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Das Problem ist, daß ich so gut wie keine Lokale kenne, weder angenehme noch unangenehme, weder teure noch billige, weder deutsche noch ausländische. Lokalbesuche gehörten in den Jahren mit Lisa nicht zu unseren Gewohnheiten. Jetzt soll ich/muß ich ein sowohl freundliches als auch gutes und nicht zu teures Restaurant finden. Susanne hat am Nachmittag angerufen, sie will heute von mir abgeholt werden und dann mit mir essen gehen. Natürlich habe ich nicht gesagt, daß ich mich in der Lokal-Szene nicht auskenne, sie hätte es mir wahrscheinlich sowieso nicht geglaubt. Ich habe mich frühzeitig auf den Weg gemacht, habe aber immer noch kein geeignetes Restaurant gefunden, das ich Susanne später wie selbstverständlich vorschlagen werde. Ich merke nur, daß mir die Aufgabe nicht das geringste Vergnügen macht, im Gegenteil, es gibt kaum etwas, was mir noch gleichgültiger ist als Restaurants. Dennoch schaue ich schon wieder in das Innere eines italienischen Lokals namens VERDI, das ich für passend halte, wenn ich einmal vom Namen absehe. Nicht weit vom VERDI entfernt befindet sich das MYKONOS, ein Grieche, den ich ausnahmsweise kenne, der wegen starker Musikbeschallung jedoch nicht in Frage kommt. Nach welchen Merkmalen soll man ein Restaurant aussuchen? Für mich ist ein Lokal schon fast annehmbar, wenn es nicht überfüllt ist; ich bin bereit, dafür ein nicht ganz so ausgezeichnetes Essen hinzunehmen. Dieses Kriterium wird Susanne vermutlich nicht teilen. Ich öffne die Tür eines thailändischen Restaurants, sofort schlägt mir süßliche Klingel-Klangel-Musik entgegen. Guter Gott! Die tiefstehende Abendsonne macht allen Menschen gelbe Gesichter. Mir gefallen ein paar Kinder, die mit erfundenen Erlebnissen prahlen. Wie heftig sie schon jetzt gegen Enttäuschungen anreden! In einer Nebenstraße sitzt eine Mutter in einem Auto und stillt ein Baby. Figurlos gewordene Frauen, in weite Gewänder gewickelt, huschen vorüber. Ein Mann zieht zwei himmelblaue Kunststoff-Krücken aus einem Auto und humpelt dann weg. Flüchtig denke ich an Lisa. Es scheint, ich habe sie vergessen. Nein, das stimmt so nicht. Im Gegenteil, ich denke jeden Tag mehrmals an sie, aber es macht mir nichts mehr aus, daß ich sie nicht mehr sehe. Wie lange wird es dauern, daß mir die Erinnerung an ihr Gesicht und an ihre Stimme verlorengeht? Gerade will ich in das Schaufenster eines spanischen Restaurants hineinsehen, da entdecke ich Himmelsbach. In seiner Begleitung Margot. Also doch! Himmelsbach trägt seine fast schon glitschig gewordene Lederjacke und redet auf Margot ein. An seinem Hals baumelt ein Fotoapparat. Er träumt immer noch seinen Fotografentraum und redet über ihn. Zwischendurch deutet er mit dem Zeigefinger auf die Kamera und nimmt sie kurz in die Hand. Das spanische Lokal heißt EL BURRO und erscheint passabel, jedenfalls von außen und auf den ersten Blick. Himmelsbach und Margot reden jetzt gleichzeitig