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Schon eine Weile überlege ich, woran mich
Susannes Wohnung erinnert. Wir sitzen an einem großen ovalen Tisch,
auf dem eine weiße Damastdecke liegt. Auch die Servietten sind aus
Damast, so fest und glatt, daß ich anfangs Mühe hatte, mir damit
wirklich den Mund abzuwischen. Als Vorspeise gab es einen
Artischockensalat mit Spinat und Pinienkernen, danach gegrillte
Kammuscheln mit Prosciutto. Susanne kocht vorzüglich; ein wenig
ungeduldig wurde ich nur, als sie gar zu lange über Herkunft und
Eigenart der Pinienkerne und Kammuscheln redete. An der Wand links
hängt ein Druck von Miró, an der Wand rechts ein Druck von
Magritte, beide hinter Glas. Auf drei nichtbenutzten Stühlen, die
nebeneinander an der linken Stirnwand des Zimmers stehen, liegen
kleine Seidenkissen, die wahrscheinlich nur deswegen da sind, damit
man gelegentlich mit der Hand darüberstreicht. Jetzt hab ich’s: Die
Wohnung ähnelt zur Hälfte einem Wäschegeschäft, zur anderen Hälfte
einer Bonbonniere der siebziger Jahre. Hinter den Scheiben des
Wohnzimmerschranks stehen und liegen Püppchen, Porzellantiere, alte
Bestecke, Andenken, eine Perlenkette. Es könnten auch Pralinen,
Fotos, feine Schokoladen, Seidenbänder und Schatullen sein. Vor
einer halben Stunde habe ich das Wohnzimmer Margerita Mendozas
Spezialitätenrestaurant genannt, worüber Susanne entzückt war. Weil
nicht alle wußten, was es mit dem Namen Margerita Mendoza auf sich
hat, habe ich hinterher die Theater-Episode aus Susannes Leben
erzählt. Durch die Erzählung ist mir die Geschichte peinlich
geworden, aber es hat wohl niemand bemerkt. Susanne hat meine
Darstellung offenbar gefallen, sie hat mich danach dankbar umarmt.
Jetzt gilt sie wenigstens in diesem Zimmer und an diesem Abend und
vor diesen Leuten als Künstlerin. Auf einem zierlichen
Messingwägelchen fährt Susanne den Nachtisch herein, überbackene
Pfirsiche mit Mascarpone-Creme. Susanne beugt sich von hinten über
meine Schultern; ihr dünnes, hellgraues Seidenkleid leitet ein
weiches Körperzittern an mich weiter. Susanne trägt
Abendsandaletten aus plissiertem Glacéleder mit Zierschleifen aus
rosafarbenem Satin. Ich könnte über ihre Schuhe einen kleinen
Vortrag halten, der alle Gäste verblüffen würde; ich tue es nicht
oder vielleicht erst später. Außer Susanne und Himmelsbach kenne
ich hier niemanden. Himmelsbach beachtet mich kaum. Er spricht
lebhaft mit seiner Tischnachbarin, einer Animateurin, die mit
belustigter Stimme zugibt, daß sie inzwischen selbst so einfallslos
geworden ist wie die von ihr animierten Touristen. Zum zweiten Mal
sagt sie ein wenig zu laut, daß sie ihren Beruf nicht mehr lange
ausüben will. Sobald ich Himmelsbach anschaue, ziehen machtlose
Erregungen durch mich hindurch. Sein Haar sieht nicht aus, als sei
es vor kurzem geschnitten worden, aber ich kann es nicht mit
letzter Sicherheit sagen. Seit etwa einer Viertelstunde verursacht
mir die dauernde Nähe von Himmelsbach eine leichte Übelkeit. Sie
erinnert mich an ein unangenehmes Urlaubserlebnis. Vor etwa
fünfzehn Jahren bin ich mit dem Auto, das ich damals noch hatte,
die Serpentinenstraßen der Abruzzen hinuntergefahren. Während der
ganzen Abfahrt war mir so übel wie jetzt, und bis zur letzten
Serpentine habe ich nicht abschätzen können, ob es bei der Übelkeit
bleiben wird oder nicht, ebenfalls wie jetzt. Auf dem Weg hierher
habe ich mir schon überlegt, ob ich bedeutungsvoll reden soll oder
nicht. Im Augenblick bin ich unruhig und gleichzeitig verlegen,
eine unangenehme Mischung, die ich gut kenne. Sie führt oft zu
etwas Drittem, nämlich zu einer stummen, inneren Trockenheit, aus
der ich nicht leicht herausfinde. Meine Tischnachbarin zur Rechten
(Susanne sitzt links von mir), Frau Balkhausen, ist ein wenig
erschöpft in sich zusammengesunken. Über ihre Arbeit als
Kundenberaterin eines Luxusaltersheims hat sie schon mehrfach
geredet, mehr weiß sie vielleicht nicht. Vermutlich will sie von
mir unterhalten werden, aber meine innere Trockenheit läßt mich
noch nicht los. Frau Dornseif, die Animateurin, klagt darüber, daß
nur noch unmögliche Männer mit ihr flirten. Die Bemerkung gefällt
mir, sie ist offenkundig auch auf Himmelsbach gemünzt, aber
Himmelsbach geht über sie hinweg und redet weiter mit Frau
Dornseif. Susanne lacht.
