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»lch weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, sagte Gia, als sie vor dem Eingang des Hauptzeltes standen. Ein ausgeblichenes rotgelbes Spruchband flatterte im Wind.
Ozymandias Prathers Kuriositäten-Kabinett
Jack musterte die wenigen Besucher, die sich durch den Eingang drängten. Eine bunte Mischung von biederen Bürgern, die aussahen, als kämen sie gerade aus der Kirche, bis hin zu Gothic-Freaks in voller schwarzer Montur. Aber niemand erschien ihm bedrohlich.
»Stimmt etwas nicht?«
»Das scheint so eine Art Monstrositäten-Ausstellung zu sein.« Sie warf einen bezeichnenden Blick auf Vicky. »Ich weiß einfach nicht.«
Es war deutlich, worauf sie hinauswollte.
»Ehrlich gesagt, ich bin mir auch nicht mehr so sicher.«
»Du?« Gia hob ihre schmalen blonden Augenbrauen. »Wenn du, der nun wirklich der am wenigsten politisch korrekte Mensch ist, den ich kenne, Zweifel anmeldet, dann sollten wir sofort umkehren und nach Hause gehen.«
Jack hatte ein Plakat der Show gesehen und gedacht, das sei vielleicht etwas für Vicks – eine Ausstellung merkwürdiger Dinger und seltsamer Menschen, die schräge Kunststückchen vorführten. Aber er wollte keine Achtjährige in eine Freakshow schleppen. Allein schon der Gedanke an behinderte Menschen, die sich vor anderen Menschen zur Schau stellen, stieß ihn ab. Es war diskriminierend und die Leute, die für so etwas Geld bezahlten, waren seiner Meinung nach genauso krank wie das, was da ausgestellt wurde. Vielleicht sogar schlimmer. Er wollte nicht dazugehören.
»Nach Hause gehen?«, frage Vicky. »Wir sind doch gerade erst gekommen, um uns die Show anzusehen.«
»Ich weiß, Vicky«, begann Gia. »Aber nun, du …«
»Du hast gesagt, wir würden es uns ansehen!« Ihre Stimme wurde weinerlich. Sie wandte sich mit gekränktem Blick an Jack. »Jack, du hast gesagt, wir würden uns supertolle Sachen ansehen!«
Es war ein Blick, den sie sehr gut beherrschte. Sie wusste, dass sie damit bei Jack fast alles erreichen konnte.
»Vielleicht würden ein paar von den Sachen da drin dir Angst machen«, sagte Jack.
»Du hast es versprochen!«
Er hatte es nicht wirklich versprochen, nicht in diesen Worten, aber es gab da einen Deutungsspielraum. Er blickte Gia hilfesuchend an, aber sie schien auf eine Entscheidung von ihm zu warten.
»Na ja«, sagte er zu ihr. »Ich glaube, sie wird das schon verkraften.« Als Gia erneut die Augenbrauen hob, fügte er hinzu: »Nach dem, was letzten Sommer passiert ist, wird ihr so leicht nichts mehr Angst einjagen.«
Gia seufzte: »Das stimmt.«
Jack geleitete sie vor den Ticketschalter und kramte einen Zwanziger heraus. »Ein Erwachsener, zwei Kinder, bitte.«
Der Kerl in der Bude, ein fleischiger Typ mit einem Strohhut, sah sich um. »Ich sehe zwei Erwachsene und ein Kind …«
»Ja, aber im Herzen bin ich noch ein Kind.«
»Sehr komisch.«
Ohne die Spur eines Lächelns schob der Mann die Karten für zwei Erwachsene und ein Kind mit dem Wechselgeld über den Tresen.
Im Innern des Zeltes sah es ziemlich schäbig aus und Jack überlegte, ob man sie über den Tisch gezogen hatte. Alles wirkte abgenutzt, von den Schildern über die Stände bis hin zu den Masten, die das Zelt trugen. Ein Blick nach oben und das Sonnenlicht, das durch die Leinwand schimmerte, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass das Kuriositätenkabinett ganz dringend ein neues Zelt brauchte. Er fragte sich, was sie wohl bei Regen machten. Für den Nachmittag hatte der Wetterbericht Gewitter angekündigt. Jack war froh, dass sie bis dahin schon längst wieder auf dem Rückweg sein würden.
Als sie herumschlenderten, versuchte Jack, Ozymandias Prathers Kuriositäten-Kabinett einzuordnen. Ja, es war in gewisser Weise schon eine Freakshow, aber in vielerlei Hinsicht auch nicht.
Zunächst mal hatte Jack noch nie Missbildungen wie diese gesehen. Es gab auch hier den fettesten Mann der Welt und einen Riesen, der der größte Mann der Welt sein sollte, zwei Schwestern mit viel zu klein geratenen Köpfen, die mit schrillen Falsettstimmchen sangen – so etwas hatte jedes Kuriositätenkabinett zu bieten.
Aber dann waren da auch noch die anderen.
Kuriositäten sind ja schon per Definition seltsam, aber diese Kreaturen waren weit mehr. Sie waren vollkommen fremdartig. Der Krokodiljunge, der Vogelmensch mit seinen gefiederten Flügeln …
»Hast du den Schlangenmann da hinten gesehen?«, flüsterte Gia, als sie hinter Vicky herliefen, die vollkommen hin und weg war.
Jack nickte. Diese Kreaturen waren so bizarr, es konnte sich dabei nicht um menschliche Missbildungen handeln.
»Das müssen Fälschungen sein«, sagte er. »Masken und künstliche Glieder.«
»Das habe ich auch gedacht, aber ich konnte einfach nicht unterscheiden, wo die Person aufhört und die Maskerade beginnt. Hast du gesehen, wie er seinen Schwanz um dieses ausgestopfte Kaninchen gelegt und zugedrückt hat? Fast wie eine Boa Constrictor.«
»Eine gut gemachte Täuschung, aber eben doch eine Täuschung.« Es konnte nicht anders sein.
Sein Eindruck von Tricktechnik wurde dadurch verstärkt, dass die ausgestellten Kreaturen überhaupt nicht mitleiderregend wirkten. Wie bizarr ihre Körper zum Teil auch sein mochten, so schienen sie doch stolz auf ihre Missbildungen und stellten sie sogar aggressiv zur Schau. So als wären die Leute, die zwischen den Exponaten herumschlenderten, die eigentlichen Monster.
Gia und Jack holten Vicky ein, die vor einem Zwerg stehen geblieben war, der auf einem Miniaturthron stand. Er hatte einen winzigen gezwirbelten Schnurrbart und akkurat gescheitelte Haare. Ein Schild mit Goldbuchstaben hing über ihm: Der kleine Herr Echo.
»Hallo!«, sagte Gia.
»Selber hallo!«, sagte der kleine Mann mit einer perfekten Imitation ihrer Stimme.
»Hey, Mom!«, rief Vicky. »Der klingt genauso wie ich.«
»Hey, Mom!«, sagte der kleine Herr Echo. »Komm her und sieh dir dieses Kerlchen an!«
Jack bemerkte ein gewisse Spannung in Gias Lächeln und meinte auch zu wissen, warum. Die kopierte Stimme ähnelte zu sehr der Stimme von Vicky. Tonhöhe und Intonation stimmten bis aufs i-Tüpfelchen überein. Hätte Jack in eine andere Richtung gesehen, hätte er keinen Zweifel daran gehabt, dass Vicky gesprochen hatte.
Erstaunlich, aber auch irgendwie unheimlich.
»Sie sind sehr gut«, sagte Gia.
»Ich bin nicht sehr gut«, gab er mit einer perfekten Imitation von Gias Stimme zurück. »Ich bin der Beste. Und Ihre Stimme ist so wunderschön wie Sie.«
Gia wurde rot. »Vielen Dank.«
Der Zwerg wandte sich an Jack und sprach weiter mit Gias Stimme: »Und Sie, Sie schweigsamer, starker Mann? Möchten Sie vielleicht auch etwas sagen?«
»Du miese, kleine Ratte!« Es war Jacks beste Imitation eines Comic-Helden, der James Cagney nachahmte. »Du hast meinen Bruder umgelegt.«
Gia musste lachen. »Gott, Jack, das ist furchtbar.«
»Ein W. C.-Fields-Fan!«, rief der kleine Mann mit einem schelmischen Blinzeln. »Ich habe eine alte Platte von einem seiner Live-Auftritte. Wollen Sie sie hören?«
Ohne die Antwort abzuwarten, begann Herr Echo die Schallplatte nachzuahmen, und Jack lief ein Schauder über den Rücken, als ihm klar wurde, dass der kleine Mann nicht nur die Stimme perfekt wiedergab, sondern auch das Knacken und Kratzen der Schallplatte.
»Wundervoll, mein guter Mann!«, sagte Jack in einer W. C-Fields-Parodie, die so schlecht war wie seine Cagney-Imitation. »Aber jetzt müssen wir aufbrechen. Wir wären besser in Philadelphia.«
»Du solltest bei deiner eigenen Stimme bleiben«, sagte Gia, als Jack sie von der Bude wegführte.
Jack wollte ihr nicht sagen, dass irgendwo im instinktgesteuerten Teil seines Verstandes eine innere Stimme ihn davor gewarnt hatte, den Zwerg seine wirkliche Stimme hören zu lassen. Wahrscheinlich war es der gleiche Impuls, aus dem Naturvölker Kameras scheuen, weil sie Angst hatten, die könnten ihnen die Seele rauben.
»Seht mal!«, rief Vicky und deutete zum Ende der Budengasse. »Zuckerwatte. Darf ich welche?«
»Meinetwegen«, sagte Gia. »Geh schon mal voraus und such dir die Farbe aus. Wir kommen gleich hinterher.«
Jack lächelte, als er ihr nachschaute. Es war immer angeraten, Vicky einen deutlichen Vorsprung zu lassen, wenn sie eine Wahl über Form oder Farbe zu treffen hatte. Sie konnte sich stundenlang über solche Kleinigkeiten den Kopf zerbrechen.
Als sie an einer Bude mit einem grünhäutigen Mann vorbeikamen, der als der ›Mann vom Mars‹ angepriesen wurde, nahm Gia Jacks Hand.
»Vicky scheint sich prächtig zu amüsieren«, sagte sie und schmiegte sich an ihn. »Und um ehrlich zu sein, irgendwie gefällt mir das hier auch.«
Jack wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als der Schrei eines Kindes sie beide bis ins Mark erschütterte und erstarren ließ.
Jack sah Gia an und auch die Panik in ihren Augen. Und wieder dieser Schrei, unzweifelhaft Vickys Stimme, die sich vor Entsetzen überschlug.
Jack war bereits in Bewegung. Er raste durch die Menge und stieß und schubste diejenigen beiseite, an denen er sich nicht vorbeischlängeln konnte. Wo war das Mädchen? Einen Augenblick zuvor hatte Vicky sich noch auf dem Weg durch die Budengasse befunden. Wie weit konnte sie sich in diesen paar Sekunden entfernt haben?
Dann bemerkte er ihre schmale achtjährige Gestalt, die auf ihn zustürzte. Ihr Gesicht war starr vor Angst, die blauen Augen schreckgeweitet. Als sie ihn sah, brach sie in Tränen aus und streckte ihm stolpernd die Arme entgegen. Ihre Stimme war ein kaum verständliches Kreischen.
»Jack! Jack! Es ist wieder da! Es will mich wieder holen!«
Sie sprang und er fing sie auf und drückt sie fest an sich. Sie zitterte vor Furcht.
»Was ist da, Vicks? Was ist los?«
»Das Monster! Das Monster, das mich auf das Boot verschleppt hat! Es ist hier! Es darf mich nicht holen!«
»Es ist alles in Ordnung, alles in Ordnung«, flüsterte er besänftigend in ihr Ohr. »Niemand kann dir etwas tun, solange ich in der Nähe bin.«
Aus dem Augenwinkel sah er Gia, die auf sie zustürzte. Er befreite sich sacht von Vicky und reichte sie ihrer Mutter. Vicky klammerte sich augenblicklich mit Armen und Beinen an ihr fest.
Gias Gesichtsausdruck schwankte zwischen Angst und Verärgerung. »Mein Gott, was ist passiert?«
»Ich glaube, sie denkt, sie hat einen Rakosh gesehen.«
Gias Augen weiteten sich. »Aber das ist …«
»Unmöglich. Ich weiß. Aber vielleicht hat sie etwas gesehen, das so ähnlich aussieht.«
»Nein!«, kreischte Vicky aus Gias Halsbeuge hervor, wo sie ihr Gesicht versteckt hatte. »Das ist das Monster, das mich verschleppt hat. Ich weiß, dass es das ist.«
»Gut Vicky.« Jack rieb ihr beruhigend über den bebenden Rücken. »Ich werd mal nachsehen.« Er nickte Gia zu. »Am besten bringst du sie schon mal nach draußen.«
»Wir sind bereits unterwegs. Nach allem, was ich hier gesehen habe, würde es mich gar nicht überraschen, wenn sie recht hätte.«
Jack sah zu, wie Gia sich durch die Menge schob und ihre kleine Tochter fest an sich gepresst hielt. Als sie außer Sicht waren, drehte er sich um und wandte sich in die Richtung, aus der Vicky hergelaufen war.
Es würde mich auch nicht überraschen, dachte er.
Nicht, dass es auch nur die allergeringste Chance gab, dass einer von Kusums Rakoshi noch am Leben war. Sie waren alle im letzten Sommer in den Gewässern zwischen Governor’s Island und der Battery umgekommen. Dafür hatte er gesorgt. Seine Brandbomben im Laderaum des Schiffes, in dem sie damals hausten, hatten sie geröstet. Einer von ihnen hatte es zwar bis ans Ufer geschafft, der, den er Narbenlippe genannt hatte, aber er war in das brennende Wasser zurückgeschwommen und ertrunken.
Die Rakoshi waren tot. Alle. Die Spezies war ausgestorben.
Neben einer Bude mit einer Frau, die mitten auf der Stirn ein drittes Auge trug, mit dem sie angeblich »allsehend« war, stand ein alter Zirkuswagen, dessen offene Seite mit schweren Eisenstangen vergittert war, einer dieser Wagen, in denen früher Löwen und Tiger transportiert und ausgestellt wurden. Das Schild darüber verkündete: »Der unglaubliche Haimensch!«. Jack bemerkte, wie sich die Leute über das Absperrseil beugten und in den Wagen hineinstarrten, dann aber mit unsicherem Schulterzucken weitergingen.
