

Tschernezow nickte: »Erinnern Sie sich an den Polizeiobersten Strelnikow? Er arbeitete auch ohne Handschuhe, schrieb falsche Geständnisse für halb totgeprügelte Revolutionäre. Wozu brauchten Sie das Jahr ’37, etwa um gegen Hitler zu kämpfen? Hat Strelnikow Sie das gelehrt oder Marx?«

»Ihre abscheulichen Reden erstaunen mich nicht im Geringsten«, sagte Mostowskoi. »Aus Ihrem Munde kann ja gar nichts anderes kommen. Was mich wirklich wundert, ist, warum die Hitler-Leute Sie im Lager festhalten. Uns hassen sie aus tiefster Seele. Das ist begreiflich. Aber wozu hat Hitler Sie und Ihresgleichen in ein Lager gesteckt?«

Tschernezow musste lachen; sein Gesicht nahm wieder den gleichen Ausdruck an wie zu Beginn des Gesprächs.

»Sie tun es eben«, sagte er. »Sie können sich ja für mich verwenden. Vielleicht lässt man mich dann laufen.«

Aber Mostowskoi war nicht zum Scherzen aufgelegt.

»Sie mit Ihrem Hass auf uns dürfen einfach nicht in einem Hitler’schen Lager sitzen. Und nicht nur Sie, dieses Subjekt da auch«, und er zeigte auf Ikonnikow-Morsch, der sich ihnen näherte. Ikonnikows Gesicht und Hände waren lehmverschmiert.

Er reichte Mostowskoi ein paar schmutzige beschriebene Blätter und sagte: »Lesen Sie, vielleicht müssen wir morgen sterben.« Mostowskoi versteckte die Blätter unter seinem Strohsack und brummte: »Ich werd’s lesen, aber warum wollen Sie aus diesem Jammertal scheiden?«

»Wissen Sie, was ich gehört habe? Die Gruben, die wir ausgehoben haben, sind für Gaskammern bestimmt. Heute haben sie schon angefangen, die Fundamente zu betonieren.«

»Ach, dieses Gerücht lief schon um, als sie die Eisenbahnschienen gelegt haben«, sagte Tschernezow.

Er sah sich um, und Mostowskoi dachte plötzlich: »Tschernezow vergewissert sich, ob die anderen, die von der Arbeit kommen, auch sehen, dass er da so ganz einfach mit einem alten Bolschewiken plaudert. Er brüstet sich damit sicher vor den Italienern, Norwegern, Spaniern und Engländern. Am meisten brüstet er sich aber vermutlich vor den russischen Kriegsgefangenen.«

»Ja, sollen wir denn da weiter mitmachen?«, fragte Ikonnikow-Morsch. »Sollen wir bei der Vorbereitung dieser Gräuel auch noch mithelfen?«

Tschernezow zuckte die Achseln.

»Was glauben Sie denn – wir sind doch nicht in England. Auch wenn sich achttausend Mann weigern, die legen alle innerhalb einer Stunde um.«

»Nein, ich kann nicht«, sagte Ikonnikow-Morsch. »Ich tu’s nicht. Ich tu’s nicht.«

»Wenn Sie sich weigern zu arbeiten, sind Sie in zwei Minuten ein toter Mann«, sagte Mostowskoi.

»Ja«, bestätigte Tschernezow, »dem können Sie glauben; der Genosse weiß, was es heißt, in einem Land zum Aufstand aufzurufen, in dem es keine Demokratie gibt.«

Irgendwie ärgerte ihn der Streit mit Mostowskoi. Hier im Hitlerlager erschienen ihm die Worte, die er in seiner Pariser Wohnung so oft mit Überzeugung ausgesprochen hatte, plötzlich falsch und sinnlos. Bei den Gesprächen der Lagerinsassen, die er belauschte, fiel oft das Wort »Stalingrad«. Mit dieser Stadt hing, ob er es nun wollte oder nicht, das Schicksal der Welt zusammen.

Ein junger Engländer hatte ihm das Victory-Zeichen gezeigt und gesagt: »Ich bete für Sie, Stalingrad hat die Lawine angehalten«, und Tschernezow hatte sich bei diesen Worten glücklich und gerührt gefühlt.

Er sagte zu Mostowskoi: »Wissen Sie, Heine hat gesagt, dass nur ein Dummkopf dem Feind seine Schwäche zeigt. Vielleicht bin ich so ein Dummkopf, denn ich gebe Ihnen recht: Ihre Armee führt tatsächlich einen großen, entscheidenden Kampf. Es ist bitter für einen russischen Sozialisten, dies zu erkennen, sich darüber zu freuen und stolz zu sein, und gleichzeitig zu leiden und Sie zu hassen.«

Er schaute Mostowskoi an, und diesem schien es, als hätte sich auch das zweite, gesunde Auge Tschernezows mit Blut gefüllt.

»Aber«, fuhr Tschernezow fort, »haben Sie denn hier nicht inzwischen am eigenen Leib erfahren, dass der Mensch nicht ohne Demokratie und Freiheit leben kann? Die zu Hause haben es ja leider vergessen.«

Mostowskoi runzelte die Stirn: »Jetzt hören Sie aber auf, hysterisch zu sein.«

Er warf einen Blick hinter sich, und Tschernezow dachte: »Es macht ihn nervös, dass die anderen, die von der Arbeit kommen, sehen können, wie er sich da so einfach mit einem menschewikischen Emigranten unterhält. Er schämt sich dessen sicher vor den Ausländern. Am meisten schämt er sich aber wohl vor den russischen Kriegsgefangenen.«

Die blinde, blutunterlaufene Augenhöhle starrte Mostowskoi an.

Ikonnikow fasste den Geistlichen, der auf einer der mittleren Pritschen saß, am Fuß und fragte in französisch-deutsch-italienischem Kauderwelsch: »Que dois je faire, mio padre? Nous travaillons dans una Vernichtungslager.«

Mit seinen anthrazitfarbenen Augen musterte Guardi die Gesichter der Umstehenden.

»Tout le monde travaille là-bas. Et mois je travaille là-bas. Nous sommes des esclaves«, sagte er langsam. »Dieu nous pardonnera.«

»C’est son métier«, fügte Mostowskoi hinzu.

»Mais ce n’est pas votre métier«, wies Guardi ihn zurecht.

Ikonnikow-Morsch sagte hastig: »Sehen Sie, Michail Sidorowitsch, auch Sie sind ja dieser Ansicht; aber ich will keine Vergebung der Sünden. Sagen Sie vor allem nicht, dass diejenigen die Schuld daran tragen, die uns zwingen; wir sind nur Sklaven, wir tragen keine Schuld, weil wir nicht frei sind. Ich bin frei! Ich baue ein Vernichtungslager, und ich habe mich dafür vor den Menschen zu verantworten, die man darin umbringen wird. Ich kann ›Nein‹ sagen. Keine Macht der Welt kann mich daran hindern, wenn ich stark genug bin, den Tod nicht zu fürchten. Und ich werde ›Nein‹ sagen! Je dirai ›non‹, mio padre, je dirai ›non‹!«

Guardis Hände berührten das graue Haupt Ikonnikows.

»Donnez-moi votre main«, sagte er.

