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Zu Hause gehe ich zuerst in das Schlafzimmer und setze mich auf den Bettrand nahe am Fenster. Von hier aus kann ich sehr gut auf den Balkon der Arbeiterfrau sehen. Ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen. Drei nasse Hemden hängen schon. Da schieben sich zwei starke weiße Frauenarme zwischen zwei Hemdrücken hindurch und entfalten einen weiteren nassen Stoffklumpen. Es ist das vierte tiefblaue Hemd, das sie wieder mit zwei Plastikklammern auf der Leine befestigt. Ich glaube, ich bewundere die Zweideutigkeit dieser Arbeit; in manchen Augenblicken sieht sie ganz dumpf aus, in anderen ganz und gar beseligt. Die Frau ist dann an die Hemden so ähnlich hingegeben wie die Tierpflegerin an das Fell des Zirkuspferds. Dann mache ich leider einen Fehler. Ich ziehe meine Hose, die Schuhe und die Strümpfe aus. Wann immer ich meine nackten Füße ansehe, sind sie ungefähr fünfzehn Jahre älter als ich. Ich betrachte die stark nach außen getretenen Adern, die polsterartig vergrößerten Knöchel und die immer härter werdenden Fußnägel, die immer mehr jene schwefelgelbe Farbe annehmen, die für die Zehennägel nicht mehr ganz junger Menschen charakteristisch ist. Nicht mehr ganz junger Menschen! Diese Floskel geht mir nur durch den Kopf, weil ich den Schreck über meine Zehennägel abdämpfen muß. Ich schaue hinauf zu der Arbeiterfrau, aber sie ist schon wieder verschwunden. Der Schreck sitzt so tief in mir, daß ich diffus im Zimmer umhergehe und die Schranktür öffne. Ich mag es, mit bloßen Füßen über den Teppichboden zu gehen, aber meine Zehennägel darf ich dabei nicht anschauen. Das Öffnen der Schranktür war ein weiterer Fehler. Noch vor zwei Monaten wären mir solche Fehler nicht unterlaufen. Hier, in diesem jetzt fast leeren Schrank, hingen bis vor etwa acht Wochen die Kleider von Lisa. Ich erinnere mich, wie ich früher auf dem Bett lag und Lisa dabei zuschaute, wie sie ein Kleid oder eine Bluse aus dem Schrank nahm und anprobierte und mich nach kurzer Zeit fragte, ob sie mir immer noch gefalle. Gewöhnlich lachte ich nach dieser Frage, weil es für mich keine überflüssigere Frage gab. Seit ungefähr zwei Monaten ist das Herumliegen auf dem Bett für mich problematisch geworden. Lisa wohnt nicht mehr hier, sie hat mich verlassen. Solange sie hier lebte, war das Nachhausekommen für mich das Wohlgefallen, das den Menschen auf Erden versprochen ist. Und ich hatte ein halbes Menschenleben auf dieses Wohlgefallen gewartet, seit ich im Kindergottesdienst erstmals von ihm gehört hatte. Jetzt ist dieses Wohlgefallen verschwunden. Aus Versehen schaue ich doch auf meine nackten Füße und spüre die Propaganda der Verlassenheit, die von ihrem Anblick ausgeht. Früher konnte ich damit aufhören, mein Leben zu verdächtigen, sobald ich die Wohnung betrat. Das scheint endgültig vorbei zu sein. Dabei halte ich es immer noch für möglich, daß Lisa mich nur vorübergehend verlassen hat, um mich zu zwingen, mich endlich um einen ›besseren Hintergrund‹ zu kümmern. Sie meinte damit meine mangelhafte finanzielle Verwurzelung in der Welt, die ich ebenfalls beklage, jedenfalls oft, wenn auch immer seltener. Meistens habe ich nicht mehr die Kraft, diesem verworrenen Problem ins Auge zu blicken. Das heißt, ich verstehe sein verwickeltes