Das sollte er sich ansehen.
Jack drängte sich nach vorn und starrte in den schwach beleuchteten Käfig. Hinten links in der Ecke saß eine reglose zusammengesunkene Gestalt, mit gesenktem Kopf, das Kinn auf der Brust. Etwas Großes, bestimmt weit mehr als zwei Meter hoch. Dunkle Haut, menschliche Gestalt und doch … unzweifelhaft fremdartig.
Jack spürte, wie sich die Haut in seinem Nacken zusammenzog, während Alarmsignale sein Rückgrat entlangkrochen. Er kannte diese Gestalt. Aber das war auch alles. Eine Gestalt. Vollkommen reglos. Es war wohl eine Attrappe, oder ein Mann in einem Kostüm. Ein ziemlich gut gelungenes Kostüm. Kein Wunder, dass Vicky in Panik geraten war.
Aber es konnte nicht echt sein. Es konnte nicht …
Jack duckte sich unter dem Seil hindurch, machte ein paar zögerliche Schritte auf den Käfig zu und sog prüfend die Luft ein. Eines der charakteristischsten Kennzeichen eines Rakosh war sein Geruch, wie fauliges Fleisch. Er meinte, einen Hauch davon zu riechen, aber das konnte auch ganz normaler Abfall sein. Jedenfalls war es bei Weitem nicht der den Atem raubende Gestank, an den er sich erinnerte.
Er war so weit an den Käfig herangekommen, dass er die Gitterstäbe hätte berühren können. Das Ding war eine ziemlich gute Attrappe. Es sah beinahe so aus, als würde es atmen.
Jack pfiff und sagte: »He, du da drin.«
Das Ding rührte sich nicht, also klopfte er an eine der Eisenstangen.
»Hallo!«
Plötzlich bewegte es sich. Die Augen klappten auf, als es den Kopf hob. Dunkelgelbe Augen, die in den Schatten zu glühen schienen.
Man muss sich eine Kreuzung aus einem haarlosen Gorilla und einem Hammerhai vorstellen: kobaltblaue Haut, dicke Muskelstränge, fast kein Hals, keine Ohrmuscheln und statt einer Nase schmale Schlitze.
Eispickelartige gebogene Klauen streckten sich aus den jeweils drei Fingern jeder Hand heraus, während die gelben Augen Jack anstarrten. Die Unterseite des gewaltigen haiähnlichen Kopfes schien aufzuklappen, als die Kreatur das Maul aufriss und mehrere Reihen messerscharfer Zähne freilegte. Das Monstrum entwirrte seine Beine und glitt über den eisenbeschlagenen Boden zur Vorderseite des Käfigs hin.
Mit seinem instinktiven Ekel kamen auch die Erinnerungen zurück: Ein Laderaum voll mit diesen dunklen Gestalten, glühende Augen, die unirdischen Gesänge, die vielen verschwundenen Menschen, die Todesfälle …
Jack wich einen Schritt zurück. Und noch einen. Hinter sich hörte er staunende und bewundernde Laute, als sich die Leute nach vorn beugten, um besser sehen zu können. Er wich noch einen Schritt zurück und spürte den aufgeregten Atem der Schaulustigen in seinem Nacken. Diese Leute hatten keine Ahnung, mit was sie es hier zu tun hatten, welche Kräfte eine solche Kreatur hatte, wie nahezu unverwundbar sie war. Andernfalls würden sie hastig das Weite suchen.
Jack spürte, wie sich sein Pulsschlag beschleunigte, als er die breite Narbe sah, die die Unterlippe der Kreatur verunzierte. Er kannte diesen Rakosh. Narbenlippe. Es war derjenige, der Vicky entführt hatte, der bei der Zerstörung des Schiffes entkommen war und der Vicky am Strand beinah erneut in seine Gewalt gebracht hatte. Der, der Jack beinahe getötet hätte.
Er fuhr sich mit der Hand über die Brust. Selbst durch den Stoff seines Hemdes hindurch spürte er noch die drei langen Narbenwülste, die sich über seine Brust zogen. Andenken an die Klauen dieses Monsters.
Sein Hals war wie ausgedörrt – Narbenlippe lebte.
Aber wie konnte das sein? Wie war er dem Inferno auf dem Wasser entkommen? Und wie war er in einem reisenden Zirkus auf Long Island gelandet?
»Mein Gott, sieh dir den an, Fred!«, sagte eine Frau hinter Jack.
»Das ist nur ein Kerl in einem Gummianzug«, ertönte eine übertrieben forsche, männliche Stimme.
»Aber diese Klauen. Hast du gesehen, wie der die ausgefahren hat?«
»Einfache Hydraulik. Nichts Besonderes.«
Glaub das nur, Fred, dachte Jack und beobachtete die Kreatur, die auf den Knien hockte und die Klauen um die Eisenstangen gelegt hatte. Die gelben Augen waren starr auf Jack gerichtet.
Du hast mich auch wiedererkannt, nicht wahr?
Es schien, als wolle die Kreatur aufstehen, sei dazu aber nicht in der Lage. War sie angekettet oder verletzt?
In diesem Moment kam der Ticketverkäufer zum Käfig, diesmal ohne seinen Strohhut, was einen blank polierten kahlen Schädel offenlegte. Seine kalten dunklen Augen leuchteten vor bösartiger Freude. Er hatte einen stumpfen Elefantenstock in den Händen und fuhr damit an den Gitterstäben entlang.
»Du bist also wieder auf den Beinen, was?«, schnauzte er dem Rakosh entgegen. »Vielleicht hast du ja jetzt deine Lektion gelernt.«
Jack bemerkte, dass zum ersten Mal, seit der Rakosh die Augen geöffnet hatte, sein Blick nicht ihm, sondern dem Neuankömmling galt.
»Ladys und Gentlemen«, tönte der Ticketverkäufer den Zuschauern entgegen. »Hier sehen Sie den einzigartigen, den unvergleichlichen Haimenschen! Es ist das einzige Exemplar dieser Rasse! Sie können ihn nur hier, exklusiv bei uns, in Ozymandias Wunderkammer, anstaunen. Erzählen Sie es Ihren Freunden, erzählen Sie es Ihren Feinden. So etwas haben Sie noch nie gesehen, und so etwas werden sie auch nie wieder sehen. Darauf können Sie sich verlassen!«
Amen, dachte Jack.
Der Ticketverkäufer bemerkte, dass Jack auf der falschen Seite der Absperrung stand. »He, Sie da. Gehen Sie zurück. Das Ding hier ist gefährlich. Sehen Sie diese Klauen? Ein Prankenhieb damit zerlegt Sie wie ein Küchenmesser eine Tomate. Und wir wollen doch keine aufgeschlitzten Kunden.« Seine Augen behaupteten das Gegenteil, während er Jack ziemlich unsanft mit seinem Stock zurückdrängte. »Zurück hinter das Seil.«
Jack duckte sich unter dem Seil hindurch, ließ Narbenlippe dabei aber nicht aus den Augen. Der Rakosh sah nicht gesund aus. Seine Haut war matt und verhältnismäßig blass. Kein Vergleich zu dem glänzenden Kobaltblau, an das er sich von ihrer letzten Begegnung erinnerte. Er wirkte abgemagert, fast schwindsüchtig.
Narbenlippe wandte seine Aufmerksamkeit wieder von dem Ticketverkäufer ab, sah Jack noch einmal an, dann senkte er den Kopf. Die Klauen verschwanden wieder in den Fingerkuppen. Er ließ die Schultern sacken, die Arme hingen kraftlos herab, dann drehte er sich wieder um, kroch in seine Ecke zurück und ließ den Kopf hängen.
Er stand unter Drogen. Das musste es sein. Sie hatten den Rakosh wohl betäubt, um ihn im Zaum zu halten. Trotzdem wirkte er krank. Vielleicht waren auch die Eisenstäbe Schuld: Feuer und Eisen, die einzigen Dinge, die einen Rakosh verletzen konnten.
Aber egal, ob er jetzt betäubt war oder nicht, gesund oder nicht, der Rakosh hatte Jack wiedererkannt und sich an ihn erinnert. Das bedeutete, dass er sich auch an Vicky erinnerte. Und wenn er je wieder frei sein sollte, dann konnte es sein, dass er wieder Jagd auf Vicky machen könnte, um die letzte Aufgabe zu beenden, die sein toter Gebieter ihm gestellt hatte.
Tobend hämmerte der Ticketverkäufer mit seinem Stock gegen die Gitterstäbe, um die Kreatur wieder aufzuscheuchen und den Schaulustigen zu präsentieren. Aber der Rakosh ignorierte ihn und die Menge begann sich auf der Suche nach interessanteren Objekten zu zerstreuen.
Jack drehte sich um und steuerte auf den Ausgang zu. Eine kalte Entschlossenheit hatte den ersten Schock abgelöst. Er wusste, was zu tun war.
2
Es war schon sehr spät, als Jack den Wagen am Rand des Sumpflandes auf einem unbefestigten Weg abstellte. Der Weg endete nach ein paar hundert Metern vor einer kleinen Hütte direkt an der Long Island Bucht. Er überlegte, wer dort wohl leben mochte.
Nebel war aufgekommen und kroch über den Boden. Die Hütte mit ihrem einzigen beleuchteten Fenster ragte bedrohlich aus dem Nebel heraus. Es wirkte wie das Cover eines alten Gruselromans.
Er steckte den Kopf aus dem Wagenfenster. Der Mond war nur eine flache Sichel, aber die Sterne leuchteten hell. Das Licht reichte aus, damit er sich auch ohne Taschenlampe orientieren konnte. Er erkannte die Wiese, auf der die Gäste der Show parken konnten. Dort standen nur noch ein oder zwei Autos. Noch während er zusah, gingen die Scheinwerfer an und die Wagen entfernten sich Richtung Stadt.
Die Geschäfte liefen wohl nicht sehr gut. Umso besser für ihn. Dann würde die Show sich frühzeitig zur Nachtruhe begeben.
Nachdem alle Lichter erloschen waren und sich einige Zeit nichts mehr regte, glitt Jack aus dem Wagen und holte einen Zehn-Liter-Kanister aus dem Kofferraum. Das Benzin im Innern gluckerte, als er über den unebenen Grund auf das Hauptzelt der Show zuschlich. Die Wohnwagen der Darsteller und Handlanger waren an der Nordseite um einen 48-Tonner gruppiert.
Nirgendwo war ein Wachtposten in Sicht. Jack glitt unter der Zeltplane hindurch und lauschte. Alles ruhig. Ein paar Glühbirnen brannten auch jetzt noch. Ungefähr alle zehn Meter hing eine von der Decke. Jack hielt sich in den Schatten am Zeltrand und schlich hinter den Ständen auf Narbenlippes Käfig zu.
Sein Plan war ganz einfach. Er wollte den Boden des Käfigs und die Kreatur mit dem Benzin tränken und dann ein Feuerzeug hineinwerfen. Normalerweise hätte er die Idee, ein hilfloses Tier bei lebendigem Leib zu verbrennen, grauenhaft gefunden, aber hier ging es um einen Rakosh. Hätte eine Kugel in den Schädel die gleiche Wirkung gehabt, hätte er diese Methode gewählt. Aber der einzig sichere Weg, einen Rakosh zu töten, war Feuer … die reinigende Flamme.
Aus Erfahrung wusste Jack, dass ein Rakosh, der einmal brennt, nicht mehr lange überlebt. Sobald er sicher war, dass die Kreatur brannte, würde er aus vollem Hals »Feuer« rufen und dann zum Auto rennen.
Er hoffte, dass die Mitarbeiter mit den Feuerlöschern schnell genug eintreffen würden, bevor das ganze Zelt in Flammen stand.
Ihm gefiel die Sache nicht und der Gedanke widerstrebte ihm, das Zelt und die Leute in Gefahr zu bringen, aber mehr war ihm in der kurzen Zeit nicht eingefallen. Er würde Vicky um jeden Preis beschützen und es war die einzig sichere Methode, die er kannte.
Vorsichtig näherte er sich dem Käfig des »Haimenschen« von der nicht einsehbaren Seite und beschrieb dann einen großen Bogen, bis er vor der vergitterten Seite des Käfigs stand. Narbenlippe schlief ausgestreckt auf dem Boden, ein Arm hing zwischen den Gitterstäben heraus. Er öffnete die Augen, als Jack sich näherte. Die Klauen wurden nur teilweise ausgefahren, als er halbherzig, fast widerwillig nach ihm ausholte. Dann schloss er die Augen und ließ den Arm wieder baumeln. Offenbar fehlte ihm die Kraft für alles andere.
Jack blieb stehen und starrte die Kreatur an. Dann war es ihm klar.
Er stirbt.
Er stand lange Zeit da und starrte auf den dösenden Narbenlippe im Käfig. War er krank? Was fehlte ihm? Einige Tiere können außerhalb ihres Rudels nicht überleben. Jack hatte die Brut, zu der die Kreatur gehörte, vernichtet und damit alle anderen Mitglieder dieser Familie. Starb dieser letzte Rakosh an Einsamkeit oder einfach nur an Altersschwäche? Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie alt ein Rakosh werden konnte.
Jack wechselte den Kanister von einer Hand in die andere, und überlegte, ob sein Einsatz hier überhaupt notwendig war. Einen gesunden, lebendigen, gefährlichen Rakosh konnte er ohne jeden Skrupel abfackeln, weil der ihm an seiner Stelle ohne jedes Zögern den Kopf abreißen würde. Aber so wie es schien, würde Narbenlippe in Kürze das Zeitliche segnen. Also warum sollte er mit einem Feuer das fahrende Volk in Gefahr bringen?
Andererseits … was, wenn Narbenlippe sich doch erholte und irgendwann freikam? Die Möglichkeit bestand. Und Jack würde es sich nie verzeihen, wenn das Monster noch einmal Jagd auf Vicky machen würde. Bei seinem letzten Versuch, Vicky zu retten, war er beinahe getötet worden – und dabei hatte er unfassbares Glück gehabt. Konnte er sich darauf verlassen, auch beim nächsten Mal ungeschoren davonzukommen?
Nein. Man sollte sich nie auf sein Glück verlassen.
Er begann den Deckel von dem Kanister abzuschrauben, hielt aber inne, als er Stimmen hörte, die durch die Budengasse auf ihn zukamen. Er verbarg sich im Schatten.