In letzter Zeit wird mir das unheimlich! sagt
Frau Dornseif. Ich habe es nur noch mit Alten, Kranken,
Ungepflegten oder mit total verkrachten Existenzen zu tun! Es ist
gräßlich!
Frau Dornseif ist über ihre eigene Klage wieder
belustigt, Himmelsbach schaut in sein Glas.
Eines Tages, sage ich zu Frau Dornseif, werden
Sie sich mit einem dieser häßlichen Männer einlassen.
Niemals, sagt Frau Dornseif.
Warten Sie ab, sage ich, eines Tages wehren Sie
sich nicht mehr! Man liebt dann, wenn man vor dem anderen nicht
mehr fliehen will, obwohl man ahnt, daß dieser andere unmögliche
Forderungen stellen wird.
Bravo! ruft Susanne.
Wie langweilig, sagt Frau Dornseif.
Die langweiligen Geliebten sind die tiefsten
und die dauerhaftesten, sage ich.
O Gott, macht Frau Dornseif.
Wie war das mit der Liebe, sagt Susanne, sagst
du das noch mal?
Man liebt dann, wiederhole ich, wenn man nicht
mehr flieht, obwohl man ahnt, daß unmögliche Bedingungen auf einen
zukommen.
Forderungen, hast du gesagt.
Was?
… daß dieser andere unmögliche
Forderungen stellen wird, so hast du gesagt, sagt Susanne.
Ich hätte nicht gedacht, daß meine Definition
der Liebe, die mir selber nicht bemerkenswert erscheint, bei
Susanne so gut ankommen würde. Alle außer Himmelsbach schauen mich
an. Meine innere Trockenheit nötigt mir ein Schlucken ab.
Können Sie den Satz erläutern, fragt Frau
Balkhausen.
Ich atme durch und trinke mein Glas leer.
Man liebt dann, sage ich, wenn man merkt, daß
mit dieser Liebe alle früheren Ansichten über die Liebe überflüssig
werden. Verstehen Sie?
Nein, sagt Frau Dornseif.
Ich glaube nicht, sage ich, daß es Ihnen recht
ist, daß Sie die ungepflegten Männer und die verkrachten Existenzen
so sehr verabscheuen. Sie möchten sie gar nicht so heftig
verabscheuen, jedenfalls nicht alle und nicht immer. Sie möchten
wenigstens einen finden, den Sie nicht verabscheuen, und wenn Sie
diesen einen gefunden haben und ihn lieben können, werden Sie auch
Ihre Schuld lieben können, mehr noch als –
Was, fragt Frau Dornseif dazwischen, jetzt
verstehe ich überhaupt nichts mehr, was hat denn Liebe mit Schuld
zu tun?
Weil der eine, den Sie dann lieben, aus der
Menge derjenigen hervorgekommen ist, die Sie zuvor abgelehnt haben,
und weil Sie über diese ungerechtfertigte Ablehnung Schuld
empfinden, sage ich.
Herr Auheimer, ein Anwalt und Bürokollege von
Susanne, hebt den Zeigefinger und fragt: Meinen Sie eine
justitiable Schuld, oder meinen Sie unser aller Schuld, die
Erbsünde?
Mir ist egal, antworte ich, wie Sie diese
Schuld nennen, ich rede jedenfalls von der Schuld, die sich
unbemerkt ansammelt, indem man schuldlos zu leben meint.
Und wodurch entsteht das Schuldverhältnis
genau? fragt Herr Auheimer.
Jeder, der lebt, antworte ich, verurteilt die
anderen, die mit ihm leben, oft jahrzehntelang. Eines Tages fällt
uns auf, daß wir Richter geworden sind, jeder einzelne. Die Schuld,
die durch diesen Einblick frei wird, kommt dann dem einzelnen
Schuldigen zugute, den wir endlich lieben können. Jetzt haben wir
es geschafft: Wir lieben unsere Schuld.