Zustandekommen über die Jahre hin nicht mehr und kann das Ergebnis deswegen oft nicht anerkennen, obwohl ich selbst dieses Ergebnis bin. Im Augenblick denke ich an das Kind, das in den Schauräumen des Autohauses Schmoller herumgelaufen ist. Diese Unlust meinen Problemen gegenüber ist typisch für mich. Ich weiß auch, daß ich nicht wirklich an das Kind im Autohaus denke. Das Kind ist nur eine verpuppte Erinnerung an mich selbst. Prompt fällt mir ein, wie ich als Kind versucht habe, den verschleierten Mund meiner Mutter zu küssen. Meine Mutter trug damals einen dunkelblauen flachen Hut mit schmaler Krempe. In der Krempe eingerollt war ein Netz, das sie sich gern über das Gesicht zog. Hinter dem dicht aufliegenden Schleier erschienen Lippen und Wangen ein wenig platt gedrückt, auch die Nasenspitze. Diese kleinen Verunstaltungen waren vermutlich der Grund dafür, warum ich dann plötzlich keine Lust mehr hatte, die Mutter zu küssen. Ich küßte sie aber trotzdem, und ich spürte deutlich statt der Haut der Mutter deren Verschnürung durch das Netz. Die Eingepacktheit der Lippen übertrug sich für eine Weile auf meine eigenen Lippen, was mir anfangs gefiel. Ich küßte die Mutter, um bei mir selbst das Hautgefühl der Verschnürung zu erzeugen. Nein, das stimmte so nicht. Das Gegenteil war der Fall. Ich wandte mich immer mehr von der Mutter ab, weil sie mir statt ihres Mundes mehr und mehr eine Netzverschnürung anbot. Ich verdächtigte sie, daß sie die Zuneigung der Familie zurückweisen wollte. Denn ich hatte schon beobachtet, daß auch der Vater und mein Bruder nicht über Netzküsse hinauskamen. Nein, das stimmte so auch nicht. Die Wahrheit ist, daß ich nicht mehr genau weiß, was sich wirklich ereignet hat. Die Unklarheit über diesen Punkt reicht mir aus, um mich ein bißchen zu beschimpfen. Es kann gar nicht mehr lange dauern, denke ich, dann wirst du in eine Lügenheilanstalt eingeliefert. Denn die Wahrheit hinter der Wahrheit ist, daß ich natürlich hundertprozentig zu wissen meine, was sich tatsächlich ereignet hat und was nicht. Ich habe ein Interesse an verschiedenen Wahrheitsversionen, weil ich es schätze, vor mir selber ein wenig verwirrt zu erscheinen. Die Wahrheit hinter dieser Wahrheit ist jedoch, daß ich die Annahme meiner eigenen Verwirrtheit gar nicht ertrage und sie dann doch für wahr und wirklich halte. Die Erfindung des Wortes Lügenheilanstalt amüsiert mich, obwohl sie mich vermutlich alarmieren sollte. In dem plötzlichen Zusammenstoß meines Gedächtnisschwunds mit meiner Verwirrung und vielleicht meiner Verrücktheit sehe ich an diesem Tag den ersten Hinweis, daß vielleicht eine Erkrankung in meinem Inneren heranwächst. Vermutlich nur deswegen suche ich Anschluß an eine kleine praktische Tätigkeit. Ich gehe ins Badezimmer und putze mir zum zweiten Mal heute die Zähne. Während des Zähneputzens betrachte ich die beiden angestaubten Parfümflakons, die Lisa zurückgelassen hat. Die beiden Fläschchen stehen schon seit Jahren auf der Glasscheibe unterhalb des Spiegelschränkchens. Lisa benutzte Parfüm so gut wie nie. Sie hat nie versucht, mich auf irgendeine künstliche Weise zu locken. Unser letzter Versuch eines Beischlafs ist uns auf wunderliche Weise entglitten. Wir lagen eine Weile nebeneinander, ich mit dem Gesicht zwischen ihren Brüsten, was uns so gut gefiel, daß wir nach kurzer Zeit einschliefen. Es war, als hätten wir plötzlich gemeinsam vergessen dürfen, daß es Sexualität gab. Als wir aufwachten, lagen wir eingehenkelt nebeneinander wie ein älteres Ehepaar. Mit Lisa zusammen war es mir möglich, auf eine nachträgliche Genehmigung des Lebens durch mich selber zu verzichten.