»Ich sag’s dir, Hank«, erklang eine ihm vertraute Stimme. »Du hättest diesen Koloss heute Nachmittag sehen sollen. Irgendwas hat ihn aufgestachelt. Die Leute standen in Scharen vor dem Käfig, als der rausguckte.«
Jack erkannte den kahlköpfigen Ticketverkäufer, der ihn mit dem Stock hinter die Absperrung zurückgedrängt hatte. Der andere Mann bei ihm war größer, jünger, aber genauso muskulös und hatte einen dichten rötlichen Haarschopf. Er hielt eine Flasche mit billigem Fusel in der Hand, während der mit der Glatze eine an einem Ende zugespitzte, zwei Meter lange Eisenstange trug. Sie waren beide nicht sehr sicher auf den Beinen.
»Vielleicht haben wir ihm ja gestern Nacht doch noch was beigebracht, was Bondy?«, meinte Hank.
»Das war nur die erste Lektion«, erwiderte Bondy. »Die erste von vielen. Der hat noch viel zu lernen.«
Sie bleiben vor dem Käfig stehen. Bondy nahm einen Schluck aus der Pulle und reichte sie dann an Hank zurück.
»Sieh ihn dir an«, sagte Bondy. »Der große blaue Faulpelz. Meint, er kann den ganzen Tag nur dasitzen und Tag und Nacht schlafen. Vergiss es, Kumpel! Du musst dir deine Unterkunft verdienen, fauler Sack!« Er stach mit dem spitzen Ende der Eisenstange nach dem Rakosh. »Verdien sie dir!«
Die Spitze verletzte Narbenlippe an der Schulter. Das Monster stöhnte wie eine Kuh mit Mandelentzündung und rollte sich zur Seite. Der Kahlkopf piekste ihn immer wieder mit der Stange, stach ihm wieder und wieder in den Rücken, wobei der Rakosh jedes Mal aufstöhnte, während Hank grinsend danebenstand.
Jack drehte sich um und kroch im Schutz des Schattens davon. Die beiden Zirkusleute hatten das Einzige gefunden, mit dem man einen Rakosh ernsthaft verletzen konnte – Eisen. Feuer und Eisen – alles andere vermochte ihnen nichts anzuhaben. Vielleicht war auch das ein Grund für den schlechten Zustand von Narbenlippe – er war hinter Eisengittern eingesperrt.
Als Jack sich davonstahl hörte er Hanks Stimme, die das Schmerzensgeheul des Rakosh übertönte.
»Wann darf ich denn mal, Bondy? Sag mal. Wann darf ich denn auch mal?«
Das heisere Stöhnen folgte Jack in die Nacht hinaus. Er verstaute den Kanister im Kofferraum und kam gerade bis zum Offnen der Wagentür. Dann hielt er inne.
»Scheiße!«, fluchte er und schlug mit der Faust auf das Wagendach. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«
Er schlug die Tür wieder zu und trottete zum Zirkuszelt zurück, wobei er dieses Wort stetig wiederholte.
Er bemühte sich dieses Mal gar nicht erst um Diskretion. Er steuerte direkt auf den Bereich zu, den er gerade verlassen hatte, zog die Leinwand hoch und stürmte hinein. Bondy hielt die Eisenstange immer noch in der Hand, oder vielleicht auch schon wieder. Jack tauchte neben ihm auf, gerade als er zu einem neuen Stoß auf die eingeschlossene, zusammengekauerte Kreatur ausholte. Er riss ihm die Pike aus der Hand.
»Das reicht jetzt, du Arschloch.«
Bondy sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und seine Stirn legte sich bis dahin in Falten, wo bei den meisten Menschen der Haaransatz ist. Wahrscheinlich hatte seit sehr, sehr langer Zeit niemand mehr so mit ihm gesprochen.
»Wer zum Teufel bist du denn?«
»Niemand, den du jetzt kennenlernen willst. Vielleicht solltest du für heute einfach Schluss machen.«
Bondy versuchte Jack einen Kinnhaken zu versetzen. Er kündete es an, indem er vorher die Zähne bleckte. Jack hob die Stange zwischen die Faust und sein Gesicht. Bondy schrie auf, als seine Knöchel auf das Metall trafen, dann beschrieb er mit eingeknickten Knien einen Kreis, während er die Hand umfasst hielt, um den Schmerz zu dämpfen.
Plötzlich schlang sich ein Paar Arme um Jacks Rumpf und hielt ihn in einem schraubstockartigen Griff fest.
»Ich hab ihn, Bondy!«, erklang Hanks Stimme hinter Jacks linkem Ohr. »Ich hab ihn.«
Fünf oder sechs Meter von ihnen entfernt beendete Bondy seinen Indianertanz, sah auf und grinste. Als er zum Angriff ansetzte, rammte Jack seinen Hinterkopf rücklings gegen Hanks Nase. Plötzlich war er frei. Er hatte immer noch die Eisenstange in der Hand, also richtete er das stumpfe Ende auf den anstürmenden Bondy und rammte es ihm hart gegen den Solarplexus. Die Luft wurde aus ihm herausgestoßen und Bondy ging mit einem Stöhnen in die Knie. Sein Gesicht lief grünlich an. Selbst seine Schädeldecke bekam eine ungesunde Farbe.
Jack blickte auf und sah Narbenlippe, der am Gitter des Käfigs hockte. Seine Finger umklammerten die Gitterstäbe und der gelbe Blick wanderte zwischen ihm und dem stöhnenden Bondy hin und her, konzentrierte sich aber mehr auf Jack, als versuche er zu verstehen, was der getan hatte, und warum. Dünne, blutige Rinnsale liefen an ihm herab.
Jack wirbelte die Pike um 180 Grad herum und richtete das spitze Ende auf Bondys Brust.
»Wie klingt wohl das Geräusch, wenn ich dieses Ende in dich reinbohre?«
Hinter ihm begann Hanks Stimme zu schreien, auch wenn sich das sehr nasal anhörte: »Hey, Rübe! Rübe!«
Noch während Jack überlegte, was das jetzt wieder bedeuten mochte, versetzte er dem knienden Bondy einen Stich mit dem spitzen Ende. Nicht genug, um ihn tatsächlich zu verletzen, aber eben doch genug, um ihn zu erschrecken. Der heulte auf und ließ sich flennend in das Sägemehl zurückfallen.
»Nein. Bitte nicht!«
Mittlerweile hatte Hank weiter gerufen. Als Jack sich umdrehte, um ihn zum Schweigen zu bringen, sah er die Wirkung der Schreie.
Das Zelt füllte sich mit Zirkusleuten. Vielen Zirkusleuten, die alle auf ihn zurannten. Innerhalb von Sekunden war er umzingelt. Mit den Handlangern konnte er fertig werden, aber die anderen, die Ausstellungsstücke, erzeugten in einer solchen Gruppe und bei diesem düsteren Licht einen grotesken Eindruck, so wie sie aussahen, zum Teil nur halb angekleidet. Der Schlangenmann, der Krokodiljunge, der Vogelmann, der grüne Mann vom Mars und andere trugen immer noch ihre Kostüme – wenigstens hoffte Jack, dass es Kostüme waren – und niemand machte einen besonders freundlichen Eindruck.
Hank hielt sich die blutige Nase und drohte Jack mit dem Finger. »Jetzt wirst du was erleben. Jetzt wirst du was erleben.«
Bondy schien plötzlich auch frischen Mut bekommen zu haben. Er rappelte sich auf die Füße und wollte mit erhobener Faust auf Jack losgehen.
»Du gottverdammter …«
Jack versetzte ihm einen Stoß mit der Eisenstange gegen den kahlen Schädel, der ihn taumeln ließ. Mit einem wütenden Murmeln zog sich der Kreis der Zirkusleute um ihn herum enger zusammen.
Jack drehte sich um die eigene Achse und wirbelte mit der Stange vor sich her. »Okay – Wer ist der nächste?«
Er hoffte, dass es ein überzeugender Bluff war. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Er hatte ein wenig Kampfkunst auch mit der Bambusstange und Nunchuks geübt. Er war zwar nicht Bruce Lee, aber mit dieser Pike konnte er schon einigen Schaden anrichten. Problematisch war nur, dass er kaum Bewegungsspielraum hatte und sich der Kreis der Zirkusleute von Sekunde zu Sekunde enger um ihn schloss.
Jack hielt Ausschau nach einem Schwachpunkt, einer Stelle, wo er durchbrechen und fliehen konnte. Als allerletzte Möglichkeit sah er immer noch die.45 er Semmerling in seinem Knöchelhalfter.
Dann drang eine tiefe Stimme über das wütende Summen der Meute hinweg.
»Hey da. Was ist hier los? Was soll der Aufruhr?«
Die Zirkusleute verstummten, aber vorher hörte Jack noch ein paar Stimmen flüstern »der Boss« und »Oz«. Der Kreis teilte sich, um einen hochgewachsenen Mann durchzulassen, der bestimmt 1,90 Meter maß. Ein bleicher Mann mit strähnigem Haar, dessen birnenförmiger Körper von einem weiten Seidenumhang mit orientalischen Schriftzügen verhüllt wurde. Auch wenn er um den Bauch herum teigig wirkte, waren die großen Hände, die aus den Ärmeln herausragten, an den Handgelenken dünn und knochig.
Der Boss – Jack vermutete, dass es sich um den Ozymandias Prather handelte, nach dem der Zirkus benannt war – blieb am inneren Rand des Kreises stehen und überblickte die Lage. Sein Gesichtsausdruck war auf eine merkwürdige Art schlaff, aber seine Augen funkelten dunkel und kalt und waren weit lebendiger als alles andere an ihm. Diese Augen blieben schließlich auf Jack haften.
»Wer sind Sie und was tun Sie hier?«
»Ich beschütze Ihren Besitz.« Jack beschloss zu bluffen.
»Ach tatsächlich?« Ein gequältes Lächeln. »Wie überaus großmütig.« Unvermittelt wurde der Gesichtsausdruck düsterer. »Beantworten Sie meine Frage! Ich kann die Polizei rufen oder wir regeln das auf unsere Weise.«
»Gut«, sagte Jack. Er erhöhte sein Risiko, indem er dem Boss die Pike vor die Füße warf. »Vielleicht habe ich mich ja geirrt. Vielleicht bezahlen Sie den Kahlkopf hier ja tatsächlich dafür, dass er Löcher in ihre Attraktionen sticht.«
Der massige Mann erstarrte einen Moment, dann drehte er sich langsam zu dem Ticketverkäufer um, der sich die Beule an seinem Kopf rieb.
»Also, Boss …«, begann Bondy, aber Oz brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
Er sah auf die Pike herunter, wo Sägemehl an der braunen Flüssigkeit haften blieb, die die Spitze bedeckte, dann auf den hockenden Rakosh mit den zahllosen blutenden Wunden. Das Blut schoss ihm in die Wangen, als sein Kopf wieder zu Bondy herumfuhr.
»Haben Sie dieses Geschöpf verletzt, Mr Bond?«
Die Augen und die Stimme des Mannes waren so drohend, dass Jack dem Kahlkopf seine Ausflüchte nicht einmal verdenken konnte.
»Wir haben nur versucht, ihn dazu zu bringen, für die Kunden eine bessere Show zu liefern.«
Jack sah sich um und bemerkte, dass Hank abgetaucht war. Er sah, wie sich die Attraktionen näher um den Rakosh-Käfig gruppierten und angesichts seines Zustands mitleidige Laute von sich gaben. Als sie sich wieder umdrehten, galten ihre wütenden Blicke Bondy, und nicht mehr Jack.
»Du hast ihm wehgetan«, sagte der grüne Mann.
»Er ist unser Bruder«, sagte der Schlangenmann mit leiser lispelnder Stimme, »und du hast ihn mehrfach verletzt.«
Bruder?, überlegte Jack. Was ist hier los? Was soll das alles?
Der Boss nagelte Bondy weiterhin mit seinem Blick fest. »Du glaubst also, du kannst aus dieser Kreatur mehr herausholen, indem du sie misshandelst?«
»Wir haben gedacht …«
»Ich weiß, was Sie dachten, Mr Bond. Und viele von uns wissen nur zu gut, wie sich der Haimann gefühlt hat. Uns allen ist im Laufe unseres Lebens ungerechte Behandlung widerfahren und wir begegnen dem mit Abscheu. Sie werden sich augenblicklich in Ihr Quartier begeben und dort auf mich warten.«
»Einen Scheiß werde ich!«, spie Bondy hervor. »Und Sie können mich mal, Oz. Ich bin fertig mit dieser Show! Ich gehe hier nirgendwo hin, außer einfach nur weg.«
Der Boss richtete sich an den Krokodiljungen und den Vogelmann. »Begleitet Mr Bond zu meinem Wohnwagen. Und achtet darauf, dass er davor wartet, bis ich komme.«
Bond versuchte durch die Menge hindurch zu verschwinden, aber der grüne Mann stellte sich ihm in den Weg bis die beiden anderen ihn unter den Armen fassten. Er wehrte sich, war ihnen aber nicht gewachsen.
»Das können Sie nicht machen, Prather!«, brüllte er und die Angst stand in seinen Augen, als er ziemlich unsanft weggeschleift wurde. »Sie können mich nicht zwingen zu bleiben, wenn ich gehen will!«
Oz beachtete ihn nicht weiter und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Jack zu. »Und damit sind wir wieder bei Ihnen, Mr …?«
»Jack?«
»Jack … und weiter?«
»Nur Jack.«
»Na gut, Mr Jack. Was für ein Interesse haben Sie an dieser Sache?«
»Ich kann Schlägertypen nicht ausstehen.«
Das war keine Antwort, aber sie musste ausreichen. Er konnte dem Boss ja schlecht erklären, dass er gekommen war, um seinen Haimenschen zu frittieren.
»Das tut ja wohl niemand. Aber weshalb Ihr Interesse an dieser speziellen Kreatur? Was tun Sie überhaupt hier?«
»Man hat nicht gerade häufig die Gelegenheit, einen lebenden Rakosh zu bewundern.«
Als er den Boss blinzeln und einen hastigen Blick auf den Käfig werfen sah, überkam Jack das plötzliche Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Wie schwerwiegend dieser Fehler war, war noch nicht einzuschätzen.
»Was sagen Sie da?« Die glitzernden Augen konzentrierten sich wieder auf ihn. »Wie haben Sie es genannt?«
»Nichts«, sagte Jack.