Susannes Augen leuchten. Sie findet es
wunderbar, daß an ihrem Wohnzimmertisch so gesprochen wird. Ich
weiß nicht, ob sie merkt, daß ich nur wegen ihr so rede, ich
glaube, eher nicht.
Aber die meisten Menschen wissen doch gar
nichts von dieser Schuld, sagt Herr Auheimer, sie halten sich für
absolut schuldlos.
Das ist ja das Schlimme, sage ich; deswegen
wäre es das beste, wenn an den Universitäten endlich Vergleichende
Schuldwissenschaften gelehrt würde.
Was? fragt Frau Dornseif.
Vergleichende Schuldwissenschaften, wiederhole
ich.
Das habe ich noch nie gehört, sagt Herr
Auheimer.
Das können Sie auch noch nie gehört haben, weil
es Vergleichende Schuldwissenschaften nicht gibt oder jedenfalls
noch nicht, sage ich.
Susanne erhebt sich und geht in die Küche. Sie
trägt weitere Schälchen mit überbackenen Pfirsichen und
Mascarpone-Creme in das Wohnzimmer.
Aber ich will nicht den ganzen Abend reden!
sage ich.
Doch, ruft Susanne, sprich!
Susanne schenkt mir Wein nach und dreht mir im
Sitzen den Oberkörper zu.
Verstehen Sie die Vergleichenden
Schuldwissenschaften als historische Wissenschaft? fragt Herr
Auheimer.
Unter anderem, sage ich; wir alle leben in
Ordnungen, die wir nicht erfunden haben, wir können nichts für
diese Ordnungen, sie befremden uns. Sie befremden uns deswegen,
weil wir merken, daß wir mit der Zeit die Schuld dieser Ordnungen
übernehmen. Die faschistische Ordnung bringt faschistische Schuld
hervor, die kommunistische Ordnung bringt kommunistische Schuld
hervor, die kapitalistische Ordnung bringt kapitalistische Schuld
hervor.
Ahh so! ruft Herr Auheimer, jetzt verstehe ich
Sie! Sie meinen, Schuld entsteht, wenn Menschen die Systeme
wechseln?!
Soweit kommt es bei den meisten ja gar nicht,
sage ich mit sinnloser Genauigkeit, es ist wie mit der Liebe! Ich
meine die gewöhnliche Schuld der Systeme, die langsam in uns
einwandert, indem wir schuldlos in diesen Ordnungen zu leben
meinen. Alle politischen Ordnungen wollen dasselbe, nämlich
die Abschaffung des Leids. Ebendeswegen sind sie gar keine
politischen, sondern phantastische Bewegungen, verstehen Sie? Weil
man die Abschaffung des Leids nicht wirklich wollen kann!
Und wo ist jetzt wieder die Schuld? fragt Herr
Auheimer.
Die Schuld entsteht, sage ich, weil wir das im
Prinzip alle wissen, aber trotzdem auf Leute hereinfallen, die uns
ein Leben ohne Leid vorgaukeln.
Ach so! ruft Frau Dornseif! So meinen Sie
das!
Plötzlich reden alle am Tisch davon, was sie
einmal geglaubt haben und wie sie deswegen schuldig geworden sind.
Himmelsbach redet davon, daß er an Mütter, Väter und Lehrer
geglaubt hat, Frau Balkhausen redet von ihrem verflossenen Glauben
an Universitäten, Krankenhäuser und Gerichte, Frau Dornseif von
ihrem Glauben an die Jugend und die Männer. Ich bin gespannt, von
welcher Schuld Susanne sprechen wird, aber sie spricht nicht. Ich
habe das Gefühl, Susanne würde ihre Gäste am liebsten nach Hause
schicken, weil sie die Bewegtheit des Abends nicht länger mit ihnen
teilen will. Dann holt sie zwei neue Flaschen Wein aus der Küche,
ich öffne sie und schenke den Gästen nach. Frau Balkhausen und Frau
Dornseif haben den Eindruck (wenn ich mich nicht täusche), daß sie
an einer Enthüllung teilnehmen. Endlich wissen sie, daß es im Leben
von Susanne einen Mann im Hintergrund gibt. Susanne und ich spielen
das Spiel mit, obwohl wir beide nicht wissen, ob es ein Spiel ist
und/oder ob wir schon morgen über unser altes Theater seufzen oder
kichern werden. Frau Balkhausen fragt mich schüchtern, welchen
Beruf ich habe. Die Frage verstimmt mich leicht, weil sie mich
daran erinnert, daß mein Leben auch an einem Abend wie heute nicht
genehmigt ist. Aber ich drücke die Verstimmung weg und antworte,
ein wenig betrunken und prustend, daß ich ein Institut für
Gedächtnis- und Erlebniskunst leite.