»Na, nun wird der gute Hirte das verirrte Schaf ermahnen«, spöttelte Tschernezow, und Mostowskoi nickte ihm in unwillkürlichem Einverständnis zu.

Aber Guardi ermahnte lkonnikow nicht. Er führte die schmutzige Hand Ikonnikows an seine Lippen und küsste sie.

71

Am nächsten Tag unterhielt sich Tschernezow mit einem seiner wenigen sowjetischen Bekannten, dem Rotarmisten Pawljukow, der als Sanitäter im Krankenrevier arbeitete.

Pawljukow erzählte Tschernezow, dass er befürchte, man werde ihn bald aus dem Revier vertreiben und in die Baugruben schicken.

»Das alles verdanke ich den Kerlen von der Partei«, klagte er. »Die können es einfach nicht ertragen, dass ich mir hier ein gutes Pöstchen ergattert habe. Ich habe alle entscheidenden Leute geschmiert, aber die haben die Ihrigen überall eingeschleust, in die Küche, in den Waschraum, überall. Wissen Sie noch, Alter, wie’s im Frieden war? Im Stadtbezirkskomitee saßen sie, in der Gewerkschaftsleitung saßen sie, das stimmt doch? Und hier haben sie’s auch geschafft. In der Küche sorgen sie dafür, dass ihre Leute ihnen anständige Portionen austeilen. Ein alter Bolschewik lebt hier wie im Sanatorium, aber unsereins kann wie ein Hund verrecken, da machen die keinen Finger krumm. Ist das etwa gerecht? Wir haben uns doch auch unser Leben lang für die Sowjetmacht abgerackert.«

Etwas verlegen wandte Tschernezow ein, dass er schon seit zwanzig Jahren nicht mehr in der Sowjetunion gelebt habe. Er hatte schon oft bemerkt, dass die sowjetischen Sträflinge, sobald sie das Wort »Emigrant« oder »Ausländer« hörten, zurückschreckten. Aber Pawljukow reagierte nicht auf seine Worte.

Sie setzten sich auf einen Bretterstapel, und Pawljukow, ein echter Sohn des Volkes, wie Tschernezow dachte, mit breiter Stirn und breiter Nase, sagte, während er sich nach der Wache umsah, die in einem kleinen Betontürmchen auf und ab ging: »Ich hab ja keine andere Wahl: entweder zu den Freiwilligen gehen oder krepieren.«

»Um deine Haut zu retten?«, fragte Tschernezow.

»Ich bin kein Kulak«, sagte Pawljukow, »ich musste mich bei Waldarbeiten nicht für sie abrackern, aber auf die Kommunisten habe ich trotzdem einen Zorn. Man kann keinen freien Schritt tun. Das darfst du nicht, die darfst du nicht heiraten, diese Arbeit ist nicht deine Arbeit. Der Mensch wird zum dressierten Tier. Ich hatte mir schon als Junge gewünscht, einen Laden aufzumachen, in dem es alles Mögliche zu kaufen gäbe. Zu dem Laden sollte eine Imbissstube gehören – du kaufst, was du brauchst, und bitte, wenn du willst, trink ein Gläschen, oder iss etwas Warmes, trink ein Bierchen. Alles billig! In meinem Restaurant hätte es auch Hausmannskost gegeben. Bitte sehr! Bratkartoffeln! Schmalz mit Knoblauch! Sauerkohl! Wissen Sie, was ich den Leuten als Sakuska serviert hätte? Markknochen! Sie kochen im Kessel, bitte sehr, trink hundert Gramm und nimm dir ein Knöchelchen und Schwarzbrot, natürlich mit Salz. Und überall Ledersessel, damit sich keine Läuse einnisten. Du sitzt, ruhst dich aus, wirst bedient. Aber wenn ich davon nur ein Wort gesagt hätte, wäre ich gleich nach Sibirien gekommen. Und jetzt frage ich mich, wieso soll so etwas dem Volk schaden? Ich hätte meine Preise um die Hälfte niedriger angesetzt als die staatlichen.«

Pawljukow blickte seinen Gesprächspartner schräg an: »In unserer Baracke hatten sich vierzig Mann für die Freiwilligeneinheiten eingetragen.«

»Und aus welchem Grund?«

»Für Suppe, für einen Mantel, um sich nicht zu Tode zu rackern.«

»Und weshalb noch?«

»Manche wegen der Ideologie.«

»Welcher?«

»Das ist verschieden. Manche wegen der Menschen, die in den Lagern umgekommen sind. Andere waren die Armut auf dem Land leid. Ertragen den Kommunismus nicht mehr.«

Tschernezow sagte: »Das ist gemein!«

Der Sowjetbürger sah den Emigranten neugierig an, und dieser bemerkte dessen belustigt-verständnislose Neugier.

»Das ist ehrlos, unmoralisch und schlecht«, sagte Tschernezow, »es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, um abzurechnen, nein, so wird nicht abgerechnet. Es ist schlecht – sich selbst gegenüber und gegenüber dem eigenen Land.«

Er stand auf und strich sich mit der Hand über das Gesäß.

»Mir kann man wirklich nicht nachsagen, dass ich die Bolschewiki liebe. Aber jetzt ist wahrhaftig nicht der Zeitpunkt, um abzurechnen. Zu Wlassow dürfen Sie nicht gehen.« Er stockte plötzlich und fügte heftig hinzu: »Hören Sie, Genosse, Sie dürfen nicht gehn!« Und bei dem Wort »Genosse«, das ihm wie in seiner Jugendzeit über die Lippen kam, konnte er seine Bewegtheit nicht mehr verbergen, tat es auch nicht und murmelte: »Mein Gott, mein Gott, konnte ich denn …«

Der Zug fuhr ab. Die Luft war schwer vom Staub, vom Duft des Flieders und dem Gestank der Abwässer, vom Dampf der Lokomotive und den Ausdünstungen der Bahnhofsküche.

Das Licht des Scheinwerfers verschwand langsam in der Ferne und stand dann scheinbar still neben den anderen grünen und roten Lichtern.

Der Student verharrte noch eine Weile auf dem Bahnsteig und ging dann durch das Seitentor. In einem plötzlichen Gefühlsausbruch, von dem auch er mitgerissen wurde, war ihm die Frau um den Hals gefallen und hatte ihn zum Abschied auf Stirn und Haare geküsst … Er ließ den Bahnhof hinter sich, und langsam ergriff das Glück Besitz von ihm, verdrehte ihm den Kopf; es schien, als sei dies der Anfang – der Beginn von etwas, das sein ganzes Leben ausfüllen würde …

Er dachte an diesen Abend, als er Russland verließ, auf dem Weg nach Slawuta. Er dachte an ihn in der Pariser Klinik, in der man ihm das am grünen Star erkrankte Auge entfernt hatte, und er dachte jedes Mal daran, wenn er die kühle, dämmrige Eingangshalle der Bank betrat, in der er arbeitete.

Der Dichter Chodassewitsch, der wie er aus Russland nach Paris geflohen war, hatte es in einem Gedicht beschrieben:

»Es geht ein Fremder, gestützt auf einen Stock,

Da muss ich plötzlich an dich denken.

Es fährt ein Wagen, fährt auf roten Rädern,

Da muss ich plötzlich an dich denken.