Wahrscheinlich müßte ich Lisa anrufen und sie fragen, ob sie die beiden Parfümflakons noch abholen wird. Oder ob sie sie vergessen hat, vielleicht ein bißchen absichtlich, als Reliquien des Trostes, die ich jeden Tag anschauen darf. Bei dieser Gelegenheit könnte ich mich kühl danach erkundigen, wann sie zurückkehren wird. Lisas gegenwärtige Telefonnummer ist mir bekannt. Sie wohnt bei ihrer besten Freundin Renate, jedenfalls vorübergehend, bis sie eine eigene neue Wohnung gefunden hat. Auch Renate ist Lehrerin, genau wie Lisa. Das heißt, Lisa war Lehrerin gewesen, bis vor etwa vier Jahren. Lisas Berufsleben war kaum mehr als ein langsames Vertrautwerden mit ihrem Zusammenbruch gewesen. Lisa hatte es nicht hinnehmen wollen, daß sie mit den Kampfkindern der Gegenwart nicht zurechtkam. Sie hatte geglaubt, sie könnte aus den schlagenden, beißenden und kratzenden Schülern Menschen machen, die ihr selber ähneln. Ein grausiger Irrtum! Ein schleichendes Nervenleiden hat sie nach zwölf Jahren Arbeit zur Berufsaufgabe gezwungen. Zuerst war sie freigestellt, dann beurlaubt, dann frühpensioniert. Lisa ist jetzt zweiundvierzig Jahre alt und bezieht eine Rente dafür, daß sie sich für ihre Ideale, für den Staat, für die Kinder oder für ihre Illusionen ruiniert hat. Die viel geschmeidigere Renate wird vermutlich nicht scheitern oder erst angemessen spät. Es ist mir nicht recht, daß Lisa bei ihr wohnt. Renate ist neugierig, und Lisa wird, schon aus Dankbarkeit für die Bleibe, dann und wann Intimitäten preisgeben. Lisa wird das selbst nicht wollen, aber sie wird meinen, daß sie keine Wahl hat. Durch Lisas Schilderungen wird Renate den Eindruck gewinnen, daß nicht nur Lisas, sondern auch mein Leben gescheitert ist. Diese Vorstellung wird dazu führen, daß ich mit Renate überhaupt nicht mehr sprechen will. Und in der Art, wie ich ihr aus dem Weg gehen werde, wird Renate eine Bestätigung sehen, daß ich gescheitert bin. Ich wiederum werde nicht wollen, daß sich in Renate diese Vorstellung festsetzt. Also werde ich auch weiterhin Renate nicht aus dem Weg gehen, obwohl ich gerade dies sehr gern möchte. Ich höre Schluchzer in der Wohnung, aber es sind nur die Gluckser im Warmwassergerät. Dennoch gehe ich in der Wohnung umher und suche nach Lisa. Ich weiß, sie ist nicht hier, ich weiß, es ist idiotisch, daß ich nach ihr schaue. Manchmal weinte Lisa aus Verzweiflung über mich. Das Weinen brach aus ihr hervor, wenn sie sich die Haare gewaschen hatte. Dann saß sie da, ein Handtuch um den Kopf gewickelt, ein weiteres Handtuch gegen das Gesicht gedrückt, ein drittes Handtuch um die Schultern geschlagen, und weinte. Ich setzte mich neben sie, hielt manchmal ihre Hand, was sie sich gern gefallen ließ, und überlegte doch nur, ob es zwischen dem Weinen und dem Haarewaschen einen Zusammenhang gab oder nicht. Ich wasche mir viel seltener das Haar und weine vielleicht deswegen so gut wie nie. Durch haarsträubende Sätze dieser Art entsteht