und schauen während des Gehens und Redens auf den Boden. Ich werde ein wenig schwach in den Knien und habe das Bedürfnis, mich hinzusetzen. Aber ich darf mich jetzt nicht hinsetzen, ich muß Margot und Himmelsbach im Auge behalten. Wieso werde ich schwach in den Knien? Es wäre mir lieber, ich würde im Kopf schwach werden, dann könnte ich vielleicht aufhören zu denken. So aber stelle ich mir jetzt die Frage, wie ich Himmelsbach sagen soll, daß er beim Generalanzeiger nicht mehr ankommt. Und wie soll ich seinen Verdacht zerstreuen, ich hätte an seiner Zurückweisung mitgewirkt? Wahrscheinlich werde ich so tun, als hätte ich vergessen, was er mir aufgetragen hat. Dann wird er mich für einen faulen Hausschuh halten und nicht mehr mit mir reden wollen. Mit diesem Ergebnis kann ich nur zufrieden sein. Wieso aber empfinde ich dann Schuld, daß aus Himmelsbach nichts wird? Außerdem ärgert mich, daß sich ein leichtes Rivalitätsgefühl in mir ausbreitet. Es ist, glaube ich, für mich das erste Mal, daß mir eine Frau sozusagen bei schwebendem Verfahren sozusagen weggenommen wird oder entgleitet. Gut, ich habe mich nicht weiter um Margot gekümmert. Ich hätte ihr zeigen müssen, daß ich mich für sie auch außerhalb des Friseur- Salons interessiere. Die entsetzliche Wahrheit ist, daß ich mich für sie außerhalb des Friseur-Salons kaum interessiere. Aber warum schmerzt mich dann ihr Anblick? Und warum möchte ich nicht, daß sie einem Typ wie Himmelsbach in die Hände fällt? Ein zischendes und pfeifendes Schienenreinigungsfahrzeug ruckelt vorüber und verhindert, daß mich meine eigenen Fragen weiter verfolgen. Himmelsbach legt während des Gehens seinen rechten Arm auf Margots Schultern und läßt seine Hand nach vorne baumeln. Ich hole ein wenig auf, weil ich sehen will, was Himmelsbach mit seiner baumelnden Hand macht und wie Margot auf sie reagiert. Es dauert nicht lange, dann läßt Himmelsbach seine Hand so pendeln, daß sie Margots Busen dann und wann berührt. Margot windet ihren Körper nicht aus der Umarmung heraus. Offenbar hat sie gegen die Berührungen nichts einzuwenden. Diese Entwicklung wirkt sich günstig auf mein Rivalitätsempfinden aus. Wegen seiner schülerhaften Annäherung tut mir Himmelsbach plötzlich leid. Seine Berührungen von Margots Busen sehen so aus (sollen so aussehen), als geschähen sie aus Versehen. Es ist unglaublich! Himmelsbach benimmt sich wie ein Sechzehnjähriger! Immer wieder streift Himmelsbachs Hand wie zufällig Margots Brustspitze. Genauso habe ich mich mit siebzehn der gleichaltrigen Judith genähert. Die Abstände zwischen Himmelsbachs Berührungen werden immer kürzer, bis seine rechte Hand einmal flüchtig fast vollständig Margots rechte Brust umfaßt und Margot über das Ergebnis der Annäherung weder erschrickt noch verwundert scheint. Es ist nicht zu glauben! Der ungefähr zweiundvierzigjährige Himmelsbach nähert sich der kaum jüngeren Margot, indem er die schimmeligen Tricks der Pubertät wiederholt.