Es wird im Gang die Lampe angemacht am Abend,

Da muss ich plötzlich an dich denken.

Was auch geschieht, an Land, auf See, am Himmel,

Bei allem muss ich an dich denken.«

Es verlangte ihn, noch einmal zu Mostowskoi zu gehen und ihn zu fragen: »Haben Sie vielleicht Natascha Sadonskaja gekannt? Lebt sie noch? Sind Sie vielleicht sogar all die Jahre ganz in ihrer Nähe gewesen?«

72

Beim Abendappell war Keise, der Stubenälteste, ein Hamburger Gewohnheitsverbrecher, gut aufgelegt. Er trug heute gelbe Gamaschen und ein cremefarbenes kariertes Jackett mit Aufsatztaschen und sang mit starkem deutschem Akzent leise ein russisches Lied vor sich hin: »Wenn es morgen Krieg gibt, wenn wir morgen marschieren …«

Sein zerknittertes gelbes Gesicht mit den leblosen braunen Augen drückte an diesem Abend Zufriedenheit aus. Seine weiße, gänzlich unbehaarte Hand, mit deren Fingern er ohne weiteres ein Pferd erdrosseln könnte, klopfte den Gefangenen gutmütig auf Schultern und Rücken. Töten war für ihn so einfach wie jemandem ein Bein stellen. Nach einem Mord war er immer ein bisschen verwirrt, wie ein junger Kater, der beim Spiel einen Maikäfer getötet hat.

Meistens tötete er im Auftrag des Sturmführers Drottenhaar, der die Sanitätsabteilung im östlichen Lagerbezirksblock leitete.

Das Schwierigste war, die Leichen der Ermordeten ins Krematorium zu schaffen, aber damit gab sich Keise nicht ab, niemand wagte es, ihm eine solche Schmutzarbeit zuzumuten. Drottenhaar hatte Erfahrung und ließ es nicht so weit kommen, dass die Leute zu schwach zum Gehen wurden und man sie auf der Trage zum Hinrichtungsplatz bringen musste.

Keise trieb die zur Operation Vorgesehenen nicht an, er machte ihnen gegenüber keine gemeinen Bemerkungen, stieß oder schlug niemanden von ihnen auch nur ein Mal. Mehr als vierhundertmal war Keise die zwei Betonstufen zu der Sonderzelle hinaufgestiegen und hatte immer ein lebhaftes Interesse für jenen Menschen verspürt, an dem die Operation vollzogen wurde: für jenen Blick voller Schrecken und Ungeduld, voller Unterwürfigkeit, Qual, Feigheit und leidenschaftlicher Neugier, mit dem der Verurteilte denjenigen empfing, der gekommen war, um ihn zu töten.

Keise war sich selbst nicht darüber im Klaren, warum er an dieser routinemäßigen Arbeit Gefallen fand. Die Sonderzelle sah langweilig aus: ein Hocker, grauer Steinfußboden, ein Abflussrohr, ein Wasserhahn, ein Schlauch, ein Schreibpult mit einem Buch für Eintragungen.

Man hatte die Operation zu etwas ganz Alltäglichem gemacht, es wurde von ihr immer halb im Scherz gesprochen. Wenn Keise die Operation mit Hilfe einer Pistole vollzog, nannte er das »eine Kaffeebohne in den Kopf knallen«; führte er sie mit einer Phenol-Spritze durch, so gebrauchte er dafür den Ausdruck »Verabreichung des Elixiers«.

Erstaunlich und einfach, so schien es Keise, wurde das Geheimnis des menschlichen Lebens in Kaffeebohne und Elixier enthüllt.

Seine dunklen Augen schienen keinem Lebewesen zu gehören. Sie waren wie aus Plastik oder ausgehärtetem, gelbbraunem Harz … Und wenn in Keises Betonaugen ein Funken Heiterkeit erschien, überkam die Menschen Furcht, so wie einen Fisch Furcht überkommt, wenn er dicht an einen halb im Sand steckenden Wurzelstock herangeschwommen ist und plötzlich bemerkt, dass die dunkle, glitschige Masse Augen, Zähne und Fühler besitzt.

Hier im Lager spürte Keise das Gefühl von Überlegenheit gegenüber den in den Baracken lebenden Künstlern, Revolutionären, Gelehrten, Generälen und Predigern. Dabei ging es nicht um die Kaffeebohne und das Elixier. Es war das Gefühl einer natürlichen Überlegenheit, das ihn mit Freude erfüllte.

Auf seine gewaltige Körperkraft, die es ihm ermöglichte, alle Hindernisse bis hin zu einem Panzerschrank mühelos aus dem Weg zu räumen, bildete er sich gar nicht einmal so viel ein. Wirklich stolz war er auf seine empfindsame Seele und seinen Verstand, der als rätselhaft und schwierig galt. Sein Zorn und überhaupt seine Stimmungen schienen keiner Logik zu gehorchen, sondern waren scheinbar ganz unberechenbar. Als im Frühjahr ein Gefangenentransport angekommen war und einige von der Gestapo ausgewählte russische Kriegsgefangene in die Sonderbaracke gescheucht worden waren, hatte Keise verlangt, dass sie ihm seine Lieblingslieder vortrugen.

Vier Russen mit erloschenem Blick und geschwollenen Händen sangen:

»Wo bist du, meine Suliko?«

Keise wurde ganz melancholisch bei dem Vortrag; er lauschte und fixierte dabei einen der Männer, der ein wenig abseits stand und durch ungewöhnlich starke Backenknochen auffiel. Aus Respekt vor den Künstlern unterbrach er den Vortrag nicht, aber als sie geendet hatten, forderte er den Mann mit den hohen Backenknochen auf, da er nicht im Chor mitgesungen habe, müsse er nun ein Solo singen. Er musterte den schmutzigen Ausschnitt seines Militärhemdes, an dem noch die Spuren der abgetrennten Schulterstücke zu sehen waren, und fragte: »Verstehen Sie, Herr Major?«

Der Mann nickte; er hatte verstanden.

Keise packte ihn am Hemd und schüttelte ihn wie einen kaputten Wecker, und der Kriegsgefangene, der eben vom Transport gekommen war, stieß Keise die Faust ins Gesicht und beschimpfte ihn.

Das Ende des Russen schien gekommen. Aber der Gauleiter der Sonderbaracke erschlug Major Jerschow nicht, sondern führte ihn zu den Pritschen in der Ecke am Fenster, die für seine Favoriten reserviert waren. Am gleichen Tag brachte er Jerschow ein hartgekochtes Gänseei und überreichte es ihm lachend mit den Worten: »Das macht Ihre Stimme schön.«

Seither war Keise immer freundlich zu Jerschow, und auch seine Mitgefangenen begegneten ihm, der neben seiner unerschütterlichen Haltung einen sanften und fröhlichen Charakter hatte, mit Respekt.

Einer der »Suliko«-Sänger, der Brigadekommissar Ossipow, ärgerte sich allerdings über den Vorfall mit Keise und nannte Jerschow einen »unangenehmen Kerl«.

Mostowskoi dagegen erkannte in dem Major schon bald nach dem Vorfall den Meister der Gedanken der Lagerhäftlinge.

