DAT-TAY-VAO

 

1Patsy drückte vorsichtig die Hände auf seinen Bauch, um die Eingeweide an ihrem angestammten Platz zu halten. Ermattet, durchnässt und hilflos lag er in dem engen Durchgang zwischen den Hauswänden und starrte in den klaren Nachthimmel hinauf. Er konnte sich nicht rühren und traute sich nicht, um Hilfe zu rufen. Bei dem einen Mal, als er laut genug gerufen hatte, um auch auf der Straße gehört zu werden, waren die Darmschlingen gegen seine Hände gequollen. Es hatte sich angefühlt wie Mamas selbst gemachte Würstchen. Die wurden durch das Kochen auch immer so grau und waren in der roten Tomatensauce ganz glitschig. Die Vorstellung, dass seine Eingeweide aus dem Schlitz herausrutschen könnten, hatte ihn davon abgehalten, noch einmal zu rufen.

Und nach dem einen Mal war niemand gekommen.

Er wusste, er lag im Sterben. Er war schon so gut wie tot. Er spürte, wie das Blut aus dem senkrechten Schnitt in seinem Bauch hervorquoll, wie es an seinen Fingern entlang und dann an den Unterarmen hinunter auf den Boden lief. Seine Kehrseite war vom Nacken bis zu den Knien durchnässt. Wahrscheinlich lag er in einer Lache seines eigenen Blutes – seiner ganz eigenen selbst gemachten roten Sauce.

Hilfe war vielleicht direkt um die Ecke, aber er konnte nicht danach rufen. Selbst wenn der Anblick der aus ihm hervorquellenden Eingeweide nicht unerträglich wäre, fehlte ihm mittlerweile die Kraft dazu. Und doch war Hilfe nur wenige Meter entfernt … das nächtliche Treiben auf den Straßen Quang Ngais … so nah …

Mir glückt einfach nie etwas. Niemals.

Es war ein so verlockender Deal gewesen. Sechs Kilo kambodschanischer Stoff. Den zurück nach Brooklyn zu schmuggeln wäre ein Kinderspiel und dann wäre er ein gemachter Mann gewesen. Onkel Tony wüsste, wie man das Zeug unter die Leute brachte und er stände endlich einmal gut da. Niemand würde ihn danach noch Fatman nennen. Die Älteren würden ihn Pasquale rufen und die Jüngeren Pat.

Und Onkel Tony hätte ihn ›mein Junge‹ genannt, so wie er es immer getan hatte.

Hätte. Könnte Onkel Tony ihn jetzt sehen, hieße das wohl eher ›hirnloser Trottel‹. Er konnte ihn beinahe hören: Sechs Kilo für zehn Riesen? Hast du sie nicht mehr alle, du Schwachkopf! Habe ich dir nicht immer gesagt, wenn es zu schön ist, um wahr zu sein, dann ist es das meistens auch nicht! Verdammte Scheiße! Hast du denn nicht gemerkt, dass du verarscht wirst?

Nein. Hatte ich nicht. Weil ich es nicht merken wollte. Ich war viel zu scharf auf den Deal. Ich war auf das schnelle Geld aus. Wie üblich war ich mal wieder zu blöd, um zu sehen, dass dieser Scheißkerl Hung mich vorgeführt hat.

Keine Drogen.

Kein Deal.

Nur ein langes, scharfes Messer.

Die Sterne über ihm verschwammen und verliefen ineinander, dann wurden sie wieder klar.

Der Schmerz war zuerst unerträglich gewesen, jetzt aber fühlte er ihn nicht mehr. Wäre da nicht diese Kälte, dann wäre das nicht anders, als würde man sich mit Whiskey und Gras zudröhnen und langsam wegdösen. Es war beinahe angenehm. Wenn da nicht die Kälte wäre. Und die Angst.

Schritte … Sie kamen von rechts. Es gelang ihm, den Kopf ein paar Grad zu drehen. Eine einsame Gestalt kam auf ihn zu und zeichnete sich gegen die Lichter ab, die von der Straße hereinfielen. Ein langsamer, schwankender Gang. Wer auch immer das war, er schien es nicht eilig zu haben. War Hung zurückgekommen, um ihm den Rest zu geben?

Nein, der Kerl war zu dünn, Hung sah anders aus.

Die Gestalt kam zu ihm und hockte sich neben ihn. Im schwachen Licht der Sterne und der Straßenbeleuchtung sah Patsy ein runzliges Gesicht und einen silbrigen Ziegenbart. Der Kerl brabbelte etwas auf Vietnamesisch vor sich hin.

Gott. Ho Chi Minh persönlich war gekommen, um ihn zu bestehlen. Zu spät! Das Geld ist bereits futsch! Alles weg!

Nein, das war nicht Ho! Konnte es gar nicht sein. Onkel Ho war vor vier Wochen gestorben. Das hier war nur ein altes Schlitzauge mit dem üblichen schwarzen Gewand. Die sahen alle gleich aus, vor allem die Alten. Der hier unterschied sich von den anderen nur durch die breite Narbe über dem rechten Auge. Es sah aus, als wären die Augenlider über der Augenhöhle zusammengewachsen.

Der alte Mann griff dorthin, wo Patsy den Schnitt in seiner Bauchdecke zusammenpresste und stieß seine Hände beiseite. Patsy wollte protestierend aufschreien, hörte aber nur ein Seufzen. Er versuchte, die Hände wieder zu heben, um sie auf die Wunde zu legen, aber sie waren wie weiches Gummi und versagten den Dienst.

Der alte Mann lächelte, redete melodisch in seiner Schlitzaugensprache auf ihn ein und presste seine Hände gegen die offene Wunde in Patsys Bauch. Patsy schrie auf, ein heiseres, kehliges Geräusch, das ihm wegen des sengenden Schmerzes entfuhr, der an der Stelle, wo die Hände des alten Schlitzauges auflagen, in alle Nerven seines Körpers schoss. Die Sterne verschwammen dieses Mal noch stärker vor seinen Augen, verblassten, verloschen aber nicht.

Als sein Blick wieder klarer wurde, war das alte Schlitzauge aufgestanden, hatte sich umgedreht und schlurfte zurück zur Straße. Und auch der Schmerz ebbte wieder ab.

Patsy versuchte erneut, die Hände auf seinen Bauch zu heben und diesmal bewegten sie sich. Sie schienen kräftiger zu sein. Er tastete mit seinen Fingern durch das glitschige Blut nach den Rändern der Wunde und rechnete damit, herausgequollene Eingeweide vorzufinden.

Er fand den Schnitt beim ersten Versuch nicht. Und auch nicht beim zweiten. Wie war das möglich? Der Schnitt war gut dreißig Zentimeter lang und klaffte bestimmt eine Handbreit auseinander, direkt links an seinem Bauchnabel vorbei. Er versuchte es erneut, ganz vorsichtig …

… und fand eine dünne, schmale Aufwölbung im Fleisch.