Oh! macht Frau Balkhausen, das ist ja
interessant!
Ich schenke auch Frau Balkhausens Glas wieder
voll, ich bereue meinen Scherz, aber schon fragt Frau Balkhausen,
mit welchen Menschen ich es im Institut zu tun habe.
Zu uns kommen Menschen, antworte ich unsicher
und gleichzeitig routiniert, die das Gefühl haben, daß aus ihrem
Leben nichts als ein langgezogener Regentag geworden ist und aus
ihrem Körper nichts als der Regenschirm für diesen Tag.
Sie helfen diesen Personen, ja? fragt Frau
Balkhausen.
Äh, ja, ich hoffe.
Und wie? Ich meine, was machen Sie?
Wir versuchen, sage ich, diesen Leuten zu
Erlebnissen zu verhelfen, die wieder etwas mit ihnen selber zu tun
haben, jenseits von Fernsehen, Urlaub, Autobahn und Supermarkt,
verstehen Sie?
Frau Balkhausen nickt ernst und schaut auf die
gelbe Stoffrose neben ihrem Weinglas. Mir wird die Unterhaltung
mulmig. Es entgeht mir nicht, daß Frau Balkhausen an der Art meiner
Erlebnishilfe interessiert scheint und gleich weitere Fragen
stellen wird. Da bin ich schon aufgestanden und mache ein paar
ziellose Schritte im Zimmer. Zwischendurch verabschiede ich mich
von Herrn Auheimer, der sich für meine ›hellsichtigen Bemerkungen‹
(so sagt er wörtlich) bedankt und dann geht. In ein paar Minuten
ist es dreiundzwanzig Uhr. Ich drücke mich in der Nähe der
Küchentür herum, weil ich mit Susanne verabredet habe, daß sie mir
am Ende des Abends den Brief geben wird, den ich ihr vor achtzehn
Jahren geschrieben habe. Aber es kommt anders. Kurz vor der
Küchentür tritt Himmelsbach seitlich an mich heran und fragt, ob er
zwei Minuten lang etwas Persönliches mit mir besprechen dürfe. Ich
zucke zusammen, weil ich nicht weiß, was es zwischen Himmelsbach
und mir Persönliches geben könnte, und gleichzeitig fürchte, ein
Typ wie Himmelsbach könnte dieses Anonym-Persönliche zwischen uns
tatsächlich zur Sprache bringen wollen. lch kann ihm nicht
ausweichen. Er drängt mich zur Garderobe hin und sagt dann
angemessen leise: Ich möchte dich bitten, mir einen Gefallen zu
tun.
Ich blicke Himmelsbach ratlos und
wahrscheinlich ablehnend an, aber Himmelsbach läßt sich nicht
abschrecken, im Gegenteil, wahrscheinlich sind meine Blicke für ihn
sogar eine Ermunterung.
Du hast doch mal für den Generalanzeiger
geschrieben, beginnt er.
Ach Gott, seufze ich, das ist eine Ewigkeit
her!
Ich weiß, sagt Himmelsbach.
Damals war ich noch Student!
Ja, sagt Himmelsbach, aber du kennst die Leute,
die dort etwas zu sagen haben.
Das glaube ich nicht.
Doch, beharrt Himmelsbach, du kennst zum
Beispiel Messerschmidt.
Der ist immer noch da! rufe ich aus.
Wieso? fragt Himmelsbach. Kannst du ihn nicht
leiden?
Was heißt nicht leiden, antworte ich, ich kann
nicht viel mit ihm anfangen, sein Bedürfnis nach Einordnung, nach
Flachheit mag ich nicht.
Aber du kennst ihn?
Nur von damals, sage ich.
Du hast überhaupt nichts mehr mit dem
Generalanzeiger zu tun? fragt Himmelsbach.
Plötzlich ahne ich, was er will.
Weißt du, sage ich, um Provinzzeitungen herum
sammeln sich immer viele Halb-, Viertel- und sogar Achteltalente,
eine unangenehme Mischung. Je kleiner das Talent, desto wilder
zappelt der Getroffene damit herum. Ich will dort nicht gesehen
werden, wenn du verstehst, was ich meine.