Außer bei Ossipow war der Major noch bei Kotikow, einem verschlossenen, schweigsamen Kriegsgefangenen, der über alle alles wusste, unbeliebt. Kotikow war ein ganz und gar farbloser Mensch – farblose Stimme, Augen, Lippen. Er war so farblos, dass er schon wieder auffiel.

An diesem Abend versetzte Keises gute Laune beim Appell die Männer in Unruhe und Furcht. Die Bewohner der Baracken rechneten immer mit dem Schlimmsten; Angst, Spannung und böse Ahnungen begleiteten sie, bald stärker, bald schwächer, Tag und Nacht.

Gegen Ende der Abendkontrolle kamen acht Lagerpolizisten in die Sonderbaracke. Die Kapos trugen alberne Uniformen mit grellgelben Armbinden, und man sah ihren Gesichtern an, dass sie ihre Essnäpfe nicht in der allgemeinen Lagerküche füllten.

Kommandiert wurden sie von einem gutaussehenden, großen blonden Mann in stahlfarbenem Mantel mit abgetrennten Offiziersstreifen. Unter dem Mantel schauten blankgeputzte Lackstiefel heraus.

Das war König, der Chef der Lagerpolizei, ein SS-Mann, der wegen irgendwelcher Straftaten seines Ranges verlustig gegangen und ins Straflager verbannt worden war.

»Mütze ab!«, schrie Keise.

Die Durchsuchung begann. Mechanisch, wie Fließbandarbeiter klopften die Kapos alle Tische nach eventuellen Hohlräumen ab, schüttelten die Lumpen aus, tasteten mit geübten Fingern die Kleidernähte ab und schauten in die Essnäpfe.

Hin und wieder stießen sie einen Gefangenen mit dem Knie in den Hintern und sagten: »Gesundheit.«

Ihre Funde, Notizzettel oder Notizblöcke, auch mal eine Rasierklinge, zeigten sie König, und dieser machte durch einen Wink mit dem Handschuh deutlich, ob das Fundstück von Interesse war.

Während der Durchsuchung standen die Gefangenen in Reih und Glied. Mostowskoi stand neben Jerschow und beobachtete Keise und König. Die beiden Gestalten sahen wie aus Bronze gegossen aus.

Mostowskoi wankte, ihn schwindelte. Er deutete mit dem Finger in Keises Richtung und sagte zu Jerschow: »Was für ein Subjekt!«

»Ein klassischer Arier«, erwiderte Jerschow und fügte hinzu, aber so leise, dass Tschernezow, der in ihrer Nähe stand, es nicht hören konnte: »Na, bei uns gibt’s auch solche, weiß Gott.«

Als hätte er alles gehört, bemerkte Tschernezow: »Jedes Volk hat ein heiliges Recht auf Helden, Heilige und Schurken!«

Mostowskoi sagte, zu Jerschow gewandt, aber nicht nur für dessen Ohren bestimmt: »Natürlich gibt’s auch bei uns Schweine, aber so ein deutscher Gewohnheitsmörder hat doch was ganz Besonderes an sich, was nur ein Deutscher haben kann.«

Die Durchsuchung war zu Ende. Die Gefangenen durften auf ihre Pritschen zurückkehren.

Mostowskoi streckte sich auf seinem Lager aus. Da fiel ihm ein, dass er nicht geprüft hatte, ob seine Sachen noch vollständig waren. Ächzend stand er wieder auf und schaute nach. Bald schien der Schal zu fehlen, bald ein Fußlappen, aber beides fand sich wieder, und doch konnte er ein Gefühl der Unruhe nicht loswerden.

Kurz darauf kam Jerschow zu ihm und flüsterte ihm zu: »Der Kapo Nedselski schwatzt, sie wollen unseren Block auseinanderreißen. Ein Teil soll hier weiter bearbeitet werden, aber die meisten wollen sie ins allgemeine Lager schicken.«

»Na und«, erwiderte Mostowskoi, »ist mir doch egal.«

Jerschow setzte sich zu ihm auf die Pritsche und sagte leise und eindringlich: »Michail Sidorowitsch!«

Mostowskoi stützte sich auf dem Ellbogen ab und schaute ihn fragend an.

»Michail Sidorowitsch, ich habe mir eine ganz große Sache ausgedacht und werde Sie jetzt einweihen. Wenn schon sterben, dann zumindest mit Größe.« Er flüsterte, und Mostowskoi geriet bei seinen Worten in Erregung – eine frische Brise wehte ihn an.

»Die Zeit ist kostbar«, sagte Jerschow, »wenn jetzt die Deutschen tatsächlich Stalingrad einnehmen, dann verlieren die Leute wieder alle Energie. Man sieht’s an Kirillow.«

Jerschow schlug vor, einen Kampfbund der Kriegsgefangenen zu gründen. Er stellte aus dem Gedächtnis ein detailliertes Programm auf, so flüssig, als hätte er es gedruckt vor sich.

»… Herstellung von Disziplin und Einheit aller Sowjetmenschen im Lager, Vertreibung der Spitzel unter ihnen, Schädigung des Feindes, Gründung von Kampfkomitees unter den polnischen, französischen, jugoslawischen und tschechischen Häftlingen …«

Über die Pritschen hinweg in das Halbdunkel der Baracke hinein sagte er: »Es gibt da Leute aus der Waffenfabrik, die vertrauen mir; wir werden Waffen horten und den entscheidenden Schlag vorbereiten. Wir werden mit Dutzenden von Lagern Verbindung aufnehmen, die Verräter terrorisieren. Endziel ist der allgemeine Aufstand und ein geeintes freies Europa.«

»Ein geeintes freies Europa … ach, Jerschow, Jerschow.«

»Es ist mir ernst. Unser Gespräch ist der Anfang.«

»Ich mach mit«, sagte Mostowskoi und wiederholte kopfschüttelnd: »Ein freies Europa … Es gibt ja hier schon eine Komintern-Sektion, sie besteht aus zwei Mann, einer davon ist parteilos!«

»Sie sprechen doch Deutsch, Englisch und Französisch; wir können Tausende Beziehungen knüpfen«, erwiderte Jerschow. »Wozu noch eine Komintern – Lagerhäftlinge aller Länder, vereinigt euch!«

Michail Sidorowitsch schaute Jerschow fest an und sprach die längst vergessenen Worte: »Es ist der Wille des Volkes«,44 und er wunderte sich, dass ihm gerade diese Worte eingefallen waren.

Und Jerschow sagte: »Man muss Ossipow und Oberst Slatokrylez für unsere Sache gewinnen. Ossipow wäre sehr wichtig; aber er kann mich nicht leiden. Sprechen Sie mit ihm, und ich spreche heute noch mit dem Obersten. Wir werden eine Vierergruppe bilden.«

73

Major Jerschows Gehirn arbeitete Tag und Nacht auf Hochtouren.

Jerschow überdachte den Untergrundplan, der das ganze Lagerdeutschland einschloss, machte sich Gedanken über die Technik der Kommunikation der Untergrundorganisationen untereinander und prägte sich die Namen der Arbeits- und Konzentrationslager und der Bahnhöfe ein. Er dachte über die Schaffung eines Codes nach und darüber, wie man mit Hilfe der Leute in den Lagerkanzleien die Organisatoren des Widerstands in die Transportlisten einschleusen und sie auf diese Weise von einem Lager ins andere schaffen könnte.