»Nein, ich habe das schon verstanden. Sie bezeichneten es als Rakosh.« Oz ging zu dem Käfig hinüber und blickte Narbenlippe in die gelben Augen. »Das bist du also, mein Freund … ein Rakosh? Wie faszinierend!« Er wandte sich seinen übrigen Angestellten zu. »Es ist alles in Ordnung. Ihr könnt alle wieder ins Bett gehen. Alles ist unter Kontrolle. Ich möchte mit dem Herrn hier unter vier Augen sprechen, bevor er wieder geht.«
»Sie wussten also nicht, was es war?«, fragte Jack, als sich die Menge zerstreute.
Oz starrte den Rakosh weiter an »Nicht bis zu diesem Moment. Ich dachte, das sei eine Legende.«
»Wo haben Sie ihn gefunden?« Die Antwort war wichtig für ihn – bis zu diesem Nachmittag war Jack sich sicher gewesen, Narbenlippe getötet zu haben.
»Aufgrund eines Anrufs. Im letzten Sommer hat mich jemand mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt – und mir erzählt, wenn ich am Strand von Governors Island suchen würde, könnte ich eine faszinierende neue Attraktion finden.«
Im letzten Sommer … das war das letzte Mal gewesen, als er Narbenlippe und seine Brut gesehen hatte. »Wer hat Sie angerufen? War das eine Frau?«
»Nein. Warum fragen Sie?«
»Reine Neugierde.«
Außer Vicky, Gia, Abe und ihm selbst hatte nur noch Kolabati von den Rakoshi gewusst.
»Irgendetwas in der Stimme des Anrufers, seine vollkommene Sicherheit, brachte mich dazu, mich tatsächlich auf die Suche zu machen. Bei Tagesanbruch habe ich mit einigen meiner Leute die Küste abgesucht. Wir mussten dabei mit Hunderten von Andenkenjägern konkurrieren, die nach Wrackteilen eines Schiffes suchten, das in der Nacht explodiert und gesunken war. Wir haben unseren Freund hier in einem Haufen von Wrackteilen gefunden. Ich dachte, die Kreatur sei tot, aber als ich feststellte, dass sie noch lebt, ließ ich sie retten. Da sie ziemlich gefährlich aussieht, habe ich sie in einen alten Tigerkäfig sperren lassen.«
»Das war Ihr Glück.«
Der Boss lächelte und enthüllte gelbe Zähne. »Da könnten Sie recht haben. Er hat beinahe den Käfig zerlegt. Aber seither ist es mit ihm stetig abwärts gegangen. Wir haben versucht, ihn mit allem zu füttern, was uns einfiel: Fisch, Geflügel, Rind, Pferdefleisch – sogar Gemüse, obwohl ein Blick auf diese Zähne verrät, dass es sich um einen Fleischfresser handelt – aber egal, was wir versucht haben, sein Zustand wurde immer schlechter.«
Jetzt wusste Jack plötzlich, warum Narbenlippe im Sterben lag. Rakoshi ernährten sich ausschließlich von einer bestimmten Spezies – und dieses Exemplar bekam nicht das richtige Futter.
»Ich habe einen Veterinärmediziner zurate gezogen«, fuhr Oz weiter fort, »auf dessen Diskretion ich vertrauen kann, aber auch er konnte die Entkräftung nicht aufhalten.«
»Nun …« Jack versuchte plötzlich, zögerlich zu klingen. »Ich habe einmal ein Bild von einem Rakosh in einem Buch gesehen. Ich … ich meine, der sah so aus. Aber ich bin nicht sicher. Ich kann mich natürlich irren.«
»Sie irren sich aber nicht.« Oz drehte sich um und sah ihm tief in die Augen. Er senkte seinen Blick bis zu Jacks halb offenem Hemd und fixierte die Ansätze der Narben auf der Brust, die zurückgeblieben waren von den Wunden, die ihm der Rakosh mit seinen Klauen zugefügt hatten. »Ich glaube, Sie kennen sich mit dieser Kreatur weit besser aus, als Sie zugeben wollen.«
Jack zuckte die Achseln. Diese Musterung war ihm unangenehm, vor allem, weil es nicht das erste Mal war, dass jemand so auf seine Brust gestarrt hatte.
»Aber das spielt ja auch keine Rolle!« Oz lachte und breitete die Arme aus. »Ein Rakosh! Wie wundervoll! Und er gehört ganz allein mir!«
Jack blickte auf Narbenlippes niedergedrückte, ausgemergelte Gestalt.
Ja, aber nicht mehr lange.
Er vernahm ein Geräusch wie ein Knurren und drehte sich um. Der Anblick eines der kantigen Hilfsarbeiter, der am Zeltausgang stand, erschreckte ihn. Er sah aus, als winke er seinem Boss zum Abschied zu.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte Oz und eilte zum Ausgang. Sein Seidenumhang flatterte um ihn herum.
Jack drehte sich um, und bemerkte, dass Narbenlippe ihn mit seinen kalten, gelben Augen anstarrte. Du willst mich immer noch umbringen, stimmt’s, alter Junge? Das beruht auf Gegenseitigkeit. Aber so, wie es aussieht, werde ich dich wohl doch um ein paar Jahre überleben. Ein paar Jahrzehnte.
Je länger er in der Nähe dieser geschwächten Kreatur war, desto mehr kam er zu der Überzeugung, dass der Rakosh so gut wie tot war. Er brauchte ihn nicht mehr abzufackeln. Das Wesen war bereits hinüber.
Jack beobachtete Oz weiter aus dem Augenwinkel. Nach einer hastigen, einseitigen Unterredung – sein Untergebener nickte nur dann und wann – kam der Zirkuschef wieder zurück.
»Entschuldigen Sie. Ich musste die Instruktionen für einen wichtigen Auftrag abändern. Aber ich möchte Ihnen danken. Sie haben mir einen Lichtblick während einer sehr betrüblichen Tourneephase beschert.« Sein Blick wanderte in die Ferne. »Für gewöhnlich machen wir sehr gute Geschäfte in Monroe, aber in diesem Jahr … es scheint, als sei hier im letzten Monat ein Haus verschwunden. Offenbar hat es eines Nachts ein seltsam blitzendes Licht gegeben, danach war es weg mitsamt Fundament und allem. Die Leute hier befinden sich immer noch in einer Art Schockzustand.«
»Was Sie nicht sagen«, meinte Jack. »Ich glaube, ich mache mich dann mal wieder auf den Weg.«
»Aber Sie müssen mir gestatten, meinen Dank zu erweisen. Sie haben die arme Kreatur erlöst und mir geholfen, sie zu identifizieren. Wie wäre es mit Freikarten?«
»Das ist nicht nötig«, sagte Jack und steuerte auf den Ausgang zu.
»Ach übrigens«, rief Oz. »Wie kann ich Sie erreichen, wenn ich das Bedürfnis habe?«
Jack rief über die Schulter zurück: »Gar nicht.«
Ein letzter Blick auf den Rakosh zeigte ihm, dass Narbenlippe immer noch hinter ihm her starrte, dann teilte er den Segeltuchvorhang und trat wieder in die frische Nachtluft hinaus.
Ein seltsamer Gefühlswirrwarr umgab ihn, als er zu seinem Wagen zurückkehrte.
Er war froh, dass Narbenlippe bald den Löffel abgab, aber allein die Tatsache, dass er immer noch lebte, auch wenn er zu schwach war, um für Vicky eine Bedrohung darzustellen, störte ihn. Tot war ihm die Kreatur zweifelsfrei lieber. Er würde den Zirkus im Auge behalten, oder täglich oder zumindest alle zwei Tage vorbeischauen, bis er mit Sicherheit wusste, dass der Rakosh seinen letzen Atemzug getan hatte.
Und noch etwas anderes störte ihn. Er konnte den Grund nicht genau bestimmen, aber er hatte das unangenehme Gefühl, dass es nicht gut gewesen war, nochmals zurückzukehren.
3
Am übernächsten Abend fuhr Jack nach Monroe, um noch einmal nach dem Rakosh zu sehen.
Der Himmel öffnete die Schleusen, sobald er aus dem Wagen stieg. Es war wie ein tropischer Sturm. Im einen Moment war da nur die Androhung von Regen, im nächsten stiefelte Jack mitten durch einen Wasserfall. Als er am Eingang ankam, war er durchnässt, schlammbespritzt und übelster Laune. Wenigstens stand das Hauptzelt noch, auch wenn der Eingang verhängt war und niemand Karten verkaufte. Das Unternehmen wirkte wie ausgestorben.
Jack glitt zwischen den Segeltuchplanen hindurch. Die schale Luft, die sich unter der Zeltkuppel gesammelt hatte, stank nach nassem Heu und merkwürdigem Schweiß. Seine Füße schmatzten in den nassen Schuhen, als er zu Narbenlippe hinüberschlurfte, aber dann blieb er wie vom Donner gerührt stehen, als er sah, was sich hinter den Gitterstäben befand.
Es war zwar immer noch Narbenlippe, aber die Kreatur, die er in der Nacht zuvor gesehen hatte, war nur ein schwacher Abklatsch dieses Monsters hier gewesen. Der Rakosh, der sich in dem Käfig aufbäumte und an den Gitterstäben rüttelte, war ein Ausbund von Vitalität und Wildheit, mit makellos glänzender schwarzblauer Haut und flimmernden gelben Augen, aus denen eine innere Kraft leuchtete.
Jack stand wie betäubt vor dem Käfig und dachte: Das ist ein wiederkehrender Albtraum.
Der gestern noch todkranke Rakosh platzte geradezu vor Gesundheit und er wollte aus dem Käfig heraus.
Plötzlich erstarrte er und Jack bemerkte, dass er in seine Richtung blickte. Ein kalter gelber Eidechsenblick ruhte auf ihm. Er fühlte sich wie ein Hirsch im Scheinwerferlicht eines Sattelschleppers.
Er drehte sich um und hastete aus dem Zelt. Im Regen draußen sah er sich um und bemerkte das Schild »Büro« an einem der Wohnwagen. Die Zeltplane des Vordachs bog sich im Regenwasser durch. Jack klopfte.
Er trat zurück, als die Tür nach außen aufklappte. Prather starrte auf ihn herunter.
»Wer sind Sie?«
»Auch Ihnen einen guten Abend. Ich war gestern schon mal hier. Ich bin der Typ mit der Eisenstange.«
»Ach ja, der Verteidiger der Rakoshi. Jack, nicht wahr?«
»Ich möchte mit Ihnen über diesen Rakosh reden.«
Oz machte Platz in der Tür. »Kommen Sie nur herein.«
Jack kletterte die Stufen hoch und betrat den Wagen, aber nur so weit, um aus der Gefahrenzone dieser vollgelaufenen Plane zu kommen. Der Regen trommelte auf das Metalldach und Jack wusste, er würde das nicht lange aushalten, bevor es ihn wahnsinnig machte.
»Haben Sie ihn gesehen?« Prathers Stimme schien in dem kleinen Wohnwagen von überallher zu kommen. »Ist er nicht beeindruckend?«
»Was haben Sie mit ihm gemacht?«
Oz starrte ihn an, als erstaune ihn die Frage wirklich. »Na ja, mein guter Mann, jetzt, wo ich weiß, was es ist, weiß ich natürlich auch, wie man es halten muss. Ich habe mir die entsprechenden Kapitel über die Hege und Pflege von Rakoshi in meinen Büchern über bengalische Mythologie angesehen und entsprechend gehandelt.«
Jack wurde es plötzlich kalt. Und das lag nicht an seiner durchweichten Kleidung.
»Was … womit haben Sie ihn denn gefüttert?«
Oz große braune Augen blickten ihn offen und ohne jedes Schuldbewusstsein an. »Ach, mit diesem und jenem. Wie es die Texte so vorschrieben. Sie haben doch nicht wirklich geglaubt, dass ich es zulasse, dass eine so wunderbare Kreatur weiter leidet und dann an mangelnder Ernährung eingeht, oder? Ich vermute, Sie sind vertraut …?«
»Ich weiß, was ein Rakosh zum Überleben braucht.«
»Ist das so? Wissen Sie alles über Rakoshi?«
»Nein, natürlich nicht, aber …«
»Dann lassen Sie uns doch davon ausgehen, dass ich mehr weiß als Sie. Vielleicht gibt es mehr als nur eine Methode, um sie bei Gesundheit zu halten. Ich sehe keine Veranlassung, das mit Ihnen oder sonst jemandem zu erörtern. Sagen wir einfach, er hat genau das bekommen, was er brauchte.« Sein Lächeln war furchteinflößend. »Und dass seine Mahlzeit ihm ungemein gemundet hat.«
Jack wusste, dass Rakoshi nur eine Sache fraßen. Die Frage war nur: Wen? Er wusste, dass Prather ihm das niemals verraten würde, also sparte er sich die Frage.
Stattdessen sagte er: »Haben Sie eigentlich irgendeine Idee, womit Sie da herumspielen? Wissen Sie, was mit Ihrer Truppe passiert, wenn dieses Monster freikommt? Ich habe Rakoshi in Aktion erlebt und ich versichere Ihnen, er reißt sie alle in Stücke.«
»Ich vermute, dass Sie wissen, dass Eisen sie schwächt. Die Gitterstäbe seines Käfigs sind aus Eisen; Dach, Boden und Seitenwände sind stahlverstärkt. Er wird nicht freikommen.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr. Es gibt wohl keine Möglichkeit, Sie dazu zu bringen, ihn mit Benzin zu übergießen und ein Streichholz daranzuhalten.«
Prathers Miene verfinsterte sich, als er aufstand.
»Ich rate Ihnen, sich diese Idee sofort aus dem Kopf zu schlagen, sonst kann es Ihnen passieren, dass Sie sich zusammen mit dem Rakosh in einem Käfig wiederfinden.« Er trat auf Jack zu und drängte ihn so aus dem Wohnwagen. »Ich habe Sie gewarnt. Guten Tag noch.«
Er griff mit einem langen Arm an Jack vorbei und zog die Tür zu.
Jack stand für einen Moment vor dem Wohnwagen und erkannte, dass soeben das Schlimmste eingetreten war. Narbenlippe gesund … damit durfte er sich nicht abfinden. Er hatte den Benzinkanister immer noch im Kofferraum seines Wagens.
Er würde später wiederkommen. Ein letztes Mal.
Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass jemand hinter ihm stand. Seine Nase war geschwollen und verfärbt, unter beiden Augen hatten sich tiefdunkle Ringe ausgebildet. Der Regen, der jetzt zu einem Nieseln abgeebbt war, ließ das rötliche Haar dunkler erscheinen, das nass am Schädel klebte. Er starrte Jack mit offenem Hass an.
»Du bist dieses Arschloch, das mir und Bondy diesen Arger eingebrockt hat.«
Erst jetzt erkannte Jack den Hilfsarbeiter aus der vorgestrigen Nacht. Hank. Er hatte eine deutliche Fahne. In der Hand hielt er eine Flasche in einer neutralen Papiertüte. Wohl wieder irgendein Fusel.
»Das ist alles deine Schuld«, brüllte Hank.
»Stimmt vollkommen.«
Jack machte sich auf den Weg zu seinem Wagen. Er hatte keine Zeit für diesen Armleuchter.
»Bondy war mein einziger Freund! Und jetzt ist er deinetwegen rausgeflogen!«
In seinem Hirn klingelte hell ein Glöckchen. Jack blieb stehen und drehte sich um.
»Ach ja? Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«
»Vorgestern. Als du ihm diesen Arger eingebrockt hast.«
Das Glöckchen klingelte immer lauter.
»Und seitdem hast du ihn nicht mehr gesehen? Er hat sich nicht mal von dir verabschiedet?«
Hank schüttelte den Kopf. »Nein. Der Boss hat ihn sofort auf die Straße gesetzt. Bei Sonnenaufgang war er schon mit all seinen Sachen verduftet.«
Jack fiel die Wut in den Augen von Oz wieder ein, als der von dem verletzten Rakosh auf Bondy geblickt hatte. Jack war sich ziemlich sicher, dass das Läuten in seinem Kopf von einer Essensklingel stammte.
»Er war der Einzige hier, der mich gemocht hat«, sagte Hank mit Leidensmiene. »Bondy hat mit mir geredet. All diese Freaks und Schlaumeier reden doch nicht mit unsereins.«
Jack seufzte, als er Hank anstarrte. Jedenfalls hatte er jetzt eine Ahnung, wer auf Narbenlippes Speiseplan gestanden hatte.
Kein großer Verlust für die Menschheit.
»Solche Freunde brauchst du gar nicht, Kleiner«, sagte er und wandte sich wieder ab.
»Dafür wirst du büßen!«, schrie Hank ihm hinterher. »Bondy wird zurückkommen, und wenn er das tut, dann rechnen wir ab. Wegen dir und diesem verdammten Haimenschen ist mir der Lohn gekürzt worden! Wenn du meinst, dass du jetzt schon in der Scheiße steckst, dann warte nur ab, bis Bondy wiederkommt.«
Ich mache mir vor Angst fast ins Hemd.
Jack überlegte, ob es einen Vorteil brachte, dem Jungen zu sagen, dass Bondy nicht entlassen worden war – sondern in gewisser Weise immer noch ein Teil der Freakshow war. Aber das hätte den dummen Jungen nur in Gefahr gebracht.
Hank tobte weiter. »Und wenn er nicht zurückkommt, dann mache ich dich selbst fertig. Und auch diesen Haimenschen!«
Nein. Das wirst du nicht. Darum kümmere ich mich.
4
Eine letzte Fahrt zum Zirkus. Jacks vorläufiger Plan bestand darin, im Dunkeln mit dem Wagen bis direkt an das Zelt heranzufahren, sich unter der Plane durchzuducken, Narbenlippe mit Benzin zu übergießen, ein Streichholz anzureißen und die Kreatur in die Hölle zurückzuschicken.
Aber als er über die schmale Straße über das Sumpfland fuhr, hatte er plötzlich ein mulmiges Gefühl im Bauch.
Wo waren die Zelte?
Er ließ den Wagen vor der schlammigen Wiese ausrollen und starrte ungläubig auf die leere Fläche im Licht seiner Scheinwerfer. Dann sprang er aus dem Wagen und sah sich um. Die Show war mit allem Drum und Dran verschwunden. Sie waren ihm auf der Straße nicht entgegengekommen. Also wo …?
Er hörte ein Geräusch und erblickte im Umdrehen einen knorrigen alten Mann auf der anderen Seite seines Wagens. Bei dem wenigen Licht, was von den Scheinwerfern noch so weit zurückstrahlte, erkannte er nur einen unrasierten alten Mann, mehr nicht.
»Wenn Sie wegen der Show gekommen sind, kommen Sie zu spät. Aber keine Angst. Nächstes Jahr kommen die wieder.«
»Haben Sie gesehen, wann sie weggefahren sind?«
»Natürlich«, sagte er. »Aber erst, nachdem ich die Pacht kassiert habe.«
»Wissen Sie, wohin …?«
»Mein Name ist Haskins. Mir gehört das Land hier. Und Sie stehen drauf.«
Jacks Geduld begann zu reißen. »Ich würde auch gerne wieder verschwinden, wenn Sie mir sagen …«
»Ich verpachte es jedes Jahr an diesen Zirkus. Monroe scheint denen wirklich zu gefallen. Aber ich …«
»Ich muss wissen, wohin die gefahren sind.«
»Sind Sie nicht schon ein bisschen alt, um jetzt noch mit dem Zirkus durchbrennen zu wollen?«, fragte er mit einem heiseren Lachen.
Das reichte jetzt: »Wo sind sie hin?«
»Regen Sie sich doch nicht auf. Ganz ruhig bleiben. Die sind rüber nach Jersey. Die haben morgen die erste Vorstellung in Cape May.«
Jack rannte zu seinem Auto zurück. Südjersey. Da gab es nur einige Routen für einen Konvoi aus einem Laster und Wohnwagen: Der Cross-Bronx-Expressway über die George-Washington-Brücke brachte sie zu weit nach Norden; über den Beltway zum Verrazano und dann über Staten Island würden sie in der Mitte von Jersey rauskommen. Das war also die wahrscheinlichste Route. Aber selbst wenn er sich da irren sollte: Weiter nach Cape May mussten sie den Garden-State-Parkway nehmen.
Jack gab Gas. Früher oder später würde er sie schon einholen.
5
Jack brauchte zwei nervenaufreibende Stunden, um Jersey zu erreichen. Mitternacht war längst vorüber und Cape May noch mehr als hundertfünfzig Kilometer entfernt. Hier auf dem Parkway war die Geschwindigkeit auf hundert Stundenkilometer begrenzt. Er stellte den Tempomat auf hundertzehn und nahm den Fuß vom Gaspedal. Er wäre lieber hundertfünfzig gefahren, aber dann wäre er vielleicht angehalten worden und Polizei war das Letzte, was er brauchte.
Er hatte Kopfschmerzen. Vorher hatte er das Radio angestellt und auf irgendeinem Sender hatten sie ›You keep me hanging on‹ gespielt und jetzt bekam er den Song nicht mehr aus dem Kopf. Die Stimme von Diana Ross war wie eine Kreissäge, die einen Nagel trifft.
Er war davon überzeugt, dass er eine Kolonne aus Zirkuswagen nicht übersehen konnte, doch er hätte es beinahe getan. Fast hundert Meter nach der New Gretna Raststätte schob sich das vertraute Bild der bunten Wagenansammlung auf dem Parkplatz in sein Bewusstsein.
Er wurde langsamer, fand eine Abbiegerspur, »nur für Dienstfahrzeuge«, und wendete dann verbotenerweise auf die Gegenfahrbahn. Dreißig Sekunden später fuhr er auf den Parkplatz und fand einen Stellplatz neben dem Burger King, von wo aus er die Zirkuswagen gut sehen konnte.
Um diese Zeit an einem Mittwochmorgen im Mai war der Rastplatz ziemlich leer. Bis auf ein paar Ehepaare auf dem Nachhauseweg von Atlantic City hatten Oz und seine Truppe den Parkplatz ziemlich für sich allein. Aber warum gerade dieser Rastplatz? Es war wirklich der einzige Jack bekannte, mit einer Polizeikaserne direkt in Nachbarschaft.
Aber er war jetzt schon so weit gekommen …
Jack öffnete den Kofferraum und starrte den Benzinkanister an. Dann bewaffnete er sich mit einer schallgedämpften P-98.22er, die er hinter dem Reserverad versteckt hatte. Das war zwar ein mickriges Kaliber, aber wenigstens leise. Er schob sie in seinen Hosenbund unter die Jacke und ging auf die Wagen des Kuriositätenkabinetts zu.
Er zählte zwei Sattelschlepper und an die zwanzig Wohnwagen aller Größen, Formen und Baufälligkeiten. Als er näher kam, hörte er ein Hämmern. Es schien aus einem der Sattelschlepper zu kommen. Zwei der Arbeiter mit Boxervisagen kamen gerade hinter einem Wohnwagen hervor, als Jack sich der Fahrzeuggruppe näherte. Sie knurrten ihn warnend an und deuteten auf den Rastplatz zurück.
»Ich will mit Oz reden.«
Noch mehr Knurren und unmissverständliche Gesten.
»Passt mal auf. Entweder ihr lasst mich jetzt zu ihm, oder ich gehe da zur Polizeikaserne rüber und er bekommt Besuch von denen.«
Den Aufbauhelfern schien der Gedanke nicht zu gefallen. Sie sahen sich an, dann hastete einer davon. Einen Augenblick später war er wieder da und bedeutete Jack, ihm zu folgen. Jack zog den Reißverschluss seiner Jacke weiter herunter, um schneller an die P-98 kommen zu können, dann setzte er sich in Bewegung.
Einer der Arbeiter blieb zurück. Als Jack dem anderen auf dem Slalomkurs zwischen den regellos abgestellten Wohnwagen hindurch folgte, sah er eine Gruppe Arbeiter, die versuchten, ein Loch in der Seite eines Sattelschleppers zu reparieren. Er blieb stehen und sah genauer hin, als ihm auffiel, wie groß das Loch war: ungefähr anderthalb Meter hoch und vielleicht einen Meter breit. Die Kanten der Metallwand waren nach außen gebogen, als habe eine Riesenfaust sie von innen durchschlagen. Jack war sich sofort sicher, dass der Besitzer dieser Faust kobaltblau mit gelben Augen war.
Mist! Er schloss die Augen und schlug sich mit der Faust gegen den Schenkel. Ihm war danach, etwas zu zerschlagen. Was konnte noch schiefgehen?
Der Arbeiter war stehen geblieben und winkte ihm, sich zu beeilen. Jack tat es und stand kurz darauf vor einem Wohnwagen, den er als den von Oz erkannte. Der Mann selbst stand davor und verfolgte die Reparatur des Lasters.
»Er ist entkommen, nicht wahr?«, fragte Jack und stellte sich neben ihn.
Der große Mann drehte die obere Hälfte seinen Körpers und sah Jack an. Sein Gesichtsausdruck war alles andere als freundlich.
»Ach, Sie sind’s. Sie kommen ganz schön rum.«
»Sie mussten ihn ja füttern! Sie mussten dafür sorgen, dass er seine Kräfte zurückgewinnt. Verdammt, Sie haben doch gewusst, was für ein Risiko Sie damit eingehen.«
»Er war hinter Eisengittern eingeschlossen. Ich dachte …«
»Sie haben falsch gedacht. Ich habe Sie gewarnt. Ich hab das Ding bei voller Kraft erlebt. Eisen oder nicht, dieser Käfig reicht nicht aus, um ihn einzusperren.«
»Ich bewundere Ihre Fähigkeit, Tatsachen zu benennen.«
»Wo ist er?«
Zum ersten Mal entdeckte Jack einen Anflug von Furcht in den Augen des Mannes.
»Ich weiß es nicht.«
»Super.« Er sah sich um. »Wo ist dieser Hank?«
»Hank? Was wollen Sie denn von dem Schwachkopf?«
»Ich habe mich nur gefragt, ob er ihn vielleicht wieder gequält hat.«
Oz boxte mit einer knochigen Faust gegen seine Handfläche. »Ich dachte, er hätte seine Lektion gelernt. Nun, dann lernt er sie jetzt.« Er drehte sich um und rief in die Nacht hinaus. »An alle – findet mir Hank! Findet ihn und bringt ihn augenblicklich zu mir.«
Sie warteten, aber niemand kam mit Hank. Er war nicht auffindbar.
»Es scheint, er ist davongelaufen«, meinte Prather.
»Oder verschleppt worden.«
»Wir haben kein Blut in der Nähe des Lasters gefunden, also ist der junge Vollidiot vielleicht noch am Leben.«
»Er ist noch am Leben«, erklärte eine Frauenstimme.
Jack drehte sich um und erkannte die dreiäugige Hellseherin aus der Show.
»Was siehst du, Carmella?«, fragte Oz.
»Er ist in den Wäldern. Er hat eines der Gewehre gestohlen und er trägt einen Speer. Er ist berauscht von Wein und Hass. Er wird die Bestie umbringen.«
»Das bezweifle ich«, sagte Oz. »Es ist wohl eher so, dass er sich umbringen lässt.«
Jack verstand, warum er sich das Gewehr verschafft hatte. In dem Speer sah er aber keinen Sinn, bis ihm die Eisenstange wieder einfiel, mit der sie den Rakosh gequält hatten. Beides würde Hank nichts nützen. Wenn er tatsächlich auf den Rakosh traf, würde er nicht lange durchhalten.
Er starrte zu den Pinienwäldern auf der anderen Seite des Parkway hinüber.
»Wir müssen ihn finden.«
»Ja«, sagte Oz. »Das arme Geschöpf, so allein da draußen in der Fremde, orientierungslos, hilflos, ängstlich.«
Jack konnte sich einen verängstigten Narbenlippe nicht wirklich vorstellen. Und ganz bestimmt hatte er keine Angst vor irgendetwas, was ihm hier begegnen könnte.
