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Am Telefon war Messerschmidt freundlich, ja herzlich. Er tat, als hätte er seit Jahren auf einen Anruf von mir gewartet. Außerdem war er so redselig, daß ich kaum zu Wort kam, wogegen ich freilich nichts hatte. Er erinnerte an unsere Studentenjahre, und ich war erstaunt über die Fülle der Details, die er präzise im Gedächtnis aufbewahrt hatte. Weil ich nicht viel reden mußte, konnte ich leicht verschleiern, daß mir die Studentenzeit viel unbehaglicher war als ihm. Erst nach ungefähr zehn Minuten gelang es mir, mein Anliegen vorzubringen. Zuvor hatte er mich zweimal aufgefordert, doch einfach bei ihm in der Redaktion vorbeizukommen. Ich hatte kein Bedürfnis, den Generalanzeiger aufzusuchen. Es wäre mir lieber gewesen, ich hätte Messerschmidt in einem Café treffen können, aber gegen seine sprudelnde Bestimmtheit kam ich nicht an. Am Schluß des Telefonats gelang mir der Hinweis, daß ich nicht wegen mir selber anrief.
So? rief er ins Telefon; worum gehts denn dann?
Es geht, sagte ich, es geht um den Fotografen Himmelsbach.
Ach Gott, sagte Messerschmidt.
Was ist mit ihm?
Himmelsbach ist vermutlich eine tragische Figur, nein, er ist keine tragische Figur, er ist unfähig, sagte Messerschmidt.
Aber er hat doch schon einmal für den Generalanzeiger gearbeitet?
Er wollte, sagte Messerschmidt, aber es ist nie dazu gekommen; einmal hat er den Termin verschlafen, dann waren die Fotos, die er anbrachte, total mau, aber wirklich total mau, die konnte nicht einmal der Generalanzeiger drucken! rief Messerschmidt und lachte ein bißchen. Beim dritten Versuch versagte der Fotoapparat und beim vierten legte er sich mit den Veranstaltern an oder sonstwas, jedenfalls hat mit Himmelsbach nie irgend etwas geklappt.
Ahh so, machte ich und schwieg; das heißt, ich überlegte schon, wie ich Himmelsbach das Ergebnis meiner Intervention beibringen sollte, nein, genauer gesagt war ich gekränkt, weil mir Himmelsbach diese Vorgeschichte verschwiegen hatte, nein, noch genauer gesagt verstand ich bereits, daß er mir diese Vorgeschichte natürlich niemals anvertrauen konnte.
Aber warum reden wir so lange über Himmelsbach! sagte Messerschmidt. Willst du nicht vorbeikommen auf einen Kaffee am Nachmittag, vielleicht übermorgen, am Donnerstag, da sitz ich nur herum und würde dich gerne sehen.
Dieser Donnerstag ist heute, und ich bin auf dem Weg zum Generalanzeiger. Ich bin sogar ein bißchen gespannt, wie Messerschmidt aussieht. Als wir uns beinahe täglich sahen, waren wir jung, und ich erinnere mich gut, daß Messerschmidt mir damals peinlich war. Er leitete ein REGIONALKOMITEE der KPD, das heißt, er verfaßte, druckte und verteilte Flugblätter vor den Werkstoren großer Betriebe und agitierte die Arbeiter. Als Mao starb, organisierte er eine Spontandemonstration in der Stadt. Es war ein kleiner Haufen junger Leute, deren Anführer Messerschmidt in der linken Hand ein Megaphon trug und in der rechten eine Obstkiste. Die Obstkiste bestieg er von Zeit zu Zeit, hielt sich das Megaphon an den Mund und redete. Mit tiefer Trauer gibt euch das Zentralkomitee bekannt, daß Genosse Mao Tse-tung heute nacht im Alter von zweiundachtzig Jahren verstorben ist. Wunderbar selbstverständlich tat Messerschmidt so, als seien alle seine Zuhörer schon immer Chinesen gewesen oder würden es jetzt ganz schnell werden. An seinen