Ich kann es mir nicht leisten, so streng zu
sein wie du, sagt Himmelsbach, jedenfalls nicht jeden Tag.
Er lacht kurz und spöttisch, wodurch er mir
momentweise sympathisch wird wie in alten Zeiten. Wahrscheinlich
deswegen trage ich eine halbe Minute dazu bei, ihm das Leben zu
erleichtern.
Du willst für Messerschmidt fotografieren, und
ich soll ihn fragen, ob er dich braucht?
Genau, sagt Himmelsbach.
Und warum fragst du nicht selbst?
Ich bin zu alt für Niederlagen, sagt
Himmelsbach.
Und wenn es nicht klappt?
Dann erfahre ich es nicht direkt, sondern von
dir. Mit diesem Polster dazwischen könnte ich die Niederlage
ertragen.
Die Erklärung gefällt mir, ich schweige
zustimmend, Himmelsbach rührt mich. Er ist offenkundig (ähnlich wie
Susanne) von meiner Wichtigkeit/Hintergründigkeit/Bedeutsamkeit
überzeugt, mehr noch, er schreibt mir Einfluß in der Stadt
zu.
Gut, sage ich, ich werde Messerschmidt
anrufen.
Mhm, macht Himmelsbach, das werde ich dir nie
vergessen.
Warten wir’s ab.
Und jetzt? Was machen wir jetzt? ruft Susanne
und kommt auf uns zu.
Ich gehe noch ein bißchen ins Orlando, sagt
Himmelsbach.
Ja, ins Orlando!
Nach ein paar Seufzern setzt sich die Meinung
durch, daß ein Besuch der Diskothek Orlando dem Abend die Krone
aufsetzt. Ich flüstere Susanne ins Ohr, daß ich dem Orlando nichts
abgewinnen kann und lieber nach Hause gehe.
Du bist ein Spielverderber, sagt Susanne. Geh
doch mit, sagt sie und küßt mich aufs Ohr.
Lieber nicht! Ich wäre ein Spielverderber, wenn
ich mitkäme.
Frau Balkhausen sucht ihre Handtasche, Susanne
lacht.
Die Nacht ist lang, sagt Frau Dornseif, die
Musik im Orlando wird uns ins Wochenende schleudern wie ein, wie
ein, Herrgott, sagt sie, mir fällt nichts ein.
Himmelsbach überprüft den Sitz seines
Geldbeutels in seiner Hosentasche und gibt mir die Hand. Ich achte
darauf, daß wir nicht zusammen die Treppen hinuntergehen. Ich
merke, Frau Balkhausen möchte weiter mit mir reden, auch in einer
Disko, wenn es sein muß. Ich biete Susanne an, ihr beim Abspülen zu
helfen. Frau Balkhausen durchschaut, daß sie abgewimmelt wurde, und
verschwindet. Zwei Minuten später verabschiede auch ich mich. Trotz
seines Vorsprungs gehe ich auf der Straße nur etwa fünfundzwanzig
Meter hinter Himmelsbach. Ich sehe, daß er sich die linke
Hosentasche mit Erdnüssen abgefüllt hat, die er jetzt einzeln aus
der Hosentasche holt und während des Gehens einzeln zerkaut.
Vier Tage später, an einem Samstagmorgen, stehe
ich zum ersten Mal als Händler auf dem Flohmarkt. Vor mir habe ich
den Tapeziertisch aufgebaut, den Lisa im Keller zurückgelassen hat.