Aber kein Loch. Er hob den Kopf – das war ihm vorher nicht möglich gewesen – und sah auf seinen Bauch hinunter. Sein Hemd und seine Hose waren triefnass vor Blut, aber er sah keine ausgetretenen Eingeweide. Und er sah auch keine Wunde. Nur einen dunklen blutigen Fleischberg.

Wenn er doch nicht so verdammt fett wäre und da unten etwas sehen könnte. Er rollte sich auf die Seite – er war wirklich kräftiger als zuvor – und stemmte sich auf die Knie, bis er seinen Hintern auf die Hacken setzen konnte, wobei er aber die ganze Zeit mindestens eine Hand fest auf den Bauch gepresst hielt. Aber es kam nichts heraus, drückte nicht einmal von innen gegen seine Hand. Er zog sein Hemd auseinander.

Die Wunde war geschlossen und zurückgeblieben war nur eine dünne rote Linie.

Das war unmöglich. Was war hier los?

Er hatte das Bewusstsein verloren, so musste es sein. Er träumte diese Situation.

Aber alles erschien ihm so real – der grobe Asphalt unter seinen Knien, die gerinnende rote Nässe in seinem Hemd, die Geräusche von der Straße, sogar der Geruch des Mülls um ihn herum. Alles war so wirklich …

Er stützte sich an der Hauswand ab und rappelte sich auf die Füße. Seine Beine waren wie Pudding und einen Moment dachte er, sie würden unter ihm nachgeben. Aber sie hielten ihn und er stand aufrecht.

Er hatte Angst, nach unten zu sehen, Angst, er würde sich da auf dem Boden liegen sehen. Schließlich sah er ganz kurz hin. Da war nichts außer zwei klebrigen Blutlachen, eine auf jeder Seite der Stelle, an der er gelegen hatte.

Er riss sich den Rest des zerfetzten Hemdes herunter und bewegte sich ganz vorsichtig auf die Straße zu. Er würde jeden Augenblick aufwachen oder sterben, und dieser Wahnsinn hätte ein Ende. Es konnte gar nicht anders sein. Aber bis es so weit war, würde er diese Wahnvorstellung bis zum Ende auskosten.

 

Als er in seiner Stube ankam – nachdem er den Wachtposten am Kasernentor und ein paar vorbeikommenden Nachteulen eine wirre Geschichte über einen versuchten Raubüberfall und eine Schlägerei erzählt hatte –, glaubte Patsy allmählich, dass er wirklich wach war und tatsächlich herumlief.

Man hätte sich das alles leicht mit einem Albtraum erklären können oder vielleicht mit einem LSD-Trip, weil ihm irgendein Scherzbold im Laufe des Tages etwas in den Kaffee geschüttet hatte. Er hatte sich selbst ein halbes Dutzend Mal fast davon überzeugt, dass das so gewesen sein musste. Aber dann sah er wieder die Narbe an seinem Bauch und das Blut an seiner Hose.

Patsy saß vollkommen fassungslos auf der Bettkante.

Das ist wirklich passiert! Er hat mich nur berührt und die Wunde hat sich geschlossen!

Ein Flüstern in der Dunkelheit riss ihn aus seiner Betäubung.

»Hey, Fatman, hast du was zu rauchen?«

Der Stimme nach musste das Donner sein, zwei Betten weiter. Ein Stammkunde.

»Heute nicht, Hank«, sagte er.

»Was? Fatman hat immer was!«

»Heute aber nicht.«

»Willst du mich verarschen?«

»Gute Nacht, Hank.«

Tatsächlich hatte er diverse Tütchen in seiner Matratze versteckt, aber Patsy war heute nicht nach Geschäften zumute. Sein Verstand war so ausgeleert, dass er zwei und zwei nicht mehr zusammenzählen konnte. Er betrauerte nicht einmal den Verlust seines ganzen Geldes – jeden erbärmlichen Cent, den er in einem Jahr durch armselige kleine Schiebereien wie die mit Donner angespart hatte. Alles, woran er gerade denken konnte, alles, was er vor sich sah, war dieses alte, einäugige Schlitzauge, das sich über ihn beugte, grinste, vor sich hinbrabbelte und ihm die Hände auflegte.

Er würde morgen mit Tram reden müssen. Tram wusste alles, was in diesem verdammten Land vor sich ging. Vielleicht hatte er schon einmal von dem alten Knacker gehört. Vielleicht konnte er ihn dazu bringen, nach ihm zu suchen.

Egal wie, Patsy hatte vor, dieses alte Schlitzauge zu finden. Er hatte Pläne mit ihm. Große Pläne.

 

Irgendwie gelang es ihm, das Frühstück zuzubereiten, ohne die Eier in den Kaffeeautomaten zu schlagen und den Kaffee in die Pfanne zu schütten.

Es war nicht einfach gewesen. Er war verspätet in die Kantine gekommen. Obwohl er früh genug aufgestanden war, hatte er dann in der Dusche gestanden und ewig lange den roten Striemen angestarrt, der sich an seinem Bauch hinunterzog, und sich dabei an das Gefühl von Hungs Messer in seinem Bauch erinnert, an die Erfahrung, die eigenen Gedärme in den Händen zu halten.

War das wirklich passiert?

Er wusste, dass es das war. Aber das Wissen darum und das Leben damit waren zwei verschiedene Dinge.

Schließlich hatte er sich in seine Uniform geworfen und auf den Weg zur Kantine gemacht. Der Arbeitsbeginn lange vor Sonnenaufgang war der einzige Nachteil am Leben als Armeekoch. Die Jungs von der Front mochten ihn zwar einen Drückeberger nennen, aber das war trotzdem erheblich besser, als ein blöder Trottel im Kugelhagel zu sein. Alles war besser, als auf sich schießen zu lassen. Nur Idioten ließen sich an die Front schicken. Wenn man clever war, bekam man Jobs im Nachschub in netten kleinen Städten wie Quang Ngai.

Zumindest, wenn man clever war und einen Onkel Tony hatte.

Patsy lächelte, als er Rühreireste aus der Pfanne kratzte. Kochen war schon immer eine seiner Leidenschaften gewesen. Und das war sein Glück. Denn in gewisser Weise hatte ihn das Kochen letztes Weihnachten in diesem Jahr aus der Schusslinie herausgehalten.

Wie jedes Jahr war Onkel Tony zum Weihnachtsessen gekommen. Während des Essens hatte Papa dann die Frage angeschnitten, die alle gerade bewegte: Wie sollte man mit Patsys Musterungsbescheid umgehen? Zur allgemeinen Überraschung war er als tauglich gemustert worden …

… auch das ein Beweis dafür, dass Patsy nie etwas glückte. Er hatte erfahren, dass jemand mit seiner Größe bei einem Gewicht von mehr als hundertzwanzig Kilogramm automatisch ausgemustert wurde. Das war nur unwesentlich mehr als sein bisheriges Gewicht, also stopfte er wochenlang alles in sich hinein, was er finden konnte. Wäre er nicht so verzweifelt gewesen, hätte ihm das sogar Spaß gemacht. Aber er schaffte es. Am Morgen seiner Musterung zeigte die Badezimmerwaage hundertvierundzwanzig Kilogramm an.