In meinem Inneren mache ich ihn deswegen endgültig zu einer grotesken Figur. Wenn ich mich nicht täusche, fällt es mir jetzt nicht schwer, Margot aufzugeben. In meinem Denken läuft ein sonderbarer Handel ab. Himmelsbach hat mir, ohne es zu wollen, beim Generalanzeiger wieder zu einer Arbeit verholfen. Zum Ausgleich überlasse ich ihm dafür kampflos eine Frau. Mit dem Schmerz, den ich beim Verlust empfinde, bezahle ich die Schuld, daß ich bei der Vermittlung von Himmelsbach nicht erfolgreich war. Ist es so? Aber ich empfinde auch Schuld darüber, daß ich selbst bei Messerschmidt Glück (Erfolg) habe oder haben werde. Diese sonderbare Schuld ist unverständlich und gleichzeitig am unerbittlichsten. Es kann freilich auch ganz anders sein (Möglichkeit II): Weil Himmelsbach durch meine Schuld nie erfährt, daß er beim Generalanzeiger nichts mehr zu bestellen hat, übertrage ich ihm auch die Schuld dafür, daß ich selbst beim Generalanzeiger erfolgreich bin; denn wo einmal Schuld ist, wird sich auch künftig neue Schuld sammeln. Möglichkeit III sieht ganz abgelegen aus, was eine Täuschung sein kann: In Wahrheit suchen Himmelsbach und ich schon seit langer Zeit einen körperlichen Kontakt, der durch die ahnungslose Mithilfe von Margots Körper endlich zustande gekommen ist; indem wir beide mit Margot verkehrt haben, sind wir uns zum ersten Mal nahe gekommen. Möglichkeit IV erschüttert mich persönlich am meisten; danach macht meine Übernähe zu Himmelsbach nur deutlich, daß das ganze Leben ein pausenloses gegenseitiges Sichaufdrängen ist, eine Peinlichkeitsverdichtung ohne Beispiel. Plötzlich werde ich wieder schwach in den Knien. Ich habe ja von Anfang an gesagt, daß die Kräfte meiner Knie (von denen meines Kopfes ganz zu schweigen) nicht hinreichen, Ordnung in diese schwierigen Probleme zu bringen. Zum Glück habe ich meine Jacke nicht dabei. Sonst würde mich die niemals zu genehmigende Merkwürdigkeit des Lebens jetzt zwingen, die Jacke in irgendein Gestrüpp oder Geröll zu werfen und sie zwei Tage lang stumm anzuschauen. Während meiner inneren Erörterungen habe ich zum Glück Himmelsbach und Margot aus dem Blick verloren. Für Augenblicke überlege ich, ob ich wegen Himmelsbach die Stadt verlassen soll. Die Lächerlichkeit dieser Überlegung macht mich noch schwächer. Der gelbe Himmel nimmt langsam die Farbe von Orangen an. Bis zu meiner Verabredung mit Susanne habe ich noch mehr als eine Stunde Zeit. Ich will auf keinen Fall die ganze Zeit über nachdenken. Offenbar habe ich mich getäuscht. Es lief in meinem Inneren überhaupt kein Handel ab, sondern eine allmähliche Niederbeugung. Aber was ist denn niedergebeugt worden und wodurch genau? Guter Gott, jetzt gehen diese Fragen schon wieder los. Da kommt mir der Anblick eines etwa zehnjährigen Jungen zu Hilfe. Er betritt den Balkon eines Hauses in einer Seitenstraße und läßt eine an einer langen Schnur befestigte Kleiderbürste die Balkonbrüstung hinunterhängen. Eine Weile schwingt er die Bürste hin und her, dann hält er die Schnur an und wartet, bis die Bürste reglos hängt. Ich setze mich auf den Sockel einer Schaufensteranlage und betrachte die Bürste, die sich jetzt ganz langsam um sich selbst dreht. Der Junge tritt zurück in die Wohnung und schließt die Balkontür. Kurz darauf erscheint im Gardinenschlitz eines seitlich gelegenen Fensters das Gesicht des Jungen. Von dort betrachtet er die still hängende Kleiderbürste. Ich möchte so gleichmütig und ausgeglichen sein wie eine Bürste und dann wohlwollend von mir selber betrachtet werden. Ein paar Sekunden später muß ich über den vorigen Satz lachen. In Wahrheit bin ich dem Satz gleichzeitig dankbar. Er ist nur das Zeichen, daß ich mich habe beruhigen können. Ich glaube jetzt sogar, daß Teile der Ausgeglichenheit der Bürste auf mich selber übergehen. Ich rege mich im Augenblick nicht mehr darüber auf, daß ich nicht alles verstehe. Der orangefarbene Himmel wechselt erneut die Farbe. Über die Dachfirste schiebt sich ein Altrosa, das in der Höhe malvenfarbig wird. Ein leichter, kaum merklicher Wind schaukelt die Bürste hin und her. Auch dieses zu nichts führende Schaukeln würde ich gerne in mich aufnehmen. Ich halte es jetzt für meine Würde, daß ich nicht alles verstehe. Nach einer Dreiviertelstunde habe ich das Gefühl, daß die Kleiderbürste in meinem Körperinneren hin- und herschaukelt.