unglaublichsten Satz erinnere ich mich bis heute: Wir werden unsere Trauer über den Tod des Großen Vorsitzenden in Energie verwandeln. Ich hatte Messerschmidt damals ernsthaft bitten wollen, er möge mir die Technik dieser Umwandlung persönlich beibringen, aber dann wurden solche Ankündigungen der Grund, warum wir uns mehr und mehr voneinander entfernten, bis Messerschmidt viele Jahre später in der Redaktion des Generalanzeigers wiederauftauchte und ich auf seine Bitte hin sein freier Mitarbeiter wurde. Wenn Messerschmidt wüßte, daß ich mich mindestens genausogut erinnere wie er, hätte er mich vielleicht nicht eingeladen. Natürlich werde ich ihn heute nur an das erinnern, woran er voraussichtlich erinnert werden möchte. Das kleine Verlagsgebäude des Generalanzeigers liegt hinter den Lagerhäusern zweier großer Kaufhäuser. Katzen schleichen zwischen leeren Kartons herum und suchen nach Nahrung. Ich schaue ihnen eine Weile zu, und sie gefallen mir gut. Noch kurz vor dem Eingang strauchle ich und will wieder nach Hause. In diesen Augenblicken verläßt ein gutgekleideter Mann das Verlagsgebäude. Der Mann hat ein Exemplar des Generalanzeigers zu einem Stab zusammengerollt und schlägt sich damit während des Gehens auf den rechten Oberschenkel. Von dieser Verhaltensweise geht ein Druck auf mich aus. Es ist merkwürdig, aber von diesem Augenblick an weiß ich, daß ich nicht mehr zurückkann. Momentweise blitzt die Möglichkeit auf, daß meine inneren Vorbehalte verbraucht und veraltet sein könnten. Sofort möchte ich wissen, ob es verdorbene Empfindlichkeit gibt oder nicht; wenn ja, ob verdorbene Empfindlichkeit selber schon ein Produkt verdorbener Empfindlichkeit ist und aufgrund welcher Prozesse Empfindlichkeit sich in verdorbene Empfindlichkeit verwandeln kann. Vielleicht weiß es Messerschmidt, denke ich und erfreue mich still meines Hohns. Sekunden später betrete ich den Hauptflur des Verlagshauses. Ein Teil meiner Unruhe legt sich, als ich sehe, daß sich die Anzeigenabteilung immer noch links vom Hauptflur befindet. Die Redaktion ist nach wie vor im ersten Stockwerk untergebracht. Auf der Treppe begegnet mir Feuilletonredakteur Schmalkalde, der mich nicht wiedererkennt. Vor neunzehn Jahren sammelte er einmal alles, was anonyme Prospektverteiler ein Jahr lang in seinen Briefkasten steckten. Aus dem Material wollte er eine ›kommunikationskritische Fibel‹ machen, die jedoch nie gedruckt wurde. Jetzt geht Schmalkalde wie ein nie erschienenes Buch an mir vorbei und schaut auf den Boden. Messerschmidt zerschneidet mit einem kleinen Taschenmesser einen Pfirsich, als ich die Tür zu seiner Stube öffne. Er legt das Taschenmesser weg und kommt auf mich zu. Er ist füllig geworden und hat ein paar frische rote Flecken im Gesicht, als hätte er sich gerade geekelt.
Oh! Du trägst gelbe Schuhe! ruft er aus. Weißt du, wer immer gelbe Schuhe getragen hat? Hitler und Trotzki, Diktatoren tragen gelbe Schuhe, mein Lieber!
Ich gehe nicht auf die Bemerkung ein und setze mich. Messerschmidt geht um mich herum und setzt die Kaffeemaschine in Gang.
Wie gehts? Was machst du? fragen wir uns gegenseitig.
Ich weiche aus und sage nur, daß ich mich so durchschlage.
Soso, macht Messerschmidt.
Und du, bist du zufrieden?
Mir geht es sehr gut, sagt Messerschmidt. Ich kann kaum glauben, daß es mir so gut geht, so unwahrscheinlich kommt mir mein Leben vor.