jetzt in mir die Vorstellung, daß ich nachmittags nicht mehr richtig lebe. Im Prinzip lebe ich nur noch vormittags, wenn ich umhergehe und dabei ein wenig Geld verdiene, was in den kommenden Tagen wieder geschehen wird. Nachmittags findet eine Art Zerbröckelung meiner Person statt, gegen die ich wehrlos bin, eine Zerfaserung oder Ausfransung. Ich vergesse dann, daß es im Leben Hauptsachen und Nebensachen gibt, weil irgendeine Nebensache in mich eindringt und mich nicht mehr freigibt. Genauso ist es jetzt wieder. Aus der Tiefe der Hinterhöfe höre ich das Geräusch des Einschießens von Wasser in eine Gießkanne. Es ist die Gießkanne von Frau Hebestreit, die in der Teuergarten-Straße eine Lotto- und Totoannahmestelle betreibt. Jetzt, um die Mittagszeit, hat Frau Hebestreit ihren Laden geschlossen und gießt ihre Tomaten, ihre Gurken und ihre Radieschen. Ich öffne in der Küche das Fenster zum Hof und setze mich in den kleinen Rattansessel in der Nähe des Heizkörpers. Von hier aus kann ich sogar hören, wie der Wasserschweif der Gießkanne auf die staubigen Blätter der Pflanzen auftrifft und wie dabei ein sonderbar papierenes Geräusch entsteht. Fünf bis sechs Gießkannen Wasser gießt Frau Hebestreit jeden Mittag über ihren Pflanzungen aus, dann kehrt sie in ihre Erdgeschoß-Wohnung zurück. Durch die stark wasserhaltige Verbindung zwischen den Glucksern in der Heizung, Lisas Tränen und dem Wasser aus der Gießkanne zieht eine beträchtliche Gemütsbewegung durch mich hindurch. Ich muß nicht selber weinen, das Weinen tritt nur momentweise von innen an mich heran und verschwindet dann wieder. Bis tief in den Mai hinein sagte Lisa beinahe täglich, daß es immer noch zu kalt sei. Auch dann, wenn wir im Sommer miteinander schliefen, klagte sie über Kälte. Sie legte ihr Nachthemd nicht ab, sondern sie schob es sich bis zum Hals hoch, weil sie auch während des Beischlafs zum Beispiel gegen eine plötzliche Gänsehaut gewappnet sein wollte. Im Inneren lachte ich manchmal über den Anblick ihres Nachthemdes, das wulstartig wie eine mißratene Halskrause ihre Schultern bedeckte. Einmal habe ich versucht, während des Beischlafs kurz (und leise) zu lachen. Lisa verstand diese Regung nicht. Auch für meine Erklärung, daß der auf der Frau liegende und hechelnd seine Form verlierende Mann doch auch lächerlich sei, hatte sie kein Verständnis. Für sie war der Beischlaf eine ernsthafte Angelegenheit, die auch durch die Wiederholung nichts von ihrer Ernsthaftigkeit verlor. Prompt fällt mir meine ernste Lebenslage ein. Solange wir zusammenlebten, hat Lisa mir öfter beweisen wollen, daß meine Genügsamkeit unfreiwillig sei. Ich besitze nur ein Sakko, einen Anzug, zwei Hosen, vier Hemden und zwei Paar Schuhe. Ich lebte und lebe, rundheraus gesagt, von Lisas Rente. Meine eigenen Einkünfte sind, ebenfalls rundheraus gesagt, nicht der Rede wert. Es ist mir bis jetzt nicht gelungen, mir einen soliden finanziellen Hintergrund zu verschaffen. Ich kann kaum noch über dieses Problem sprechen, obgleich es von Woche zu Woche drängender wird. Zum Glück leben meine Eltern nicht mehr. Sie würden mich kurzerhand als arbeitsscheu bezeichnen. Mein Vater war besonders stolz, daß er praktisch von seinem sechzehnten Lebensjahr bis zu seinem Tod gearbeitet hat. Er hatte es gut. Er vergaß während und