EIN GANZ NORMALER TAG

 

Als die Kakerlake an der Wand nach rechts abdrehte, warf Jack einen weiteren Shuriken durch den Raum. Die Stahlspitzen des Wurfsterns bohrten sich genau vor den langen Fühlern des Insekts in den Putz. Die Kakerlake wich zurück und fand sich jetzt auf allen vier Seiten von einem der Wurfsterne umgeben.

»Geschafft!«, sagte Jack, der auf dem noch gemachten Hotelbett lag.

Er zählte die Shuriken, die in der Wand steckten. Ein Dutzend von ihnen war in einem sanften Bogen über die Wand verteilt und die Linie endete über dem altersschwachen Fernseher in dem kleinen Rechteck, in dem das Insekt gefangen war.

Halt, stopp! Gewesen war. Sie hatte sich befreit. Die Kakerlake war über einen der Wurfsterne geklettert und war jetzt wieder auf ihrem Weg wohin auch immer. Jack ließ sie ziehen und rollte sich auf den Rücken.

Langweilig.

Und heiß war es. Er trug Jeans und einen weiten, schweren Pullover unter einem übergroßen wattierten Parka. Alles in Dunkelblau. Auf dem Kopf trug er eine schwarz-orange Wollmütze. Er hatte den Thermostat so weit wie möglich heruntergedreht, aber der Raum war immer noch ein Backofen. Er wollte es nicht riskieren, etwas auszuziehen, denn wenn der Pieper losging, hatte er keine Zeit mehr, sich mühsam anzuziehen.

Er blickte hinüber zu dem staubigen Beistelltisch, auf dem der kleine Kasten mit der Antenne stumm dalag.

»Na komm schon«, sagte er. »Bringen wir es hinter uns.«

Reilly und seine Gang wollten heute ihr Ding durchziehen. Warum dauerte das so lange? Es war schon fast ein Uhr früh und er wartete jetzt bereits seit drei Stunden in diesem Rattenloch. Er wurde ungeduldig. Er ertrug nur ein bestimmtes Quantum Fernsehen, bevor es ihn anödete. Selbst ohne das einschläfernde Geschwafel eines Talkmasters, der einen Schauspieler interviewte, von dem er noch nie gehört hatte, war die Hitze schwer genug zu ertragen.

Frische Luft. Vielleicht würde das helfen.

Jack stand auf, reckte sich und ging zum Fenster. Eine klare Nacht da draußen, und ein riesiger Mond, der über der Stadt hing. Fast wie in einem Gruselfilm. Er drehte den Griff und zog. Nichts. Das verdammte Ding gab nicht nach. Er kontrollierte gerade die Dichtungsritzen, als er den schwachen Knall eines Gewehrschusses hörte. Die Kugel durchschlug das Glas eine Handbreit links neben seinem Kopf und überschüttete ihn mit Glassplittern, während sie an seinem Ohr vorbeisauste.

Jack warf sich auf den Boden. Er wartete. Keine weiteren Schüsse. Er hielt den Kopf unterhalb des Fensterbretts, erhob sich in gebückte Haltung, hechtete dann zu der Nachttischlampe auf der anderen Seite des Bettes, ergriff sie und rollte sich über den Boden damit ab. Ein erneuter Schuss durchschlug das Glas und pfiff durch den Raum, noch während sein Rücken auf den Teppich knallte. Er schaltete die Lampe aus.

Die andere Lampe, die neben dem Fernseher, leuchtete immer noch und bot dem Scharfschützen volle 60 Watt Orientierungshilfe. Wer auch immer da schoss – er musste wissen, dass sie Jacks nächstes Ziel sein musste. Er würde bereit sein.

Auf dem Bauch robbte Jack über den kratzigen Teppich zum Bettende, bis der Winkel ausreichte, dass er die Birne unter dem Lampenschirm sehen konnte. Er zückte seinen vorletzten Shuriken und warf ihn nach der Glühbirne. Mit einem elektrischen Britzeln flackerte sie bläulich-weiß auf und tauchte den Raum bis auf das flackernde Schimmern des Fernsehers in Dunkelheit.

Augenblicklich streckte Jack den Kopf über die Bettdecke hinaus und sah aus dem Fenster. Durch das gesplitterte Glas bemerkte er eine vermummte Gestalt, die sich umdrehte und über das benachbarte Dach davonrannte. Mondlicht brach sich auf dem langen Lauf eines Präzisionsgewehrs, spiegelte sich in der Linse eines Zielfernrohrs, dann war die Gestalt verschwunden.

Ein schrilles Piepen ließ ihn zusammenzucken. Das rote Licht auf dem Pieper blinkte wie wild. Kuropolis brauchte seine Hilfe. Was bedeutete, dass Reilly zugeschlagen hatte.

»Tolles Timing.«

 

»Ganz guter Abend«, dachte George Kuropolis und wischte die Theke vor der brünetten jungen Frau ab, die gerade Platz genommen hatte. Kein Bombengeschäft, aber wenn er um diese Zeit immer noch ein halbes Dutzend Kunden hatte, war das ein guter Abend. Und was noch besser war, Reilly und seine Kumpane hatten sich bisher nicht blicken lassen.

Vielleicht würden sie heute Nacht jemand anderen drangsalieren.

»Was darf’s sein?«, fragte er die neu angekommene Kundin.

»Einen Tee, bitte«, sagte sie mit einem Lächeln. Einem angenehmen Lächeln. Sie war gut gekleidet und trug dezenten Schmuck. Nicht völlig deplatziert in dieser Gegend aber doch deutlich besser als der Durchschnitt.

George hätte gern mehr Kunden dieses Kalibers gehabt. Er hatte sie verdient. Wieso auch nicht? Schließlich glänzten die Chrombeschläge vor und hinter der Theke vor Sauberkeit. Man konnte vom Fußboden essen. Alles, was er servierte, war hausgemacht.

»Sofort. Darf es auch ein Stück Kuchen sein?«

»Nein. Vielen Dank.«

»Er ist wirklich gut. Blaubeerkuchen. Eigene Herstellung.«

Wieder dieses Lächeln. »Nein danke, ich bin auf Diät.«

»Natürlich«, murmelte er, als er sich abwandte, um heißes Wasser zu bereiten. »Jeder ist auf irgendeiner verdammten Diät. Diese ganzen Diäten werden langsam ein Gesundheitsrisiko für mich.«

In diesem Moment fegte die Tür auf und ein weißhaariger Mann in den Mittzwanzigern sprang mit einer abgesägten Schrotflinte in den Raum. Er richtete den Lauf nach oben und feuerte eine Ladung in die gläserne Reklametafel über der Registrierkasse. Der Knall war ohrenbetäubend und überall flogen Glassplitter herum.

Matt Reilly war angekommen.

Vier weitere Mitglieder seiner Gang drängten sich hinter ihm in das Cafe. George erkannte sie: Reece war der Schwarze mit der weißen, fransenbesetzten Lederjacke; Rafe war der mit dem blauen Irokesenschnitt, Tony der mit dem weißen, und der Skinhead mit dem Babyface war Cheeks.

»So!«, sagte Reilly und grinste böse unter der schiefen Nase, den fiesen kleinen Schweinsäuglein und dem gebleichten Bürstenschnitt. »Jetzt wird aufgeräumt!«

George griff in seine Tasche und drückte auf den Pieper, dann hob er die Hände und wich bis an die Wand zurück.

»Hey, Matt!«, rief er. »Na komm schon! Was soll das?« »Du weißt ganz genau, was das soll, George!«, erklärte Reilly.

Er warf die Schrotflinte zu Rafe hinüber und kam hinter den Tresen. Grinsend trat er vor, bis er direkt vor George stand. Das Grinsen quetschte den teigigen Klumpen, der schwer in Georges Magen lag, nur noch weiter zusammen. Er war so auf dieses leere Lächeln fixiert, dass er den Faustschlag gar nicht kommen sah. Er erwischte ihn voll in den Magen. Schmerzverkrümmt klappte er zusammen. Sein letzter Kaffee wollte aufbegehren, aber es gelang ihm, seinen Mageninhalt unten zu behalten.

Er stöhnte: »Lieber Himmel!«

»Du bist schon wieder in Verzug, George!«, zischte Reilly zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Ich habe dir schon beim letzten Mal erklärt, was passiert, wenn du dich nicht an den Zahlungsplan hältst.«

George versuchte, sich an seinen Text zu erinnern.

»Ich kann nicht zweimal Schutzgeld zahlen! Das ist einfach nicht drin!«

»Du kannst es dir nicht leisten, das nicht zu tun! Außerdem musst du ja nicht zweimal zahlen. Du musst nur mich bezahlen!«

»Sicher! Und der andere Kerl sagt das Gleiche, wenn er seinen Anteil will! Und wo bist du dann?«

»Kümmere dich nicht um den anderen Kerl! Den mache ich noch heute Nacht fertig! Aber was dich angeht …!« Reilly rammte George zurück gegen die Wand. »Ich muss an dir ein Exempel statuieren, George! Die Leute haben gesehen, was mit Wolansky passiert ist, als er zu plaudern begann. Und jetzt werden sie sehen, was mit einem Penner passiert, der nicht zahlen will!«

In diesem Augenblick ertönte ein spitzer Schrei rechts von George. Er blickte hinüber und sah, dass Reece die fünf Männer an den Tischen zwei und vier in Schach hielt und sie zwang, ihre Taschen auf einem der Tische auszuleeren. Weiter die Theke hinunter fuchtelte Cheeks mit einem großen Messer mit einer böse aussehenden gebogenen Klinge vor der jungen Frau herum, die den Tee bestellt hatte.

»Der Ring, du Schnalle«, sagte er gerade. »Her damit!«

»Das ist mein Verlobungsring«, wehrte sie sich.

»Wenn du bei deiner Hochzeit noch einen appetitlichen Anblick abgeben willst, dann rückst du das Ding sofort raus.«

Er griff danach und sie schlug seine Hand zur Seite.

»Nein!«

Cheeks richtete sich auf und schob das Messer in eine über seinem Steißbein angebrachte Scheide.

»Na, du Schlampe, das hättest du jetzt aber besser nicht gemacht«, sagte Reece schmierig.

George wünschte, er wäre ein fünfundzwanzigjähriger Kerl mit der Statur eines Schwarzenegger statt eines mageren Fünfzigjährigen mit bleistiftdünnen Armen. Dann würde man diese Wichser jetzt vom Fußboden abkratzen.

»Sorg dafür, dass er aufhört«, flehte er Reilly an. »Bitte. Ich bezahle ja.«

»Selbst wenn ich das wollte, könnte ich ihn jetzt nicht aufhalten«, erwiderte Reilly grinsend. »Cheeks geilt es auf, wenn sie sich wehren.«

In einer blitzschnellen Bewegung schoss die Hand des Skinheads vor, ergriff die Bluse der Frau und zerrte. Die Nähte gaben sofort nach. Ihre Brüste schimmerten durch einen halb durchsichtigen BH hindurch. Sie schrie auf und schlug nach ihm. Cheeks wischte den Schlag einfach zur Seite, ging in Clinch mit ihr und zog sie auf den Fußboden hinunter.

Einer von den Männern am Tisch neben Reece sprang auf und wollte sich auf das Paar stürzen. Er schrie: »Hey! Was fällt dir ein?«

Reece rammte ihm den Lauf seiner Schrotflinte ins Gesicht. Blut schoss aus einer Stirnwunde und der Mann fiel zurück auf die Bank.

»Tony!«, wandte sich Reilly an den Mann mit dem Irokesen, der neben der Kasse stand. »Wo ist Rafe?«

»Irgendwo hinten.«

George spürte plötzlich ein scharfes Brennen seiner Kopfhaut, als Reilly ihn an den Haaren ergriff und zu Tony hinüberstieß.

»Bring George auch nach hinten. Du und Rafe, ihr helft seinem Gedächtnis auf die Sprünge, damit er in Zukunft nicht mehr vergisst, wann er zu zahlen hat.«

George machte sich fast in die Hose. Wo blieb Jack?

»Ich werde bezahlen! Ich habe doch gesagt, dass ich bezahle!«

»Das ist jetzt nicht mehr so einfach, George«, sagte Reilly mit einem bedauernden Kopfschütteln. »Wenn ich jeden Monat vorbeikommen und einen Aufstand veranstalten muss, um das zu bekommen, was mir zusteht … na ja, ich habe einfach etwas Besseres zu tun, verstehst du?«

Während George zusah, drückte Reilly auf den Knopf, der die Kasse aufspringen ließ, und begann die Geldscheinfächer zu leeren.

Dicke, schraubstockartige Finger schlossen sich um den Nacken des Wirtes und schoben ihn ins Hinterzimmer. Rafe stand an der Arbeitsplatte und spielte mit dem elektrischen Fleischwolf, den George für seine Hausmacherwurst benötigte.