»Wo ist der Rakosh ausgebrochen?«
»Ungefähr einen Kilometer von hier. Direkt neben Kilometerstein 51,3. Wir haben angehalten, aber wir durften da auf dem Standstreifen nicht stehen bleiben, sonst hätte die Polizei sofort Fragen gestellt. Also sind wir erst mal hierhin weitergefahren.«
»Wir müssen ihn finden.«
»Nichts, was mir lieber wäre, obwohl ich den Eindruck habe, Sie würden ihn lieber tot sehen.«
»Gut beobachtet.«
»Interessante Gegend hier«, meinte Oz. »Direkt am Rand der Pine Barrens.«
Jack fluchte verhalten vor sich hin. Wie sollte er den Rakosh in diesem Urwaldgebiet finden – sofern der überhaupt da drin steckte? Die ganze Gegend war eine Zeitschleife. Direkt an der Küste standen ein Atomkraftwerk und altertümliche Städte wie Smithville oder Leeds Point, die aber unzweifelhaft schon im zwanzigsten Jahrhundert angekommen waren. Westlich des Parkway herrschte die Wildnis. Die Barrens waren ein riesiges Areal aus Kiefernwäldern, Gestrüpp, Geisterstädten, Hügeln, Sümpfen, Teichen, Bächen und alles war mehr oder weniger noch genauso wie zu der Zeit, als die Indianer Amerika für sich allein hatten. Seit den Befreiungskriegen hatten sie immer wieder als Zufluchtsort für alle Arten von Leuten gedient, die sich verbergen wollten. Hessische Deserteure, Royalisten, Schmuggler, Lenape-Indianer, abtrünnige Amish, geflohene Strafgefangene – im Laufe der Zeit hatten solche Leute immer wieder Zuflucht in den Barrens gefunden.
Jetzt musste man zu dieser Liste auch noch einen Rakosh hinzufügen.
»Wir sind nicht weit von Leeds Point entfernt«, sagte Prather und ein amüsiertes Lächeln spielte auf seinem Gesicht. »Von dort stammt angeblich der Jersey Devil.«
»Sparen Sie sich Ihre Geschichtsstunde für später auf. Schicken Sie ein Suchkommando los?«
»Nein. Niemand will gehen und ich kann es ihnen auch nicht verübeln. Aber selbst wenn ich ein paar Freiwillige fände, müsste trotzdem morgen Abend in Cape May alles für die Vorstellung aufgebaut sein.«
»Damit bleibe nur ich.«
Wenn der Rakosh einen zu großen Vorsprung bekam, würde er ihn niemals finden … eine Vorstellung mit der Jack sehr gut leben könnte, wäre da nicht die entfernte Möglichkeit gewesen, dass der Auftrag, Vicky zu töten, noch irgendwo im Gehirn des Rakosh existierte. Zwar nicht unbedingt wahrscheinlich, aber ein Risiko, das Jack auf keinen Fall eingehen wollte.
»Sie denken doch nicht ernsthaft darüber nach, Jagd auf ihn zu machen.«
Jack hob die Achseln. »Wissen Sie jemanden, der mir das abnimmt?«
»Darf ich fragen, warum?«, fragte Oz.
»Das ist eine zu lange Geschichte. Sagen wir so, ich und Narbenlippe kennen uns schon länger, und zwischen uns ist noch etwas zu klären.«
Oz blickte ihn einen Augenblick ernst an, dann drehte er sich um und ging zu seinem Wagen zurück.
»Kommen Sie mit. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
Jack bezweifelte das, aber er folgte ihm und wartete draußen, während Oz im Wohnwagen herumwühlte. Schließlich kam er mit etwas heraus, das aussah wie ein Gameboy. Er tippte auf ein paar Knöpfe, es ertönte ein Piepen, dann reichte er das Gerät Jack.
»Das hier wird Sie zu dem Rakosh fuhren.«
Jack betrachtete das Gerät: ein kleiner Bildschirm mit einem hellen grünen Licht, das in einer Ecke blinkte. Er drehte seinen Körper herum und das Licht bewegte sich.
»Das ist der Rakosh? Was haben Sie gemacht, ihm eine elektrische Fußfessel angelegt?«
»Gewissermaßen. Ich habe Peilsender in all meine Geschöpfe implantiert. Manchmal geht eines verloren und ich habe festgestellt, dass man sie damit hervorragend wieder aufspüren kann. Die meisten sind unersetzlich.«
»Ja. So viele Ziegen mit zwei Köpfen laufen da draußen ja nicht rum.«
»Sie sagen es. Aber die Reichweite beträgt nur drei Kilometer. Wie Sie sehen können, ist die Kreatur noch in diesem Radius, aber wahrscheinlich nicht mehr lange. Die Bedienung ist ganz einfach: Ihre Position ist die Mitte des Bildschirms. Wenn der Punkt links von der Mitte ist, ist der Rakosh links von Ihnen, rechts von der Mitte heißt rechts von Ihnen, unten ist hinter Ihnen, oben ist vor Ihnen. Sie spüren ihn auf, indem Sie versuchen, ihn möglichst nahe an die Mitte des Bildschirms zu bekommen. Wenn er auf der Mitte angekommen ist, haben Sie Ihren Rakosh gefunden, oder er Sie.«
Jack drehte sich hin und her, bis der Punkt auf dem Bildschirm in einer Linie mit der Mitte war, dann sah er auf und sah direkt auf den Kiefernurwald westlich des Parkway. Genau wie er befürchtet hatte. Narbenlippe steckte in den Barrens.
Aber das hier hilft mir, ihn zu finden, dachte er.
Und dann fiel ihm etwas auf.
»Sie sind auf einmal so ungemein hilfsbereit.«
»Keine Spur. Meine einzige Sorge gilt dem Rakosh.«
»Aber Sie wissen, dass ich ihn töte, wenn ich ihn finde.«
»Sie versuchen, ihn zu töten. Da in den Wäldern gibt es zwar massenhaft Rehe und anderes Wild, aber davon kann sich der Rakosh nicht ernähren. Wie Sie wissen, isst er nur ein Futter.«
So ergab die Sache einen Sinn. »Sie meinen also, wenn Sie mir diesen Suchsender geben, dann senden Sie ihm so eine Art Care-Paket.«
Oz neigte den Kopf. »So in etwa.«
»Wir werden sehen, Mr Prather, wir werden sehen.«
»Im Gegenteil. Ich bezweifle, dass jemand Sie jemals wiedersehen wird.«
»Ich habe nicht vor mich umzubringen, darauf können Sie sich verlassen.«
»Sie glauben doch nicht ernsthaft, Sie könnten ganz allein gegen einen Rakosh antreten und überleben.«
»Das wäre nicht das erst Mal.«
Jack wandte sich zu seinem Wagen und genoss den besorgten Gesichtsausdruck auf dem Gesicht des Mannes, bevor er sich umgedreht hatte. Dann hatte er also selbstsicher genug geklungen? Gut geschauspielert. Er fühlte sich beileibe nicht so.
Jack hastete in den Kiosk und kaufte ein halbes Dutzend Flaschen Eistee. Ein Atlantic-City-Souvenir-Shirt, ein Feuerzeug und eine Zeitung. Dann fuhr er den Wagen in die entfernteste Ecke des Parkplatzes und schüttete den Inhalt der Flaschen auf dem Asphalt aus.
Aus seinem Etui mit dem Einbruchswerkzeug holte er einen Glasschneider und begann, die Seiten der Flaschen anzuritzen. Diesen Trick hatte er von einem alten Revoluzzer gelernt. Die Dinger würden so beim Aufprall besser zerbersten.
Dann zerriss er das T-Shirt. Danach holte er den Kanister und eine Taschenlampe aus dem Kofferraum. Er füllte die Flaschen mit Benzin und verschluss sie dann wieder.
Vorsichtig stellte er die sechs benzingefüllten Flaschen in eine Schultertasche aus Segeltuch und stopfte Zeitungspapier dazwischen, damit sie nicht gegeneinanderschlugen. Zuletzt legte er die T-Shirt-Streifen obendrauf.
6
Jack richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf das Gebüsch am Fuß des Abhangs. Er hatte die nach Süden führenden Fahrbahnen überquert, war bis zum Kilometerstein 51,3 zurückgelaufen und dann die Baumlinie abgegangen, auf der Suche nach abgebrochenen Ästen. Er war fündig geworden. Viele abgebrochene Äste. Etwas Großes hatte sich seinen Weg da hindurch gebahnt.
Er folgte dem Pfad der Zerstörung. Als es sicher schien, dass er von der Straße nicht mehr zu sehen war, zog er den Peilsender aus der Tasche. Er schaute nach Westen und der Punkt war fast am oberen Rand des Bildschirms. Er musste sich beeilen. Der Rakosh war beinahe außer Reichweite.
Er hastete voran, bis er auf einen schmalen Pfad traf. Wahrscheinlich ein Wildwechsel. Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf den Boden und sah so etwas wie Hufabdrücke im feuchten Sand, aber nicht nur die – da waren auch die tiefen Eindrücke von großen, dreizehigen Füßen und Stiefeln, die ihnen folgten. Narbenlippe, gefolgt von Hank. Hank musste ihm folgen, da die Stiefelabdrücke manchmal die Rakosh-Spuren verwischten.
Was dachte sich Hank bloß dabei?, überlegte Jack. Er hatte zwar ein Gewehr und hatte vielleicht auch als Kind gelernt, wie man jagt, aber deswegen konnte er es doch noch lange nicht mit dem Haimenschen aufnehmen.
Vielleicht hatte er auch gar nicht nachgedacht. Vielleicht hatte ein Bauch voll Fusel ihm eingeredet, dass er etwas Ähnliches vollbringen könne wie die Jagd auf den Weißen Wal mit einem Federkiel in einem Meer von Tinte.
Jack folgte dem Wildwechsel, hielt aber immer einen Blick auf den Sender und knipste dann und wann die Taschenlampe an, um die Beschaffenheit des Bodens zu prüfen. Rund um ihn herum war dichtes Kieferngehölz, das acht bis zehn Meter hohe Wälle um ihn aufragen ließ, die sich über dem Pfad ineinander verwoben und nur selten den Blick auf die Sterne freigaben.
Nichts rührte sich. Er hörte nur die Geräusche von Insekten und der Zweige, die an seiner Kleidung entlangstreiften. Jack hasste es, in der freien Natur zu sein. Er brauchte die Stadt mit Autos und Bussen und hupenden Taxis, mit Bürgersteigen, symmetrischen Straßenkreuzungen und U-Bahnen, die unter den Füßen rumpelten. Vor allem aber Straßenlaternen. Hier draußen war es nicht dunkel, es war stockfinster.
Sein Adrenalinspiegel war erhöht, aber trotz der ungewohnten Umgebung fühlte er sich seltsam entspannt. Der Peilsender bot ihm eine gewisse Sicherheitszone. Er wusste, wo der Rakosh war, und musste sich keine Gedanken darüber machen, dass das Wesen plötzlich hinter dem nächsten Baum hervorbrechen könnte. Aber über Hank musste er sich Gedanken machen. Ein bewaffneter Betrunkener allein im Wald schoss wahrscheinlich auf alles, was sich bewegte. Und Jack wollte nicht für den Rakosh gehalten werden.
Der Pfad machte kurze Schlenker nach Norden oder Süden, führte aber sonst immer westwärts. Jack bewegte sich so schnell es die Umgebung gestattete und kam am besten voran, wenn es ausnahmsweise direkt geradeaus ging.
Der grüne Punkt, der Narbenlippe darstellte, kam der Mitte des Bildschirms allmählich näher und näher. Es sah so aus, als habe die Bestie angehalten.
Warum? Rastete er oder wartete er?
Seiner Schätzung nach war er etwa vierhundert Meter von dem Rakosh entfernt, als ihn ein Gewehrschuss irgendwo vor ihm erstarren ließ. Es klang nach einer Schrotflinte. Da. Wieder. Und noch einmal.
Und dann hallte ein Schrei der Angst und der Todesqual durch die Bäume, der zu einem Kreischen anschwoll, das abrupt verstummte.
Stille.
Jack hatte den Wald schon vorher für still gehalten, doch jetzt waren sogar die Insekten verstummt. Er lauschte auf andere Geräusche. Nichts. Und die Anzeige auf dem Peilsender zeigte keinerlei Bewegung.
Die Sache war klar. Narbenlippe hatte gespürt, dass er verfolgt wurde, also hatte er sich auf die Lauer gelegt und gewartet. Und wer kommt da vorbei? Einer der Jungs, die ihn als Nagelkissen benutzt haben, als er noch im Käfig saß. Zack, bumm, happa-happa – das war’s Hank.
Jacks Zunge war trocken wie Teerpappe. Ohne Peilsender wäre er an Hanks Stelle gewesen. Höchstwahrscheinlich.
Aber so spielen wir das Spiel eben nicht. Ich weiß, wo du bist, Kumpel, du kannst mich nicht in die Falle locken.
Er kroch voran und das Knacken und Rascheln jedes Zweiges und jedes Blattes klang wie von einem riesigen Lautsprecher um ein Vieltausendfaches verstärkt. Narbenlippe rührte sich nicht – vielleicht fraß er ja gerade? – also kroch Jack weiter voran.
Als der Punkt fast die Mitte des Bildschirms erreicht hatte, hielt Jack inne. Er roch etwas und richtete den Lichtstrahl ganz kurz auf den Boden.
Der ansonsten glatte Sand war auf einer Strecke von vielleicht vier Metern wild zerwühlt. Der Weg endete in zwei großen rechteckigen Blutlachen, die langsam versickerten. Rundherum waren kleinere Tropfen verspritzt. Eine großkalibrige Mossberg-Schrotflinte mit gesplittertem Holzschaft lag im Gestrüpp am Rand des Wildwechsels.
Nur eine Spur führte von hier aus weiter – die mit den drei Zehen.
Jack hockte im Gebüsch, suchte nach einem Zeichen, lauschte auf ein Geräusch. Nichts. Aber anhand des Peilsenders wusste er, dass der Rakosh direkt vor ihm war und zwar in unmittelbarer Nähe.
Wo er zweifellos darauf wartet, mit mir das Gleiche anzustellen wie mit Hank. Nee, Kumpel, nicht mit mir. Diesmal spielen wir nach meinen Regeln.
Er holte zwei der Flaschen aus der Tragetasche und schraubte die Deckel ab. Benzingeruch stieg um ihn auf, als er in jeden Flaschenhals einen Streifen des T-Shirts stopfte. Er nahm eine Flasche in die Hand, entzündete den Lappen mit dem kleinen Feuerzeug, das er sich mit den anderen Sachen zusammen gekauft hatte, und warf sie direkt vor sich über den Pfad.
Die kleine Flamme hinterließ einen glühenden Schweif in der Dunkelheit. Bevor die Flasche auf dem Boden auftraf und in einer feurigen Explosion zerbarst, hatte Jack die zweite Flasche schon zur Hand und war bereit, sie augenblicklich zu entzünden, falls das nötig sein sollte.