Susanne hatte leider nicht die Möglichkeit, die letzte Stunde in der Nähe einer sanft schaukelnden Kleiderbürste zu verbringen. Sie ist nervös, leer, abgekämpft. Wir gehen ins VERDI. Die Küche gilt als hundertprozentig, das Lokal ist fast voll. Zum Glück gibt es keine Musik, das Licht ist gedämpft. Eine Weile sehe ich den Leuten dabei zu, wie sie sich fortlaufend herrichten, wie sie sich den Mund abwischen, wie sie sich die Hosen und Röcke hochziehen und sich die Frisuren zurechtrücken. Susanne bestellt eine Hühnerbrust mit einer Estragon-Senf-Sauce, ich entscheide mich für eine Focaccia mit Salbei. Susanne geht dazu über, die Leute ringsum zu verdächtigen oder still zu beschimpfen.
Ich kann heute keine unzufriedenen Gesichter um mich sehen, sagt Susanne, die machen mich nur aggressiv und wütend.
Susanne kann nicht einmal ertragen, daß der Löffel in der Salatschüssel auf sie zeigt. Ich rechne damit, daß sie sich bald über das falsche Leben beklagt, in dem sie schon so lange steckt, und mir die Geschichte von der Schauspielerei erzählt, die sie schon so lange unterdrückt. Wenn Lisa so verdrießlich war, dann wußte ich, daß sie in Kürze ihre Tage haben würde und dicht an der Weinerlichkeitsgrenze lebte. Das Wort Weinerlichkeitsgrenze hat Lisa erfunden. Ich würde es jetzt gerne wieder verwenden und Susanne direkt fragen: Befindest du dich an der Weinerlichkeitsgrenze? Vermutlich würde sich Susanne freuen, wie genau ich ihre Situation erkannt hätte. Der Kellner bringt die Hühnerbrust für Susanne und für mich die Focaccia. Viel zu hastig machen wir uns darüber her. Aber nach einer Weile wäre Susanne noch mehr verstimmt, weil sie natürlich ahnen würde, daß nicht ich das Wort Weinerlichkeitsgrenze erfunden hätte. Ich wäre eingeschüchtert und würde zugeben, daß das Wort zu den paar Sachen gehört, die mir von Lisa geblieben sind (außer dem Geld, das ich nicht erwähnen würde). Dann würde ich darüber reden, wie elend es ist, daß ich immer dann, wenn ich einen Menschen halbwegs verstehe, mich an einen anderen Menschen erinnern muß, den ich zuvor gekannt habe. Ich habe erst sehr spät anerkannt, daß die Menschen einander stark ähneln. Zuvor hatte ich lange Zeit geglaubt, sie seien sehr verschieden. Dabei war damals nur das Wort Weinerlichkeitsgrenze gut, nicht seine Wirkung. Es schob sich vor vieles, was Lisa mir hätte sagen können, wenn mich das Wort nicht so stark beeindruckt und abgelenkt hätte. Weinerlichkeitsgrenze! rief ich immer wieder und lachte dabei und merkte nicht, wie Lisa von ihrem eigenen Wort zum Schweigen gebracht wurde, jedenfalls oft.
Obwohl ich von den Leuten hier niemand kenne, sagt Susanne, habe ich das Gefühl, erst gestern mit ihnen in irgendeiner Gemeinschaftsküche gefrühstückt zu haben.
Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Die Stimmung zwischen Susanne und mir gefällt mir nicht recht. Um sie zu verbessern, erzähle ich Susanne von einer Phantasie, die ich zu der Zeit hatte, als ich ihr kitschige Briefe schrieb.