»Rafe«, sagte Tony. »Reilly sagt, wir sollen dem ollen Kochlöffel hier Manieren beibringen.«

Rafe sah nicht einmal auf. Er hatte eine rohe Hühnerkeule in der Hand. Er schob sie in den Stutzen des Fleischwolfes. Das ekelerregende Geräusch splitternder Knochen und Knorpel, die pulverisiert werden, übertönte das Surren des Motors, dann wurde durch das Sieb unten zerhackter Hähnchenschenkel wieder herausgepresst.

»Hey, Tony!«, sagte Rafe und blickte grinsend hoch. »Ich hab ‘ne geile Idee.«

 

Jack stürmte durch den Korridor im ersten Stockwerk. Er nahm die Treppen zur Lobby hinunter mit jeweils zwei Stufen gleichzeitig und sprintete über die Teppichfliesen, auf denen in leuchtendem Gelb auf tiefblauem Grund der Name des Hotels eingewebt war, und stieß die verschmutzte Glastür des Eingangs auf.

Er sprang die drei Treppenstufen vor der Tür hinunter und rannte bereits, als er auf dem Asphalt auftraf. Ein halber Block nach links, dann noch einer links eine Seitenstraße entlang. Er sprang über Pfützen und beschrieb einen Slalom zwischen Mülltonnen entlang, bis er zur Rückseite des Highwater Diner kam. Er hatte den Schlüssel bereits gezückt und schob ihn in den Zylinder des Lieferanteneingangs. Dann hielt er lange genug inne, um seine.45 er Automatik zu zücken, einen Colt Mark IV, und sich die Wollmütze über das Gesicht zu ziehen. Damit trug er jetzt eine Skimaske mit Halloween-Motiv und er blickte durch die Augenhöhlen eines aufgedruckten, orange leuchtenden Kürbisses. Er zog die Tür auf und glitt in den Lagerraum hinter der Küche.

Vor sich hörte er den Lärm eines Handgemenges und Georges panikerfüllte Stimme, die rief: »Nein, bitte nicht! Das könnt Ihr nicht machen!«

Er kam um die Ecke des Kühlraums und fand Tony und Rafe – diese Stachelfrisuren waren unverkennbar – aus Reillys Gang, die sich anschickten, Georges Hand in den Fleischwolf zu bugsieren, und George, der sich mit allen Kräften dagegen wehrte. Aber er verlor an Boden. Seine Finger würden in Kürze Hackfleisch sein.

Jack griff gerade nach dem Sicherungsbügel seiner Automatik, als er einen Fleischklopfer auf einem naheliegenden Tisch entdeckte. Er hob ihn auf und wog ihn in der Hand. Schwer – bestimmt drei Pfund, das meiste davon in dem Stahlkopf. Er steckte die Pistole weg, trat zu dem Trio und holte zu einem seitlichen Hieb gegen Tonys Schädel aus.

»He Tony, Süßes oder Saures?«

Tony sah gerade rechtzeitig auf, um die ganze Wucht des geriffelten Hammerkopfes mittig ins Gesicht zu bekommen. Es gab ein schmatzendes Geräusch, als sich der Stahl in seine Nase bohrte. Er war bereits auf halbem Weg zu Boden, bevor Rafe überhaupt merkte, was los war.

»Tony?«

Jack wartete nicht ab, bis Rafe wieder aufsah. Er benutzte den Hammer, um eine tiefe Bresche in Rafes blauen Irokesenhaarschnitt zu schlagen. Rafe leistete Tony auf dem Boden Gesellschaft.

»Gott, bin ich froh, dich zu sehen!«, sagte George keuchend und rieb seine Finger, als müsse er sich überzeugen, dass sie noch alle da waren. »Warum hat das so lange gedauert?«

»Das waren bestimmt nicht mehr als zwei Minuten«, sagte Jack, klemmte den Stiel des Hammers hinter seinen Gürtel und zog wieder die Automatik.

»Mir kam es vor wie ein ganzes Jahr!«

»Die anderen sind vorne?«

»Nur drei – Reilly, der Skinhead und Reece.«

Jack hielt inne. »Und wo ist der Rest?«

»Ich weiß es nicht.«

Jack hatte da schon eine Idee. Die drei anderen waren wahrscheinlich auf dem Dach gewesen und hatten versucht, ihn in seinem Hotelzimmer auszuschalten. Aber wie hatten sie ihn gefunden? Er hatte nicht einmal George gesagt, in welchem Hotel er warten würde.

Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden …

»Okay. Du schließt jetzt die Hintertür ab und bleibst hier. Ich kümmere mich um alles andere.«

»Da ist noch ein Mädchen da draußen …«, sagte George.

Jack nickte. »Ich bin unterwegs.«

Er drehte sich um und rannte beinahe in Reilly hinein, der durch die Schwingtür zum Lokal kam. Er zählte den Packen Geldscheine, den er in den Händen hielt.

»Wie geht es hier voran …?«, begann er und erstarrte dann, als sich die Mündung von Jacks Pistole unter sein Kinn bohrte.

»Ein fröhliches Halloween«, sagte Jack.

»Scheiße! Du schon wieder!«

»Richtig, Matt, alter Junge. Ich schon wieder. Und wie ich sehe, hast du bereits für mich abkassiert. Schön, wenn jemand so mitdenkt. Du kannst das Geld in meine linke Tasche schieben.«

Reillys Gesicht war weiß vor Wut, als er sah, wie Tony sich neben dem bewusstlosen Rafe auf dem Boden krümmte.

»Du bist tot, Mann! Schlimmer als tot!«

Jack lächelte durch die Skimaske und verstärkte den Druck der Pistolenmündung auf Reillys Kehle.

»Tu einfach nur, was ich gesagt habe.«

»Was ist das eigentlich für eine Sache mit dir und diesen Masken?«, grummelte Reilly, als er Jack das Geld in die Tasche stopfte. »Bist du so hässlich? Oder hältst du dich für Spiderman oder so etwas?«

»Nein, ich bin der Kürbismann. Und so weiß ich zwar, wer du bist, aber du weißt nicht, wer ich bin. Tja, Matt, ich habe dich immer im Blick gehabt. Ich kenne alle deine Verstecke. Ich stand ganz ohne Tarnung da und habe dich beobachtet. Ich habe zugesehen, wie du in Gus’ Kneipe Billard gespielt hast. Ich bin im Feierabendverkehr an dir vorbeigegangen und habe dich angerempelt. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich dir mittlerweile ein Dutzend Mal einen Eispickel zwischen die Rippen rammen können. Aber du brauchst gar nicht zu versuchen, mich zu finden, denn das wird dir nicht gelingen. Während du dir alle Mühe gibst, wie Billy Idol auszusehen, gebe ich mir noch viel mehr Mühe, wie ein Niemand auszusehen.«

»Du bist ein Niemand, Mann!« Die Stimme war so aggressiv wie immer, aber in den Augen schimmerte ein Hauch von Angst.

Jack lachte. »Überrascht, mich zu sehen?«

»Nicht wirklich«, antwortete Reilly und fing sich etwas. »Ich hatte damit gerechnet, dass du auftauchst.«

»Ach ja? Was ist los? Kein Vertrauen in die Schießkünste deiner Schlägertruppe?«

»Was?« Nun war echte Verwirrung in diesen Augen. »Was soll der Scheiß?«

Jack spürte, dass Reilly ihm nichts vormachte. Er wusste so wenig wie Jack.

Der ließ seine Gedanken einen Augenblick wandern. Wenn nicht Reillys Leute, wer dann?

Doch dazu war jetzt keine Zeit. Vor allem angesichts der gedämpften Schreie aus dem Lokal. Er drehte Reilly herum und stieß ihn zurück durch die Schwingtür in den Gastraum. Als sie da waren, drückte er Reilly bäuchlings gegen den Tresen und hielt ihm die.45er an die Schläfe. Reece, der ein halbes Dutzend Kunden mit einer abgesägten Schrotflinte in Schach hielt, sah er auf den ersten Blick. Aber wo war dieser durchgeknallte Cheeks?

»Okay, ihr Sackgesichter!«, brüllte Jack. »Die Party ist vorbei! Lasst die Knarren fallen!«

Reece wirbelte herum und starrte sie an. Seine Augen weiteten sich und er hob die Schrotflinte in ihre Richtung. Jack spürte, wie Reilly zurückzuckte.

»Versuch’s nur«, sagte Jack und stellte sich so, dass er fast komplett durch Reilly gedeckt war. »Viel hässlicher kann er nicht mehr werden.«

»Tu’s nicht, Mann«, sagte Reilly mit leiser Stimme.

Reece rührte sich nicht. Er schien nicht zu wissen, was er tun sollte. Also sagte Jack es ihm.

»Leg die Waffe auf den Tresen oder ich blase ihm den Kopf weg.«

»Niemals«, sagte Reece.

»Provozier mich nicht, Mann. Ich könnte es auch einfach so zum Spaß machen.«

Jack hoffte, dass Reece das nicht für einen Bluff hielt, weil es das nicht war. In dieser Nacht war bereits zweimal auf ihn geschossen worden und seine Laune war nicht die beste.

»Verdammt, tu, was er sagt«, sagte Reilly.

»Niemals!«, erklärte Reece. »Ich geh hier vielleicht raus, aber ich geb’ keinem Pisser meine Waffe!«

Jack konnte sich darauf nicht einlassen. Sobald Reece draußen wäre, würde er die Fenster mit Schrotladungen durchsieben. Er wollte Reilly gerade hinter dem Tresen hervorstoßen, um ihm den Weg zu verstellen, als einer der Männer, die Reece in Schach gehalten hatte, aufsprang und nach dem Lauf der Schrotflinte griff. Ein zweiter Mann eilte ihm zu Hilfe. Eine Ladung krachte in die Decke und dann war die Waffe nutzlos – bei all den Händen, die nach ihr griffen, konnte Reece nicht nachladen. Zwei weitere Gäste sprangen auf und stürzten sich auf ihn. Die Schrotflinte fiel zu Boden, als ein fünfter Mann mit einer tiefen Platzwunde auf der Stirn Reece auf die Bank zurückstieß und begann, sein Gesicht mit den Fäusten zu bearbeiten. Die anderen machten jetzt mit. Diese Leute waren verdammt sauer.

Jack lenkte Reilly der Gruppe entgegen. Er sah zwei Paar Beine – ein männliches und ein weibliches – auf dem Boden am anderen Ende des Tresens miteinander kämpfen. Er stieß Reilly in die Gruppe der männlichen Gäste.

»Da ist noch einer für euch. Viel Spaß damit. Aber tut ihnen nichts an, was die euch nicht auch angetan hätten.«

Zwei von den Männern lächelten und rammten Reilly mit dem Gesicht voran auf den Tisch. Sie begannen, seine Nieren zu traktieren, während Jack weiterhastete, dorthin, wo Cheeks mit seinen Schweinereien beschäftigt war.

Er blickte über den Tresen und sah, dass der Skinhead die Arme der Frau mit der linken Hand hinter ihrem Kopf auf den Boden gedrückt hielt, während seine rechte unter ihrem BH steckte und die Brustwarze massierte. Das nahm ihn so in Anspruch, dass er nichts anderes wahrnahm. Ihr rechtes Auge war blutunterlaufen und schwoll an. Sie weinte und wand sich unter ihm und schnappte sogar mit den Zähnen nach ihm. Eine wirkliche Kämpfernatur. Sie musste sich heftig gewehrt haben. Das Gesicht von Cheeks blutete aus mehreren Kratzern.

Jack fühlte sich versucht, Cheeks eine Kugel ins verlängerte Rückgrat zu jagen, damit er nicht nur nie wieder laufen könnte, sondern ihn auch nie wieder hoch bekommen würde, aber Cheeks Messer war dabei im Weg und außerdem könnte die Kugel durch ihn hindurch auch die Frau treffen. Also steckte er die.45er ein, ergriff Cheeks’ rechtes Ohr und riss es nach oben.

Cheeks löste sich mit einem Auf jaulen von der Frau. Jack hob ihn am Ohr hoch und stieß seinen Oberkörper auf den Tresen. Er brachte vor Wut kaum ein Wort hervor. Er wollte diesem Arschloch wirklich etwas antun.

»Wie unartig!«, stieß er schließlich hervor. »Warst du nie im Konfirmationsunterricht? Haben dir die Nonnen da nie erklärt, dass dir schreckliche Dinge widerfahren, wenn du so etwas mit einem Mädchen machst?«

Er streckte Cheeks’ rechte Hand mit ausgestreckter Handfläche auf dem Tresen aus.

»Dass du zum Beispiel Warzen davon bekommst?«

Er zog den Fleischklopfer aus dem Gürtel und hob ihn hoch über seinen Kopf.