Aber die Waage im Musterungsbüro zeigte nur hundertneunzehn Kilogramm. Er war tauglich und sollte sich am 1. Januar zur Grundausbildung melden.

Schließlich kam Papa zum springenden Punkt: Konnte Onkel Tony vielleicht …?

Patsy klingelte immer noch der Abscheu in Onkel Tonys Stimme in den Ohren, als der mit vollem Mund antwortete: »Bist du so ne Art Pazifist oder was?«

Nein, nein, hatte Papa hastig beteuert, und dann versucht zu erklären, dass er nur befürchtete, dass Patsy, dick und schwerfällig, wie er war, schon bei der Grundausbildung etwas passieren könnte oder vielleicht würde er am ersten Tag im Kampfeinsatz auf eine Mine treten. Man wusste ja, wie tollpatschig er war.

Onkel Tony wusste Bescheid. Jeder wusste, dass Patsy sich drücken wollte. Onkel Tony sagte nichts, während er die sämige rote Tomatensauce über seine Nudeln goss, für die Patsy den ganzen Vormittag in der Küche gestanden hatte. Er nahm einen Bissen und deutete dann mit der Gabel auf Patsy.

»Du musst deine Pflicht tun, mein Junge. Ich hab damals im großen Krieg gekämpft. Du musst jetzt in dem kleinen Krieg hier deinen Mann stehen.« Er schluckte die Nudeln hinunter. »Sag mal, du hast doch diese Sauce gemacht, oder? Die ist gut. Wirklich gut. Ich habe da eine Idee, wie wir dich am Leben halten können, damit du die auch weiterhin jedes Mal zu Weihnachten machen kannst.«

Also hatte Onkel Tony seine Beziehungen spielen lassen und Patsy wurde Koch bei der Army.

Er räumte die letzten Küchenutensilien weg, dann machte er sich auf in die Stadt, um Tram zu suchen. Er roch den Markt, noch bevor er ihn erreicht hatte – die Gerüche von lebenden Hühnern, karamellisiertem Schweinefleisch und gebratenem Hund mischten sich in der Luft.

Er fand Tram an seinem Stammplatz neben dem Gemüsestand seines Cousins. Er trug seine übliche Uniformjacke der vietnamesischen Republik und wie gewöhnlich hatte er seinen rechten Fuß vom Knöchel abgeschnallt und polierte den Schuh.

»Das sein schöner Glanz, was Fatman?«, meinte er, als er aufsah und Patsy bemerkte.

»Sehr schön.« Er wusste, dass Tram die Passanten gerne mit seinem Unterschenkel und Fuß aus Plastik schockierte. Patsy sollte mittlerweile an diesen Scherz gewöhnt sein, aber jedes Mal, wenn er die Prothese sah, stellte er sich vor, dass das auch sein Bein sein könnte, das da abgerissen worden war … »Ich bin auf der Suche nach jemandem.«

»Amerikaner oder Schlitzauge?« Tram legte seinen rechten Unterschenkel auf den linken und schnallte den beschuhten Fuß wieder an den Knöchel. Patsy fand es ziemlich merkwürdig, dass jemand die eigenen Leute Schlitzaugen nannte.

»Schlitzauge.«

»Name?«

»Na ja, da liegt das Problem. Ich weiß ihn nicht.«

Tram sah fragend zu ihm hoch.

»Wie ich jemanden finden, wenn du nicht wissen, wie heißen?«

»Es ist ein alter Mann. Er sieht aus wie Onkel Ho.«

Tram lachte. »Für euch jedes alte Schlitzauge sehen aus wie Ho!«

»Und er hat eine Narbe über dem Auge,« – Patsy legte den Zeigefinger über sein rechtes Auge – »das dadurch vollkommen zugewachsen ist.«

 

2

 Tram erstarrte einen Augenblick, dann sah er hastig wieder auf seine Beinprothese hinunter. Er bemühte sich um einen nichtssagenden Blick, während er seine durcheinanderwirbelnden Gedanken ordnete.

Trinh … Trinh war gestern Nacht in der Stadt und Fatman ist ihm begegnet.

Er versuchte, das Thema zu wechseln, hielt den Blick aber weiterhin gesenkt.

»Es mich freuen, dich heute Morgen gesund sehen. Hung gestern nicht gekommen? Ich dich warnen – Hung böses Schlitzauge.«

Als nach einer Weile immer noch keine Antwort kam, sah Tram auf. Fatmans Augen hatten plötzlich einen starren Blick.

»Ja«, sagte Fatman schließlich und schüttelte sich. »Du hast mich gewarnt.« Er räusperte sich. »Aber zurück zu diesem Typ, nach dem ich dich gefragt habe …«

»Warum du altes Schlitzauge finden wollen?«

»Ich will ihm helfen.«

»Wie?«

»Ich will etwas für ihn tun.«

»Du etwas für altes Schlitzauge tun wollen?«

Fatman wandte den Blick ab. »Man könnte sagen, ich schulde ihm etwas.«

Er lügt, war Trams erster Gedanke. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der junge Amerikaner überhaupt wusste, dass man Schulden zurückzahlte.

»Kannst du ihn für mich finden?«

Tram dachte darüber nach. Während er das tat, sah er, wie Hung aus einer Seitenstraße auf den Marktplatz schlenderte. Hung klappte die Kinnlade herunter, als er Fatman bemerkte. Tram sah, wie seine bernsteinfarbene Haut plötzlich die Farbe gekochter Bohnen annahm, als er sich umdrehte und hastig davonstolperte.

In diesem Moment wusste Tram, dass Hung Fatman in der letzten Nacht auf die hinterhältigste Weise betrogen hatte, und dass Trinh ihn gefunden und ihn mit Dat-tay-vao gerettet hatte.

Ihm war plötzlich alles klar.

Aus dem Bauch heraus sagte er: »Er in Dorf von Cousin leben. Ich dich bringen können.«

»Hervorragend!«, sagte Fatman grinsend und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich besorge uns einen Jeep.«

»Kein Jeep«, erklärte Tram. »Wir gehen.«

»Gehen?« Fatman war alles andere als begeistert. »Ist es weit?«

»Nicht weit. Nur wenige Kilometer auf Weg nach Mo Due. Ein Fischerdorf. Wir jetzt gehen.«

»Jetzt? Aber …«

»Vielleicht nicht mehr sein da, wenn warten.« Was nicht ganz stimmte, aber er wollte Fatman keine Gelegenheit zum Nachdenken geben. Tram sah zu, wie das Zögern und die Entschlossenheit im Gesicht des Amerikaners einen Wettstreit ausfochten. Schließlich: »Na gut. Gehen wir. Solange es nicht zu weit ist.«

»Wenn für Mann mit einem Fuß nicht zu weit, nicht zu weit für Mann mit zwei Füßen.«

Während Tram Fatman nach Süden zu dem kleinen Fischerdorf führte, wo Trinh sich im letzten Jahr niedergelassen hatte, überlegte er, warum er sich darauf eingelassen hatte, die beiden zusammenzubringen. Sein Instinkt warnte ihn davor, trotzdem hatte er sich bereit erklärt, Fatman zu Trinh zu führen.