durch die Arbeit seine Konflikte. Bei mir ist es genau umgekehrt. Mir fallen meine Konflikte erst ein, während oder wenn ich arbeite. Deswegen muß ich die Arbeit eher meiden. Für diesen Fall hatten Leute wie meine Eltern nicht das geringste Verständnis. Lisa hat mich verstehen können, jedenfalls viele Jahre lang. Ich hielt dieses Verständnis für ewig und unwandelbar. Tatsächlich brauchte es sich langsam auf und ist jetzt ganz verschwunden. Schwierig war (ist) meine Lage auch deswegen, weil in Lisas pädagogisch gemeintem Spott über meine Bescheidenheit gleichzeitig eine liebevolle Aufforderung versteckt war. Ich hatte von Lisa die Erlaubnis, Geld von ihrem Konto abzuheben. Ich habe von dieser Erlaubnis nur ein einziges Mal Gebrauch gemacht und habe dabei sozusagen Schiffbruch erlitten. Das liegt etwa drei Jahre zurück. Ich konnte das Geld zwar in der Bank abheben, aber dann nicht ausgeben. Als ich zahlen wollte, überfiel mich eine fürchterliche Hemmung. Ich mußte die eingekauften Sachen zurückgeben und nach Hause gehen. Ich habe Lisa das Erlebnis seinerzeit nicht verheimlicht. Sie war gerührt und tröstete mich. Sie hat gesagt, ich würde das alles viel zu ernst nehmen. So groß war damals ihr Verständnis. Seither habe ich es vermieden, von Lisas Konto noch einmal Geld abzuheben. Wir hatten unseren Alltag so eingerichtet, daß entweder Lisa die Einkäufe erledigte (und also auch Geld abhob) oder sie mir, wenn ich einkaufen ging, ausreichend Geld mitgab, meistens ein bißchen mehr, damit auch für mich persönlich noch etwas übrigblieb.
Der Tag rückt näher, an dem ich meine Hemmung vor Lisas Geld werde aufgeben müssen, egal wie. Lisa hat das Konto, auf das ihr die Rente überwiesen wurde, nicht aufgelöst. Es fehlen nur die Überweisungen für die beiden letzten Monate, für die es offenkundig ein neues, mir unbekanntes Konto gibt. Wenn ich diese Zeichen richtig deute, dann überläßt mir Lisa kommentarlos das auf dem alten Konto angesammelte Geld. Es handelt sich um eine Art Abfindung für mich, von der ich, wenn ich sparsam wirtschafte, noch gut zwei bis zweieinhalb Jahre werde leben können. In dieser Zeit muß es mir endgültig gelingen, mich auf eigene Füße zu stellen. Anfangs war ich von Lisas Großmut begeistert und gleichzeitig geschmerzt. Wie soll ich mich von einer Frau lösen, die sich mit einer fast unbegreiflichen Großherzigkeit ungefähr zweieinhalb Jahre lang von mir verabschiedet? Vor einiger Zeit ist mir aufgefallen, daß die Abfindung auch ein klug eingefädeltes Manöver ist. Ich merke, wie sehr mich Lisas Spende einschüchtert. Es ist nicht möglich, sich als Mann mit dem Geld einer Frau über Wasser zu halten, wenn das Wohlwollen der Frau gleichzeitig nicht mehr da ist. Die Scham ist so mächtig, daß ich mich zur Zeit nicht traue, Renates Nummer zu wählen und mich nach Lisa zu erkundigen. Lisa ist mit einem erkauften Schweigen aus meinem Leben verschwunden. Sie weiß, daß mir die Kraft (die Unverschämtheit, die Dummheit) fehlt, die Scham zu durchbrechen und das Schweigen zu beenden. Ich hatte nie geglaubt, daß Lisa so kühl kalkulieren kann. Natürlich muß ich noch eine Weile warten, bis sich diese Ansicht der Ereignisse als gesichert durchgesetzt hat. Es ist immer noch möglich, daß Lisa ihr Geld auf dem alten Konto doch noch komplett abhebt und das