Die Kaffeemaschine röchelt, schwarzer Kaffee tröpfelt in die gläserne Kanne. Messerschmidt spült in einem winzigen Waschbecken zwei Tassen und trocknet sie ab.
Du weißt doch, sagt er, welche ungeheuren Lebensverhinderer meine Eltern waren, das habe ich dir doch erzählt?
Hat dein Vater nicht deine Mutter gezwungen, seine alten Unterhosen zuerst eine Weile als Staublappen und danach als Schuhputzlumpen zu verwenden?
Mann! Hast du ein Gedächtnis! Genauso wars! ruft Messerschmidt. Meine ganze Jugend lang hatte ich den Eindruck, mich retten zu müssen, egal wo und egal wie. Und erst in diesen Jahren, stell dir das vor, ist dieses Gefühl endlich von mir gewichen. Ich bin ein bißchen verwirrt darüber, daß mir die Rettung geglückt ist. Ich lebe ganz und gar zurückgezogen. Weil ich mich gerettet habe, mag ich keinen Lärm. Und weil ich mich vor Leuten fürchte, die dauernd den Mund zu voll nehmen, mag ich keine Kultur. Ich brauche Ruhe, und diese Ruhe habe ich hier gefunden, beim Generalanzeiger.
Messerschmidt schenkt Kaffee ein und lacht leise. Sein alter Bekenntniszwang ist wieder da, er redet, wie er immer geredet hat.
Und du! ruft er aus.
Ja, und ich, sage ich ein bißchen blöde.
Nie werde ich vergessen, sagt Messerschmidt, wie du vor ungefähr achtzehn Jahren den Film Casablanca analysiert hast, erinnerst du dich?
Ich schüttle den Kopf.
Der Film ist deswegen so beeindruckend, hast du gesagt, sagt Messerschmidt, weil der Held eine Menge schwerer Entscheidungen trifft, die weitreichende Folgen haben. Er verläßt Menschen und Länder, er wechselt Identitäten, Frauen und politische Überzeugungen. Die Leute im Kino treffen aber immer nur kleine Entscheidungen, die folgenlos bleiben. Sie fragen sich höchstens, ob sie einen neuen Fernseher oder mal einen neuen Mantel brauchen, mehr ist bei denen nicht los. Mit anderen Worten, sagt Messerschmidt, im Leben der Leute, die im Kino sitzen, ist immer schon alles vorentschieden.
Habe ich das gesagt? frage ich.
Hast du damals gesagt, sagt Messerschmidt, ich weiß sogar noch wo, in der Pizzeria am Adenauer-Platz, die es heute nicht mehr gibt, erinnerst du dich?
Ich schaue Messerschmidt ins Gesicht und erinnere mich nicht.
Die Lüge von Casablanca besteht darin, hast du gesagt, sagt Messerschmidt, daß er die Sphäre von wirklichen Lebensentscheidungen und die Sphäre der Nullentscheidungen der Zuschauer so sehr miteinander vermischt, daß für die Leute im Kino die Täuschung entsteht, auch sie würden inmitten bedeutsamer Zuspitzungen leben.
Habe ich das gesagt?
Druckreif hast du das gesagt, sagt Messerschmidt, und du hast hinzugefügt, genaugenommen ist nicht der Film verlogen, sondern nur der Gebrauch, den die Leute von ihm machen, aber genau deswegen ist auch der Film verlogen, weil er den Zuschauern eine solche Lüge gestattet.
Für damalige Verhältnisse klingt das gut, sage ich.
Heute würdest du nicht mehr so urteilen? fragt Messerschmidt.
Doch, sage ich, ich würde nur hinzufügen, daß der Film auch dem Interpreten ein paar Täuschungen erlaubt.
Wir lachen.
Siehst du! ruft Messerschmidt aus, willst du noch Kaffee?
Nein, danke.