In seinem Herzen aber hegte er einen Traum! Tausende von Untergrundagitatoren und Sabotagehelden mussten in Kleinarbeit die mit Waffengewalt durch die Aufständischen herbeizuführende Machtergreifung in den Lagern vorbereiten. Die aufständischen Lagerhäftlinge mussten sich der Verteidigungsartillerie, mit der die Lagerobjekte ausgerüstet waren, bemächtigen und sie in Panzerabwehr- und Infanterieabwehrkampfmittel umwandeln. Man musste Flakschützen ausfindig machen und die von den Sturmtrupps eroberten Waffen bereits im Vorhinein einkalkulieren.

Major Jerschow kannte das Lagerleben, kannte die Macht der Bestechung, der Angst, der Gier, sich den Bauch vollzuschlagen, sah, wie viele Männer ihre ehrlichen Feldblusen gegen die blauen Soldatenmäntel mit den Schulterstücken der Wlassow-Armee vertauschten. Niedergeschlagenheit sah er, Liebedienerei, Treuebruch und Unterwürfigkeit, er sah das Grauen vor dem Grauen, sah, wie die Leute vor den Entsetzen verbreitenden Beamten des Sicherheitsdienstes erstarrten.

Und dennoch waren die Gedanken des zerlumpten, in Gefangenschaft geratenen Majors keine Fantastereien. In der düsteren Zeit des zielstrebigen deutschen Vormarsches an der Ostfront hielt er seine Kameraden mit aufmunternden und anfeuernden Worten aufrecht und versuchte, die von Hungerödemen Befallenen davon zu überzeugen, dass sie um ihre Gesundheit kämpfen mussten. In ihm lebte eine heftige, unauslöschbare Verachtung der Gewalt.

Die Menschen spürten die fröhliche Wärme, die Jerschow ausstrahlte – eine so gute, lebensnotwendige Wärme, wie sie der russische Ofen ausstrahlt, in dem Birkenscheite brennen.

Wahrscheinlich war es diese gütige Wärme und nicht nur seine Intelligenz und sein Mut, die Major Jerschow befähigten, zum unangefochtenen Anführer der in Gefangenschaft geratenen sowjetischen Kommandeure zu werden.

Jerschow wusste längst, dass er als Erstes Mostowskoi seine Gedanken eröffnen würde. Mit offenen Augen lag er auf der Pritsche und starrte die schuppige Balkendecke an – eine Aussicht, vergleichbar mit dem Blick aus dem Sarg in das Innere des Deckels –, und sein Herz klopfte stürmisch.

Hier im Lager wurde er sich wie noch nie zuvor in den dreiunddreißig Jahren seines Lebens der eigenen Kraft bewusst.

Vor dem Krieg war es ihm nicht gutgegangen. Sein Vater, ein Bauer im Gouvernement Woronesch, war im Jahr 30 entkulakisiert worden. Damals diente Jerschow in der Armee.

Jerschow hatte die Verbindung zu seinem Vater nicht abreißen lassen. Er wurde nicht zur Kriegsakademie zugelassen, obwohl er das Aufnahmeexamen mit »Ausgezeichnet« bestanden hatte. Mit Mühe gelang es Jerschow, die Kriegsschule zu beenden. Dann wurde er in ein Kreis-Militärkommissariat versetzt. Sein Vater wurde damals mit der Familie in den Nordural zwangsumgesiedelt. Jerschow nahm Urlaub und besuchte den Vater. Von Swerdlowsk aus fuhr er zweihundert Kilometer mit der Kleinbahn. Zu beiden Seiten der Strecke zogen sich Wälder und Moore hin, Stapel von Rundholz, Stacheldraht, Baracken und Erdhütten. Die Wachttürme sahen wie Giftpilze auf hohen Stielen aus. Zweimal wurde der Zug angehalten – ein Wachkommando suchte nach einem entflohenen Häftling. Nachts stand der Zug auf einer Ausweichstelle, und Jerschow konnte nicht schlafen. Er hörte das Gebell der Schäferhunde der NKWD-Truppen, die Pfiffe der Posten – neben dem Bahnhof befand sich ein großes Lager.

Erst am dritten Tag traf Jerschow an der Endhaltestelle der Kleinbahn ein, und obwohl ihn seine Uniformjacke als Leutnant auswies, obwohl seine Papiere und Fahrscheine korrekt ausgefüllt waren, erwartete er stets, dass es bei den Kontrollen plötzlich hieß: »Na los, nimm deinen Sack« – und man ihn ins Lager bringen würde. Offenbar roch selbst die Luft in dieser Gegend irgendwie nach Stacheldraht.

Dann fuhr er siebzig Kilometer auf der Ladefläche eines vorbeikommenden Anderthalbtonners. Der Weg führte durch Sümpfe. Der Lkw gehörte der Sowchose, die nach dem Geheimdienst OGPU benannt war, dort arbeitete sein Vater. Auf dem Wagen war es eng – zwangsumgesiedelte Arbeiter fuhren zu einem Lager, wo sie Holz fällen sollten. Jerschow versuchte, sie auszufragen, aber sie waren einsilbig; offensichtlich hatten sie Angst vor seiner Militäruniform.

Gegen Abend traf der Wagen in einem kleinen Dorf ein, eingezwängt zwischen Wald und Moor. Jerschow erinnerte sich an den Sonnenuntergang, der in diesem nördlichen Lagermoor so still und unspektakulär gewesen war. Die Hütten sahen im Abendlicht vollkommen schwarz aus, wie in Pech gekocht.

Er betrat die Erdhütte, und bei seinem Eintritt fiel das Abendlicht hinein, feuchte, stickige Luft schlug ihm entgegen, es roch nach armseligen Speisen, nach armseligen Kleidungsstücken und Betten, rauchige Wärme umfing ihn.

Aus diesem Dunkel erhob sich der Vater, mageres Gesicht, schöne Augen, die Jerschow mit ihrem nicht zu beschreibenden Ausdruck verblüfften.

Die alten, knochigen, groben Hände umschlangen den Hals des Sohnes, und in dieser krampfhaften Bewegung lagen zaghafte Klage und ein solcher Schmerz, eine solche vertrauensvolle Bitte um Schutz, dass Jerschow nur eine Antwort darauf geben konnte – er fing an zu weinen.

Dann standen sie an drei Gräbern – die Mutter war im ersten Winter gestorben, die ältere Schwester, Anjuta, im zweiten, Marussja im dritten.

Der Friedhof in dem Lagergebiet verschmolz mit dem Dorf, dasselbe Moos überzog den Boden unter den Hütten und die Dächer der Erdhütten, die Grabhügel und Bulten. Und so würden die Mutter und die Schwestern unter diesem Himmel bleiben – im Winter, wenn der Frost die Feuchtigkeit ausfrieren lässt, und im Herbst, wenn die Friedhofserde aufquillt von der dunklen Jauche, die aus dem Moor kommt.

Der Vater stand neben dem schweigenden Sohn, er schwieg ebenfalls, dann hob er den Blick, sah den Sohn an und breitete hilflos die Arme aus: »Verzeiht mir, ihr Toten und ihr Lebenden; ich habe die Menschen, die ich liebte, nicht schützen können.«

Nachts erzählte der Vater. Er sprach ruhig, leise. Das, was ihm am Herzen lag, konnte er nur ruhig erzählen – mit Weinen, mit Tränen ließ es sich nicht aussprechen.