Warum?

Warum war ein Wort, das, wie es schien, in seinen Gedanken sehr häufig vorkam. Vor allem in Bezug auf Amerikaner. Warum schickten sie so viele ihrer jungen Männer in dieses Land? Die meisten von ihnen hatten zu viel Angst und zu wenig Überzeugung, um gute Soldaten abzugeben. Und die paar, die begierig auf den Kampf waren, hatten so wenig Erfahrung, dass mit ihnen auch nicht viel anzufangen war. Sie wurden nicht alt.

Er wollte denen übers Meer zurufen: Schickt uns erfahrene Soldaten, keine Kinder!

Aber wer würde ihm zuhören?

Und kam es auf das Alter wirklich an? Als er vor fünfzehn Jahren bei Dien Bien Phu gegen die Franzosen gekämpft hatte, war er schließlich jünger gewesen als diese halben Kinder. Aber er und die anderen Vietminh hatten einen großen Pluspunkt auf ihrer Seite gehabt. Sie hatten vor Begierde gebrannt, die Franzosen aus ihrem Land zu verjagen. Damals war Tram Kommunist. Er lächelte, als er auf dem künstlichen Fuß weiterhumpelte, der den echten Fuß ersetzen musste, den er vor einem Jahr durch eine Tretmine der Vietkong verloren hatte. Kommunist … Bei Dien Bien Phu war er noch jung gewesen und das ständige Gerede seiner Mitstreiter über Klassenkampf und Revolution hatte ihn auf ihre Seite gezogen. Aber nach dem Ende der Kämpfe, nach der Teilung, als er die Geburtswehen der glorreichen neuen Gesellschaftsordnung miterlebte, sehnte er die französische Besatzung fast wieder herbei.

Er war in den Süden geflohen und auch dort geblieben. Er hatte freiwillig für den Süden gekämpft, bis die Mine seinen Unterschenkel abgerissen hatte. Danach hatte er festgestellt, dass er mit seinem Bein auch die Lust zum Kämpfen verloren hatte.

Er warf einen Seitenblick auf Fatman, der fürchterlich schwitzend neben ihm dem verschlungenen Dschungelpfad folgte. Irgendwie mochte er den jungen Kerl, auch wenn er nicht sagen konnte, warum. Fatman war egoistisch, feige und raffgierig, und er tat nur dann etwas, wenn es ihm zum eigenen Vorteil gereichte. Trotzdem berührte Tram die Verletzlichkeit des Jungen. Hinter der Maske aus Grobheit und Prahlerei lag eine gewisse Traurigkeit. Mit Trams Hilfe hatte er es geschafft, von der Zielscheibe der meisten Witze in der Kaserne zum beliebtesten Marihuana-Lieferanten der Kompanie aufzusteigen. Tram konnte nicht bestreiten, dass er selbst auch massiv davon profitierte, dass er ihm zu dieser Stellung verholfen hatte. Er brauchte das Geld, um seine magere Pension der vietnamesischen Armee aufzubessern, aber das war nicht sein einziger Grund gewesen. Ihm lag wirklich daran, dem Jungen zu helfen.

Und er war zweifellos nur ein Junge. Vom Alter her könnte er sogar Trams Sohn sein. Aber Tram wusste, er würde niemals so einen Sohn aufziehen können.

Die meisten der Amerikaner, die er kennengelernt hatte, waren wie Fatman. Sie hatten keine Werte, keine Traditionen, keine Moral. Sie waren leere, hohle Hülsen, die damit aufgewachsen waren, dass niemand etwas von ihnen erwartete. Und jetzt, trotz all der finanziellen Mittel und der ganzen Propaganda wussten sie in ihrem tiefsten Inneren, dass niemand erwartete, dass sie diesen Krieg gewannen.

Was waren das für Eltern, die ihren Kindern nichts mitgaben, an das sie glauben konnten, und die sie dann ans andere Ende der Welt schickten, um für ein Land zu kämpfen, von dem sie noch nie gehört hatten?

Und gerade das war eine wirklich demütigende Erfahrung – die Erkenntnis, dass die meisten dieser Jungs bis vor ein paar Monaten nicht einmal eine Ahnung von der Existenz des Landes hatten, um das sich alles in Trams Leben drehte, seit er ein Kind gewesen war.

»Wie weit ist es noch?«, fragte Fatman.

Tram spürte deutlich am Verhalten des Amerikaners, dass ihm nicht wohl dabei war, sich so weit von der Stadt entfernt zu haben. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, um nachzufragen.

»Wo Hung zustechen?«

Fatman stolperte, als hätte Tram ihm einen Schlag versetzt. Er blieb stehen und starrte Tram mit aschfahlem Gesicht an.

»Woher …?«

»In Quang Ngai nur wenig passieren, ich nicht erfahren.« Tram konnte nicht widerstehen, seine Wichtigkeit ein wenig aufzubauschen. »Jetzt mir zeigen, wo.«

Tram unterdrückte ein Keuchen, als Fatman sein schweißdurchtränktes Hemd hochzog und die rote Narbe entblößte, die sich links am Nabel entlang von oben nach unten über den Bauch zog. Hung hatte ihm den Bauch aufgeschlitzt, damit er langsam und qualvoll starb, und um ihm seine Verachtung zu demonstrieren.

»Ich dich warnen …«

Fatman zog sein Hemd herunter. »Ich weiß. Aber als Hung mich da im Dunkeln liegen ließ, kam dieser alte Mann vorbei, legte mir die Hand auf und der Schnitt schloss sich wie durch Magie. Kann er das jederzeit tun?«

»Nicht immer. Er jetzt ein Jahr in Dorf sein. Er es können kurze Zeit jeden Tag. Er es noch tun viele Jahre.«

Fatmans Stimme war nur ein heiseres Hauchen. »Jahre! Aber wie? Nimmt er dazu eine Droge? Er sah aus, als sei er betrunken.«

»Oh nein. Dat-tay-vao nicht wirken, wenn betrunken.«

»Was wirkt nicht?«

»Dat-tay-vao … Trinh hat Berührung, die heilt.«

»Was heilt? Messerstiche und so etwas?«

»Alles.«

Fatman traten die Augen aus den Höhlen. »Du musst mich zu ihm bringen!« Er warf einen hastigen Blick auf Tram. »Damit ich ihm danken … ihn belohnen kann.«

»Er keine Belohnung brauchen.«

»Ich muss ihn finden. Wie weit ist es noch?«

»Nicht mehr weit.« Er roch bereits das Meer. »Wir hier von Straße weg.«

Als er Fatman nach links in dichteres Unterholz führte, das ihnen das Gesicht zerkratzte und sich in den Kleidern verfing, überlegte er wieder, ob es richtig gewesen war, ihn hierherzubringen. Aber es war jetzt zu spät zum Umkehren.