Mit ein paar Reißnägeln habe ich dünnes weißes Papier auf der
Platte befestigt. Darauf stehen nebeneinander die Schuhe, die ich
zuletzt von Habedank bekommen habe. Jedes Paar biete ich für
achtzig Mark an, ein lächerlicher Preis. Kaum einer der pausenlos
vorüberziehenden Flohmarkt-Besucher ist an den Schuhen
interessiert. Die Leute schauen mich an, nicht die Schuhe. Seit
rund zwei Stunden stehe ich hier, und bis jetzt hat niemand
gefragt, was die Schuhe kosten. Der Mann links von mir handelt mit
Militärartikeln, auch er verkauft nichts. Er hat einen Portable auf
seinem Verkaufstisch stehen und schaut sich einen Film über
Thüringen an. Der Mann rechts von mir trägt eine
Micky-Maus-Krawatte und handelt mit billigem Blechspielzeug. Das
heißt, er handelt nicht, genauso wenig wie der Mann mit den
Militärartikeln oder ich. Wir stehen herum, wir schauen mal in den
Himmel, mal auf den Boden und mal in den Fernsehapparat. Immer
wieder frage ich mich, welches Gefühl in mir stärker ist, das der
Vergeblichkeit oder das der Sinnlosigkeit. Ich kann die Frage nicht
beantworten. Deswegen gehe ich nach einer Weile zur nächsten Frage
über, was zuerst in mich eindringen wird, die Verrücktheit oder der
Tod. Schon das Auftauchen des Wortes Tod schüchtert mich ein, ich
lasse schnell ab von der Frage. Aber worüber soll ich sonst
nachdenken? Ich ahne, daß mein Versuch als Luxusschuhhändler
vielleicht meine letzte Chance ist, ein sogenanntes normales Leben
zu finden. Ich betrachte die an mir vorbeigehenden Leute und rede
mir ein, daß ich so bin wie sie. Ich zähle auf, was ich mit ihnen
gemeinsam habe. Eine Weile geht es ganz gut. Aber dann merke ich,
ich kann aufzählen, was ich will, in der Summe passen die
Einzelheiten nicht zusammen, und sie können auch durch den Fortgang
des Lebens nicht zusammenpassend gemacht werden; deswegen kann die
Summe auch an diesem Spätmorgen von mir nicht genehmigt werden. Ich
weiß ja nicht einmal, wie ich die merkwürdige Tatsache, daß ich
mich heute als Flohmarkt-Händler versuche, in mein übriges Leben
einordnen soll. Ich denke an den Brief, den ich vor achtzehn Jahren
an Susanne geschrieben und den ich vor ein paar Tagen wiedergelesen
habe. Es handelt sich um das peinliche Dokument einer
Jugendschwärmerei, die vielversprechend angefangen hatte und dann
plötzlich verpuffte. Noch unangenehmer ist, daß ich die Tändelei
vergessen habe, was mir Susanne zum Glück nicht übelnimmt. Ich bin
fast sicher, daß eine Annäherung diesmal nicht ausbleiben wird.
Unklar ist mir nur, ob ich Susanne, wenn sie mich besucht, in die
Bedeutung des Blätterzimmers einweihen soll oder nicht. Ich werde
mich gewiß nicht anstrengen müssen, ihr die Idee des Blätterzimmers
verstehbar zu machen. Ein bißchen dumm ist nur, daß mein eigenes
Interesse an den Blättern in den letzten Tagen beträchtlich
nachgelassen hat. Sie sind in der trockenen Luft der Wohnung
pergamenten und zerbrechlich geworden. Erst gestern hatte ich ein
paar von ihnen in der Hand; ihre Ränder bröckelten schon ab. Ich
unterließ es, mit quergestellten Füßen durch das Zimmer zu gehen
und sich die Blätter vor den Schuhen aufstauen zu lassen. Ich werde
auch keine weiteren Blätter in die Wohnung schaffen. Eher werde ich
die Anfänge des Blätterzimmers wieder auflösen. Ich schaue die
kleine Böschung hinab, die sich im Rücken der Stände hinabzieht.
Die Böschung ist eine Art Müllplatz. Die Händler werfen hier alles
hinab, was sie nicht mehr brauchen, Plastikhüllen, Planen,
Blecheimer, Bierdosen, Kartons, Bekleidung, Bauschutt, Geröll. Das
Wort Geröll gefällt mir. Es drückt die Merkwürdigkeit des Lebens
genausogut aus wie das Wort Gestrüpp. Vermutlich sogar ein bißchen
besser, weil die Verstaubtheit allen Lebens in Geröll besser
anklingt als in Gestrüpp. Ich weiß nicht mehr, womit ich mich
zerstreuen soll. Der Militärhändler links von mir schaut sich in
seinem Portable die Nachrichten an. Gerade wird ein Politiker
interviewt. Wie immer stehen ein paar Wichtigtuer um ihn herum, die
mit ernsten Gesichtern in die Kameras blicken. Einer von diesen
Hintergrundmännern könnte ich vielleicht noch werden. Wann immer
Politiker im Fernsehen erscheinen, reise ich an und betätige mich
als Kulisse. Ich habe ein einwandfrei ernstes Gesicht, das sich zur
Unterstreichung jedes Anliegens hervorragend eignet. Ich werde viel
zu tun haben, ich werde viel Geld verdienen. Backgroundmann des
Fernsehens könnte mein Traumberuf werden. Endlich werde ich
schweigen dürfen und dafür auch noch bezahlt werden. Obwohl ich
diese Ideen nur zu meiner persönlichen Unterhaltung hervorbringe,
überlege ich doch, ob ich nicht das Fernsehen anrufen und meine
Dienste anbieten soll. Ein heruntergefallener Strickhandschuh hilft
mir, meinen kleinen Wahn zu vertreiben. Der Strickhandschuh lag
zuerst eine ganze Weile auf einem riesigen Wühltisch schräg
gegenüber. Dann streifte jemand den Rand des Tisches und schob den
Strickhandschuh in den Abgrund. Jetzt liegt er im Staub und wird in
meinem Innern zu einem Zeichen der Beständigkeit, das alle Zeiten
und Flohmärkte überdauern wird. Es geht auf Mittag zu. Ich verkaufe
nichts, ich komme mir tot vor. Es ist den vorüberströmenden Leuten
anzusehen, daß sie vor allem ein Gedanke beschäftigt: Was ist im
Leben dieses Mannes geschehen, daß er jetzt Schuhe verkaufen will?