Konto dann auflöst. Es kann auch sein, daß Renate sie in dieser Richtung beeinflußt oder gar unter Druck setzt. Immerhin hat Renate ihr schon vor Jahren empfohlen, sich von mir zu lösen. Am anderen Ende des Flurs klingelt das Telefon. Wahrscheinlich ist es Habedank, der Disponent der Schuhmanufaktur Weisshuhn, der auf meine Testberichte wartet. Wenn ich mich noch ein paar Tage länger nicht melde, gefährde ich meinen Job. Woher soll ich jetzt den Schwung nehmen, mit Habedank zu reden? Als Lisa noch hier war, war auch das Telefon kein Problem. Sie kannte mich und meine Auftraggeber, sie ging an den Apparat und wußte ohne Absprache, wen sie mit welcher Geschichte anlügen mußte, um mich und meine Stimmungen zu schützen. Ich lasse das Telefon klingeln, ich weiß nicht, was ich sagen sollte, zu wem auch immer. Gleichzeitig verrät mich das Klingeln. Habedank kennt meine Lebensgewohnheiten, er weiß, daß ich zu Hause bin und immer öfter zu Hause bleibe, ich habe es ihm selbst gesagt, weil ich mich nicht mehr so gut beherrschen kann wie früher. In Wahrheit überfällt mich immer öfter eine Schweigelust, die mir ein bißchen angst macht, weil ich nicht weiß, ob soviel Schweigen, wie ich es zum Leben brauche, noch normal ist oder vielleicht der Beginn meiner inneren Krankheit, die mit Zerbröckelung oder Zerfaserung oder Ausfransung nur mangelhaft bezeichnet ist. Ich schaue auf den Boden und betrachte die da und dort herumliegenden Staubflusen. Wie sonderbar heimlich sich der Staub vermehrt! Plötzlich fällt mir ein, daß Verflusung vielleicht das richtige Wort für den gegenwärtigen Stand meines Lebens ist. Genau wie eine Staubfluse bin auch ich halb durchsichtig, im Kern weich, äußerlich nachgiebig und übertrieben anhänglich und außerdem schweigsam. Neulich hatte ich die Idee, ich werde an alle Leute, die ich kenne beziehungsweise die mich kennen, einen Schweigestundenplan verschicken. Auf diesem Plan steht genau, wann ich reden will und wann nicht. Wer sich nicht an den Schweigestundenplan hält, wird überhaupt nicht mehr mit mir sprechen können. Für Montag und Dienstag ist/wäre DURCHGEHENDES SCHWEIGEN angeordnet. Mittwochs und donnerstags herrscht nur morgens DURCHGEHENDES SCHWEIGEN, an den Nachmittagen GELOCKERTES SCHWEIGEN, das heißt, es sind Kurzgespräche und Kurzanrufe erlaubt. Nur freitags und samstags bin ich/wäre ich zu haltlosem Gerede bereit, allerdings erst ab elf Uhr. An Sonntagen besteht TOTALES SCHWEIGEN. Die Wahrheit ist, daß der Schweigestundenplan schon weitgehend ausgearbeitet war und daß ich ihn um ein Haar verschickt hätte. Sogar die Adressen auf den Briefumschlägen hatte ich schon getippt. Ein Glück, daß Lisa von diesem Schweigestundenplan nie etwas erfährt. Wahrscheinlich würde sie weinen, wenn sie das Wort hören müßte. Lisa brach oft überraschend schnell in ein Weinen aus, hörte mit dem Weinen aber auch schnell wieder auf. Wenn dabei das Telefon klingelte, würgte sie das Weinen sekundenschnell ab und ging an den Apparat. Jetzt würde sie mit fester Stimme sagen, daß ich gerade beim Zahnarzt wäre. Das wäre nicht einmal gelogen, weil ich mich seit Wochen tatsächlich einer Zahnbehandlung unterziehe, die demnächst zu Ende geht, Gott sei Dank. Neulich rief die Zahnarzthelferin an und sagte mit sonnenheller Stimme: Ihre neuen Zähne sind