»Oder noch Schlimmeres?«

Er legte seine ganze Kraft in den Schlag. Die Knochen zerbrachen wie Salzstangen. Cheeks brüllte und rutschte vom Tresen herunter. Er rollte auf dem Fußboden hin und her, stöhnte und jammerte und hielt sich die verletzte Hand an die Brust wie eine Mutter ihr neugeborenes Baby.

»Regel 1: Belästige nie einen zahlenden Gast«, erklärte Jack. »Ohne die kann George nämlich sein Schutzgeld nicht zahlen.«

Er griff sich Reeces Schrotflinte und zerrte ihn und Reilly von den Männern weg. Die beiden waren blutig und zerschlagen. Er stieß sie der Eingangstür entgegen.

»Was habe ich euch Stümpern gesagt über das Wildern in meinem Territorium? Wie oft müssen wir das noch durchkauen?«

Reilly wirbelte zu ihm herum und die Wut loderte in seinen Augen. Wäre die Schrotflinte nicht gewesen, wäre er Jack wahrscheinlich an die Kehle gesprungen.

»Wir waren zuerst da, du Arschloch!«

»Bestreitet ja keiner. Aber jetzt bin ich hier, also kratzt die beiden Jammerlappen hinten in der Küche zusammen und dann raus hier.«

Er sah zu, wie die beiden Rafe und Tony zur Vordertür hinausschleppten. Bis dahin war auch Cheeks wieder auf den Füßen. Jack winkte ihn nach draußen.

»Na komm schon, Loverboy. Die Party ist vorbei.«

»Er hat meinen Ring!«, rief die dunkelhaarige Frau vom anderen Ende des Tresens. Sie hielt ihr zerrissenes Kleid über den Brüsten zusammen. Blut klebte ihr im Mundwinkel. »Meinen Verlobungsring.«

»Ach ja?«, sagte Jack, »der wird ja einiges wert sein. Herzeigen!«

Cheeks starrte Jack hasserfüllt an, dann griff er mit seiner gesunden Hand in seine Gesäßtasche.

»Du willst ihn sehen?« Plötzlich schwenkte er ein großes Kukri-Messer durch die Luft und zielte auf Jacks Augen. »Hier! Sieh genau hin!«

Jack blockte die gebogene Klinge mit dem abgesägten Flintenlauf ab, dann ergriff er Cheeks Handgelenk und drehte. Als Cheeks instinktiv seine verletzte Hand hochriss, ließ Jack die Schrotflinte fallen. Er griff nach der verletzten Hand und drückte zu. Cheeks brüllte vor Schmerzen und ging in die Knie.

»Lass das Messer fallen«, forderte Jack mit sanfter Stimme.

Es polterte auf den Tresen.

»Gut. Und jetzt holst du den Ring raus und legst ihn auf den Tresen.«

Cheeks griff in die linke Vordertasche seiner Jeans und zog einen Ring mit einem winzigen Diamanten in einer Goldfassung heraus. Es schnürte Jack die Kehle zu, als er sah, wie die Augen der Frau aufleuchteten. So ein kleines Ding … und doch so bedeutsam.

Er hielt Cheeks’ verletzte Hand weiterhin fest, während er den Ring zwischen die Finger nahm und so tat, als inspiziere er ihn.

»Dieser ganze Ärger wegen diesem mickrigen kleinen Ding?« Jack ließ den Ring über den Tresen gleiten. »Hier, Baby. Mit den besten Wünschen des Hauses.«

Sie musste das zerfetzte Kleid vor ihrer Brust loslassen, um danach zu greifen. Sie drückte den winzigen Ring mit beiden Händen an die Brust und begann zu weinen. Jack spürte, wie die blinde Wut sein Gesichtsfeld einengte. Er blickte auf Cheeks’ rundes Babyface, das ihn aus der sitzenden Position am Fuß des Tresen anfunkelte und ergriff das Kukri. Er hielt es Cheeks vor die Augen. Dessen Pupillen weiteten sich vor Angst.

Er ließ die verletzte Hand los, ergriff den Schläger aber augenblicklich an Hals und Unterkiefer, zerrte ihn hoch und hämmerte seinen Hinterkopf auf die Arbeitsplatte und hielt ihn dort fest. Mit zwei schnellen Schnitten schlitzte er ein grobes »X« mitten auf Cheeks’ Stirn. Der jaulte auf und Jack ließ los. Er ergriff erneut die Schrotflinte und stieß den Mistkerl zur Tür.

»Keine Angst, Cheeks. Das ist nichts, was dir peinlich sein müsste – es ist nur deine übliche Unterschrift.«

Als er sie jetzt alle draußen hatte, benutzte er die Schrotflinte, um sie in die Seitenstraße zwischen dem Restaurant und dem leer stehenden, dreistöckigen Lagerhaus gegenüber zu treiben. Sie waren ein mitleiderregender Haufen: Tony und Rafe konnten kaum stehen, Cheeks tropfte Blut von der Stirn und von einer Hand, die zum Doppelten ihrer normalen Größe angeschwollen war, und Reilly und Reece betasteten ihre angeknacksten Rippen und geschwollenen Kiefer.

»Das ist das letzte Mal, dass ich diesen Affentanz mit euch veranstalte, Jungs. Das ist schlecht fürs Geschäft hier in der Gegend. Und außerdem würde sich früher oder später einer von euch wirklich ernsthaft wehtun.«

Jack wollte sich gerade umdrehen und sie da stehen lassen, als er quietschende Reifen auf der Straße hörte. Scheinwerfer schwenkten in die Seitenstraße ein und schossen auf ihn zu. Jack sprang nach links zur Seite, um nicht vom Kühler eines verbeulten Chryslers getroffen zu werden, der die Einmündung der Seitenstraße blockierte. Er rutschte auf irgendwelchem Abfall aus und verlor den Halt. Als er sich wieder auf die Füße gerappelt hatte, blickte er in die ungemütlicheren Enden einer Schrotflinte, einer 9mm-Auto-matik und einer Tec-9-Halbautomatik.

Er hatte die fehlenden Mitglieder von Reillys Gang gefunden.

 

Auch wenn sich seine Rippen dabei anfühlten, als würden sie jeden Augenblick brechen, konnte Matt doch ein Lachen nicht unterdrücken.

»Wir haben dich am Sack! Erwischt, du Mistkerl!«

Er hob die fallen gelassene Schrotflinte auf und stieß dem Kerl mit der Skimaske den Lauf in den Bauch. Der Kerl blockte den Stoß ab und riss sie ihm fast aus den Händen. Er war verdammt schnell. Man gab ihm besser keine Gelegenheit für Dummheiten.

»Die Pistole«, sagte er. »Ganz langsam und vorsichtig rausnehmen und fallen lassen.«

Der Kerl blickte sich um und sah all die Waffen, die auf ihn gerichtet waren, dann griff er in seine Tasche und zog die seine am Lauf heraus. Sie fiel mit einem Scheppern auf den Asphalt.

»Umdrehen«, wies Matt ihn an. »Lehn dich an die Wand und die Beine auseinander, wie bei den Bullen. Und denk dran – eine falsche Bewegung und du bist ein Sieb!«

Matt klopfte den Körper und die Schenkel des Kerls ab und sagte dann: »Du musst mich wirklich für völlig verblödet halten, wenn du glaubst, dass ich ohne Rückendeckung in so einen Laden gehe. Die Jungs hier haben die ganze Zeit darauf gewartet, dass du auftauchst. Wir haben nur nicht damit gerechnet, dass du durch die Hintertür kommst. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wir haben dich an den Eiern.«

Die Durchsuchung ergab nichts, nicht einmal eine Brieftasche. Der Knilch hatte nichts in der Tasche außer dem Geld aus der Kasse. Das würde er sich später holen. Aber erst mal war es Zeit fürs Vergnügen.

»Also gut. Dreh dich um. Wollen wir doch mal sehen, wie du ausschaust.«

Als der Kerl sich umdrehte, griff Matt zu und riss ihm die Skimaske mit dem aufgemalten Kürbisgesicht vom Kopf. Er sah einen ganz gewöhnlich aussehenden Mann, der vielleicht zehn Jahre älter sein mochte als er und seine Jungs – vielleicht Mitte Dreißig – mit dunkelbraunen Haaren. Nichts Besonderes. Matt schob die Maske zurück, bis sie in einem dümmlichen Winkel auf seinem Kopf hing.

»Wie heißt du, Arschloch?«

»Jack.«

»Jack – und wie weiter?«

»O’Lantern. Das ist ein alter irischer …«

Plötzlich stand Cheeks neben Reilly und fuchtelte mit dem Armeemesser herum, das im Auto gelegen hatte.

»Der gehört mir!«, kreischte er. »Ich werd ihm zeigen, wie man einen Kürbis für immer schnitzt!«

»Reg dich ab, Mann!«

»Sieh dir doch an, was er mit mir gemacht hat! Da, sieh dir meine verdammte Hand an! Und sieh dir das da an!« Er deutete mit dem Messer auf das blutige X auf seiner Stirn. »Sieh dir an, was er mit meinem Gesicht gemacht hat! Der gehört mir, Mann!«

»Du darfst dich als Erster an ihm austoben, okay? Aber nicht hier. Wir machen mit Mr Jack hier eine Spazierfahrt, und dann haben wir alle ein bisschen Spaß mit ihm.« Er hielt Cheeks die Schrotflinte hin. »Hier. Ein Tausch.«

Matt nahm die schwere, geschlitzte Klinge und setzte die Spitze an eines der unteren Augenlider des Kerls. Er wollte sehen, wie er zusammenzuckte.

»Das ist doch mal ein Messer, oder? So eines wie das, das Rambo benutzt. Es schneidet sogar durch Knochen!«

Der Kerl zuckte zurück. Sein Machogehabe war verschwunden. Er wirkte jetzt schon fast wie ein Jammerlappen.

»Wa … was wollt ihr mit mir machen?«

»Das weiß ich noch nicht so genau, Mr Jack. Aber ich bin sicher, mir und Cheeks hier, uns fallen bestimmt tausend Möglichkeiten ein, wegen denen du wünschen wirst, du wärest nie geboren.«

Der Kerl rutschte ein bisschen an der Wand entlang und presste sich dagegen, als wolle er damit verschmelzen. Seine rechte Hand tastete sich hoch und bedeckte seinen Mund.

»Ihr … ihr werdet mich doch nicht foltern, oder?«

Hinter ihm begann Cheeks zu lachen. Matt musste grinsen. Ja, das war schon eher so, wie er sich das vorgestellt hatte. Das machte jetzt richtig Spaß.

»Wer? Wir? Foltern? Nein! Nur ein bisschen Spaß. ›Kreative Freizeitbeschäftigung‹, wie meine Lehrer das immer genannt haben. Ich habe eine wirklich blühende Fantasie. Ich kann mir immer wieder alle möglichen Arten von …«

Matt sah, wie der Kerl seinen Arm merkwürdig verdrehte. Er hörte ein Klicken und plötzlich hatte er diese winzige Pistole in der Hand und die riesige Mündung des Stummellaufs starrte aus wenigen Zentimetern Entfernung direkt in Matts linkes Auge. Und der Kerl war überhaupt nicht mehr weinerlich.

»Also eines kann ich dir bescheinigen, Matt«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Deine Leibesvisitationen sind miserabel.«

Matt hörte, wie seine Jungs hinter ihm aufschlossen. Jemand betätigte den Sicherungshebel einer Automatik.

»Du kommst hier niemals raus«, sagte er zu dem Kerl.

»Genauso wenig wie du«, antwortete der. »Du willst also Rambo spielen? Schön. Du hast dieses überdimensionierte Fischmesser?

Ich habe diese Semmerling LM-4, die kleinste.45er der Welt. Sie ist geladen mit vier Hohlspitzgeschossen mit 300er Körnung. Du weißt, was Hohlspitzgeschosse sind, Matt? Stell dir mal vor, wie eines davon in deinen Schädel eindringt. Es macht nur ein kleines Loch beim Eintritt, aber dann platzt es in Tausende von kleinen Teilen auseinander, die auf dem Weg durch dein Gehirn in alle Richtungen ausschwärmen. Wenn diese Teilchen dann wieder austreten, dann nehmen sie das meiste von deinem Gehirn – was in deinem Fall nicht gerade viel sein wird – und die hintere Schädeldecke mit sich und versprühen das auf der ganzen Straße hinter dir.«

Auch ohne sich umzuwenden, spürte Matt, wie seine Jungen direkt hinter ihm zur Seite wichen.

Er ließ das Messer fallen. »Na gut. Nennen wir es ein Unentschieden.«

Der Kerl ergriff ihn an der Hemdbrust und zerrte ihn tiefer in die Seitenstraße, zu einem leeren Hauseingang. Dann stieß er Matt zurück auf die Straße und hechtete in den Eingang.