Ich betrachte meine Jacke, die ich über ein Eisengeländer gelegt
habe, ohne jedes Ergebnis. Es wäre besser, ich würde nach Hause
gehen, aber dann müßte ich mich mit dem Gedanken des Versagens
herumschlagen. Endlich gelingt es mir, die Jugendlichen interessant
zu finden. Gleich fünfmal müssen sie ausdrücken, daß sie jung sind:
durch die Zappeligkeit ihrer Körper (1), durch die Gegenstände
(Cola, Popcorn, Comics, CDs) in ihren Händen (2), durch ihre
Bekleidung (3), durch ihre Musik, dargestellt durch Stöpsel in den
Ohren und Drähten um den Hals (4), und durch ihren Slang (5). Von
dieser Hyperwirklichkeit werde ich bei nächster Gelegenheit Susanne
erzählen. Sie wird lachen müssen, und dann werden wir beide froh
sein, daß wir wenigstens nicht mehr jung sind. Ein ruhiger Mann
zwischen vierzig und fünfundvierzig tritt an meinen Tapeziertisch
heran und schaut auf die Schuhe. Er nimmt das Paar ganz links, er
fährt mit den Händen in die Schuhhöhlen hinein und spannt die
Sohlen, indem er Spitze und Absatz zusammenbiegt. Ich überlege, ob
ich ein paar erläuternde Sätze sagen soll, aber es ist offenkundig,
der Mann versteht etwas von Schuhen und wird von Erklärungen nur
belästigt. Er prüft auf die gleiche Weise noch zwei weitere Paare.
Dann knickt er das linke Bein hoch und vergleicht die Größe der
Schuhe mit der Größe seiner eigenen Schuhe. Meine Schuhe passen.
Kurz danach holt er seine Brieftasche heraus und sagt, daß er die
drei von ihm geprüften Paar Schuhe mitnehmen möchte. Ich nenne den
Preis und verstaue die Schuhe in zwei Plastiktüten. Sekunden später
legt mir der Mann genau zweihundertvierzig Mark, passend in vier
Scheinen, in die Hand. Dann nickt er mir kurz zu und zieht weiter.
Es ist klar, daß ich nach diesem frappanten Verkaufserfolg meinen
Stand in Kürze zusammenklappen und nach Hause gehen werde. Ich will
nur noch die inneren Erwärmungen mitmachen, die die Freude jetzt in
mir entfacht. Ich stecke das Geld weg und lehne mich gegen das
Eisengeländer hinter mir. Ich schaue auf die Abfälle und frage
mich, wie der Bauschutt und das Geröll hierhergekommen sind.
Sonderbar ist, daß ich schon anfange, die zufällige Umgebung als
Bleibe anzunehmen. Hoffentlich bedeutet mein innerer Eifer nicht,
daß ich mir schon eine Karriere als Flohmarkt-Händler
anphantasiere. Die Art und Weise, wie ich mich schon nach kurzer
Zeit in der Nähe jedes Mörtelhaufens wohl fühle, ist vermutlich aus
der Nachkriegszeit übriggeblieben. Damals war ich ein Kind, das
zwischen den Trümmern des Krieges umherging und sich in jeder Ruine
fragte, ob man hierbleiben könne. Der Krieg war erst seit kurzem zu
Ende, aber durch den Anblick der Zerstörungen war ich sicher, daß
ein neuer Krieg jederzeit losbrechen könnte und die Menschen
zwingen würde, sich in jedem Staubloch einzurichten. Nein, ich
werde doch nicht gleich nach Hause gehen. Vorher werde ich das Café
Rosalia aufsuchen, in dem ich schon lange nicht mehr gewesen bin.