Ich halte die Hand über meine leere Tasse. Die triumphierende Art, wie Messerschmidt mich erinnert, macht mich verlegen. Dabei ahne ich, daß noch viel stärkere Verlegenheiten auf mich zukommen. Messerschmidt holt den weggeschobenen Pfirsich wieder zu sich heran und zerschneidet ihn in kleine Stücke. Aus seiner Schublade holt er sich eine Kuchengabel und spießt damit die Pfirsichstücke auf, ehe er sie sich in den Mund schiebt. Ich fürchte schon, daß er mir ebenfalls eine Kuchengabel gibt und mich zum Mitessen auffordert.
Willst du nicht wieder für mich arbeiten? fragt Messerschmidt; es hat doch damals ganz gut geklappt mit uns beiden?! Ich weiß ja nicht, was du heute machst, aber wenn du Lust hast, wie gesagt, sagt Messerschmidt.
Ich weiß gar nicht, ob ich das heute noch kann, sage ich, und ich sage diesen Satz nur, weil ich Messerschmidts Angebot nicht sofort ablehnen will.
Ha! macht Messerschmidt, ist diese Bescheidenheit gespielt oder echt?
Es ruft meinen Dünkel hervor, daß sich Messerschmidt über meine Bescheidenheit Gedanken macht. Immerhin weiß er nicht, daß ich mich nur dann wohl fühle, wenn ich in jeder Lebenssituation etwas verbergen kann. Dahinter steht vermutlich der mich bis heute erstaunende Mechanismus, daß sich neue Identität dann bildet, wenn einem jemand zu nahe tritt. Es besteht die Möglichkeit, daß durch meine Nachdenklichkeit die Verbindung zu Messerschmidt abreißt. Schon bin ich stumm und starre erst auf die Schreibtischkante, dann auf die Reste des Pfirsichs. Vermutlich hält Messerschmidt mein Schweigen bereits für ein Nachdenken über sein Angebot.
Du kannst es dir ja überlegen, sagt Messerschmidt, ein Anruf genügt.
Und über Himmelsbach müssen wir nicht mehr sprechen? frage ich.
Hoffentlich mache ich dir damit keinen Ärger, aber Himmelsbach möchte ich nicht mehr sehen.
Na gut, sage ich.
Schon auf dem Heimweg bin ich nicht mehr völlig sicher, daß ich Messerschmidts Angebot ausschlagen werde. Obwohl ich das Geld dringend brauche, das ich beim Generalanzeiger verdienen kann/könnte, denke ich dabei nicht an mich, sondern an Susanne. Susanne wird die Welt der Zeitung überschätzen und sich an meiner Seite endlich selber bedeutsam vorkommen. Hinter mir gehen ein paar unangenehm laut sprechende Angestellte. Ich trete kurz in einen Hauseingang und lasse die Leute an mir vorbeiziehen. Jetzt habe ich einen Mann vor mir, dessen linkes Bein eine Idee kürzer ist als das rechte. Bei jedem Schritt sinkt der Mann mit seiner linken Körperhälfte ein wenig ein, wodurch sein Gang schaufelartig wird. Dieser Schaufelgang ist im Augenblick genau das richtige für mich, denke ich und ahme den Gang des Mannes eine Weile nach. Kurz vor der Brücke begegnet mir Anuschka, der ich vor dreizehn Jahren eine Weile den Hof gemacht habe, die mich dann aber abwies und dabei den Satz sagte: Ich bin doch viel zu knochig für dich. Durch eine knappe Bewegung (sie stellt ihr Gesicht schräg und zeigt mir die abweisende Glätte ihrer linken Wange) teilt sie mir mit, daß sie nicht angehalten und nicht angesprochen werden möchte. Ich habe die Bitte verstanden und komme ihr nach. Ich gehe mit einem Kopfnicken an Anuschka vorbei und wiederhole dabei stumm ihren Satz von damals: Ich bin doch viel zu knochig für dich. Wie merkwürdig es ist, daß ein einzelner Satz das letzte sein soll, was ich von Anuschka