Damals habe ich mir oft vorgestellt, wenn ich eines Abends nach Hause komme, sitzt du vor meiner Wohnungstür.
Hättest du mich reingelassen?
Es war eine Phantasie, nichts weiter.
Du hättest mich also nicht reingelassen?
Natürlich hätte ich. An manchen Abenden habe ich so sehr damit gerechnet, dich vor meiner Tür zu finden, daß ich vor Erregung feuchte Augen hatte.
Vor Erregung oder vor Erwartung?
Das habe ich damals nicht feststellen können.
Wir lachen.
Wenn ich feuchte Augen hatte, konnte ich nicht mehr denken, jedenfalls war das damals so.
Klar. Und heute?
Heute habe ich keine Phantasien mehr.
Ist das dein Ernst?
Ja. Meine Phantasien sind irgendwann abgestorben.
Das glaube ich nicht, sagt Susanne; wahrscheinlich bist du so sehr mit deinen Phantasien verwachsen, daß sie dir gar nicht mehr auffallen.
In diesem Augenblick wird die Musikbeschallung des Restaurants eingeschaltet. Das ist kein gutes Zeichen für den weiteren Fortgang dieses Abends. Susanne schnauft und schiebt den Rest ihres Huhns in die Mitte des Tischs. Vermutlich hätte ich mich vergewissern müssen, daß wir uns in einem Lokal ohne Musik befinden. Susanne schaut umher. Eine Weile sagen wir nichts zueinander.
Sieh dir die Frauen an, sagt Susanne; wie zwiespältig sie aussehen! Der Blick auf ihren Busen ist zwar anspornend, aber schau dir die traurigen Gesichter darüber an! Der Blick! Die bitteren Lippen! Und schon ist klar, daß die Freude an ihren Busen nicht groß sein wird.
Ich überlege, ob ich einen Nachtisch bestellen soll, aber dann frage ich: Sollen wir gehen?
Unseren Wein trinken wir noch aus, sagt Susanne.
Ein Kellner hat sofort bemerkt, daß wir gehen wollen. Er kommt herbei und legt die Rechnung auf den Tischrand.
Würdest du heute nacht bei mir bleiben?
Wenn du mich aushältst, sage ich.
Ich wollte fragen, ob du mich aushältst.
Wir lachen.
Du müßtest aber eine Aufgabe erledigen, sagt Susanne.
Ich warte.
Ich wache leider oft auf, sagt Susanne, jedenfalls zur Zeit, weil ich ein bißchen überdreht und flatterig bin. Ich werde oft das Licht anmachen und im Taschenspiegel meine wehe Zunge betrachten, ich werde Panik kriegen vor Krebs und Eierstock und Pipapo. In meinem Nachtschränkchen liegt eine halbe Tafel Schokolade, und wenn ich zuviel rede, dann mußt du mir ein kleines Stück Schokolade in den Mund schieben und meinen Kopf sanft in die Kissen drücken. Dann werde ich mit langsam im Mund zerfließender Schokolade wieder einschlafen können.
Ich übernehme den Auftrag, sage ich.
Erst in ihrem Schlafzimmer fragt mich Susanne, ob mir ihr Kleid gefällt. Sie trägt eine stilisierte Fliegermontur aus hellgrauer, leichter Naturfaser mit quer aufgesetzten Reißverschlüssen, die den ganzen Abend halb geöffnet sind. Darunter leuchtet eine zitronengelbe Bluse, in deren Ausschnitt eine Halskette mit kindlich kleinen Perlen sichtbar ist. Unterhalb ihrer Augen hatte Susanne ein wenig Goldstaub aufgetragen, den sie sich jetzt abwischt. Auch die pyramidenförmigen Ohrclips entfernt sie.
Ich bin ratlos, sage ich wahrheitsgemäß; damit meine Antwort nicht allzu enttäuschend klingt, setze ich hinzu: Im allgemeinen überschätzen Frauen die Wirkung ihrer Kleider, jedenfalls auf die Männer. Den meisten Männern ist es nicht wichtig, wie Frauen angezogen sind.