Auf einer mit einer Zeitung bedeckten Kiste lagen die Gastgeschenke, die der Sohn mitgebracht hatte, auch eine Halbliterflasche stand darauf. Der alte Mann redete, und der Sohn saß neben ihm und hörte zu.

Der Vater erzählte von der Hungersnot und vom Tod der Bekannten aus dem Dorf, von den wahnsinnig gewordenen alten Frauen und von den Kindern, deren Körper am Ende leichter waren als eine Balalaika, leichter als ein Hühnchen. Er erzählte, wie ihr Hungergeheul Tag und Nacht über dem Dorf erklungen war, er erzählte von den zugenagelten Hütten mit den erblindeten Fenstern.

Er erzählte dem Sohn von der fünfzigtägigen Fahrt in einem Güterwagen mit undichtem Dach, von den Toten, die in dem Zug viele Tage lang gemeinsam mit den Lebenden fuhren. Er erzählte, wie die Zwangsumgesiedelten zu Fuß gegangen waren und wie die Frauen die Kinder auf den Armen getragen hatten, Jerschows kranke Mutter hatte diesen Fußmarsch überlebt, sie hatte sich im Fieber vorwärts geschleppt, ihr Verstand war getrübt. Er erzählte, wie sie in den Winterwald geführt worden waren, wo es weder Erd- noch Laubhütten gab, und wie sie dort ein neues Leben begannen: Feuer entfachten, Schlafstellen aus Fichtenzweigen errichteten, Schnee in Kochgeschirren auftauten, die Toten beerdigten …

»Es war alles Stalins Wille«, sagte der Vater, und aus seinen Worten klang weder Gekränktsein noch Zorn – so sprechen einfache Menschen von dem mächtigen Schicksal, das keine Schwankungen kennt.

Jerschow war aus dem Urlaub zurückgekommen und hatte an Kalinin ein Gnadengesuch geschrieben, in dem er um das Ungeheure bat – einen Unschuldigen zu begnadigen, er bat, Kalinin möge dem alten Mann erlauben, zu seinem Sohn zu kommen. Aber sein Brief war noch nicht in Moskau eingetroffen, als Jerschow zu seinen Vorgesetzten befohlen wurde – gegen ihn lag eine Meldung vor, eine Denunziation wegen seiner Reise in den Ural.

Jerschow wurde aus der Armee entlassen. Er ging zum Bau; er hatte beschlossen, Geld zu verdienen und zu seinem Vater zu fahren. Aber schon bald traf ein Brief aus dem Ural ein – die Nachricht vom Tod des Vaters.

Am zweiten Tag nach Kriegsbeginn wurde der Leutnant der Reserve Jerschow eingezogen.

In der Schlacht bei Roslawl hatte er den gefallenen Regimentskommandeur ersetzt, die Flüchtigen gesammelt, auf den Gegner eingeschlagen, die Flussübergangsstelle zurückerobert und den Abzug der schweren Geschütze der Reserve des Oberkommandos gesichert.

Je größer die Bürde wurde, die auf seinen Schultern lastete, desto stärker wurden seine Schultern. Er hatte seine Kräfte selbst nicht gekannt. Unterwürfigkeit, so schien es, war seinem Wesen fremd. Je stärker die Gewalt wurde, umso grimmiger und herausfordernder drängte es ihn, sich zu schlagen.

Manchmal fragte er sich, weshalb ihm die Wlassow-Leute so verhasst waren. In den Wlassow’schen Aufrufen stand das, was sein Vater erzählt hatte. Er wusste schon, dass es die Wahrheit war. Doch er wusste auch, dass diese Wahrheit aus dem Mund der Deutschen und der Wlassow-Leute Lüge war.

Er fühlte es, es war ihm klar, dass er im Kampf gegen die Deutschen für ein freies russisches Leben kämpfte, dass der Sieg über Hitler auch ein Sieg über jene Lager werden würde, in denen seine Mutter, seine Schwestern und sein Vater umgekommen waren.

Jerschow empfand Kummer und Verbitterung – hier, wo die Personalakte eines Menschen keine Rolle spielte, entpuppte er sich als Kraft, folgte man ihm. Hier hatten weder hohe Ränge noch Orden, weder die Spezialabteilung noch die erste Abteilung,45 weder die Kaderverwaltung noch die Empfehlungskommission, weder ein Anruf aus dem Bezirkskomitee noch die Bekanntschaft mit dem Stellvertreter der politischen Abteilung Bedeutung.

Mostowskoi hatte einmal zu ihm gesagt: »Das hat schon Heinrich Heine festgestellt: ›Wenn wir es recht überdenken, so stecken wir doch alle nackt in unsern Kleidern.‹ Doch der eine enthüllt, wenn er die Uniform ablegt, einen kläglichen, blutarmen Körper; andere werden durch zu enge Kleidung entstellt, und erst wenn sie sie ausziehen, sieht man: Aha, da ist echte Kraft.«

Das, wovon Jerschow träumte, war zu einer Sache der unmittelbaren Gegenwart geworden, und er dachte nun über diese Sache auf neue Weise nach – wen sollte er einweihen, wen hinzuziehen? Im Geiste ging er die Leute durch, zog in Erwägung, was er Gutes und Schlechtes von ihnen wusste.

Wer sollte dem Untergrundstab angehören? Fünf Namen gingen ihm durch den Kopf. Kleine Alltagsschwächen und Absonderlichkeiten – alles zog an seinem inneren Auge vorbei; Unbedeutendes erlangte Gewicht.

Guds hatte die Autorität eines Generals, aber es fehlte ihm an Willenskraft, er war kleinmütig und anscheinend auch nicht gebildet; er war wahrscheinlich gut, wenn er einen klugen Stellvertreter im Stab hatte; er erwartete stets, dass ihm die anderen Offiziere zu Diensten waren, Gefälligkeiten erwiesen, und er nahm ihre Gefälligkeiten ohne Dankbarkeit als etwas, das ihm zustand, entgegen. Er dachte wohl öfter an seinen Koch als an seine Frau und seine Töchter, sprach viel von der Jagd – Enten, Gänse, Wildschweine und Ziegen; damit verband sich die Erinnerung an seinen Dienst im Kaukasus. Offenbar hatte er stark getrunken. Er war ein Angeber und redete oft über die Kämpfe im Jahr 1941 – ringsum waren alle im Unrecht, sowohl der Nachbar zur Linken als auch der zur Rechten; nur General Guds hatte immer recht. Dem Obersten Befehlshaber gab er niemals Schuld an den Misserfolgen. Was die praktischen Dinge des Lebens anbetraf, so war Guds außerordentlich schlau und gewitzt. Doch im Allgemeinen hätte Jerschow, wäre es nach seinem Willen gegangen, es General Guds nicht zugetraut, ein Regiment zu führen. Geschweige denn ein Korps.