zurückbehalte. Über diese Merkwürdigkeit würde ich jetzt gerne mit Anuschka sprechen, obwohl Anuschka ihre Bemerkung von damals gewiß vergessen beziehungsweise niemals aufbewahrt hat und ich außerdem längst weiß, daß ich die Merkwürdigkeit des Lebens nur ausdrücken kann, indem ich meine Jacke in ein Gestrüpp oder ein Geröll werfe. Der Mann mit dem Schaufelgang holt ein Bonbon aus seiner Hosentasche, entfernt das Papierchen und steckt sich das Bonbon in den Mund. Das Einwickelpapierchen segelt auf die Straße und bringt jetzt, als ich an ihm vorübergehe, ein schönes sanftes Geräusch auf dem Beton hervor. Ich möchte stehenbleiben und dem Geraschel des Bonbonpapierchens noch ein paar Sekunden zuhören. In den Augenblicken, als die Merkwürdigkeit des letzten Satzes von Anuschka im Geraschel des Bonbonpapierchens aufgeht, möchte ich die Gesamtmerkwürdigkeit allen Lebens das Geraschel nennen. Am liebsten würde ich mich niederbeugen zu dem Papierchen, das vom Wind mal hierhin und mal dorthin getrieben wird. Aber ich möchte auch dem Mann mit dem Schaufelgang noch eine Weile hinterhergehen, inzwischen fast schon mit Dankbarkeit, weil ich ihm das neue Wort für die Merkwürdigkeit verdanke. Versuchsweise stelle ich mir vor, ich nehme das Angebot von Messerschmidt an. Auf einen Schlag werde ich mit einer Großgruppe von örtlichen Wichtignehmern umgeben sein, Tag für Tag. Prompt fliegt eine kleine Schwermut heran, die ich jetzt über die Brücke trage. Ein ebenso kleiner Schmerz kaspert in mir herum und sagt: Du mußt deinen Vorteil suchen und das Angebot annehmen. Mit dem Schmerz werde ich fertig, aber gegen die Schwermut muß ich etwas tun. Sie tänzelt vor mir her und will mit mir anbändeln. Ich gebe ihr den Namen Gertrud, damit ich sie wirkungsvoller verhöhnen kann. Gertrud Schwermut, hau ab. Prompt stellt sie sich vor: Gestatten, Gertrud Schwermut, darf ich Sie ein bißchen herunterziehen? Hau ab, wiederhole ich. Sie verschwindet nicht, im Gegenteil, sie faßt mich an, ich spüre ihre schwarze Wärme. Vermutlich denkt sie, sie hätte mich im Griff. Sie drängt mich zum Brückengeländer hin, ich sehe auf das dunkle Wasser hinunter. Wie wärs mit einer Trennung vom Leben, fragt sie, wegen erwiesener Geringfügigkeit? Ich kenne diese Fragen, sie machen mich stumm. Gertrud redet auf mich ein wie ein schwer erziehbares Kind. Und doch ist sie ein bißchen verärgert, weil ich wieder nicht alles tue, was sie von mir verlangt. Eine halbe Minute kämpfe ich mit Gertrud Schwermut auf der Brücke, dann merke ich, es sind ihre Kräfte, die nachlassen, nicht meine. Den Mann mit dem Schaufelgang habe ich während des Fights mit Gertrud leider aus den Augen verloren. Ein Lieferwagen einer Glaserei fährt langsam vorüber. Auf einem Gestell auf der Ladefläche sind zwei hohe Schaufensterscheiben eingespannt. Ich wünsche mir, statt meiner sollen die beiden Schaufensterscheiben zerbersten und dann auf die Straße fallen, sofort. Aber dann fühle ich, derartig heftige Wünsche sind nicht mehr nötig. Gertrud Schwermut ist überwältigt, jedenfalls diesmal. Wenn mich jetzt keine weiteren Wegelagerer aufhalten, werde ich in Kürze zu Hause eintreffen. Aber ich habe mich zu früh gefreut. Auf der anderen Seite der Brücke löst sich Frau Balkhausen aus einem Fußgängerpulk und kommt direkt auf mich zu. Sie reicht mir ihre kleine kalte Hand und schaut mich an.