Gehörst du zu diesen Männern?
Ich fürchte.
Aus ihrem Nachtschränkchen holt sie eine halbe Tafel Schokolade heraus und legt sie auf die andere Seite des Bettes. Außerdem eine Schachtel mit Zündhölzern. Sie entzündet nacheinander sechs Kerzen, die in einem hohen Kerzenständer auf einer Kommode stehen.
Ich kriege manchmal von der Inhaberin einer Boutique, in der ich oft einkaufe, eine Bluse oder ein Kleid geschenkt, das die Inhaberin zwei- oder dreimal selbst getragen hat und dann nicht mehr verkaufen will.
Ahh so, mache ich zerstreut.
Ich sehe, du interessierst dich wirklich nicht für Kleidung.
Muß ich mich dafür entschuldigen?
Susanne lacht und stellt den Leuchter mit den Kerzen noch etwas weiter weg. Auf dem Grund einer Obstschale, die zur Hälfte mit Orangen und Äpfeln gefüllt ist, sehe ich ein Röllchen mit Kopfschmerztabletten liegen und denke nur: Ja, klar, natürlich.
Glaub nicht, daß ich verkitscht bin und bei Kerzenschein geliebt werden möchte, sagt Susanne; der Grund ist einfacher: Ich möchte nicht zu genau angeschaut werden.
Ach Gott, antworte ich, auch dieses Problem wird von den Frauen überschätzt.
Ich glaube, du willst mich nur beruhigen, sagt Susanne.
Mich selber auch.
Im Kern ist Susanne vermutlich melancholisch, deswegen können wir zusammen sprechen und verstehen uns einigermaßen. Obwohl mir bisher nicht klargeworden ist, ob Susanne von ihrer Melancholie weiß. Die Materialkulte um sie herum (zuviel Klamotten, zuviel Unterhaltung, zuviel Sinnsuche, zuviel Dekoration) deuten eher auf ein Nichtwissen hin.
Du mußt dich trauen, langweilig zu sein, sage ich.
Warum?
Es ist nicht möglich, die Langeweile der Liebe auf Dauer zu leugnen.
Das kann ich mir nicht leisten, sagt Susanne.
Was hindert dich?
Ich kämpfe sowieso schon mein halbes Leben lang gegen die Vorstellung, daß ich gar nicht da bin.
Die langweiligen Frauen bringen es am weitesten; ihre Liebe ist dauerhaft und tief, sage ich.
Susanne legt zwei Orangen und einen Apfel neben den Kerzenständer.
Willst du eine Orange essen? frage ich.
Nein, ich will nur deutlich das Obst sehen, wenn ich im Bett liege, sonst beschleicht mich nach einer Weile das Gefühl, ich liege in einer Totenhalle.
Du denkst zuviel, sage ich.
Klar, sagt Susanne, du etwa nicht?
Wir lachen und küssen uns. Dann setzt sie sich mit nackten Beinen auf den Bettrand und fragt: Kannst du mich einmal sehr kritisch anschauen?
Ich setze mich auf den einzigen Stuhl und betrachte Susanne. Ein bißchen fürchte ich mich davor, daß für eine Frau wie Susanne auch die Sexualität schick sein muß, genau wie das Essen und die Restaurants und die Kleidung und das Wochenende.
Und? fragt Susanne.
Was und?
Fällt dir irgend etwas auf?
Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.
Dann schau mich genau an.
Ich schaue Susanne so präzise und untersuchend an, wie es mir kurz nach dreiundzwanzig Uhr möglich ist.
Siehst du nicht, sagt Susanne, daß mir unterhalb der Knie noch ein paar weitere Knie nachgewachsen sind?
Ich schweige und betrachte Susannes Knie.