Außerdem war Fatman vom Dat-tay-vao berührt worden. Das musste auch auf den Geist einen heilsamen Einfluss haben, nicht nur auf den Körper. Vielleicht wollte der junge Amerikaner Trinh wirklich seinen Respekt bezeugen.

 

3

 Er wird es noch viele Jahre tun!

Die Worte hallten in Patsys Ohren nach und wieder begann er, in Gedanken die Millionen zu zählen, die er durch das alte Schlitzauge scheffeln könnte. Gott, würde er reich werden! Und das so einfach! Mithilfe von Onkel Tonys Kontakten würde er den alten Knacker in die Staaten schaffen und ihm eine ›Klinik‹ einrichten. Und dann würden sie anfangen, die Unheilbaren zu heilen.

Und was für Honorare er dafür einstreichen würde!

Wie viel war es wert, einen Krebs zu heilen? Wer könnte behaupten, dass es einen Preis gäbe, der dafür zu hoch wäre? Er konnte jeden Betrag fordern – wirklich jeden!

Aber Patsy würde nicht gierig sein. Er würde fair sein. Er würde seinen Patienten nicht das letzte Hemd nehmen. Er würde nur die Hälfte ihres jeweiligen Vermögens verlangen.

Er lachte beinahe laut auf. Das war so unglaublich einfach. Alles, was er tun musste …

Direkt vor ihm rief Tram etwas auf Vietnamesisch. Das Wort war Patsy unbekannt, aber er erkannte einen Fluch, wenn er ihn hörte. Tram begann zu laufen. Sie hatten den stickigen Dschungel verlassen und waren jetzt auf einer kleinen sandigen Anhöhe. Vor ihnen spiegelte sich die Sonne auf der ruhigen Meeresoberfläche. Der Lufthauch vom Wasser her war eine Wohltat bei dieser Hitze. Unter ihnen lag ein armseliges Dörfchen – ein paar Hütten, die aus Holz, Wellblech, Palmwedeln und Schlamm zusammengezimmert waren.

Eine der Hütten brannte. Verzweifelte Anwohner schütteten Sand und Wasser in die Flammen.

Patsy folgte dem rennenden Tram vorsichtig den Hügel hinunter. Ihm gefiel das nicht. Er war weit entfernt vom Schutz der Stadt und er hatte erhebliche Zweifel, ob er allein den Weg zurück finden würde. Überall um ihn herum waren Schlitzaugen und irgendetwas Schreckliches passierte da gerade.

Das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Als er näher kam, fiel die brennende Hütte funkenstiebend in sich zusammen. Daneben drängte sich eine Traube schwarz gekleideter Frauen um eine auf dem Rücken liegende Gestalt. Tram drängte sich durch die plappernde Meute und kniete neben der Gestalt nieder. Patsy folgte ihm.

»Oh, verdammt!« Er erkannte den Mann am Boden. Was nicht einfach war. Der Mann hatte schwere Verbrennungen erlitten und die Haut war überall aufgeplatzt, aber sein Gesicht schien kaum verletzt und das vernarbte Auge ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um den alten Mann handelte, der ihn am Abend zuvor geheilt hatte. Seine Augen waren geschlossen und er wirkte wie tot, aber seine Brust bewegte sich ganz schwach auf und ab. Patsy drehte sich der Magen um beim Anblick von alldem Blut und dem verkohlten Fleisch. Was hielt den Mann am Leben?

Plötzlich schwach und deprimiert sank Patsy neben Tram auf die Knie. Seine Millionen … all diese süßen Träume von Abermillionen von Dollars lösten sich gerade in Luft auf.

Ich habe einfach kein Glück!

»Ich teilen deinen Schmerz.« Tram sah ihn mit seinen kummervollen dunklen Augen an.

»Schon gut. Was ist passiert?«

Tram sah sich nach den verängstigten, trauernden Dorfbewohnern um. »Sie sagen, Vietkong bringen verletzten Offizier. Sie wollen, dass Trinh ihn heilen. Er nicht können. Er versuchen zu erklären, Zeit nicht gut, aber sie wütend werden. Sie ihn fesseln, auf ihn schießen und Hütte in Brand setzen.«

»Kann er sich nicht selbst heilen?«

Tram schüttelte traurig langsam den Kopf. »Nein. Dat-tay-vao nicht helfen dem, der es haben. Nur anderen.«

Patsy war den Tränen nahe. All seine Pläne … es war einfach nicht gerecht!

»Diese Mistkerle!«

»Sie noch schlimmer«, sagte Tram. »Soldaten sagen, sie zurückkommen und ganze Dorf zerstören!«

Patsys Wut und sein Selbstmitleid wurden von einem eisigen Hauch von Panik hinweggespült. Er starrte auf das Unterholz und die Bäume und fühlte sich plötzlich von Tausenden Augen beobachtet. Die kommen zurück! Plötzlich spürte er wieder Kraft in den Beinen.

»Wir müssen in die Stadt zurück!« Er wollte sich erheben, aber Tram hielt ihn zurück.

»Warte. Er dich ansehen.«

Und wirklich, die Augen des alten Mannes waren offen und starrten ihn an. Langsam, mit erkennbarer Mühe, hob er eine verbrannte Hand Patsy entgegen. Seine Stimme krächzte etwas.

Tram übersetzte: »Er sagen: Du sein der, welcher.«

»Was soll das heißen?« Patsy hatte keine Zeit für dramatische Szenen. Er wollte weg von hier. Aber er wollte auch bei Tram bleiben, denn Tram war der Einzige, der ihn zurück nach Quang Ngai führen konnte.

»Ich nicht wissen. Vielleicht er meinen, du der, den gestern geheilt.«

Patsy war sich bewusst, dass Tram und die anderen ihn ansahen, als erwarteten sie etwas von ihm. Dann erkannte er, was das war. Es wurde erwartet, dass er sich dankbar zeigte und dem alten Schlitzauge seinen Respekt bezeugte. Schön. Wenn Tram darauf wartete, dann würde er es tun. Alles, Hauptsache sie machten sich danach aus dem Staub. Er holte tief Luft und ergriff die Hand, wobei er seinen Ekel bei der Berührung der verbrannten Haut unterdrücken musste …

… ein elektrischer Schlag durchzuckte seinen Arm.