Mit klopfendem Herzen und angespannten Muskeln blinzelte Jack in die plötzliche Helligkeit und versuchte, die geringste Bewegung auszumachen. Im flackernden Schein der Flammen sah zwar alles so aus, als sei es in Bewegung, aber nichts Großes, Massives sprang auf ihn zu.
Etwas Kleines, Glänzendes glitzerte an einem Zweig kurz vor den Flammen. Vorsichtig ging Jack darauf zu. Auf dem Weg dahin rutschte sein Fuß auf etwas aus: Der angespitzte Eisenstab, mit dem Bondy den Rakosh gequält hatte, lag halb vergraben im Sand. Er hob ihn auf und hielt ihn wie einen Speer in der Hand. Jetzt hatte er zwei Waffen. Er fühlte sich wie ein indianischer Jäger, bewaffnet mit einem eisernen Speer und einem Behältnis mit einer magischen, brennenden Flüssigkeit.
Er stand jetzt schon sehr nahe an den Flammen. Als er über einen umgefallenen Baumstamm stieg, trat er in etwas Weiches, Nachgiebiges. Als er nach unten sah, starrte ein sehr toter Hank mit gebrochenem Blick zu ihm hoch. Jack stieß ein unfreiwilliges Keuchen aus und sprang zurück.
Nachdem er sich umgesehen hatte, um sicherzugehen, dass es keine Falle war, sah er noch einmal genauer hin. Der Feuerschein spiegelte sich in den leeren blauen Augen, die den Sternen zugewandt waren; die Blässe seines blutleeren Gesichts betonte die blauen Flecken unter seinen Augen und unterschied sich fast gar nicht von der Farbe des Sandes unter seinem Kopf. Der Hals war nur eine zerfetzte blutige Masse und der rechte Arm war an der Schulter abgerissen.
Jack schluckte heftig. So kann ‘s mir ergehen, falls ich nicht aufpasse.
Er stieg über die Leiche hinweg. Das Feuer des Molotow-Cocktails war schon ziemlich heruntergebrannt, als er an dem Zweig ankam. Ein Teil des Busches hatte Feuer gefangen, aber die Flammen breiteten sich nicht aus. Das Licht reichte noch, um das glänzende Objekt zu identifizieren.
Der Peilsender des Rakosh.
Jack wirbelte in plötzlicher Panik herum, die Angst zerrte an seinen überstrapazierten Nerven, während er den zweiten Brandsatz anzündete und seine Umgebung nach Zeichen für die Anwesenheit der Bestie musterte.
Nichts rührte sich.
Das war schlecht. Sehr schlecht. Er war mitten im Nirgendwo und hatte mit dem ersten Molotow-Cocktail seine Position verraten. Jetzt war die Lage genau anders herum: Der Rakosh wusste genau, wo Jack war, während Jack völlig im Dunkeln tappte und nur noch vier seiner Brandsätze übrig hatte.
Dunkelheit … das war das große Problem. Wenn er einen sicheren Ort als Versteck finden konnte, würde die in ein paar Stunden aufgehende Sonne seine Chancen ein wenig verbessern. Aber wo sollte er sich verbergen?
Er sah sich um und sein Blick fiel auf einen großen Baum in der Nähe, der über die anderen herausragte. Vielleicht war das die Lösung.
Jack warf den Peilsender davon und schnallte sich die Tasche wie einen Rucksack auf die Schultern. Mit dem Speer in der einen Hand und dem brennenden Brandsatz in der anderen schob er sich langsam in halb gebückter Haltung voran, jederzeit bereit, sich in die eine oder andere Richtung zu werfen. Der Schweiß lief ihm den Rücken hinab, er blickte hin und her, beobachtete, lauschte … aber er hörte nichts außer dem eigenen abgehackten Atem und dem dröhnenden Puls in seinen Ohren.
Er sprang über die ersterbenden Überreste des ersten Molotow-Cocktails und erkannte, dass sich der Pfad dahinter zu einer Lichtung erweiterte, in deren Mitte der Baum stand. Es war gut möglich, dass Narbenlippe irgendwo in der Nähe der Lichtung lauerte, vielleicht hinter dem Baum. Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden …
Jack warf den zweiten Brandsatz – erneut ein flammendes whuusch!, doch kein Zeichen von Narbenlippe. Noch nicht! Er musste zu dem Baum. Erst mal in großem Bogen drum herum – nichts. Die Lichtung war verlassen.
Er ließ den eisernen Speer fallen – der behinderte ihn jetzt nur noch – und hastete zu dem Baumstamm. Er begann zu klettern.
Kletterten Rakoshi auf Bäume? Wieso nicht? Höhenangst kannten sie wahrscheinlich auch nicht. Jack kletterte weiter und bewegte sich so schnell, wie es sein gequälter Körper zuließ, bis die Äste unter seinem Gewicht nachzugeben drohten. Im Wissen, dass der viel schwerere Rakosh auf keinen Fall so weit hoch kommen konnte, setzte er sich hin, um zu warten.
Er sah auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr. Ungefähr drei Uhr. Wann ging die Sonne auf? Hätte er solchen Dingen doch mehr Aufmerksamkeit geschenkt. In der Stadt war solches Wissen nutzlos, aber hier draußen in der Wildnis …
Er versuchte, einen bequemen Sitzplatz zu finden. Das war illusorisch, ebenso an ein Nickerchen zu denken. Sein einziger Trost war der Gedanke, dass der Rakosh ihn hier oben auf keinen Fall überraschen konnte.
Zwischen den Blättern der riesigen Eiche hindurch konnte er kleine Stückchen der sandigen Lichtung unter sich sehen, graue Flecken vor der Schwärze ringsherum. Am Horizont im Osten einen schwachen Schimmer vom Parkway und dem Rastplatz, im Westen war nichts als die gestaltlose Schwärze der Pine Barrens.
Jack erstarrte, als er ein Licht – nein, zwei Lichter – erspähte, die sich im Westen an den Baumwipfeln entlang in seine Richtung bewegten. Zuerst hielt er es für ein Flugzeug oder einen Hubschrauber, aber die Lichter hatten nicht die gleiche Größe und hielten auch nicht den gleichen Abstand zueinander ein. Sein zweiter Gedanke galt UFOs, aber das hier schienen gar keine Objekte zu sein. Sie sahen aus wie kleine Kugeln aus Licht und nichts anderem.
Er hatte von solchen Dingen gehört, aber noch nie so etwas gesehen. Die Leute in den Barrens nannten sie Kiefernlichter, aber niemand wusste, was sie wirklich waren. Jack wollte das auch nicht herausfinden und ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie eine andere Richtung genommen hätten. Sie bewegten sich nicht in einer geraden Linie – das kleinere schoss nach links und rechts und auch das größere wich immer wieder von seinem Kurs ab. Aber an der allgemeinen Richtung konnte kein Zweifel bestehen: Sie kamen auf ihn zu.
Sie wurden langsamer, als sie sich der Lichtung näherten und Jack konnte sie genauer in Augenschein nehmen. Was er sah, gefiel ihm nicht. Das eine hatte die Größe eines Basketballs, das andere war vielleicht etwas größer als ein Tennisball. Licht sollte sich nicht zu einem Ball formen, das widersprach den Naturgesetzen. Und diese blassgrüne Farbe war auch merkwürdig.
Jack duckte sich zusammen, als sie direkt auf seinen Baum zusteuerten, weil er befürchtete, er könne davon berührt werden. Irgendetwas an dieser Erscheinung ließ ihn schaudern. Doch sie teilten sich, kurz bevor sie die Zweige berührten. Er hörte ein hochfrequentes Summen und spürte ein Jucken auf der Haut, als sie seinen Sitzplatz umkreisten. Sie trafen sich wieder auf der anderen Seite, aber statt weiterzufliegen, sanken sie in spiraliger Bewegung dem Boden der Lichtung entgegen.
Jack reckte den Hals, um zu sehen, wohin sie verschwanden. Zu Hanks Leiche? Nein, die lag nördlich von dem Baum. Die Kugeln befanden sich auf der anderen Seite.
Er sah zu, wie sie über einem leeren Stück Sand schwebten, dann begannen sie, sich in einem engen Kreis zu verfolgen, zuerst langsam, dann immer schneller, bis sie zu einem glühenden Ring verschwammen, einem unnatürlichen Heiligenschein aus blassgrünem Licht. Sie bewegten sich schneller und schneller und die Zentrifugalkräfte ihrer Bewegung erweiterten den Ring, bis sie dann plötzlich wieder in die Nacht hinausschossen und zurück nach Westen rasten, von wo sie gekommen waren.
Er war froh, dass sie verschwanden. Die ganze Sache hatte wohl nicht einmal eine Minute gedauert, aber sie machte ihn nervös. Er fragte sich, ob das jede Nacht passierte oder ob die Anwesenheit des Rakosh etwas damit zu tun hatte.
Und was den Rakosh anging …
Er musterte die Lichtung, so gut es ihm durch das Blattwerk möglich war, aber nichts rührte sich.
Also versuchte er, sich wieder zu beruhigen und Pläne für den Sonnenaufgang zu machen …
7
Jack wartete nicht ab, bis es vollkommen hell wurde. Die Sterne waren gegen halb fünf verloschen. Gegen fünf, mehr als eine halbe Stunde vor dem eigentlichen Sonnenaufgang, war es hell genug, sich nicht mehr wie Tarzan benehmen zu müssen und wieder auf den Boden zurückkehren zu können.
Mit verspannten Muskeln ließ er sich langsam auf die Lichtung hinunter, die abgesehen von Hanks Leiche immer noch leer war. Kaum berührte er den Sandboden, hatte er schon die Flaschen geöffnet und die Hälse mit Stofffetzen versehen. Einen der Brandsätze behielt er in der Hand, in der anderen das Feuerzeug, um ihn jederzeit anzünden zu können.
Sein Plan war ganz einfach. Er würde von Hanks Leichnam aus starten und dann einfach Narbenlippes Spuren folgen. Jack zögerte zuerst. Er hatte keine Ahnung, wie lange er ohne Proviant und Wasser durchhalten würde, aber er musste sein Bestes geben. Auch wenn er sich jetzt wirklich nach einer Tasse Kaffee sehnte.
Als er zu der Leiche kam, bemerkte er, dass die Insekten nicht faul gewesen waren: Die Fliegen surrten um seinen Kopf und die Ameisen veranstalteten Gelage in den Wunden an Hals und Schulter. Er dachte kurz daran, den Körper zu begraben, aber er hatte weder die Zeit noch das Werkzeug dazu.
Ein Geräusch hinter ihm. Jack wirbelte herum. Er stellte die Tasche ab und riss das Feuerzeug an, während er die Lichtung im blassen Morgenlicht musterte.
Da … auf der anderen Seite, an der Stelle, wo die Kiefernlichter gestern Nacht ihren merkwürdigen Tanz aufgeführt hatten, geriet der Sandboden in Bewegung, verschob sich, wuchs nach oben. Nein, das war kein Sand. Das hier war sehr groß und sehr dunkel.
Narbenlippe.
Jack wich unwillkürlich einen Schritt zurück, aber dann blieb er stehen. Der Rakosh bewegte sich nicht. Er stand einfach nur da, vielleicht zehn Meter entfernt, wo er sich für die Nacht eingegraben hatte. Hanks Arm baumelte an der dreifingrigen rechten Hand. Narbenlippe hielt ihn achtlos fest wie einen Lolli. Das Fleisch am unteren Teil war abgefressen, auf dem rosa Knochen hatte sich Sand festgesetzt.
Jack fühlte wie sich seine Eingeweide verknoteten und der Herzschlag in den Turbodrive schaltete. Das hier war seine Chance. Er setzte den Zünder in Brand und stellte sich breitbeinig über die Tasche. Langsam bückte er sich, zog einen zweiten Brandsatz heraus und entzündete ihn am ersten.
Das hier musste ihm im ersten Anlauf gelingen. Von seinen früheren Begegnungen mit diesen Kreaturen wusste er, wie schnell und beweglich sie trotz ihrer Masse waren. Aber er wusste auch, dass er den Rakosh nur mit einer seiner Brandbomben treffen musste, und es war vorbei.
Ohne Warnung und mit so wenig Schwung, wie er nur wagte, warf er den Brandsatz aus der rechten Hand. Wie erwartet, duckte sich der Rakosh, aber Jack war mit der anderen bereit, versetzte der Flasche einen Linksdrall und versuchte, den Rakosh im Laufen zu treffen. Beide Geschosse verfehlten ihr Ziel. Die erste Flasche explodierte in einer Flammenwand, aber die zweite schlidderte einfach über den Sand und zerbrach nicht, die Zündflamme erstickte.
Während die Bestie vor den Flammen zurückschreckte, griff Jack nach der dritten Flasche. Sein Herz raste, seine Hand zitterte, und der Stoff hatte soeben erst Feuer gefangen, als er spürte, wie etwas durch das Dämmerlicht auf ihn zusauste, viel, viel zu nahe. Er duckte sich, aber nicht schnell genug. Der durch die Luft wirbelnde Überrest von Hanks Arm traf ihn mitten ins Gesicht.
Jack würgte angeekelt, stolperte zurück und merkte, wie ihm der Molotow-Cocktail aus den Fingern rutschte. Er drehte sich um, hechtete weg und rollte sich ab, war bereits außer Reichweite als die Flasche hochging. Er rollte noch weiter, weg von der Tasche, auf die der Brandsatz gefallen war. Er spürte den Explosionsdruck, als auch der letzte Brandsatz zündete.