Am Anfang waren es nur undeutliche, knollenartige Erhebungen, sagt Susanne, ich habe geglaubt, die gehen nach einiger Zeit wieder weg. Von wegen! Sie wurden größer und runden sich immer mehr, und jetzt sieht es aus, als hätte ich an jedem Bein zwei Knie. Ich habe Beine wie eine alte Frau!
Susanne drückt an ihren Beinen herum wie an kranken Körperteilen.
Ich lege Hemd und Hose ab und sage: Es gibt nur zwei wirkliche Veränderungen beim Älterwerden; bei Männern werden die Ohren länger, bei Frauen die Nasen.
Susanne lacht und vergißt ihre Doppelknie, jedenfalls für den Augenblick. Sie zieht mich auf das Bett herunter und küßt mich heftig und wie unter Zeitdruck. Ich bin überrascht und rede mir gleichzeitig ein, daß meine Überraschtheit nicht angemessen ist. Es läuft jetzt nur ab, was du selbst eingefädelt hast: Du hast dich für eine Frau bedeutsam gemacht. Susanne dreht mich küssend auf den Rücken. Sie kann nicht abwarten, bis meine Erektion für einen Beischlaf ausreicht. Sie setzt sich auf mein halb eregiertes Geschlecht und legt ihren Oberkörper dann auf den meinen. Vielleicht schämt sie sich ihrer nicht mehr festen Brüste. Wir haben einen falschen Anfang erwischt, wir müßten noch einmal von vorn anfangen dürfen. Ich dringe in sie ein, aber weil ich noch nicht fest genug bin, rutsche ich gleich wieder heraus. Dabei sehe ich, daß ich vergessen habe, die Socken abzulegen. Ich habe sofort die Vorstellung, das wird Susanne nicht dulden können. Es ist mir im Augenblick nicht möglich, die Strümpfe unbemerkt abzustreifen und verschwinden zu lassen. Mich selber beeinträchtigt das Mißgeschick nicht, im Gegenteil. Mißgeschicke bringen Unschuld hervor; sie erinnern mich unmerklich daran, daß ich mich im Leben nicht genügend auskenne und nie ausgekannt habe. Prompt rutsche ich in mein Grundgefühl hinein, daß ich mich immer nur halbwegs zurechtfinde und deswegen wie aus Versehen lebe. Dabei ist Susannes Leib weich und flößt mir kindliches Vertrauen ein. Aus dem Gefühl des versehentlichen Lebens wird, weil es nicht abgebremst wird, die Vorstellung eines kleinen schmachvollen Scheiterns. Auch mit diesem Gefühl bin ich vertraut. Ich bin es gewohnt, im Scheitern weiterzumachen. Eine Weile weiß ich nicht, was geschieht und wie ich davonkommen werde, aber ich mache weiter. Und zwar so lange, bis ich plötzlich den Eindruck habe, ich befinde mich inmitten eines neuen, zweiten Anfangs. Susanne und ich reden jetzt nicht mehr. Ich hebe Susanne von mir herunter und lege sie neben mich. Dabei gelingt es mir, meine Füße unter einen Zipfel der Bettdecke zu schieben. Von Susannes Geschlecht geht jetzt ein leicht säuerlicher Geruch aus, der Susanne wahrscheinlich nicht recht ist, mich aber anregt. Im Bett riecht es plötzlich wie nach der fast immer offenstehenden Brotschublade in der Küche meiner Mutter. Susanne schaut mich an, am liebsten würde ich ihre Bänglichkeit zerstreuen und ihr sagen: Beruhige dich, du duftest wie nach einer guten alten Bäckerei. Vermutlich wäre Susanne auch mit diesem Bild nicht einverstanden. Es ist verboten, unseren nach Erhabenheit verlangenden Liebeseifer mit einer Alltagsidee zu beeinträchtigen. Ich drehe mich um und öffne Susannes Beine. Mit dem Hinterteil lasse ich mich aus dem Bett rutschen. Susanne merkt, was ich vorhabe, und schiebt mir ihren Unterleib entgegen. Sie