Matt brauchte den anderen nicht erst zu sagen, was sie tun sollten. Sie stürmten los und eröffneten das Feuer auf die Türöffnung. Jerry, einer der Neuankömmlinge, stellte sich direkt vor den Eingang und leerte das komplette Magazin seiner Tec-9 in einer langen stakkatoartigen Salve. Er hielt inne und grinste Matt an, als plötzlich ein einzelner Schuss aus dem Hausinnern ertönte. Jerry wurde zurückgeschleudert, als hätte jemand an einer Schnur gezogen. Seine Halbautomatik klapperte davon, als er herumgewirbelt wurde und kopfüber auf das Pflaster fiel. Da war dieses nasse rote Loch, wo einmal sein Rücken gewesen war.

»Scheiße!«, fluchte Matt. Er wandte sich zu Cheeks. »Geh rüber auf die andere Seite und sorg dafür, dass er sich da nicht rausschleichen kann.«

Reece tippte ihn an und machte kletternde Bewegungen. Er deutete auf die rostige Feuerleiter. Matt nickte und half ihm hoch. Die Stahlkonstruktion quietschte und ächzte, als Reece mit unter den Arm geklemmter Schrotflinte wie ein Geist in fransenbesetztem weißen Leder zum ersten Stock hochkletterte. Matt hoffte, er würde sich richtig nahe an dieses Arschloch heranschleichen, bevor er feuerte – nahe genug, dass schon der erste Schuss Hackfleisch aus dem Schädel dieses Sackgesichts machte.

Alles wartete. Sogar Rafe und Tony hatten sich so weit erholt, dass sie ihre Waffen in Anschlag gebracht hatten. Obwohl Tony in wirklich schlechter Verfassung war. Seine Nase war vollkommen zermalmt und es machte merkwürdige Geräusche, wenn er atmete. Er sah einfach furchtbar aus.

Sie warteten immer noch. Mittlerweile sollte Reece ihn eigentlich gefunden haben.

Dann bellte eine Schrotflinte im Innern auf.

»Na endlich, Reece!«, brüllte Rafe.

Matt lauschte einen Augenblick auf die Stille in dem Gebäude. »Reece? Hast du ihn erwischt?«

Plötzlich taumelte jemand aus der Tür, mit einer dunkelblauen Jacke und einer Jack-O’Lantern-Skimaske. Er stolperte, wie jemand, der verletzt ist.

»Scheiße, das ist der Kerl!«

Matt eröffnete das Feuer, ebenso alle anderen. Sie pumpten den Mistkerl so voll Blei, dass eine ganze Unfallstation ihn nicht mehr hätte zusammenflicken können, selbst wenn er die Chance bekommen hätte, dorthin zu gelangen. Und dann feuerten sie weiter, als er auf den müllübersäten Boden fiel, beim Aufschlag der Geschosse zuckte und hin und her geschleudert wurde. Schließlich lag er reglos da.

Cheeks kam von der anderen Seite des Gebäudes angerannt.

»Habt ihr ihn erwischt? Ist er erledigt?«

»Wir haben ihn, Cheeks«, erklärte Rafe. »Wir haben ihn alle gemacht

Matt richtete die.45 er, die er dem Mistkerl vorher abgenommen hatte, auf ihn, als er sich dem Körper näherte. Er konnte keinesfalls mehr am Leben sein, aber Matt wollte nichts riskieren. Dann bemerkte er, dass die Hände von dem Bastard auf dem Rücken gefesselt waren. Plötzlich hatte Matt das miese Gefühl, dass er schon wieder hereingelegt worden war. Er zog ihm die Skimaske vom Kopf und wusste da bereits, dass er das Gesicht von Reece sehen würde.

Er hatte Recht. Und Reece war ein Socken in den Mund gestopft worden.

Hinter Matt heulte Cheeks vor Wut auf.

 

Abe strich mit dem Finger über die Schulterfransen der weißen Lederjacke.

»Ach Jack, wer ist denn dein neuer Schneider? Meinst du, jetzt wo Liberace tot ist, musst du die modische Lücke schließen, die sein Dahinscheiden hinterlassen hat? Oder versuchst du Elvis nachzueifern?«

Jack konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Ich kann mich noch nicht so recht entscheiden. Aber da ich mich mit Klavieren schwer tue, bleibt wohl nur Elvis. Was hältst du davon, in meinem Vorprogramm aufzutreten? Die Jackie-Mason-Masche ist dir doch wie auf den Leib geschneidert. Man könnte meinen, du schreibst seine Texte.«

»Na ja, du weißt ja, wie das so läuft.« Abe zuckte großspurig die Achseln. »Falls er mich um Rat fragt, dann sage ich nicht Nein.«

Jack streifte die Jacke ab. Es war klar gewesen, dass Abe ihn damit aufziehen würde, aber die Nacht war einfach zu kalt, um nur mit einem Pullover herumzulaufen. Er war jedoch froh, dass Abe noch im Laden war. Wie Jack war er fast immer erreichbar.

Jack rollte den rechten Ärmel seines Pullovers hoch und steckte die kleine Semmerling wieder in das Springholster, das er an den Unterarm geschnallt hatte. Es war keine wirklich bequeme Konstruktion, aber im Lichte des heutigen Abends hielt er sie für eine der besten Investitionen, die er je getätigt hatte.

»Du hattest heute Nacht Verwendung dafür?«

»Ja. Nicht gerade eine meiner besten Nächte.«

»Und? Willst du mir nicht erzählen, wie so eine schöne und sicherlich teure Kluft da hineinpasst?«

»Sicher. Ich erzähl dir die Geschichte unten. Ich brauche etwas Nachschub.«

»Ach so! Das ist also ein geschäftlicher Besuch und nicht nur ein freundschaftlicher Plausch. Fein, fein! Ich habe diese Woche Claymore-Landminen im Angebot.«

Abe ging zur Eingangstür des Isher-Sportgeschäfts, schloss ab und drehte das SORRY! WIR HABEN GESCHLOSSEN!-Schild mit dem Schriftzug zur Straße.

Jack wartete, bis er die schwere Stahltür zum Keller geöffnet hatte. Unten brach sich das Licht von Neonröhren an den Regalen und Ständern mit Revolvern, Gewehren, Maschinenpistolen, Panzerfäusten, Messern, Granaten, Tellerminen und anderen ausgewählten Mordwerkzeugen.

»Was soll’s denn sein?«

»Ich habe meine.45er eingebüßt, brauche also Ersatz dafür.«

»Tuntige Lederklamotten und verlorene Pistolen. Wie wäre es mit etwas Abwechslung im Leben? Zum Beispiel mit einer 9mm-Parabellum? Ich hätte da nette Sachen, wie zum Beispiel eine Tokarev M213, oder eine TT9 oder eine Beretta 92F. Oder wie wäre es mit einer Glock 17 oder einer Llama Commander?«

»Verzichte.«

»Er verzichtet. Du wirst dich nie ändern.«

»Ich bin eben treu.«

»Einer Person kann man treu sein. Meinetwegen auch noch einem Land. Aber einer Knarre? Schmonzes!«

»Gib mir einfach einen Colt wie den letzten.«

»Ich hab zurzeit keine Mark IV vorrätig. Wie wär’s mit einer Combat Stallion? Kostet dich fünfhundertfünfzig.«

»Nehme ich. Und vielleicht sollte ich auch mal einen Blick auf diese Kevlar-Westen werfen«, sagte Jack und deutete mit einer Kopfbewegung auf das Regal hinten in der Ecke.

»Das predige ich doch schon seit Jahren. Wieso kommst du gerade jetzt auf diesen Gedanken?«

»Jemand hat vorhin versucht, mich umzubringen?«

»Na und? Was ist daran neu?«

»Ich meine einen Scharfschützen. Direkt durchs Fenster des Hotelzimmers. Und außer mir wusste niemand, wo ich mich aufhielt. Ich habe nicht mal Jack in dem Namen angegeben, unter dem ich eingecheckt habe.«

»Vielleicht waren die dann gar nicht hinter dir her. Vielleicht galt das nur irgendjemand X-beliebigem, der das Pech hatte, gerade an diesem Fenster zu stehen.«

»Kann sein«, erwiderte Jack, war aber beim besten Willen nicht überzeugt. »Außerdem war er ein miserabler Schütze. Ich habe ein Zielfernrohr gesehen und er hat mich trotzdem verfehlt.«

Abe schnaubte abschätzig. »Heutzutage kriegt wirklich jeder Depp eine Waffe.«

»Vielleicht vertagen wir das mit der Weste noch mal«, sagte Jack und fügte dann hastig wie nebenbei hinzu. »Ach, und ein weiteres Dutzend Shuriken brauche ich auch noch.«

Abe fuhr ihn an: »Sag’s nicht! Sag das bloß nicht! Du hast mit meinen Shuriken schon wieder Kakerlaken gejagt, stimmt’s? Jack, du hattest mir versprochen …«

Jack duckte sich weg. »Ich habe sie nicht wirklich gejagt. Verdammt, Abe, manchmal langweile ich mich eben.«

Abe griff in eine rechteckige Kiste und zog eines der sechszackigen, in Ölpapier gewickelten Exemplare heraus. Er hielt es wie eine Hostie empor und richtete seine Rede gen Himmel.

»Sieh her! Präzisionswaffen aus bestem Stahl. Rasiermesserscharf geschliffen! Aber weiß Mr Obermacho Handyman Jack das zu würdigen? Zeigt er das geringste bisschen Respekt? Ehrfurcht? Natürlich nicht. Er benutzt sie zur Ungeziefervernichtung!«

»Ahem, ich brauche ungefähr ein Dutzend.«

Während er jiddische Flüche vor sich hin murmelte, begann Abe, die Shuriken aus der Kiste zu kramen und einzeln auf den Tresen zu knallen.

»Vielleicht nehme ich doch besser gleich noch ein Dutzend«, sagte Jack.

 

Jacks erste Tat am nächsten Morgen war ein Anruf bei George, um ihn für zehn Uhr in Julio’s Kneipe zu bestellen. Dann startete er seinen üblichen Morgenlauf. Aus einer Telefonzelle am Rand des Central Parks rief er den Anrufbeantworter ab, der als einziges Inventar in einem Büro im vierten Stock eines Gebäudes an der 10th Avenue stand, das er gemietet hatte. Er ließ ein paar Anfragen wegen Elektrikerarbeiten im Schnelldurchlauf an sich vorbeiziehen, dann hörte er eine angespannte orientalische Stimme, möglicherweise ein Chinese.

»Mista Jack, hier Tram. Bitte zurückrufen. Habe schwere Probleme. Leute sagen, Sie helfen.« Er hinterließ eine Telefonnummer, die zu einem Anschluss im Zentrum gehören musste.

Tram. Jack hatte noch nie von ihm gehört. Sein Anruf war der letzte auf dem Band. Jack löschte die Nachrichten, dann rief er diesen Tram an. Er war nur schwer zu verstehen, aber Jack beschloss, sich mit dem Mann zu treffen. Er erklärte ihm, wie er zu Julio’s kommt und sagte ihm, er solle um halb elf dort sein.

Nach einer Dusche und einer Rasur machte er sich auf den Weg zu Julio, um zu frühstücken. Er lief auf dem Bürgersteig, vielleicht einen halben Block von seinem Ziel entfernt, als er einen Warnruf hörte. Er blickte nach links und sah einen Mann, der gerade die Straße überquerte und auf einen Punkt über seinem Kopf deutete. Irgendwas in seinem Gesicht ließ Jack in den nächsten Hauseingang hechten. Noch im Sprung streifte etwas seinen Knöchel und zerplatzte in einer Explosion weißen Staubes auf dem Asphalt.

Als sich der Nebel verzog, starrte Jack auf die Überreste eines 25-kg-Zementsackes. Der Mann, der ihm die Warnung zugerufen hatte, stand auf der anderen Seite der Bescherung.

»Der Irre hätte Sie umbringen können.«

»Der Irre?«, fragte Jack und klopfte sich den Zementstaub aus Mantel und Hose.

»Ja. Das kam nicht einfach so aus dem Nichts. Jemand hat den Sack heruntergeworfen. Es sah aus, als habe er genau auf Sie gezielt.«

Jack wirbelte herum und rannte um die Ecke zur Rückseite des Hauses. Das war jetzt das zweite Mal innerhalb von ein paar Stunden, dass jemand versuchte, ihn umzubringen. Oder zumindest ihm etwas anzutun. Der Zementsack hätte ihn wahrscheinlich nicht umgebracht, aber er hätte ihm das Genick oder das Rückgrat brechen können.

Vielleicht hatte er noch eine Chance, den Kerl zu erwischen.