Sein ganzer Körper verkrampfte sich bei dem stechenden Schmerz. Er spürte sich zucken wie ein Fisch am Haken, dann brach er zusammen. Die Luft wurde ruckartig aus seinen Lungen gepresst, als er flach auf den Rücken fiel. Es dauerte einen Augenblick, bis er die Augen wieder öffnen konnte, und als er das tat, sah er, wie Tram und die anderen Dorfbewohner ihn mit offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen anstarrten. Er blickte auf den alten Mann.

»Verdammt, was hat er mit mir gemacht?«

Der Mann starrte zurück, aber es war ein wächserner, starrer Blick. Er war tot.

Die Dorfbewohner mussten das auch bemerkt haben, denn einige der Frauen begannen zu weinen.

Patsy stolperte auf die Füße.

»Was ist passiert?«

»Ich nicht wissen«, sagte Tram mit einem verwirrten Kopfschütteln. »Warum du gestürzt? Er nicht kräftig genug, dich umwerfen.«

Patsy öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn aber wieder. Nichts, was er dazu sagen könnte, würde einen Sinn ergeben. Er zuckte die Achseln.

»Lass uns gehen«, sagte er.

Er fühlte sich ganz schrecklich und wollte nur weg. Es war nicht nur die Gefahr, die die zurückkehrenden Vietkong darstellten. Er war müde und entmutigt und so furchtbar enttäuscht, dass er sich beinahe an Ort und Stelle auf den Boden gesetzt und wie ein Baby geflennt hätte.

»Gleich. Zuerst ich helfen, Trinh begraben. Du auch helfen.«

»Was? Soll das ein Witz sein? Vergiss es!«

Tram sagte nichts, aber der Blick, mit dem er Patsy bedachte, sprach Bände: Der Blick nannte ihn fett, faul und undankbar.

Scheiß drauf, dachte Patsy. Wen interessierte schon, was Tram oder jemand anderes in dieser stinkenden Kloake von einem Land dachte? Für ihn war hier nichts mehr zu holen. All sein Geld war verloren und seine letzte Chance auf einen Hauptgewinn lag tot und verkohlt vor ihm auf dem Boden.

 

4

 Während er dabei half, ein Grab für Trinh auszuheben, blickte Tram zu Fatman hinüber, der im Ravennagras saß und trübsinnig aufs Meer hinausstarrte. Tram spürte, dass dieser Kummer nicht durch Trinhs Schicksal begründet war. Der Amerikaner bedauerte sich selbst.

Nun … er hatte also von Anfang an recht gehabt. Der Amerikaner war aus anderen Gründen hierhergekommen, und nicht, um Trinh seinen Respekt zu erweisen. Tram wusste nicht, was das für Gründe waren, aber er war sich sicher, dass es Fatman nicht um das Wohlergehen von Trinh oder des Dorfes gegangen war.

Er seufzte. Er hatte genug von diesen Ausländern. Wann hörten diese Kriege endlich auf? Man konnte die Kriege an den gesprochenen Sprachen abzählen. Er beherrschte verschiedene vietnamesische Dialekte, Pidgin, Französisch und jetzt Englisch. Falls der Norden die Oberhand behielt, würde er dann noch Russisch lernen müssen? Vielleicht wäre es für ihn besser gewesen, wenn die Tretmine ihn getötet hätte, statt ihm nur das Bein abzureißen. Dann wären für ihn, wie für Trinh, die endlosen Kriege endlich zu Ende.

Er blickte in das leere Loch hinunter, in dem bald Trinhs Körper liegen würde. Würden sie das Dat-tay-vao mit ihm zusammen begraben? Oder würde es sich wieder erheben und den Weg zu jemand anderem finden? Es war so seltsam und unerklärlich, dieses Dat-tay-vao … es gab so viele sich widersprechende Geschichten. Einige erzählten, es sei mit dem Buddha gekommen, andere erklärten, es sei immer da gewesen. Einige sagten, es sei wankelmütig wie der Wind bei der Auswahl seiner Träger, während andere versicherten, dass es einen genauen Plan gebe.

Wer konnte schon sagen, was davon richtig war? Das Dat-tay-vao war ein Rätsel an sich, voller Geheimnisse, die nicht enthüllt werden sollten.

Als er sich wieder dem Graben zuwenden wollte, wurde Trams Aufmerksamkeit auf einen dunklen Punkt auf der spiegelnden Wasseroberfläche gelenkt. Er blinzelte, um genauer hinzusehen, dann hörte er das Schnattern eines Maschinengewehrs, in das andere einfielen, sah, wie die Dorfbewohner losrannten und dann zusammenbrachen, wie der Sand um ihn herum aufgewirbelt wurde.

Ein Schnellboot der Vietkong!

Er rannte auf den Baum zu, unter dem Fatman mit einem leeren, panischen Ausdruck auf dem Gesicht halb saß, halb hockte. Er hatte ihn beinahe erreicht, als ihn etwas mit der Gewalt eines Vorschlaghammers in die Brust und die rechte Schulter traf. Dann flog er durch die Luft, wirbelte herum und schrie vor Schmerzen.

Er landete mit dem Gesicht voran im Sand und rollte sich auf den Rücken. Er bekam keine Luft! Panik wallte in ihm auf. Jedes Mal, wenn er zu atmen versuchte, hörte er ein saugendes Geräusch aus der Wunde in seinem Oberkörper, aber in seinen Lungen kam kein Sauerstoff an. Seine Brust fühlte sich an, als würde sie explodieren. Schwarze Wolken trübten seine schwächer werdende Sicht.

Plötzlich war Fatman über ihn gebeugt und brüllte durch den Orkan, der in seinen Ohren tobte.

»Tram! Tram! Oh mein Gott, du musst aufstehen! Du musst mich hier rausbringen! Hör verdammt noch mal auf zu bluten und bring mich hier raus!«

Trams Blickfeld wurde vollkommen schwarz und das Dröhnen wurde lauter und lauter, bis es die Stimme übertönte.

 

5

 Patsy krallte die Finger in seine Kopfhaut.

Wie sollte er nur wieder in die Stadt zurückkommen? Tram lag im Sterben. Er lief hier direkt vor ihm blau an und Patsy verstand nicht genug vietnamesisch, um sich mit jemand anderem zu verständigen, und er kannte den Weg zurück nach Quang Ngai nicht und hier in der Gegend wimmelte es vor Vietkong.

Was soll ich nur tun?

So plötzlich, wie es angefangen hatte, verstummte das Maschinengewehrfeuer. Die Schreie der Verängstigten und Verwundeten traten an seine Stelle.

Jetzt hatte er die Möglichkeit zu verschwinden!

Patsy warf einen Blick auf Trams graues Gesicht, auf dem sich rote Flecken gebildet hatten. Wenn es ihm gelang, diese pfeifende Wunde in der Brust zu stopfen, würde Tram vielleicht noch ein paar Minuten durchhalten und ihm sagen können, wie er zurück in die Stadt kam. Er legte einen Handballen auf die Wunde und drückte zu.