eingetroffen! Ich war sofort sprachlos. Die Zahnarzthelferin wiederholte: Ihre neuen Zähne sind da. Ich hatte nie für möglich gehalten, daß ein solcher Satz je an mich hingesprochen würde. Die Zahnarzthelferin hatte nicht die geringste Ahnung, daß sie eine Barbarin war. Und ich hatte nicht den Mut, es ihr zu sagen. Ich stotterte irgendeinen verlegenen Halbsatz ins Telefon, aus dem die Zahnarzthelferin schließen konnte, daß ich demnächst bei ihr in der Praxis erscheinen und meine neuen Zähne abholen würde. Genau das ist sehr fraglich. Viel wahrscheinlicher ist, daß auch die Zahnarzthelferin von mir einen Schweigestundenplan erhält. Die Sonne flutet in die Wohnung und zeigt mir mein verflustes Leben. Im Sommer fühle ich eine zusätzliche Schuld. Um zehn Uhr abends ist es immer noch hell und morgens um fünf schon wieder. Die Tage dehnen sich unverschämt und machen mir klar, wie sehr ich sie verstreichen lasse. Wenigstens das Telefon hat aufgehört zu klingeln. Es war mit Sicherheit Habedank. Nur er weiß, daß jedes leere Klingeln mich piesackt. Dabei ist es nicht so schwer, sich mit Habedank zu verabreden. Wir würden in seinem Büro etwa eine Stunde lang miteinander reden und dann würde er mir vier oder fünf neue Aufträge geben. Er will nur meine Testberichte, anschließend will er mit mir über Modelleisenbahnen der fünfziger und sechziger Jahre reden, besonders über die Modelle von TRIX und FLEISCHMANN. Gräßlich! Modelleisenbahnen! Guter Gott! Nie hätte ich geglaubt, daß derartige Kindereien einmal wichtig werden könnten. Aber Habedank hat niemand, mit dem er über Modelleisenbahnen reden kann. Ich müßte Habedank sofort anrufen und einen Termin mit ihm vereinbaren. Aber ich gehe am Telefon vorbei in das vordere Zimmer. Jetzt breitet sich Schicksal aus, das nicht genehmigte Leben. Ich bin immer melancholisch geworden, wenn ich kämpfen sollte. Ich werde kämpfen müssen, also werde ich melancholisch. Es ist, als würde ich bis zu den Knien in einem leicht anrüchigen Gewässer stehen. Habedank wird mir den Job wegnehmen, wenn ich nicht mehr mit ihm über Modelleisenbahnen rede. Ich stehe am Fenster und schaue die Straße hinab. Ich beobachte einen jungen Mann, der den Bürgersteig vor dem Verwaltungsgebäude einer Baufirma reinigt. Er erscheint alle vierzehn Tage und bläst mit einem Hochdruckreiniger die herumliegenden Blätter erst eine Weile vor sich her und dann in eine Anlage hinein. Später holt er einen großen blauen Plastiksack aus seinem Auto und stopft die Blätter hinein und schafft sie fort. Das Ordnungsgehabe der Baufirma empört mich. Die Damen und Herren Bauzeichner, Konstrukteure und Statiker legen Wert auf einen total gereinigten Bürgersteig! Kein Stäubchen soll liegen vor ihrem prächtigen Geschäftsgebäude! Nicht einmal ein paar Blätter können sie liegen sehen! Ich frage mich, ob die Damen und Herren nie Kinder gewesen sind, ob es ihnen nie Freude gemacht hat, mit quergestellten Schuhen ein paar Blätter vor sich herzuschieben, ob ihnen das dabei entstehende Geräusch und der Anblick der vor ihren Schuhen zusammengebauschten Blätter nicht geholfen hat, ihre verbiesterte Mutter zu ertragen oder ihre fürchterlichen Lehrer oder das Gewisper ihrer armen Seelen. Sind die Damen und Herren niemals ganz bei sich gewesen und sind sie deswegen so ausgezeichnete Befürworter von total gereinigten Gehwegen geworden?