Dort werde ich ein den Geschäften des Tages angemessenes
Mittagsmahl zu mir nehmen und mich weiter meiner Freude hingeben.
Mit vier oder fünf Handgriffen ist der Tapeziertisch
zusammengelegt, die nicht verkauften Schuhe verschwinden in zwei
Plastiktüten. Das Café Rosalia habe ich früher mit Lisa oft
aufgesucht, hoffentlich ist es noch da. Es ist gar kein richtiges
Café, sondern nur eine größere, inzwischen total altmodisch
gewordene Bäckerei mit zwei kleinen Gasträumen, die man durch einen
schmalen Korridor von der Bäckerei aus erreicht. Unterwegs komme
ich an einem Kurzwarengeschäft vorbei, in dessen Schaufenster ein
wunderbares Sonderangebot ausgestellt ist. In einer Schachtel
liegen zahllose schwarze und weiße Nähgarnrollen, das Stück für
eine Mark. Ein ganz und gar einmaliges Bild! Wenn Lisa jetzt da
wäre, würde sie den Laden betreten und je eine weiße und eine
schwarze Nähgarnrolle kaufen und sie zu Hause auf einem Regal
nebeneinander aufstellen und sie von Zeit zu Zeit verliebt
anschauen wie lebende Wesen. Gott sei Dank, das Rosalia ist noch
da! Noch immer befindet sich in dem Café nur ein einziger, noch
dazu kleiner Garderobenständer. Das bedeutet, daß die meisten Gäste
ihre Jacken und Capes und Tüten und Taschen auf den Stühlen neben
sich zusammenknüllen und übereinanderstauen. Diese merkwürdigen,
meist dunkelfarbigen Knäuel und Klumpen sehen aus wie kleine
verhüllte Lebewesen, so daß die Räume momentweise anmuten wie ein
Café für Tiere. Das Rosalia ist gut besucht; nur an der hinteren
Wand, zum Hof hin, gibt es noch Platz. Am Tisch links von mir
sitzen zwei ältere Frauen mit einem etwa neunjährigen Jungen,
rechts von mir ein älteres Paar. Ich lehne mein Gepäck gegen die
Wand und bestelle Menü I, Lachs mit Reis und Spinat. Die Tischdecke
ist an drei Stellen sorgfältig gestopft, vermutlich von einer
übriggebliebenen Oma, die niemals in den Gasträumen zu sehen ist.
Der Junge löffelt aus einem Glasschälchen Blaubeeren mit Milch.
Viele Beeren zerdrückt er, so daß sich die Milch mehr und mehr blau
verfärbt. Milchblau, gibt es diese Farbe? Es gibt sie wohl nicht,
aber sie leuchtet bis zu mir herüber. Die Frau neben dem Jungen
beklagt sich über die Größe der Erdbeeren auf ihrem Obstkuchen. Der
Junge weist sie zurecht: Wenigstens an den Erdbeeren soll sie nicht
herumkritteln. Auch der ältere Ehemann rechts von mir wird
kritisiert. Schau nicht immerzu auf deine kaputte Uhr, sagt die
Frau neben ihm. Der Junge hat die Blaubeeren aufgegessen und beugt
seinen Oberkörper nach vorne. Mußt du dein Haar auf den Tisch
legen, sagt die zuvor von dem Jungen kritisierte Frau. Ich
begreife, mein Glück ist, daß mich niemand beanstandet. Der Junge
krabbelt unter den Tisch. Er legt sich auf den Rücken und schaut
sich den Tisch von unten an. Mußt du mit deinem neuen Hemd den
Boden aufwischen, ruft die andere Frau unter den Tisch. Es werden
schon lange keine Beweise mehr gebraucht, daß man es auf der Welt
nicht aushalten kann, aber hier wird gerade wieder einer geliefert.
Der Lachs wenigstens ist ausgezeichnet, der Spinat ebenfalls. Ich
versuche, dem Jungen unter dem Tisch zuzuzwinkern, aber es gelingt
nicht. Die Frauen bemerken meine Solidarität mit dem Jungen und
halten sie für problematisch beziehungsweise unangebracht. Sie
rufen den Jungen hoch. Er sitzt jetzt ruhig zwischen den beiden
Frauen. Die schauen mich inzwischen an wie einen frisch entlarvten
und gerade noch verhinderten Kinderverderber. Endlich will auch ich
nichts mehr und betrachte nur noch die fortlaufend zurechtgewiesene
Welt.