Trams Körper schien sich in Todeskrämpfen aufzubäumen. Auch Patsy spürte etwas – eine elektrisierende Energie schoss seinen Arm hoch und breitete sich wie undefinierbares Feuer in seinem Körper aus. Er fiel nach hinten, verwirrt, geschwächt, benommen.

Was zum Teufel …?

Er hörte keuchendes Atmen und sah auf. Luft strömte in verzweifelten, gierigen Stößen durch Trams weit offenen Mund, seine Augen öffneten sich und seine Gesicht bekam langsam wieder seine natürliche Farbe.

Das pfeifende Geräusch in Trams Brust war verschwunden. Als Patsy sich vorbeugte, um sich die Wunde anzusehen, spürte er etwas in seiner Hand und warf einen Blick darauf. Eine blutige Bleipatrone rollte über seine Handfläche. Er blickte auf die Brust, wo diese Hand gelegen hatte, und was er da sah, ließ seinen Magen flattern und zucken, als sei das etwas, wegen dem man sich erbrechen müsste.

Trams Wunde war nicht mehr da! Nur ein bläulicher Fleck war von ihr übrig.

Tram hob seine Hand und führte sie dahin, wo die Kugel in ihn eingedrungen war.

»Dat-tay-vao! Du es jetzt haben! Trinh es dir weitergegeben! Du Dat-tay-vao haben!«

Habe ich das?, fragte er sich und starrte auf die Kugel in seiner Handfläche. Scheiße, ich habe es tatsächlich.

Er brauchte jetzt kein Schlitzauge mehr dazu bewegen, mit ihm in die Staaten zu kommen, um ein Vermögen zu scheffeln – alles was er jetzt tun musste, war dafür zu sorgen, dass er selbst heil nach Hause kam.

Was es umso dringender erscheinen ließ, aus diesem Dorf zu verschwinden.

»Lass uns gehen!«

»Fatman, du nicht gehen können. Nicht jetzt. Du müssen helfen. Sie …«

Patsy warf sich flach auf den Boden, als dreißig Meter hinter ihnen im Dschungel etwas explodierte und einen grün-braunen Geysir aus Pflanzen und Erde in die Luft schleuderte.

Mörserfeuer!

Eine zweite Explosion folgte der ersten auf dem Fuße, aber diese traf das Ufer südlich des Dorfes.

Tram wies aufs Meer hinaus.

»Da. Sie von Boot aus feuern!« Er lachte. »Mörserfeuer von Boot nicht zielen können!«

Patsy blieb tief an den Boden geduckt und hielt sich beide Arme über den Kopf. Er zitterte vor Angst, als die nächsten drei Explosionen den Boden erschütterten. Dann hörten sie auf.

»Da.« Tram saß ruhig mitten auf der Lichtung und schaute auf das Wasser. »Sogar Kong wissen, wie dumm! Sie sich zurückziehen. Das nur gut zum Angst machen. Kong sehr gut im Angst machen!«

Das kann ich bestätigen, dachte Patsy, als er sich erneut auf die Füße rappelte.

»Hilf mir jetzt, hier wegzukommen, Tram. Das schuldest du mir.«

Trams Blick spießte Patsy auf wie ein Insekt auf eine Präsentationstafel und ließ ihn erstarren. »Sieh auf Leute, Fatman!« Patsy drehte sich um und blickte zum Dorf hinunter. Er sah, dass die Dorfbewohner – die Verstümmelten und Verletzten und ihre Freunde und Familien – ihn alle ansahen. Sie warteten. Sie sagten nichts, aber ihre Augen …

Er riss sich von dem Anblick los. »Die Vietkong werden zurückkommen!«

»Sie dich brauchen, Fatman«, sagte Tram. »Du der Einzige, der kann helfen.«

Patsy sah widerwillig erneut zu ihnen hin. Diese Augen … sie riefen ihm zu. Er konnte ihren Schmerz, ihre Hilfeschreie beinahe hören.

»Nichts zu machen!«

Er drehte sich um und stapfte dem Dschungel entgegen. Er würde den Weg zurück selbst finden, wenn Tram ihm nicht helfen wollte. Das war immer noch besser, als hier auf dem Präsentierteller zu bleiben und zu warten, bis Charlie zurückkam und ihn gefangen nahm und folterte. Vielleicht würde es den ganzen Tag dauern, aber …

»Fatman«, rief Tram ihm hinterher. »Nur einmal in deinem Leben!«

Das saß. Patsy drehte sich um und blickte noch mal zu den Dorfbewohnern zurück und spürte, wie sehr sie ihn brauchten, und das war wie ein starkes Tau um seine Brust, das ihn auf sie zu zog. Er knirschte mit den Zähnen. Jetzt zu bleiben war Irrsinn, und doch …

Noch ein Mal. Nur um zu sehen, ob ich es immer noch habe. Dafür konnte er schon ein paar Minuten erübrigen und sich dann auf den Weg machen. Danach war er sich wenigstens sicher, dass das, was mit Tram passiert war, nicht irgendein vollkommen unerklärlicher Zufall gewesen war. Nur ein Mal.

Als er einen Schritt auf das Dorf zu machte, begannen ihre Stimmen aufgeregt zu murmeln. Er verstand die Worte nicht, spürte aber ihr dankbares Willkommen, das wie ein warmer Luftzug das Tau um seine Brust lockerte.

Er blieb neben dem ersten verletzten Dorfbewohner stehen, einer Frau, die ein blutendes bewusstloses Kind in den Armen hielt. Sein Magen rebellierte, als er die Wunde sah – ein Geschoss hatte den Arm des Kindes beinahe von der Schulter abgerissen. Blut sickerte langsam aber stetig zwischen den Fingern der Frau hervor, die sie auf die Wunde gepresst hielt. Er schluckte seinen Ekel hinunter, dann schob er seine Hand unter die der Mutter, um die Wunde zu berühren …

… und seine Knie gaben beinahe unter dem Ansturm der Ekstase nach, die ihn durchfuhr.

Das Kind wimmerte und öffnete die Augen. Die Mutter nahm die Hand von der Wunde. Es gab keine Wunde mehr. Sie war verschwunden, so wie die von Tram. Sie schluchzte vor Freude auf, fiel neben Patsy auf die Knie und umklammerte weinend sein Bein.

Patsy zögerte. Er hatte es! Es gab keinen Zweifel mehr – er hatte das gottverdammte Dat-tay-vao! Und es fühlte sich so verdammt gut an! Nicht nur die Lust, die es ihm bereitete, sondern auch die Art, wie dieses kleine Schlitzaugenkind jetzt zu ihm aufsah mit diesen abgrundtiefen schwarzen Augen und ihm ein schüchternes Lächeln schenkte. Er fühlte sich high, als hätte er etwas von seiner besten Handelsware geraucht.