Er fand das Treppenhaus und stürmte ungefähr ein Dutzend Stufen hoch, doch als er das Dach erreichte, war es bereits verlassen. Ein weiterer Zementsack lehnte neben einer Palette mit Steinen auf dem schwarzen Teerdach. Jemand war offenbar dabei, einen Schornstein zu reparieren.

Wachsam hastete Jack weiter zu Julio. Die Sache gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht. Gerade, weil er tat, was er tat, hatte er immer für Anonymität gesorgt. Er tat Menschen Dinge an, die diesen missfallen mussten, daher war es angeraten, sie nicht wissen zu lassen, wer dahintersteckte. Er wickelte alles in bar ab und achtete immer darauf, vollkommen durchschnittlich zu wirken. Er hinterließ keine Spuren. Die meiste Zeit arbeitete er im Verborgenen hinter der Bühne. Seine Klienten kannten sein Gesicht, aber ihr einziger Kontakt zu ihm waren das Telefon oder kurze Treffen an Orten wie bei Julio. Und er rief seinen Anrufbeantworter nie von zu Hause aus ab.

Aber irgendjemand schien jeden seiner Schritte zu kennen. Wie war das möglich?

»Hi, Jack!«, sagte Julio, der muskulöse kleine Mann, der die Kneipe führte. »Lange nicht gesehen.« Er klopfte auf Jacks Jacke, von der Staubwölkchen aufstiegen. »Was ist denn das für weißes Zeugs?«

Jack erzählte Julio von den beiden fehlgeschlagenen Attentaten.

Julio überlegte: »Weißt du … Ich meine mich zu erinnern, dass so’n Kerl vor ein paar Wochen nach dir gefragt hat. Ich finde raus, wer das war.«

»Ja. Sieh zu, was du da machen kannst.«

Wahrscheinlich würde nichts dabei herauskommen, aber es war einen Versuch wert.

Jack blickte sich in der Kneipe um. Es war staubiger als sonst. Die Pflanzen in den Blumenampeln waren braun und verwelkt.

»Ist dir deine Putzkraft durchgebrannt, Julio?«

»Nee. Das ist für die Yuppies. Von denen kommen immer mehr. Ich lasse den Laden immer mehr verkommen, und das schreckt sie trotzdem nicht ab.«

»Abgerissenheit muss der neueste Schrei sein.«

»Die machen mich wahnsinnig, Jack.«

»Was soll’s, wir haben alle unser Kreuz zu tragen, Julio.«

Jack war mit seinem Brötchen fertig und bei der zweiten Tasse Kaffe, als George Kuropolis die Kneipe betrat. Er reichte George einen Packen Geldscheine.

»Das ist das, was Reilly und seine Jungs gestern bei dir eingesackt haben – abzüglich deines Anteils an der nächsten Rate meines Honorars. Richte deinen Kollegen aus, sie möchten ihren Anteil ebenfalls bezahlen.«

George wich seinem Blick aus.

»Einige von denen sagen, du kostest sie so viel wie Reilly.«

Jack spürte, wie Wut in ihm aufstieg, aber das gab sich schnell wieder. Er war diese Reaktion gewöhnt. Es war ihm immer mit einigen seiner Klienten passiert, trat aber verstärkt auf, seit ausgleichende Gerechtigkeit^ im Fernsehen lief. Vorher hatten die Leute, für die er arbeitete, nie erwartet, dass er seinen Job umsonst machte. Aber jetzt, wo diese Serie über einen furchtlosen Racheengel der geschundenen Normalos über die Bildschirme flimmerte, vertraten immer mehr seiner Klienten die Auffassung, es sei seine Bürgerpflicht, sie aus ihrem jeweiligen Schlamassel zu erretten. Er hatte von dieser Gruppe daher auch ein gewisses Murren erwartet.

Die Händler, die sich hier zusammengeschlossen hatten, hatten es in letzter Zeit sehr schwer gehabt. Sie betrieben alle kleine Geschäfte an der unteren Westside. Nachdem die meisten Mitglieder der Westies tot waren oder im Knast saßen, hatten sie eigentlich auf ruhigere Zeiten gehofft. Und dann tauchte Reillys Gang auf und begann sie auszubluten. Schließlich war einer von ihnen, Wolansky, zur Polizei gegangen. Kurz darauf flog ein Molotow-Cocktail durch die Eingangstür seines Gemüsegeschäfts und ruinierte den größten Teil des Ladens, wenig später wurde sein kleiner Sohn durch einen Autounfall mit Fahrerflucht direkt vor dem Wohnblock so schwer verletzt, dass er bleibende Schäden zurückbehielt. Entsprechend litt Wolansky plötzlich unter akutem Gedächtnisverlust, als die Polizei ihn aufforderte, Reilly zu identifizieren.

Das war dann der Augenblick, als sich George und die anderen zusammentaten und Handyman Jack anriefen.

»Willst du mir etwa sagen, dass du da keinen Unterschied siehst?«

»Nein, natürlich nicht«, beeilte sich George zu versichern.

»Nun, dann will ich deinem Gedächtnis mal auf die Sprünge helfen«, meinte Jack. »Ihr seid zu mir gekommen, nicht umgekehrt. Wir sind hier nicht im Fernsehen und ich bin kein selbstloser Retter. Verwechsel hier nicht die Wirklichkeit und die Geschichten aus der Flimmerkiste. Das hier ist meine Arbeit. Ich werde bezahlt für das, was ich tue. Ich war da, bevor dieser Neo-Robin-Hood über die Bildschirme stolzierte und ich werde noch da sein, wenn seine Serie längst wieder abgesetzt ist. Die Messer, mit denen Reilly und seine Jungs hantieren, sind keine Filmrequisiten. Sie haben keine Platzpatronen in ihren Knarren. Das hier ist echt. Ich riskiere meinen Hals nicht nur zum Vergnügen.«

»Schon gut, schon gut«, beschwichtigte George. »Es tut mir leid …«

»Und noch eine Sache. Ich koste euch vielleicht Geld, aber das nur für eine bestimmte Zeit. So wie beim Fegefeuer. Reilly dagegen ist die Hölle, und die Hölle dauert ewig. Er wird euch ausbluten, bis ihm da jemand einen Riegel vorschiebt.«

»Ich weiß. Ich wünschte nur, es wäre schon vorbei. Ich weiß nicht, ob ich so eine Nacht wie gestern noch einmal durchstehe.« George begann, seine rechte Hand zu reiben. »Sie wollten mir …«

»Das haben sie aber nicht. Und so lange, wie sie in mir eine Konkurrenz für ihr Geschäft sehen, sparen sie sich die wirklich fiesen Sachen für mich auf.«

George schauderte und blickte auf seine Finger. »Hoffentlich.«

Kurz nach Georges Weggang tauchte ein älterer Orientale an der Eingangstür auf. Sein Gesicht wies blaue Flecken und Schürfwunden auf und sein linkes Auge war deutlich zugeschwollen. Julio trat ihm in den Weg, schüttelte ihm die Hand, hieß ihn in seiner Gaststätte willkommen und klopfte ihm auf den Rücken, dann geleitete er ihn in den hinteren Teil der Kneipe. Jack bemerkte, dass der Mann hinkte. Das rechte Bein war eine Prothese. Als er Jacks Tisch erreichte, war er bereits unauffällig aber gründlich gefilzt worden. Wenn Julio etwas an ihm gefunden hätte, hätte er ihn direkt an Jack vorbei zum Hinterausgang hinausgeleitet.

»Tram«, sagte Julio und blieb vor Jacks Tisch stehen, »das hier ist der Mann, den Sie suchen. Jack, das ist Tram.«

Sie tranken Kaffee und wechselten Plattitüden, während Tram Pall Mall rauchte, indem er sich die nächste Zigarette an der Glut der letzten anzündete. Jack brachte das Gespräch auf Trams Lebensgeschichte. Sein bruchstückhaftes Englisch war nur schwer zu verstehen, aber es gelang Jack, die wichtigsten Teile zusammenzufügen.

Tram stammte aus Vietnam, aus Quang Ngai, wie er sagte. Er hatte den größten Teil seines Lebens in verschiedenen Kriegen gekämpft, angefangen aufseiten der Viet Minh bei Dien Bien Phu gegen die Franzosen bis hin zu dem Bürgerkrieg, der schließlich das verwüstete, was von seinem Heimatland übrig geblieben war. Während dieser letzten Auseinandersetzung hatte eine Mine der Vietkong ihm das rechte Bein abgerissen. Wie so viele andere, die auf der Verliererseite gekämpft hatten, musste Tram nach dem Krieg flüchten. Aber seine Lage wurde besser, als er erst einmal in den Vereinigten Staaten war. Jetzt setzte eine amerikanische Prothese aus Metall und Plastik da an, wo sein eigenes Fleisch unterhalb des Knies fehlte. Und er besaß eine kleine Wäscherei direkt hinter der Canal Street, da wo Little Italy an Chinatown grenzt.

Schließlich kam er auch auf den Grund, warum er sich an Jack gewandt hatte.

Seine Wäscherei diente seit Jahren als Umschlagplatz für den Warenverkehr zwischen der hiesigen Mafia und den Drogenkurieren aus Phnom Penh. Der Ablauf war ganz einfach. Die ›Importeure‹ brachten eine Ladung Heroin an einem vorher festgelegten Morgen und am Nachmittag wurde die dann von den Italienern abgeholt, die dafür einen Koffer mit Geld daließen. Niemand, der den Laden beobachtete, würde etwas Verdächtiges bemerken. Die Kunden der Wäscherei umfassten die ganze ethnische Spannbreite der Gegend – schwarz, weiß, gelb und alle Schattierungen dazwischen. Die bösen Jungs spazierten mit Taschen voll dreckiger Wäsche herein und spazierten mit in braunes Packpapier eingeschlagenen Päckchen wieder heraus, genau wie alle anderen.

»Und wie sind Sie in diese Sache hineingeraten?«, fragte Jack.

»Mr Tony«, sagte Tram und steckte sich schon wieder eine neue Zigarette an.

Das klang nach dem Namen eines Frisiersalons. »Wer ist Mr Tony?«

»Campisi.«

»Der Tony Campisi?« Das war kein Friseur.

Tram nickte. »Ja, ja. Kannte gut, sehr gut Mr Tonys Neffe, Patsy, in Quang Ngai. Wir ihn Fettmann nennen. Ich bei Patsy, als er sterben. Rufen Krankenwagen, aber zu spät.«

Jack hatte von Tony ›die Kanone‹ Campisi gehört. Wer hatte das nicht? Eine große Nummer im Drogengeschäft der Gambino-Familie. Tram erzählte weiter, dass ›Fettmann‹ Pasquale einer seiner Lieblingsneffen gewesen sei. Tony erfuhr, dass Tram mit Patsy befreundet gewesen war, und der verhalf ihm zu einer Aufenthaltsgenehmigung in den Staaten, als die Amis sich aus Vietnam zurückzogen. Tony hatte ihm sogar die Wäscherei finanziert.

Aber alles hat seinen Preis. Immer.

»Er hat Ihnen also den Laden finanziert und ihn als Umschlagplatz für Drogen verwendet.«

»Ja. Ich versprochen, das für ihn tun.«

»Scheint mir ein ziemlich kleiner Fisch für jemanden wie Campisi.«

»Mr Tony viele solche Orte. Nicht alle Eier ins gleiche Nest legen, er sagen.«

Clever. Wenn die Drogenfahndung einen dieser Umschlagplätze hochnahm, erbeuteten sie nie viel und die Zirkulation des Stoffes war durch die Vielzahl der Austauschstellen nie gefährdet. Campisi hatte den Ruf, ein ganz Schlauer zu sein. Deswegen hatte er sich auch nur sehr selten die Gitterstäbe einer Zelle von innen angesehen.

»Und weshalb jetzt der Sinneswandel?«

Tram zuckte die Achseln. »Mr Tony sein tot.«

Richtig. Die Gambino-Familie war nach dem Tod des alten Carlo und einer Reihe von Verhaftungen mehr oder weniger auseinandergefallen. Und Tony ›die Kanone‹ Campisi hatte im letzten Sommer vor einem Lungenkarzinom kapituliert.

»Und Sie können den neuen Boss nicht leiden?«

»Kann Drogen nicht leiden. Sind schlecht.«

»Warum haben Sie dann für Campisi gearbeitet?«

»Ich haben versprochen.«

Jacks Augen bohrten sich für einen Moment in die von Tram. Die braunen Augen starrten ungerührt zurück. Er brauchte das nicht mehr weiter auszuführen.