Der Brigadekommissar Ossipow war ein kluger Mann. Er ließ plötzlich mit einem kleinen ironischen Lächeln eine Bemerkung darüber fallen, wie man sich vorgenommen habe, mit wenig Blutvergießen auf fremdem Territorium zu kämpfen,46 und lauerte auf die Reaktion des anderen. Eine Stunde später kanzelte er hochmütig und grausam einen ab, der an der Richtigkeit der Parteidoktrin zweifelte, und las ihm die Leviten. Am nächsten Tag aber zuckte er wieder mit den großen Nasenflügeln und lispelte: »Ja, Genossen, wir fliegen höher als alle, weiter als alle, schneller als alle – so sind wir halt reingeflogen.«

Für die militärischen Niederlagen in den ersten Kriegsmonaten hatte er kluge Erklärungen bereit, doch sie schienen ihn nicht zu berühren; er sprach gewissermaßen mit der berechnenden Kühle eines Schachspielers darüber.

Mit den Leuten redete er frei und ungezwungen, jedoch mit vorgetäuschter und nicht mit echter kameradschaftlicher Umgänglichkeit. Echtes Interesse brachte er nur in den Gesprächen mit Kotikow auf.

Was machte nur Kotikow für den Brigadekommissar so interessant?

Ossipow hatte einen ungeheuren Erfahrungsschatz und Menschenkenntnis. Diese Eigenschaften brauchte man unbedingt, ohne Ossipow kam man im Untergrundstab nicht aus. Doch seine Erfahrung konnte nicht nur förderlich sein, sondern auch hinderlich werden.

Zuweilen erzählte Ossipow komische Geschichten über herausragende militärische Persönlichkeiten und nannte sie »Sjoma Budjonny« oder »Andrjuscha Jeremenko«.

Einmal hatte er zu Jerschow gesagt: »Tuchatschewski, Jegorow und Blücher tragen ebenso wenig Schuld wie du und ich.«

Kirillow aber hatte Jerschow erzählt, dass Ossipow im Jahr ’37 stellvertretender Akademiedirektor gewesen sei; erbarmungslos habe er Dutzende von Leuten angeprangert und sie zu Volksfeinden erklärt.

Er hatte große Angst vor Krankheiten, tastete sich ab, streckte die Zunge heraus und schielte danach, ob sie auch nicht belegt war. Doch den Tod, das konnte man sehen, fürchtete er nicht.

Oberst Slatokrylez, ein Regimentskommandeur, war ein mürrischer Mann von schlichtem Gemüt. Er war der Meinung, dass der Oberste Befehlshaber am Rückzug im Jahr 1941 schuld sei. Seine kämpferische Stärke als Kommandeur und Soldat spürten alle. Er besaß große Körperkraft und eine starke Stimme: Nur mit solch einer Stimme konnte man Flüchtende aufhalten und zum Angriff anfeuern. Und er fluchte für sein Leben gern.

Lange Erklärungen mochte er nicht – er befahl einfach. Er war ein Kamerad, bereit, einem Soldaten aus seinem Napf Lagersuppe abzugeben. Doch er war schon wirklich sehr grob.

Die Leute spürten immer seinen Willen. Bei der Arbeit gab er den Ton an; er schrie, und niemand verweigerte den Gehorsam.

Man konnte ihm nichts weismachen, das ließ er gar nicht zu. Mit ihm konnte man etwas anfangen – doch er war eben sehr grob.

Kirillow – der war klüger, hatte jedoch etwas Labiles an sich. Er bemerkte jede Kleinigkeit und blickte alle mit müden, halbgeschlossenen Augen an. Gleichgültig war er, mochte die Menschen nicht, doch er verzieh ihnen Schwäche und Gemeinheit. Den Tod fürchtete er nicht, hatte sogar zuweilen Sehnsucht nach ihm.

Über den Rückzug äußerte er sich allerdings scharfsinniger als alle Kommandeure. Er, ein Parteiloser, hatte einmal gesagt: »Ich glaube nicht, dass die Kommunisten die Menschen besser machen können. Das hat es in der ganzen Geschichte noch nicht gegeben.«

Er tat so, als sei ihm alles gleich, doch nachts weinte er auf seiner Pritsche; auf Jerschows Frage hatte er lange geschwiegen und dann leise geantwortet: »Ich weine um Russland.« Aber er hatte auch etwas Weiches an sich. Einmal hatte er gesagt: »Ach, was sehne ich mich nach Musik!« Und gestern hatte er mit einem seltsamen Lächeln gesagt: »Jerschow, hören Sie mal zu, ich lese Ihnen ein paar Verszeilen vor.« Jerschow mochte eigentlich keine Gedichte, doch dieses behielt er. Es setzte sich in seinem Gedächtnis fest:

»Mein Kamerad, in deinem Todeskampf

ruf keinen Menschen dir zu Hilfe.

Lass mich lieber die Hände wärmen,

Über dem Dampfe deines Bluts.

Und wein nicht, wie ein Kind, vor Angst!

Du bist nicht verwundet, bist nur tot.

Lieber nehm ich dir deine Filzstiefel ab,

denn morgen muss ich wieder kämpfen.«

Hatte er das etwa selbst geschrieben?

Nein, nein, Kirillow eignete sich nicht für den Stab. Wie wollte er andere Menschen bei der Stange halten, wenn er sich selbst kaum aufrecht hielt!

Da war Mostowskoi! Er verfügte sowohl über eine breite Bildung, über die man nur staunen konnte, als auch über einen eisernen Willen. Es hieß, dass er bei Verhören unbeugsam blieb.

Doch wie merkwürdig – es gab keinen, an dem Jerschow nicht Irgendetwas auszusetzen hatte.

Neulich hatte er Mostowskoi vorgeworfen: »Michail Sidorowitsch, weshalb lassen Sie sich nur mit diesem Gesindel auf Gespräche ein, mit diesem verrückten Ikonnikow-Morsch und diesem einäugigen Emigranten da?«

Mostowskoi hatte ironisch gesagt: »Sie glauben wohl, ich sei wankelmütig und würde vielleicht noch Evangelist oder gar Menschewik werden?«

»Weiß der Teufel, was für Typen das sind«, hatte Jerschow erwidert. »Fass keine Scheiße an, dann stinkst du nicht. Dieser Morsch hat in unseren Lagern gesessen. Jetzt schleppen ihn die Deutschen zum Verhör. Sich selbst wird er verkaufen und Sie und die, die sich bei Ihnen einschmeicheln.«

Aus alldem ergab sich folgender Schluss – für die Untergrundarbeit gab es keine idealen Leute. Bei jedem musste man Stärken und Schwächen gegeneinander abwägen. Das war nicht schwer. Doch nur aus der gründlichen Kenntnis eines Menschen heraus konnte man entscheiden, ob er zu etwas taugte oder nicht. Diesen Wesensgrund ermessen, das konnte man nicht. Den konnte man nur erahnen und erfühlen. So begann er also bei Mostowskoi.

74

Schwer atmend kam Generalmajor Guds zu Mostowskoi. Er schlurfte, ächzte, schob die Unterlippe vor, die braunen Hautfalten an seinem Hals und auf seinen Wangen flatterten – alle diese Bewegungen und Gesten aus der Zeit seiner gewaltigen Körperfülle hatte er beibehalten; all dies wirkte bei seiner jetzigen Hinfälligkeit eher komisch.