Einer noch. Nur noch einer.

Er machte sich von der Mutter los und ging zu einer alten Frau, die sich qualvoll auf dem Boden wand und sich den Magen hielt. Eine Bauchwunde.

Ich kenne das Gefühl, Mama-san. Er kniete nieder und zwängte seine Hand unter ihre. Das Lustgefühl durchfuhr ihn wieder, als sie sich krümmte und zwei Gewehrkugeln in seine Hände rollten. Ihre Atmung wurde regelmäßiger und sie strahlte ihn aus dankbaren Augen an.

Noch mal!

Es ging weiter und weiter. Patsy hätte jederzeit aufhören können, stellte aber fest, dass er das gar nicht wollte. Es schien für die Dorfbewohner keinen Zweifel zu geben, dass er bleiben und sie alle heilen würde. Sie wussten, er konnte es tun, und sie erwarteten genau das von ihm. Es war eine so neue, so einzigartige Erfahrung, dass er nicht wollte, dass sie zu Ende ging. Niemals. Er spürte eine Form von Zugehörigkeit, wie er sie noch nie gespürt hatte. Ihn überkam das Gefühl, er müsse diese Menschen beschützen. Aber es ging noch weiter, über dieses kleine Dorf hinaus, schien die ganze Welt einzuschließen.

Schließlich war es vorbei. Patsy stand auf dem Platz vor den Hütten und sah sich nach weiteren Verletzten um. Er schaute auf seine Uhr – es waren kaum dreißig Minuten vergangen, aber es waren keine Dorfbewohner mehr da, die er heilen konnte. Sie scharten sich alle in respektvoller Entfernung um ihn und beobachteten ihn stillschweigend. Er gab sich der Euphorie hin, die ihn umfangen hielt, verschmolz mit dem Klang der Wellen, dem Wind in den Bäumen, dem Geschrei der Möwen. Er hatte gar nicht bemerkt, wie schön dieser Ort war. Wenn er doch nur …

Ein neues Geräusch gesellte sich zu den anderen – das Dröhnen eines Schiffsmotors. Patsy blickte aufs Meer hinaus und sah, wie das Kanonenboot der Vietkong zurückkam. Angst fraß sich durch seine Euphorie, als die Dorfbewohner hastig die Deckung der Bäume suchten. Würden die Vietkong an Land gehen?

Nein. Patsy sah ein paar Besatzungsmitglieder an Deck hocken und hörte das altbekannte wumm! einer abgefeuerten Mörsergranate. Eine Explosion folgte unmittelbar darauf irgendwo hinter ihm im Dschungel. Tram hatte recht. Es war einfach nicht möglich, mit einem Mörser vom schwankenden Deck eines Schnellbootes aus exakt zu zielen. Sie wollten nur Panik verbreiten.

Diese verdammten Schweine! Warum mussten sie überhaupt zurückkommen und ihm seine strahlende Laune verderben? Gerade, als er sich zum ersten Mal, seit er von zu Hause weg war, wirklich gut gefühlt hatte. Genau gesagt fühlte er sich sogar besser, als er sich in seiner Erinnerung je gefühlt hatte, egal ob zu Hause oder sonst irgendwo. Zum ersten Mal erschien ihm alles richtig.

Zum ersten Mal lief alles so, wie er es wollte, und dann mussten diese Vietkong das ruinieren.

Zwei weitere blindlings abgefeuerte Mörsergranaten, dann hörte er Maschinengewehrfeuer von Süden her und sah drei neue Schnellboote auf das erste zusteuern. Aber diese trugen die vertrauten rot-weiß-blauen Flaggen. Patsy lachte und hob die Faust.

»Zeigt’s ihnen!«

Die Vietkong feuerten noch eine letzte Granate ab, dann gaben sie Gas und brausten davon.

Gerettet!

Dann hörte er ein Jaulen von oben und um ihn herum explodierte alles.

 

6

 … eine Stimme aus weiter Ferne … die von Tram …

„… Hubschrauber kommen, Fatman … gleich abholen … du ihn hören … schon fast da …«

Patsy öffnete die Augen und sah den Himmel, dann sah er Trams Gesicht, das sich davorschob. Er sah krank aus.

»Fatman? Du mich hören?«

»Wie schlimm?«, mühte Patsy hervor.

»Du wieder werden.«

Patsy wandte den Kopf und sah einen Kreis weinender Dorfbewohner, die überallhin sahen, nur nicht in seine Richtung. Er bemerkte, dass er unterhalb des Halses den Rest seines Körpers nicht spürte. Er versuchte, den Kopf zu heben, um an sich hinunterzusehen, aber ihm fehlte die Kraft.

»Ich will es sehen.«

»Du ausruhen«, erklärte Tram.

»Stütz meinen Kopf, verdammt.«

Mit deutlichem Widerwillen hob Tram sachte seinen Kopf an. Als Patsy an sich hinab auf das sah, was von ihm übrig war, hörte er ein schrilles, wehklagendes Kreischen. Vor seinen Augen drehte sich alles und blendete damit gnädigerweise den Anblick des blutigen Überrests von dem aus, was einmal sein Unterleib gewesen war. Er erkannte, dass der Klagelaut von ihm selbst stammte.

Tram ließ seinen Kopf wieder sinken und das Jammern hörte auf.

Ich dürfte gar nicht mehr am heben sein!

Dann wurde es ihm klar. Er wartete auf jemanden. Nicht einfach irgendjemand. Auf eine bestimmte Person.

Ein schummriger Friede überkam ihn. Er ließ sich hineingleiten und verharrte so, bis das pochende Dröhnen eines Hubschraubers ihn daraus aufweckte, dann hörte er eine amerikanische Stimme.

»Sie hatten doch gesagt, er sei am Leben!«

Trams Stimme: »Er am Leben.«

Patsy öffnete die Augen und sah das schockierte Gesicht eines amerikanischen Soldaten.

»Wer sind Sie?«, fragte Patsy.

»Walt Erskine. Ich bin Sanitäter. Ich werde Sie …«

»Sie sind der Richtige.« Irgendwie gelang es ihm, einen Arm am Ellbogen anzuwinkeln und dem Sanitäter die Hand entgegenzustrecken. »Schlagen Sie ein!«

Der Mann wirkte verblüfft. »Ah, ja, sicher.« Er ergriff Patsys Hand und Patsy spürte die sengende elektrische Entladung. Erskine zuckte zurück und hielt sich die Hand. »Was zum Teufel?«

Der Friede umfing Patsy erneut. Er hatte so lange wie nur möglich ausgehalten. Jetzt konnte er sich fallen lassen. Ein letzter Gedanke schoss ihm durch den Kopf, wie eine einsame Sternschnuppe an einem sternlosen Himmel.

Das Dat-tay-vao würde doch noch nach Amerika kommen.