»Okay. Also wie sieht die Situation im Augenblick aus?«

Im Augenblick war es so, dass der Schläger, der jahrelang für Campisi die Übergaben gemanagt hatte, jetzt diesen Teil des Geschäfts auf eigene Rechnung betrieb. Tram hatte versucht, ihm klarzumachen, dass der Deal gestorben war: »Mr Tony tot – Versprechen tot«, wie Tram es formulierte. Aber Aldo D’Amico hörte nicht zu. Er hatte Tram vorgestern einen persönlichen Besuch abgestattet. Das Ergebnis war Trams zerschlagenes Gesicht.

»Er hat Sie eigenhändig verprügelt?«

Ein Nicken. »Ihm das gefallen.«

Jack kannte diesen Typ – man konnte so jemanden zwar in einen Anzug stecken, aber der Geruch der Gosse blieb immer haften.

Es war klar, dass Tram mit seinen Problemen nicht zur Polizei oder der Drogenfahndung gehen konnte. Er war auf inoffizielle Kanäle angewiesen.

»Ich soll Ihnen den Kerl also vom Hals schaffen.«

Wieder ein Nicken. »Ich gehört, Sie das können.«

»Vielleicht. Haben Sie keine vietnamesischen Freunde, die Ihnen helfen können?«

»Mr Aldo dann wissen, ich dahinter. Würde Laden kaputt machen, Familie wehtun.«

Jack konnte sich lebhaft vorstellen, wie. Die Reillys und die D’Amicos … brutale Schläger, nichts weiter. Der einzige Unterschied zwischen ihnen war die Dicke des Bankkontos. Und die Größe der Organisation.

Dieser letzte Teil machte Jack zu schaffen. Er wollte nicht mit der Mafia aneinandergeraten. Aber es widerstrebte ihm auch, einen Klienten abzulehnen, weil die bösen Buben eine Nummer zu groß waren.

Vielleicht ließ sich ja eine Lösung finden.

Ein zentraler Bestandteil der Handyman-Jack-Strategie bestand darin, sich und den Klienten zu schützen, indem man das plötzliche Pech der Zielperson so aussehen ließ, als habe es nichts mit dem Klienten zu tun. Aber das war auch das Schwierige daran.

»Sie kennen mein Honorar?«

»Ich haben gespart.«

»Gut.« Jack hatte eine Vorahnung, dass er sich in diesem Fall jeden Cent davon erarbeiten musste.

In den braunen Augen flackerte Hoffnung auf.

»Sie helfen?«

»Ich werde mal sehen. Wann ist die nächste Übergabe?«

»Heute Nachmittag. Vier Uhr.«

»In Ordnung. Ich werde da sein.«

»Es nicht gut, ihn totschießen. Er haben viele Freunde.«

Trams pragmatische Überlegung ließ Jack lächeln.

»Ich weiß. Außerdem ist das nur die allerletzte Lösung. Ich werde nur da sein, um mir einen Überblick zu verschaffen.«

»Gut. Ich wollen Frieden. Kämpfen genug. Zu viel Kampf in Leben.«

Jack sah Tram in das zerschlagene Gesicht, dachte an das fehlende Bein unterhalb des rechten Knies und die Abfolge der unterschiedlichen Kriege, in denen er gekämpft hatte, seit er fünfzehn war. Der Mann verdiente seine Ruhe.

»Ich habe verstanden.«

Tram gab ihm die Adresse seiner kleinen Wäscherei und einen Vorschuss in Zwanzig-Dollar-Scheinen, die alt, aber sauber und glatt waren – so als hätte er sie gewaschen, gestärkt und gebügelt. Jack gab ihm im Gegenzug sein übliches Versprechen, dass er von seinem Honorar alles abziehen würde, was er an Geldmitteln oder anderen Wertsachen im Verlauf des Auftrags von D’Amico und seinen Freunden in die Finger bekam.

Tram verbeugte sich dreimal und ließ Jack allein an seinem Tisch zurück. Julio setzte sich auf seinen Platz.

»Sagt dir der Name ›Cirlot‹ irgendetwas?«

Jack dachte einen Moment nach. »Sicher. Ed Cirlot. Der Erpresser.«

Ein Klient namens Levinson – Tom Levinson – hatte sich vor ein paar Jahren an Jack gewandt, um Cirlot loszuwerden. Levinson vermittelte erstklassige neue Identitäten. Hervorragende Qualität. Jack hatte sich selbst schon zweimal seiner Künste bedient. Also hatte Levinson ihn angerufen, als Cirlot ihm die Daumenschrauben anlegte.

So wie es aussah, hatte Cirlot erfahren, dass Levinson ein paar hochrangige ausländische Gangster beliefert hatte. Er drohte damit, den Behörden einen Tipp über die gefälschten Identitäten zu geben, sobald die wieder im Land wären. Levinson wusste, falls das passierte, würden die Kartelle Jagd auf ihn machen.

Es schien, als habe Cirlot in der Erpressung eine Berufung gefunden. Er war immer auf der Suche nach neuen Opfern. Also präsentierte sich Jack als Köder – er gab vor, ein krimineller Münzhändler zu sein, der gefälschte Münzen über ein nicht angemeldetes Call-Center verkaufte. Cirlot verlangte zehn Riesen auf die Hand und danach einen pro Monat, um den Mund zu halten. Wenn er das nicht bekommen würde, bekäme Jack Besuch von der Gewerbeaufsicht, die nicht nur seinen Laden dichtmachen, sondern ihn auch vor den Kadi bringen würden.

Jack hatte bezahlt – mit gefälschten Zwanzigern. Cirlot war mit den Blüten erwischt worden – und das waren so viele, dass er wegen Geldwäsche verurteilt wurde. Als er Jacks Münzhandel als seine Quelle nannte, war ein solches Unternehmen nicht auffindbar. Er bekam zehn Jahre.

»Sag nicht, der ist schon wieder draußen.«

»Si. Gute Führung. Und er hat sich nach dir erkundigt.«

Das gefiel Jack ganz und gar nicht. Cirlot sollte nichts über Handyman Jack wissen. Der Münzhändler, der den Erpresser mit falschen Zwanzigern bezahlt hatte, war verschwunden, als habe es ihn nie gegeben. Was ja auch richtig war.

Wieso war Cirlot dann auf der Suche nach Handyman Jack? Es gab keine Verbindung.

Außer Tom Levinson.

»Ich glaube, ich gehe mal einen Passfälscher besuchen.«

 

Jack erspähte Levinson am oberen Ende der 42nd Street East. Er näherte sich seinem Wohnblock von der entgegengesetzten Seite. Levinson bemerkte ihn im gleichen Moment. Statt ihm zuzuwinken, drehte er sich um und begann zu rennen. Aber er war nicht besonders schnell, weil sein Fuß bandagiert war. Er humpelte auf eine merkwürdig hoppelnde Art davon wie ein fliehender Walter Brennan. Jack holte ihn ohne jede Mühe ein.

»Was hast du mir zu erzählen, Tom?«, fragte er und hielt Levinson an der Schulter fest.

Er wirkte verängstigt und seine abstehenden Haare verstärkten diesen Effekt nur noch. Levinson war ein dünner, aalglatter Mann, der versuchte, jünger zu wirken als seine Mitte Vierzig. Er keuchte und seine Augen rasten hin und her wie bei einem in die Ecke getriebenen Tier.

»Ich konnte nicht anders, Jack. Ich musste es ihm sagen!«

»Was sagen?«

»Die Sache mit dir!« Die Worte sprudelten in einem unaufhaltsamen Schwall aus ihm heraus. »Irgendwie hat er die Verbindung zwischen mir und dem Münzhändler hergestellt, den du ihm vorgespielt hast. Vielleicht hatte er zu viel Zeit zum Nachdenken im Knast. Vielleicht ist ihm wieder eingefallen, dass ich der Erste war, der ihm gegenüber diesen Münzhändler erwähnt hat. Na jedenfalls, sobald er wieder draußen ist, kommt er als Erstes zu mir. Ich hatte eine Scheißangst, aber er ist nicht hinter mir her. Er will dich. Er sagt, du hast ihn in eine Falle gelockt und wie einen Trottel aussehen lassen.«

Jack ging ein paar Schritte zurück und lief nachdenklich einen kleinen Kreis. Er war wütend auf Levinson, und enttäuscht. Er hatte gedacht, der Fälscher sei jemand, der den Mund halten würde.

»Wir hatten eine Abmachung«, sagte er. »Ich habe den Auftrag angenommen, und du solltest nie eine Bemerkung darüber verlieren. Du kennst Handyman Jack nicht – du hast nie von ihm gehört. Das war ein Teil unseres Handels. Warum hast du nicht den Ahnungslosen gespielt?«

»Das habe ich, aber er hat mir nicht geglaubt.«

»Dann hättest du ihm sagen sollen, er solle sich verpissen.«

»Das habe ich ja. Er …« Levinson seufzte. »Er hat angefangen, mir die Zehen abzuschneiden.«

Bei den Worten blieb Jack die Spucke weg. »Er hat was?«

»Meine Zehen!« Levinson deutete auf seinen bandagierten Fuß. »Er hat mich gefesselt und dann hat er mir den kleinen Zeh abgeschnitten. Und er drohte damit, die Zehen einen nach dem anderen abzuschneiden, falls ich ihm nicht sage, wie er dich finden kann!«

Jack fühlte, wie sich seine Muskeln verspannten. »Gott!«

»Also habe ich ihm alles gesagt, was ich weiß, Jack. Was nicht viel ist. Ich habe ihm die Nummer aus den Gelben Seiten gegeben und ihm gesagt, dass wir uns in Julios Kneipe getroffen haben. Er hat mir nicht geglaubt und noch einen Zeh abgeschnitten.«

»Er hat dir zwei Zehen abgeschnitten?« Jack hatte ein flaues Gefühl im Magen.

»Mit einem großen, glänzenden Fleischermesser. Willst du es sehen?«

»Zur Hölle, nein.« Er schüttelte sich bei dem Gedanken. »Eigentlich kam mir Cirlot ziemlich geschäftsmäßig vor. Er schien mir nicht der Typ, der Leute foltert.«

»Vielleicht war er früher so, aber das ist er jetzt nicht mehr. Der ist irre, Jack. Und er will dir wirklich an den Karren fahren. Er sagt, er macht dich erst mal fertig, bevor er dich dann endgültig auf Eis legt. Und ich schätze, er hat damit schon angefangen, sonst wärst du wohl nicht hier.«

Jack dachte an den Schuss durch das Hotelfenster und den herabstürzenden Zementsack.

»Ja. Zweimal.«

»Es tut mir leid, Jack, aber diese Schmerzen waren wirklich nicht auszuhalten.«

»Mensch, Tom. Vergiss es einfach. Ich meine – deine Zehen, verdammt!«

Er sagte Levinson, er würde sich um die Sache kümmern und ließ ihn stehen. Als er davonging, überlegte er, wie viele Zehen er wohl für Levinson geopfert hätte.

Und beschloss, dass er die Antwort darauf gar nicht wirklich wissen wollte.

 

Sobald der Wagen vor der Wäscherei zum Stehen kam, griff Aldo nach dem Türgriff. Er spürte, wie Joey ihn am Arm festhielt.

»Mr D. Lassen Sie mich da reingehen. Sie warten hier draußen.«

Aldo schüttelte die Hand ab. »Ich weiß, wofür du angestellt bist, Joey, aber hör auf, mir damit auf die Nerven zu gehen.«

Joey breitete die Hände aus und zuckte die Achseln. »Bitte. Sie sind der Boss. Aber ich finde immer noch, dass das nicht gut ist, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Joey war in Ordnung. Aldo wusste, wie er sich fühlte. Er war Aldo D’Amicos Fahrer und Leibwächter, also war er für die Drecksarbeit zuständig. Und soweit es Aldo betraf, konnte Joey auch gern den größten Teil davon erledigen. Aber nicht alles. Aldo würde sich nicht immerzu im Hintergrund verstecken wie Tony C. Verdammt, zu seiner Zeit hätte Tony in der Gegend hier herumspazieren können und kaum jemand hätte ihn erkannt. Für die Leute war er nur ein Einwanderer wie alle anderen auch. Das war vielleicht seine Art, aber ganz bestimmt nicht die von Aldo. Jeder sollte wissen, wer er war. Und wenn er vorbeiging, dann würde es heißen: »Guten Morgen, Mr D’Amico!«, »Hätten Sie gern einen von diesen schönen Äpfeln, Mr D’Amico?«, »Wie wäre es mit einem Kaffee, Mr D’Amico?«, »Bitte, hier entlang, Mr D’Amico!« Die Leute würden ihn erkennen und ihn mit Respekt behandeln. Er hatte nach all den Jahren etwas Respekt verdient. Im nächsten Monat wurde er fünfundvierzig. Er hatte viel zu lange für Tony ›die Kanone‹ die Drecksarbeit gemacht. Er kannte die ganze Operation von Grund auf. Jetzt gehörte sie ihm. Und jeder sollte das wissen.