In diesen Augenblicken kommt mir eine Idee. Ich werde mir für die Angestellten der Baufirma einen Schnellkurs für Gedächtniskunst ausdenken. Ich werde mich INSTITUT FÜR MNEMOSYNE nennen, das klingt modern und neuartig und so, daß jeder Angestelltenzausel wissen will, was das ist. Ich werde an vier oder fünf Abenden einen Grundkurs in der Kunst des Erinnerns anbieten. Ja! Das ist es! Ich werde lange und klug auf die Angestellten einreden, bis sie endlich begreifen, wie wunderbar es damals war, als die kleinen Blätterberge vor ihren Schuhen immer größer wurden. Dann werden auch die verstocktesten Statiker verstehen, daß es eine Wohltat ist, wenn man raschelndes Laub durchschreitet und dabei das unersetzliche und ganz unüberbietbare Gefühl entsteht, daß jeder Mensch immer ein und dieselbe Person ist mit einer einzigen, langsam anwachsenden und reicher werdenden Gedächtnisgeschichte. Diese Einsicht wird den Bauzeichnern und Statikern unendlich wohltun, und sie werden den Mann mit dem Hochdruckreiniger nach Hause schicken und einen Teil ihrer Gewinne in das neugegründete INSTITUT FÜR MNEMOSYNE investieren. Und ich werde Geld verdienen mit diesen Kursen! Gütiger Gott! Geld! Plötzlich sehe ich, wie unten auf dem Gehweg ein Mann stehenbleibt, sich einen Schuh auszieht, sich den während des Gehens verrutschten Socken zurechtzuppelt, den Schuh wieder anzieht und weitergeht. Dieser Mann bremst meinen Tagtraum, ich weiß nicht warum. Wahrscheinlich ist es der niederträchtige Anblick der Gewißheit, daß die Menschen auch noch in ihren Schuhen für Ordnung sorgen müssen. Ich fühle, wie mich mein Tagtraum wieder verläßt, beziehungsweise wie er sich zuerst in eine Bedrohung und dann in eine Beschämung verwandelt. Ich werde kein Geld verdienen, jedenfalls nicht mit Kursen über Gedächtniskunst. Ich habe die letzten euphorischen Sätze in den noch immer abgedunkelten Probenraum meiner Zukunft hineingesprochen, wo sie selber sehen müssen, ob sie etwas mit meinem Leben anfangen können. Ha! Erinnerungskunst für Angestellte! Damit können die gar nichts anfangen! Im Gegenteil, die fragen dreimal, wie man Mnemosyne denn schreibt, weil sie das Wort nie zuvor gehört haben. Die lachen dich aus! Gedächtniskunst! Was soll das denn sein! Mein Tagtraum flieht und verhöhnt mich während der Flucht. Das ist seine Art, ich kenne das seit langem. Gedächtniskunst! Das kann sich nur der Stubenhocker vom Haus gegenüber ausgedacht haben! Solche Phantasien verhindern auch heute, daß aus mir endlich ein lebenstüchtiger Mensch wird. Ich seufze, weil ich ein so kleiner, fehlbarer Mensch bin. Das ist die letzte Lektion des fliehenden Tagtraums. Warum brütet dein Hirn immer wieder derartig faule Eier aus, die niemand kaufen will? Warum denkst du immer wieder Gedanken, die dich nur selber beeindrucken und die du niemand mitteilen kannst (Lisa ausgenommen), weil niemand versteht (Lisa ausgenommen), wie ein ausgewachsener Mann davon überzeugt sein kann, daß er mit einem derartigen Humbug Geld verdienen könnte? Warum läßt du dich von einem Mann mit Hochdruckreiniger und ein paar Blättern derartig in die Irre führen? Wann endlich wirst du eine Idee haben, die auch anderen Menschen einleuchtet? Und für die sie Geld hinlegen, und zwar schnell!