»Lieber Vater«, sagte er zu Mostowskoi, »wenn ich, ein Grünschnabel, an Ihnen Kritik üben wollte, wäre es das Gleiche, als wollte ein Major einen Generalobersten belehren. Ich sag’s dennoch ganz offen: Es war unbesonnen von Ihnen, mit diesem Jerschow einen Bruderschaftspakt zwischen den Völkern zu schließen – er ist ein völlig undurchschaubarer Mensch. Ohne militärische Kenntnisse. Obwohl er auf dem geistigen Niveau eines Leutnants steht, will er hoch hinaus, will selbst kommandieren und maßt sich an, einen Obersten zu belehren. Man muss ihm gegenüber vorsichtig sein.«

»Sie faseln blanken Unsinn, Exzellenz«, sagte Mostowskoi.

»Unsinn, natürlich«, meinte Guds ächzend. »Natürlich Unsinn. Man hat mir berichtet, dass in der allgemeinen Baracke gestern zwölf Personen in diese lächerliche russische Befreiungsarmee eingetreten sind. Man bedenke nur, wie viele davon Kulaken sind. Ich sage Ihnen nicht nur meine persönliche Meinung, sondern bin auch von einem bevollmächtigt worden, der politische Erfahrung hat.«

»Ist das nicht zufällig Ossipow?«, fragte Mostowskoi.

»Und wenn’s so wäre. Sie sind ein Mann der Theorie, Sie verstehen nicht, was hier gespielt wird.«

»Eine seltsame Unterhaltung haben Sie da eingefädelt«, sagte Mostowskoi. »Es kommt mir langsam so vor, als bliebe hier von den Menschen nichts anderes übrig als nur der Argwohn. Wer hätte das vorausahnen können!«

Guds lauschte, wie die Bronchitis in seiner Brust schnarrte und gluckste, und meinte deprimiert: »Ich werde die Freiheit nicht wiedersehen, nein, niemals wieder.«

Mostowskoi schlug sich, ihm nachblickend, mit einer ausholenden Bewegung auf die Knie – plötzlich hatte er begriffen, weshalb er nach der Untersuchung so nervös gewesen war: Die Papiere, die ihm lkonnikow gegeben hatte, waren verschwunden.

»Was, zum Teufel, hat er da geschrieben? Vielleicht hat Jerschow recht, und dieser armselige lkonnikow hat sich für eine Provokation hergegeben und mir diese paar Seiten heimlich untergeschmuggelt. Was hat er da bloß geschrieben?«

Er ging zu Ikonnikows Pritsche hinüber. Doch von lkonnikow war nichts zu sehen, und auch die Nachbarn wussten nicht, wo er steckte. Aufgrund all dieser Umstände – des Verschwindens der Papiere, der leeren Pritsche Ikonnikows – wurde ihm plötzlich klar, dass es falsch von ihm gewesen war, sich mit dem närrischen Gottessucher auf Gespräche einzulassen.

Mit Tschernezow diskutierte er, doch hatte es natürlich nicht viel Sinn; was waren das schon für Diskussionen? Der Gottesnarr hatte Mostowskoi ja in Gegenwart Tschernezows die Papiere übergeben, es gab also einen Denunzianten und einen Zeugen.

Sein Leben wurde noch für die Sache, für den Kampf gebraucht, er aber konnte es sinnlos verlieren.

»Alter Dummkopf, da hast du dich mit dem Abschaum abgegeben und dir den Tag um die Ohren geschlagen, anstatt dich mit der Sache der Revolution zu befassen«, dachte er, und das bittere Gefühl in ihm wurde immer stärker.

Im Waschraum stieß er auf Ossipow. Der Brigadekommissar wusch im trüben Licht der spärlichen Elektrizität seine Fußlappen über der Blechrinne aus.

»Gut, dass ich Sie hier treffe«, sagte Mostowskoi. »Ich muss mit Ihnen sprechen …«

Ossipow nickte, blickte sich um und trocknete die nassen Hände an den Hüften ab. Sie setzten sich auf den zementierten Mauervorsprung.

»Das habe ich mir gleich gedacht: ein Hansdampf in allen Gassen«, sagte Ossipow, als Mostowskoi ihm von Jerschow berichtet hatte.

Er strich mit seinem feuchten Handteller über Mostowskois Handrücken.

»Genosse Mostowskoi«, sagte er, »ich bewundere Ihre Entschlossenheit. Sie sind ein Bolschewik aus Lenins Kohorte; das Alter existiert für Sie nicht. Sie werden uns alle mit Ihrem Beispiel stützen.«

Gedämpft fuhr er fort:

»Genosse Mostowskoi, unser Kampfbund ist schon gegründet. Wir hatten beschlossen, Ihnen einstweilen nichts davon zu sagen, weil wir Ihr Leben schonen wollten, doch für einen Waffenbruder Lenins gibt es offenbar kein Alter. Ich sage es Ihnen ganz offen: Jerschow können wir nicht vertrauen. Wie sagt man so schön? Die Daten über seine Person sind denkbar schlecht: ein Kulak, durch Repressalien verbittert. Wir sind jedoch Realisten. Vorläufig kommen wir ohne ihn nicht aus. Er hat sich eine billige Beliebtheit erworben. Das müssen wir berücksichtigen. Sie wissen besser als ich, dass die Partei derartige Leute in gewissen Zeitabschnitten zu benutzen wusste. Doch Sie müssen unsere Ansicht über ihn kennen: ›insofern als …‹ und ›bis zu einer gegebenen Zeit…‹ usw.«

»Genosse Ossipow, Jerschow kommt ans Ziel, ich zweifle nicht an ihm.«

Man hörte die Wassertropfen auf den Zementboden fallen.

»Also gut, Genosse Mostowskoi«, sagte Ossipow langsam, »Wir haben keine Geheimnisse vor Ihnen. Es gibt hier einen Genossen, der aus Moskau eingeschleust worden ist. Ich kann seinen Namen nennen – Kotikow. Nicht nur ich, auch er vertritt die gleiche Ansicht über Jerschow. Seine Direktiven sind für uns alle, die wir Kommunisten sind, Gesetz – Befehl der Partei, Befehl Stalins unter außergewöhnlichen Bedingungen. Doch wir werden mit diesem Ihrem Patenkind, dem Meister der Gedanken, arbeiten; wir haben es beschlossen und werden es auch tun. Wichtig ist nur eins: dass wir Realisten und Dialektiker bleiben. Aber es steht uns ja nicht an, Sie zu belehren.«

Mostowskoi schwieg. Ossipow umarmte ihn und küsste ihn dreimal auf die Lippen. In seinen Augen glitzerten Tränen.

»Ich küsse Sie wie meinen eigenen Vater«, sagte er. »Ich würde Sie gerne bekreuzigen, wie mich meine Mutter bekreuzigt hat, als ich Kind war.«

Und Michail Sidorowitsch spürte, wie sich das unerträglich quälende Gefühl, dessen Ursache die Vertracktheit des Lebens war, verflüchtigte. Wie in seiner Jugend erschien ihm die Welt wieder klar und einfach; sie gliederte sich auf in Freunde und Feinde, Eigene und Fremde.

In der Nacht kamen SS-Leute in die Sonderbaracke und führten sechs Personen ab. Unter ihnen war Michail Sidorowitsch Mostowskoi.