»Ich werde das erledigen, so wie gestern«, erklärte er Joey. »Wie ich schon sagte: Ich finde, manchen Sachen muss man seine persönliche Aufmerksamkeit schenken.«

Was er dabei nicht sagte, war, dass er diese Strafaktionen mochte. Das war das einzig Unangenehme daran, wenn man in der Organisation aufstieg – später gab es keine Gelegenheiten mehr, Pennern wie diesem Schlitzauge, dem diese Wäscherei gehörte, zu zeigen, wo es langging. In all den Jahren, als Tony C. noch den Laden schmiss, hatte es nie einen Pieps von diesem kleinen gelben Bastard gegeben, aber kaum ist er unter der Erde, da denkt das Schlitzauge, es könne sich von dem neuen Boss abnabeln. Nicht mit mir, Kleiner. Nicht, wenn der neue Boss Aldo D’Amico heißt.

Er hoffte, das Schlitzauge würde wieder damit anfangen, dass sein Laden nicht mehr für Übergaben zur Verfügung stehe. Er brauchte irgendeinen Grund, um ihn noch einmal wie vor ein paar Tagen durch die Mangel zu drehen.

»Na gut«, sagte Joey und schüttelte frustriert den Kopf, »aber ich komme mit, um Ihnen den Rücken freizuhalten. Nur für den Fall.«

»Sicher, Joey. Du kannst die Wäsche tragen.«

Aldo lachte und Joey lachte mit.

 

Jack war mit ein paar dreckigen Hemden gegen halb vier in Trams Wäscherei aufgetaucht. Er trug Jeans, eine Militärjacke und eine Baseballmütze, die er tief über die Augen gezogen hatte, und jetzt saß er auf einem der drei Stühle und las die Post, während Tram die Hemden durch die Maschine schickte. Es war nur ein winziger Ein-Raum-Betrieb, dessen Mietkosten Tram wahrscheinlich langsam auffraßen. Nur manchmal half ein Schuljunge nachmittags hinter dem Tresen aus und wurde von Tram immer auf einen Botengang geschickt, wenn eine Lieferung oder Abholung anstand.

Jack beobachtete die ein- und ausgehenden Kunden, einen bunt zusammengewürfelten Haufen von Leuten, die aber offenbar alle nicht mit Reichtümern gesegnet waren. Aldo D’Amico und sein Leibwächter fielen schon aufgrund ihrer teuren Mäntel in der Masse auf, als sie Punkt vier Uhr den Laden betraten. Aldo trug einen dunkelgrauen Mantel mit einem Pelzkragen, wie Jack ihn seit den Tagen der Beatles nicht mehr gesehen hatte. Ein solariumgebräunter Mittvierziger mit einer lockigen Fönfrisur, die auf beiden Seiten deutlich schütter wurde. Jack wusste, dass es sich um Aldo handeln musste, weil der andere ein Muskelberg war und einen Packen dreckiger Wäsche trug.

Jack bemerkte, dass der zweite Mann ihn genau in Augenschein nahm. Man hätte ihm genauso gut ein Schild mit der Aufschrift LEIBWÄCHTER auf den Rücken pappen können. Jack sah auf, musterte die beiden desinteressiert von oben bis unten und widmete sich dann wieder der Sportseite.

»Hast du was für mich, Schlitzauge?«, fragte Aldo und grinste wie ein Haifisch, während er mit den Knöcheln seiner rechten Hand gegen die Handfläche der linken klatschte.

Jack seufzte. Er kannte diese Sorte. Die meisten harten Jungs würden nicht zögern, jemandem Gewalt anzutun und wenn nötig sogar umzubringen, aber für die war das, als würde man im strömenden Regen auf einer belebten Straße mit dem Auto fahren: Man tat das zwar nicht gerne, aber man tat es, weil es einen an sein Ziel brachte; und wenn man es sich leisten konnte, dann bezahlte man jemanden dafür, der das für einen erledigte.

Aber nicht dieser Aldo. Jack spürte, dass er Spaß daran hatte, Menschen zu verprügeln.

Vielleicht ließ sich das gegen ihn verwenden. Jack hatte noch keinen Plan. Sein Wagen stand draußen vor der Tür. Er hatte vor, sich an Aldo zu hängen, falls das machbar war, und ihn ein paar Tage zu beschatten. Irgendwann würde ihm schon eine Idee kommen, wie er ihm etwas anhängen könnte. Dann musste er einen Weg finden, diese Idee zu Trams Nutzen einzusetzen. Dies würde sich hinziehen und sehr viel Fingerspitzengefühl erfordern.

Am Tresen legte Tram mürrisch ein in braunes Packpapier gewickeltes Bündel auf die Arbeitsplatte. Der Leibwächter nahm das Paket entgegen und ließ die dreckige Wäsche an dessen Stelle fallen. Tram ignorierte sie.

»Bitte, Mr Aldo«, sagte er. »Ich das nicht mehr tun wollen.«

»Junge, du bist ein ziemlich blödes Schlitzauge, weißt du das?« Er wandte sich an seinen Leibwächter. »Joey, mach doch mal einen kleinen Spaziergang mit dem Kunden da, während ich mich mit unserem vietnamesischen Freund hier über das Geschäft unterhalte.«

Jack spürte, wie ihm auf die Schulter getippt wurde, und sah von seiner Zeitung hoch in Joeys überraschend sanfte Augen.

»Kommen Sie. Ich spendiere Ihnen einen Kaffee.«

»Meine Hemden sind gleich fertig«, sagte Jack.

»Die laufen nicht weg. Mein Boss will sich mit dem Besitzer ungestört unterhalten.«

Jack war sich nicht sicher, was er jetzt tun sollte. Er war nicht darauf vorbereitet, sich einzumischen, aber er konnte Tram nicht erneut Aldos handgreiflichen Überredungsversuchen überlassen.

»Dann sollen sie sich da hinten unterhalten. Ich gehe nirgendwo hin.«

Joey griff ihm unter den Arm und zog ihn von seinem Stuhl hoch. »Doch. Das wirst du.«

Jack fuhr aus dem Stuhl hoch und stieß Joeys Arm zur Seite.

»Hände weg, Mann.«

Jack sah nur eine Möglichkeit, in dieser Situation die Oberhand zu behalten: Er musste eine Psycho-Nummer abziehen. Er blickte auf Joeys fleischige Gestalt und den schweren Mantel und wusste, dass ein Angriff auf den Körper wirkungslos bleiben würde. Damit blieb nur das Gesicht.

»Finger weg von mir!«, brüllte er. »Ich kann es nicht leiden, wenn man mich anfasst. Das macht mich wütend! Wirklich wütend!«

Joey ließ das braune Packpapierbündel auf einen der Stühle fallen. »Das reicht jetzt. Schluss mit dem Blödsinn!« Er ging auf Jack zu, ergriff ihn an den Schultern und versuchte, ihn Richtung Tür zu drehen.

Jack griff zwischen Joeys Armen hindurch nach oben, packte die Ohren und riss den Kopf des Leibwächters nach vorn. Als er seinen Kopf senkte und zustieß, erhaschte er einen ganz kurzen Blick auf den resignierten Blick in Joeys überraschtem Gesicht. Er hatte mit diesem Angriff nicht gerechnet, aber er wusste genau, was jetzt kam.

Nachdem Jack Joeys Nase gegen seine Schädeldecke krachen hörte, stieß er ihn zurück und trat ihm hart in den Schritt. Joey ging in die Knie und stöhnte. Sein blutiges Gesicht war vor Schmerzen und Übelkeit ganz schlaff.

Als Nächstes sprang Jack auf Aldo zu, der ihn mit offenem Mund anstarrte.

»Willst du auch was von mir?«, kreischte er.

Aldos Mantel war aufgeknöpft und er war magerer als Joey. Jack richtete seine Attacke gegen seinen Brustkasten. Eine Rechts-Links-Kombination auf den Solarplexus, dann ein Knie in das Gesicht, als Aldo sich zusammenkrümmte. Der Mafioso fiel um wie ein nasser Sack.

Aber noch war es nicht vorbei. Joey griff mit einer Hand in seine Manteltasche. Jack warf sich auf ihn und entwand ihm einen kurznasigen Cobra.357 Revolver.

»Eine Pistole? Du willst mich mit einer Scheiß-Pistole bedrohen, Mann?« Er prügelte mit dem Lauf und dem Sicherungsbügel auf Joeys Schläfe ein. »Scheiße, davon werde ich wirklich wütend!«

Dann wirbelte er herum und richtete die Mündung der Pistole auf die Spitze von Aldos anschwellender Nase.

»Du da! Du hast damit angefangen! Du hattest etwas dagegen, dass ich meine Hemden bekomme! Scheiße, du kannst sie haben! Die sind sowieso alt! Ich nehme dafür deine! Alle!«

Er griff sich den Haufen dreckiger Hemden vom Tresen und wandte sich dann zu dem Stuhl, auf dem das braune Paket lag.

»Jesus, nein!«, rief Aldo. »Nein! Sie wissen ja nicht …«

Jack sprang zu ihm hin und begann, mit der Pistole auf ihn einzuschlagen. »Mir sagt keiner, was ich alles nicht weiß!«

Als Aldo seinen Kopf mit den Armen abschirmte, sah Jack zu Tram und gab ihm einen Wink einzuschreiten. Tram verstand, was er vorhatte. Er kam hinter seinem Tresen hervor und stieß Jack zur Seite, aber vorher hatte Jack Aldos Kopfhaut noch ein paar Platzwunden beigebracht.

»Sie jetzt gehen!«, rief Tram. »Sie gehen oder ich rufen Polizei!«

»Ja, ich gehe schon, aber nicht bevor ich in dieses reiche Schwein hier nicht noch ein paar Löcher geschossen habe!«

Tram stand zwischen Jack und Aldo. »Nein. Sie jetzt gehen! Sie genug Ärger gemacht!«

Jack schnaubte angeekelt und stürmte mit beiden Bündeln hinaus. Draußen stand ein leerer Mercedes 350 SEL mit laufendem Motor am Randstein neben einem Hydranten. Warum nicht?

Während er den schweren Schlitten der Canal Street entgegensteuerte, machte er sich Gedanken über seinen Auftritt als kreischender Irrer. Ziemlich überzeugend. Und er musste sich kaum verstellen. Er hatte sich problemlos in die Rolle gefunden und sie wirklich ausgelebt.

Das beunruhigte ihn etwas.

 

»Fünfzigtausend in kleinen Scheinen«, sagte Abe, nachdem er das Geld gezählt hatte, das zwischen die dreckige Wäsche gesteckt worden war. Er hatte es in ordentlichen kleinen Stapeln auf einer Kiste im Keller seines Ladens ausgebreitet. »An deiner Stelle würde ich mich nicht beschweren. Ganz schöner Stundenlohn für einen Nachmittag Arbeit.«

»Ja. Aber da sind noch die zehn Kilo Kokain und die dreißig Kilo H.« Ein Teil des Heroins war in dem Packpapierpaket gewesen. Das Kokain und den Rest des Heroins hatte er in einer Reisetasche im Kofferraum des Mercedes gefunden. »Was soll ich damit anfangen?«

»Draußen vor der Tür ist ein Gully. Das nächste Mal, wenn es regnet …«

Jack dachte darüber nach. Das Heroin würde er auf jeden Fall in die Kanalisation schütten. Alle Alligatoren oder Krokodile, die da unten leben mochten, würden für den Rest ihres Lebens weggetreten sein. Aber das Kokain … das mochte sich in Zukunft noch als nützlich erweisen, so wie es damals die falschen Zwanziger bei Cirlot gewesen waren.

Cirlot. Irgendwas an der Sache rumorte in seinem Hinterkopf.

»Ich wollte immer schon mal einen Mercedes haben«, sagte Abe.

»Wofür? In den letzten fünfundzwanzig Jahren bist du nicht weiter nach Osten gekommen als bis nach Queens und nicht weiter nach Westen als bis zur Columbus Avenue.«

»Vielleicht möchte ich ja irgendwann einmal reisen. Mir New Jersey ansehen.«

»Sicher. Das ist gar keine schlechte Idee. Es gibt wirklich keine bessere Methode, sich New Jersey anzusehen, als aus einem Mercedes heraus. Aber es ist zu spät. Ich habe Julio den Wagen gegeben, um ihn verschwinden zu lassen.«

Abe ließ die Schultern hängen. »Die haben ihn zerlegt?«

Jack nickte. »Das gibt schnelles Geld. Er schätzt, noch mal zehn Riesen Minimum, vielleicht sogar zwanzig.«

Damit hatte ihm der Besuch in Trams Wäscherei sechzig bis siebzig Riesen eingebracht. Das bedeutete, dass Jack Tram seine Vorauszahlung zurückerstatten und sich diesen Job von ihm nicht bezahlen lassen würde. Was zwar für Trams Bankkonto sehr gut war, aber trotzdem hatte Jack keine Ahnung, wie er jetzt weiter vorgehen sollte. Er hatte die Sache in Bewegung gebracht. Jetzt war es vielleicht am besten, sich zurückzulehnen und abzuwarten, was als Nächstes geschah.