Das Wochenende kommt, sagt sie, ich weiß absolut nicht, was ich machen soll.
Leider traue ich mich nicht, Frau Balkhausen zu sagen, daß ich soeben Gertrud Schwermut niedergerungen habe, daß ich mich deswegen ein bißchen schwächlich fühle und daß mir Wochenenden, eigene und fremde, schon lange egal sind.
Ich räuspere mich nur.
Ich denke nach, was ich machen könnte, sagt Frau Balkhausen, aber es kommt nichts dabei heraus. Dann schaue ich aus dem Fenster, aber ich sehe nichts oder nur das, was ich gestern und vorgestern schon gesehen habe. Können Sie mir einen Rat geben?
Ich? frage ich.
Sie leiten doch ein Institut für Gedächtniskunst oder Lebensfreude oder was. Sie bieten doch Tageskurse an, nicht, das haben Sie selber gesagt. Ich interessiere mich für einen solchen Kurs, ich bin fast sicher, daß Sie mir helfen können.
Ich starre Frau Balkhausen an, wahrscheinlich zu lang. Es überkommt mich Mitleid, auch Rührung, im Augenblick weiß ich mir nicht zu helfen, und doch fühle ich mich schon in der Pflicht. Immerhin hat Frau Balkhausen mir gegenüber die Diskretion des Leidens ein wenig gelüftet, dieser Entblößung kann ich kaum widerstehen.
Dann rufen Sie mich doch einmal an, sage ich, vielleicht am Freitag nachmittag?
Gerne! Danke!
Frau Balkhausen nickt mehrmals, ich sage ihr meine Telefonnummer, die sie sich auf einem Zündholzbriefchen notiert.
Vielen Dank, sagt sie, vielen Dank, und zieht weiter.
Ich schaue ihr nach, sie dreht sich nicht um. Sie weicht einem Türken aus, der zusammen mit seiner verhüllten Ehefrau Plastikkleiderbügel aus einem großen Karton herausholt. Wenig später gehen die beiden mit mehreren, gegen ihre Oberkörper gedrückten Kleiderbügel an mir vorbei. Ich schaue das türkische Paar mit einem Anflug von Dankbarkeit an. Ihr Anblick verstärkt in mir das Gefühl, daß ich mich jetzt wieder in einem Kreis von Wirklichkeit bewege, der weit unterhalb meiner eigenen Kompliziertheit liegt. Wahrscheinlich deswegen habe ich auch Frau Balkhausen schon vergessen. Fünf Minuten später bin ich zu Hause. Immer öfter, wenn ich die Tür der Wohnung aufschließe, fällt mir neuerdings meine Mutter ein, wie sie damals, als ich Kind war, nach Hause kam und ich ihr aus der Tiefe der Wohnung entgegensprang. Und wie sie dann aufseufzte, ich solle sie doch erst einmal heimkommen lassen. Und wie ich daraufhin ein wenig gekränkt war, weil sie nicht genauso freudig gestimmt war wie ich. Jetzt betrete ich den Flur der Wohnung und sage halblaut den gleichen Satz wie meine Mutter damals: Laß mich doch erst mal heimkommen! Und ich schaue umher, ob ich mich nicht als empörtes Kind irgendwo herumlungern sehe. Für ein paar Augenblicke bin ich gleichzeitig meine Mutter und ihr Kind. Dann denke ich, jemand, der nach Hause kommt, ist nichts weiter als jemand, der nach Hause kommt. Es ist so sonderbar, daß ich das Küchenfenster öffnen muß. Auf dem Tisch liegt ein Stück Brot, das ich gestern habe wegwerfen wollen. Auch während des langsamen Kauens bin ich ein bißchen empört wie ein Achtjähriger und gleichzeitig ein bißchen genervt wie seine achtundvierzigjährige Mutter. Kurz darauf gerate ich in eine wunderbar lebensartige Stimmung. Ich schließe das Fenster und gehe zum Telefon. Ich rufe Messerschmidt an und sage ihm, daß ich sein Angebot annehme.