spreizt die Beine, so weit sie kann. Ich beuge mich über sie und küsse ihr säuerliches Geschlecht. Erst dadurch kann ich ausdrücken, daß ich gegen den Brotgeruch der Liebe nichts einzuwenden habe, im Gegenteil. Susanne wimmert leise und hält mit beiden Händen meinen Kopf. Mit nach vorne zugespitztem Mund sauge ich die Schamlippen in meinen Mundinnenraum und lasse sie beim Hinausgleiten über die untere Zahnreihe rutschen. Genau in diesen Augenblicken fällt mir Himmelsbach ein. Ich sehe ihn und Margot durch die Stadt ziehen. Es ist, als würde mein Liebesanfang mit Susanne ein weiteres Mal gestört. Ich verhöhne Himmelsbach und seine schülerhaften Annäherungsversuche. Ich lasse Susannes Schamlippen aus meinem Mund gleiten und denke: Siehst du, Himmelsbach, so macht man das. Ich küsse Susannes Geschlecht länger als vorgesehen. Die Überzeit gilt der Wiederaustreibung Himmelsbachs aus meinem Bewußtsein. Weil ich nicht weiß, ob sie mir gelingt, bricht mir am Hals und am Kopf Schweiß aus. Wenn es so weitergeht, werden Susanne und ich einen dritten Liebesanfang benötigen. Ich weiß nicht, was ich tun soll, um nicht mehr an Himmelsbach zu denken. Es bleibt mir nur das langsam schwächer und leerer werdende Vertieftsein in Susannes Geschlecht. Ich habe dabei die Vorstellung, daß ich laufend kleine Verbeugungen vor dem Leben mache. Und gleichzeitig beuge ich damit das Leben selbst. Es entsteht zwischen Susannes Beinen die Hoffnung, daß ich das Leben eines Tages werde genehmigen können, wenn ich mich oft genug vor ihm verbeugt haben werde. Am Ende soll nicht mehr unterscheidbar sein, ob ich mich vor dem Leben verbeuge oder dieses selbst gebeugt habe. Dann würde endlich meine unglaubliche Langmut den Sieg davontragen. Offenbar habe ich Erfolg mit meiner Verbeugungsidee. Himmelsbach verschwindet aus meinen Gedanken, ich rede nicht mehr an ihn hin. Vielleicht ist es auch der Brotgeruch von Susannes Erregung, der mein Geschlecht wieder fest werden läßt. Ich stelle mich auf und schiebe Susannes Körper etwas mehr in die Mitte des Bettes. Sie hält diesmal still, so daß ich ohne Komplikationen in sie eindringen kann. Das Frohlocken kurz nach einem drohenden Scheitern ist das Stärkste. Meine Stöße sind wie vollendete Verbeugungen, jetzt auch vor der Liebe. Susanne fiept jetzt wie ein kleines Tier. Es ist, als würde sie nie wieder richtige Worte sagen wollen. Dabei sagt sie schon zwei Minuten später, daß ich aufpassen muß.
Was soll ich tun, frage ich, muß ich weggehen?
Bleib, solange du kannst, dann mach es mir auf den Bauch.
Die Bitte erregt meine Vorstellungen, so daß ich den Beischlaf nicht mehr lange dehnen kann. Susanne dreht das Gesicht zur Seite und streckt die Arme von sich. Zum Glück gehöre ich nicht zu den Männern, denen der Same ohne innere Ankündigung entwischt. Mein Körpergefühl kann die Augenblicke ausmachen, wann sich ein Samenschub bildet und wenig später löst. Als es soweit ist, trenne ich mich von Susanne und beuge mich dann rasch über sie, der Samen ergießt sich auf ihren Bauch. Susanne seufzt und schluchzt und hilft mir, von ihr herunterzukommen. Wenig später beginnt sie, sich mit der Hand den Samen auf dem Bauch zu verstreichen. Ich schaue eine Weile zu und will etwas fragen, aber dann fällt mir ein, daß man eine still gewordene Frau besser nicht fragt, was sie gerade tut.