Sobald das erste Aufflackern des Feuers zurückging, stürmte der Rakosh über die Lichtung. Jack lag immer noch rücklings im Sand. Instinktiv wollte er nach der P-98 greifen, aber er wusste, dass Kugeln der Kreatur nichts anhaben konnten. Er bemerkte den eisernen Speer neben sich, griff danach und riss ihn hoch, sodass das Ende in den Dreck und die Spitze auf den anstürmenden Rakosh zeigte. In seiner Erinnerung sah Jack wieder das Dach seines Apartmenthauses im letzten Sommer, als die Mutter von Narbenlippe versucht hatte, ihn zu töten, und er sie mit einer Stahlstange aufgespießt hatte. Dadurch war sie nur langsamer geworden, aber das hier war Eisen. Vielleicht würde es diesmal …
Der Aufprall kam, aber anders, als er sich das gedacht hatte. In einer fließenden Bewegung wich der Rakosh der Stange aus und schlug sie zur Seite, sodass sie durch die Luft in Richtung des Baumes flog. Jack lag immer noch flach auf dem Rücken und eine geifernde drei Zentner schwere Mordmaschine ragte über ihm auf. Er versuchte auf die Füße zu springen, aber der Rakosh erwischte ihn mit einem Fuß und nagelte ihn auf den Boden. Als Jack versuchte, sich unter ihm herauszuwinden, verstärkte das Monster den Druck und entlockte ihm durch die kurz vor dem Brechen stehenden Rippen unerträglich stechende Schmerzen. Jack streckte sich, um an die P-98 heranzukommen. Wahrscheinlich würde ein Rakosh die.22 er Munition nicht einmal bemerken, aber es war alles, was Jack noch hatte. Und er würde nicht den Löffel abgeben, solange er noch eine geladene Waffe hatte. Vielleicht, wenn er auf die Augen zielte …
Aber bevor er noch die Pistole ziehen konnte, sah er, wie der Rakosh die rechte Hand hob, die Klauen weit spreizte und nach seiner Kehle ausholte.
Jack hatte keine Zeit, sich darauf vorzubereiten, er konnte nirgends hin, also schrie er einfach vor Angst auf, vor dem letzten Moment seines Lebens.
Der Hieb der Pranke war nicht das scharfe Reißen eines Eispickels, der sich durch das Fleisch bohrt. Stattdessen bekam er keine Luft mehr, als sich die Klauen auf beiden Seiten seines Halses in den Sand bohrten und ihm die Luft abschnürten. Der Druck auf seine Brust wich, aber die Klauen drückten fester zu, nahmen ihm die Luft und dann spürte er, wie er aus dem Sand hochgerissen und in die Luft gehalten wurde, wo er hilflos um sich schlug und trat, aber nur die unschuldige Luft erwischte. Er hing wehrlos in dem stahlharten Griff des kobaltblauen Armes. Das Knacken der Wirbel in seinem Nacken klang wie Explosionen, die Knorpel in seiner Kehle knirschten in dem unbarmherzigen Griff des Rakosh, der ihn schüttelte wie ein gewalttätiger Vater ein Kind, das einmal zu oft geschrien hat, und während all dieser Zeit bettelte und flehte und kreischte seine Lunge nach Luft.
Seine Gliedmaßen wurden schwer, seine mit Sauerstoff unterversorgten Muskeln versagten den Dienst, bis er nicht einmal mehr die Arme zu heben vermochte. Schwarze Flecken bildeten sich in der Luft und flackerten zwischen ihm und dem Rakosh, als sein in Todesangst bebendes Gehirn sein Bewusstsein losließ. Das Leben … er spürte, wie es ihm entglitt, wie das Universum grau wurde … und er schwebte … glitt nach oben …
… ein schwerer Stoß, Sand in seinem Gesicht, in seinem Mund, aber auch Luft, guter Gott, Luft!
Er lag da und keuchte, hustete, würgte, schluckte, aber er atmete auch und langsam drang das Licht wieder zu seinem Gehirn vor und das Leben zurück in seinen Körper.
Jack hob den Kopf und sah sich um. Der Rakosh war nicht in Sicht. Er rollte sich auf den Rücken und blickte auf. Narbenlippe war nicht da.
Langsam, vorsichtig, richtete er sich auf die Ellbogen auf, erstaunt, noch am Leben zu sein.
Aber wie lange würde das anhalten? Er war so schwach. Und ihm tat alles weh.
Er sah sich erneut um. Und blinzelte. Er war allein auf der Lichtung.
Was passierte hier? Hatte der Rakosh sich versteckt und spielte mit ihm wie eine Katze mit einer Maus?
Er kämpfte sich auf die Knie und musste dann erst einmal innehalten, bis das Dröhnen in seinem Schädel nachließ. Verblüfft blickte er sich wieder um. Von Narbenlippe war nichts zu sehen.
Zum Teufel!
Vorsichtig kämpfte sich Jack auf die Füße und machte sich auf den Ansturm einer dunklen Gestalt bereit, die sich auf ihn stürzte um ihm den Todesstoß zu versetzen.
Nichts rührte sich. Der Rakosh war verschwunden.
Warum? Hier gab es nichts, was ihn hätte vertreiben können, und er war auch ganz bestimmt nicht zum Vegetarier geworden, denn Hanks Arm, der, den der Rakosh nach ihm geworfen hatte, war verschwunden.
Jack drehte sich ganz langsam um sich selbst. Warum hat er mich nicht getötet?
Weil Jack Bondy und Hank daran gehindert hatte, den Rakosh zu quälen? Das war unmöglich. Ein Rakosh ist eine Mordmaschine. Wie sollte er etwas wie Gerechtigkeit, Schuld oder Dankbarkeit wissen? Das waren menschliche Gefühle und …
Aber dann erinnerte sich Jack daran, dass Narbenlippe zum Teil menschlich war. Kusum Bakhti war sein Vater. Narbenlippe trug Kusums Gene in sich, und auch wenn er ansonsten einen ziemlichen Knacks gehabt hatte, war Kusum doch ein ehrenwerter Mann gewesen.
War das der Grund? Falls dem so war, dann würde die Andersheit Narbenlippe wahrscheinlich verstoßen. Aber sein Vater wäre vielleicht stolz auf ihn.
Jacks Instinkte bestürmten ihn zu verschwinden – sofort.
Aber er hielt sich zurück. Er war hierhergekommen, um diese Sache zu beenden, und er war damit gescheitert. Auf ganzer Linie. Der Rakosh hatte seine ganze Kraft zurückgewonnen und streifte ungehindert durch die Wildnis der Barrens.
Aber möglicherweise war es doch vorbei – zumindest die Sache zwischen Narbenlippe und ihm. Vielleicht war der letzte Rakosh jetzt das Problem eines anderen. Nicht, dass er etwas gegen Narbenlippe unternehmen konnte. Auch wenn es ihm gegen den Strich ging, einen Rakosh lebend und in Freiheit hier in der Wildnis zurückzulassen, so blieb ihm keine Wahl. Er war besiegt worden. Schlimmer noch, er war zerquetscht und beiseite geworfen worden wie eine leere Blechdose.
Er hatte keine brauchbaren Waffen mehr, und Narbenlippe hatte nur allzu deutlich gemacht, dass Jack ihm im Zweikampf nicht gewachsen war. Es wurde Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Zumindest für heute. Aber er konnte es nicht dabei belassen, nicht ohne das letzte Wort zu haben.
»Hör zu«, rief er und fragte sich, ob die Kreatur ihn hörte und wie viel sie überhaupt verstehen würde. »Ich schätze, wir sind quitt. Belassen wir’s dabei. Für den Augenblick. Aber solltest Du je mich oder die Meinen gefährden, komme ich zurück und dann wird mit anderen Bandagen gekämpft.«
Jack schritt vorsichtig zum Wildpfad zurück, hielt das Gesicht aber weiter der Lichtung zugewandt, unfähig, die Sache zu verstehen, in der Furcht, das Monster könne sich wieder aus dem Sand erheben und zuschlagen.
Sobald Jack den Pfad erreicht hatte, drehte er sich um und hastete davon, so schnell seine schmerzende Hüfte es ihm erlaubte. Ein letzter Blick über seine Schulter, bevor die Kiefern und das Gestrüpp ihm den Blick auf die Lichtung verwehrten, zeigte ihm schemenhaft eine dunkle, massive Gestalt, die alleine auf dem Sand stand und ihr neues Reich in Augenschein nahm. Aber als Jack noch einmal genauer hinschaute, war sie verschwunden.
8
Er verlief sich auf dem Weg zurück in die Zivilisation. Seine Niederlage und die Barmherzigkeit, die er erfahren hatte, hatten ihn verwirrt und ein wenig betäubt, und beides war seiner Konzentration nicht förderlich. Eine dunkle Wolkendecke machte das nicht besser. Der Wildpfad teilte sich hier und da, er wusste, er musste sich in östlicher Richtung halten, aber ohne die Sonne als Anhaltspunkte fiel Jack die Orientierung schwer.
Zudem konnte er es sich nicht leisten, mit einer Waffe angehalten zu werden, wenn er die Straße erreichte. Er zog seine P-98 aus der Tasche und öffnete die Magazinkammer. Er zog das Magazin heraus, und kickte dann mit Hilfe seines Daumennagels die.22er Patronen in alle Richtungen davon. Dann warf er das leere Magazin in die Büsche. Danach scharrte er mit dem Fuß ein Loch in den Sand, ließ die Pistole in die Mulde fallen und schob mit seinem Fuß wieder Sand darüber.
Die Waffe war mit seinen Fingerabdrücken übersät, aber dank des säurereichen Bodens würde das nach ein paar Gewittern kein Problem mehr darstellen. Außerdem würde sie hier sowieso nie jemand finden.
Er ging weiter und der lange Weg gab ihm Zeit zum Nachdenken.
Ich habe es versaut.
Die Niederlage lastete schwer auf ihm. Das, was er getan hatte, war nicht die beste Entscheidung gewesen. Der Gedanke, dass Narbenlippe frei umherlief, war eine Gräte in seinem Hals, die er weder aushusten noch schlucken konnte. Er fühlte sich irgendwie verpflichtet, bekannt zu machen, dass etwas Großes und Gefährliches in den Pine Barrens hauste. Aber wie sollte er das tun? Er konnte die Geschichte ja nicht selbst an die große Glocke hängen, und wer hätte ihm auch schon geglaubt?
Er suchte immer noch nach einer Lösung für dieses Problem, als er rechts von sich gedämpfte Stimmen hörte. Er bewegte sich darauf zu. Das Unterholz lichtete sich und er fand sich vor einer verwitterten Asphaltstraße.
Eine Reihe neuer Geländesportwagen parkte auf dem Standstreifen, wo vier Männer zwischen dreißig und vierzig Jahren damit beschäftigt waren, Gewehre zu laden und sich Warnwesten überzustreifen. Ihre Ausrüstung war teuer, das Beste vom Besten. Sie hielten Remingtons und Barrettas. Sonntagsjäger auf Pirsch.
Jack fragte, wie er zum Parkway gelangen könne, und sie deuteten links die Straße hinunter.
Ein Kerl mit einem spärlichen Ziegenbärtchen musterte ihn abfällig von oben bis unten. »In was sind Sie denn hineingelaufen? Einen Bären?«
»Schlimmer.«
»Sie können umkommen, wenn Sie so durch die Wälder streifen, wissen Sie«, sagte ein anderer, ein magerer Kerl mit Brille. »Jemand könnte Sie abknallen, weil Sie keine Leuchtfarben tragen.«
»Von hier ab halte ich mich nur noch an die Straße.«
Dann gewann Jacks Neugier aber doch die Oberhand. »Wofür brauchen Sie denn die ganze hypermoderne Ausrüstung?«
»Wir jagen Hirsche«, erwiderte der mit dem Ziegenbärtchen. »Die staatliche Forstbehörde hat eine Ernte außerhalb der Jagdsaison angesetzt.«
»Eine Ernte also? Klingt, als wären Sie eher hinter Getreide als hinter Hirschen her.«
»Ist auch fast das Gleiche, so schnell wie die nachwachsen. Da draußen gibt es einfach zu viele davon.«
Ein Mann mit schütter werdendem Haar grinste. »Und wir tun unsere bürgerliche und ökologische Pflicht, indem wir die Herde ausdünnen.«
Jack zögerte, dann beschloss er, diesen Kerlen eine Warnung zu geben. »Vielleicht sollten Sie sich zweimal überlegen, ob Sie heute da draußen auf Jagd gehen wollen.«
»Ach nein«, stöhnte der Mann mit dem schütteren Haar. Sein Grinsen war verschwunden. »Sie sind doch wohl nicht einer von diesen durchgeknallten Tierschützern, oder?«
Feindseligkeit lag plötzlich in der Luft. »Ich bin alles andere als durchgeknallt, Mann«, stieß Jack zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Der Morgen hatte gerade erst angefangen, und er war bereits auf 180. Es bereitete ihm eine gewisse Genugtuung zu sehen, wie der Kerl einen Schritt zurücktrat und seine Waffe fester packte. »Ich wollte euch nur sagen, dass sich darin etwas wirklich Übles rumtreibt.«
»Was denn?«, fragte der mit dem Ziegenbärtchen feixend. »Der Jersey Devil?«
»Nein. Aber auch kein wehrloser Pflanzenfresser, der sich einfach zum Sterben niederlegt, wenn ein paar Patronen in ihn reingefeuert werden. Vom heutigen Datum an steht ihr nicht mehr an der Spitze der Nahrungskette in den Pine Barrens, Jungs.«
»Damit können wir leben«, sagte der Magere.
»Tatsächlich? Wann habt ihr den je irgendwas gejagt, das irgendeine Gefahr für Euch bedeutet hätte? Ich warne euch bloß, da drin gibt es etwas, das schlägt zurück, und ich weiß nicht, ob einer von eurer Sorte damit klarkommen kann.«
Der Magere blickte jetzt nervös drein. Er sah die anderen an. »Was, wenn er recht hat?«
»Ach du Scheiße!«, höhnte der mit dem schütteren Haar. »Wirst du jetzt ein Weichei, Charlie? Willst du dich von so ‘nem Ökofritzen mit Ammenmärchen ins Bockshorn jagen lassen?«
»Nein, natürlich nicht, aber …«
Der vierte Jäger klemmte sich die glänzende neue Remington unter den Arm. »Der Jersey Devil! Den hol ich mir! Das war doch mal was, wenn man dessen Kopf über dem Kamin hängen hätte.«
Alle lachten, und auch Charlie fiel ein.
Er war in Ehren wieder in ihre Gemeinschaft aufgenommen.
Jack zuckte die Achseln und ging davon. Er hatte es versucht.
Jagdsaison. Er musste lächeln. Narbenlippes Existenz in den Pine Barrens gab dem Begriff eine ganz neue Dimension. Er fragte sich, wie diese großspurigen Jäger wohl reagieren mochten, wenn sie erfuhren, dass sie zur Jagd freigegeben waren.
Und dann fragte er sich, ob die alten Legenden über den Jersey Devil einen wahren Kern besaßen. Höchstwahrscheinlich hatte es vorher nie einen wirklichen Jersey Devil gegeben, aber ganz sicher gab es ihn jetzt.