Er machte sich auf den Weg zu Gia. Er hielt sich in den Schatten und sah immer wieder über die Schulter. Cirlot hatte offenbar gewusst, wo er hin wollte und wann er da ankommen würde. Beobachtete er ihn auch in diesem Augenblick?

Es gefiel Jack nicht, selbst in der Schusslinie zu stehen.

Aber wie kam Cirlot an sein Wissen? Das nagte an ihm. Jack wusste, seine Wohnung war nicht verwanzt – da kam niemand hinein. Außerdem wusste Cirlot nicht, wo er wohnte. Und selbst wenn, dann hatte er keinerlei Möglichkeit dort eine Wanze zu hinterlassen. Trotzdem schien er zu wissen, wo Jack sich herumtrieb und was er vorhatte. Wieso?

Jack ging einmal um den kompletten Block und wechselte sogar einmal die Richtung, indem er durch eine Seitenstraße ging, bevor er es für sicher hielt, ihr Apartmenthaus zu betreten.

Zwei Spione waren in Gias Tür eingelassen. Jack hatte sie selbst eingebaut. Einer war in der üblichen Höhe, der andere auf Vicky-Höhe. Er klopfte, stand da und hielt seinen Daumen auf das untere Guckloch, während er wartete.

»Jack, bist du das?«, kam eine Kinderstimme von der anderen Seite der Tür.

Er nahm seinen Daumen weg und grinste in die Glaslinse.

»Ta-daaa!«

Der Sicherheitsriegel wurde zurückgezogen, die Tür schwenkte nach innen und plötzlich hielt er ein mageres achtjähriges Mädchen im Arm. Sie hatte langes dunkles Haar, blaue Augen und ein strahlendes Lächeln.

»Jack! Was hast du mir mitgebracht?«

Er deutete auf die Brusttasche seiner Militärjacke. Vicky griff hinein und zog eine Packung Kaugummisammelkarten heraus.

»Footballkarten! Super! Was meinst du, ob da irgendwelche Jets-Karten drin sind?«

»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.«

Er trug sie hinein und setzte sie ab. Dann verschloss er die Tür hinter sich, während sie mit der Verpackung kämpfte.

»Jack!«, sagte sie und ihre Stimme war gedämpft vor Ehrfurcht. »Das sind alles Jets-Karten! Nur Jets! Super!«

Gia kam ins Wohnzimmer. »Die einzige Achtjährige in New York, die ›super‹ sagt. Wo sie das wohl herhat?«

Sie gab ihm einen sanften Kuss und er schlang den Arm um ihre Hüfte und zog sie an sich. Sie hatte die gleichen blauen Augen wie ihre Tochter und das gleiche fröhliche Lächeln, allerdings war ihr Haar blond. Für Jack brachte sie den ganzen Raum zum Strahlen.

»Ich weiß ja nicht, wie du das siehst«, sagte er. »Aber ich finde es schon ziemlich toll, wenn man fünf – ich wiederhole, fünf – Karten von Spielern seines Lieblingsvereins in einer einzigen Packung mit Kaugummibildern findet. Ich kenne niemand anderes, der jemals so viel Glück gehabt hat.«

Jack hatte mehr als ein Dutzend Packungen gebraucht, bis er diese fünf Karten zusammenhatte, dann hatte er sie alle in eine Verpackung geschoben und die Kanten wieder zugeklebt. Vicky hatte eine Schwäche für die Jets, weil ihr die grün-weißen Trikots gefielen. Und das war ein genauso guter Grund wie alle anderen, um ein Jets-Fan zu sein.

»Hast du schon mit der Vorbereitung für das Essen begonnen?«, fragte er.

Gia schüttelte den Kopf.

»Ich wollte gerade damit anfangen. Warum?«

»Ich muss absagen. Ich habe heute noch ein paar Dinge zu erledigen.«

Sie runzelte die Stirn. »Doch nichts Gefährliches, hoffe ich.«

»Nee.«

»Das sagst du immer.«

»Ja, stimmt doch auch. Ich meine, nachdem wir diese blauen Viecher letztes Jahr überlebt haben, ist alles andere nur ein Zuckerschlecken.«

»Erwähne diese Monster nicht.« Gia schauderte und schmiegte sich an ihn. »Versprich mir, dass du mich anrufst, wenn du wieder zu Hause bist.«

»Ja, Mama.«

»Ich meine es ernst. Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Damit hast du gerade meinen Tag gerettet.«

Sie löste sich von ihm und holte eine flache Pappschachtel von der Couch. »Land’s End« stand auf einer Seite.

»Deine Bestellung ist heute angekommen.«

»Toll.« Er packte eine leuchtend rote Jacke mit marineblauen Nähten aus. Dann schälte er sich aus der Militärjacke und probierte seine Neuerwerbung an. »Sitzt wie angegossen. Und, wie seh ich aus?«

»Wie jeder Dritte in Manhattan«, sagte Gia.

»Klasse!«

»Jetzt brauchst du nur noch ein Sweatshirt mit einem Hardrock-Cafe-Logo und der Aufzug ist perfekt.«

Jack war sehr darauf bedacht, unauffällig zu sein; ein Wesen, das unter all den anderen in der Menge kein bisschen herausstach. Um das zu erreichen, musste er immer beobachten, was die Menge so trug. Und weil er keine Kreditkarte besaß, hatte Gia das Outfit mit ihrer Karte bestellt.

»Ich stelle den Backofen besser wieder aus«, sagte sie.

»Das Essen morgen Abend geht auf mich. Chinesisch. Versprochen.«

»Sicher«, brummte sie. »Ich glaube das erst, wenn es vor mir steht.«

Jack stand da in dem winzigen Wohnzimmer, sah zu, wie Vicky ihre Sammelkarten ausbreitete, lauschte über das Hintergrundgeräusch der Nachrichten hinweg, wie Gia in der Küche hantierte, und sog die Geräusche und die Betriebsamkeit und die Ruhe eines Heims in sich auf. Die alltägliche Normalität dieser kleinen Wohnung – das war etwas, was er sich wünschte. Aber sie schien so weit außerhalb seines Lebens. Er konnte kommen und sich daran wärmen, aber er konnte nicht bleiben. So sehr er es auch wollte, er konnte das Gefühl nicht festhalten und mit sich nehmen.

Sein Problem war sein Beruf. Er hatte Gia nie gebeten, ihn zu heiraten, weil er wusste, dass sie Nein sagen würde. Wegen dem, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Und aus dem gleichen Grund würde er sie auch nicht fragen: Weil er so seinen Lebensunterhalt verdiente. Eine Ehe würde ihn angreifbar machen. Er konnte Gia und Vicky einem solchen Risiko nicht aussetzen. Zuerst müsste er seinen Job aufgeben. Aber er war noch nicht einmal vierzig. Was sollte er in den nächsten dreißig oder vierzig Jahren anstellen, um nicht wahnsinnig zu werden?

Ein braver Bürger werden? Einen normalen Beruf ergreifen? Wie sollte er das tun? Wie sollte er erklären, dass es bisher keine Hinweise auf seine Existenz gab? Er hatte keine Berufserfahrung, keine Rentenansprüche, keine Einkommenssteuererklärungen. Die Steuerbehörden würden fragen, ob er ein illegaler Einwanderer oder ein Alien von einem fremden Planeten oder so etwas sei. Und wenn dem nicht so war, dann würden sie noch viel unangenehmere Fragen stellen, die er nicht beantworten wollte.

Er fragte sich, ob er etwas begonnen hatte, das er nicht mehr zu stoppen vermochte.

Und dann sah er zwischen den Windowcolor-Bildern auf Gias Wohnzimmerfenster hinaus auf das Dach des Mietshauses auf der anderen Straßenseite und erinnerte sich an die Kugeln, die das Fenster des Hotelzimmers vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden durchschlagen hatten. Seine Haut juckte warnend. Er fühlte sich hier angreifbar. Und schlimmer noch, er setzte auch Gia und Vicky dieser Gefahr aus. Hastig wiederholte er sein Bedauern und verabschiedete sich, dann küsste er sie beide und eilte zurück auf die Straße.

Dann stand er vor dem Mietshaus und ging langsam vor dem Eingang auf und ab.

Na komm schon, du Scheißkerl. Weißt du, dass ich hier bin? Versuch irgendetwas! Lass es mich wissen!

Niemand schoss auf ihn. Nichts fiel vom Dach.

Jack dehnte seine verkrampften Finger, die er zu Fäusten geballt hatte. Er stellte sich vor, dass irgendein mieser Gauner wie Cirlot von Gia und Vicky erfahren könnte, und sie bedrohte, ihnen vielleicht sogar etwas antat … allein der Gedanke trieb ihn schon in den Wahnsinn.

Er machte sich auf den Weg zu seiner eigenen Wohnung. Er ging eilig, dann begann er zu rennen, um so die Wut und die steigende Frustration abzubauen.

Das musste ein Ende haben. Und das würde es auch. Noch heute, wenn sich das irgendwie bewerkstelligen ließ.

 

Jack hielt an einem öffentlichen Fernsprecher an und wählte Trams Nummer. Der Vietnamese erzählte ihm, dass Aldo und sein Leibwächter aus der Wäscherei gehumpelt waren und sich ein Taxi genommen hatten. Sie hatten die ganze Zeit Verwünschungen gegen den Kerl, der sie zusammengeschlagen hatte, vor sich hin gemurmelt. Tram war besorgt, dass Aldo seine Wut an ihm auslassen würde, wenn Jack nicht auffindbar war. Das war eine Sorge, die Jack teilte. Er rief seinen Anrufbeantworter an, auf dem aber nichts von Interesse hinterlassen worden war.

Als er wieder auflegte, fiel ihm etwas ein: Cirlot und Telefone. Ja. Auf die Art war der Erpresser zu seinen Opfern gekommen. Der Kerl war ein Ass darin, Telefonleitungen anzuzapfen.

Jack trabte zu seinem Wohnhaus zurück. Aber statt nach oben zu seiner Wohnung zu fahren, schlich er sich in den Schaltraum. Er öffnete den Telefonverteiler und bemerkte sofort die Abhöranlage: Kleine Klemmschuhe, die zu einem Hochfrequenzsender führten. Cirlot hatte wahrscheinlich irgendwo in der Nähe einen stimmaktivierten Recorder versteckt.

Jetzt ergab langsam alles einen Sinn. Cirlot hatte von Levinson erfahren, dass Jack seine Klienten bei Julio traf. Er hatte vor der Kneipe gewartet, bis Jack auftauchte, und war ihm dann nach Hause gefolgt.

Jack schnalzte verärgert mit der Zunge. Er wurde leichtsinnig auf seine alten Tage.

Wenig später hatte sich Cirlot dann wahrscheinlich als Mitarbeiter der Telefongesellschaft ausgegeben und sich Zutritt verschafft, die Abhöranlage installiert und dann gewartet. Jack hatte das Telefon in seiner Wohnung benutzt, um das Hotelzimmer zu reservieren … und am Morgen hatte er Julio angerufen, um ihm zu sagen, dass er um halb elf da sein würde. Es passte alles zusammen.

Jack schloss den Verteilerkasten wieder, ließ die Schaltung aber unangetastet.

Dieses Spiel ließ sich nämlich auch zu zweit spielen.

Jack räkelte sich zwischen den klobigen viktorianischen Eichenmöbeln und all dem Krimskrams, der das Wohnzimmer seines Apartments im Chaos versinken ließ, und rief George in dessen Imbiss an. Dies war sein zweiter Anruf bei ihm innerhalb einer halben Stunde, nur dass der erste Anruf aus einer öffentlichen Telefonzelle erfolgt war. Er hatte George auf diesen zweiten Anruf vorbereitet und ihm erklärt, was er sagen solle.

»Hallo George«, sagte er, als der ans Telefon ging. »Hast du die nächste Rate von deinen Geschäftspartnern zusammen?«

»Ja. Wir haben das Geld. Bar, wie üblich.«

»Braver Junge. Ich werde gegen Mitternacht da sein, um es abzuholen.«

»Ich werde hier sein«, antwortete George.

Jack legte auf und dachte nach. Der Köder war gelegt. Wenn Cirlot mitgehört hatte, dann standen die Chancen ziemlich gut, dass er irgendwo in der Nähe des Highwater Diners gegen Mitternacht eine Falle legen würde. Aber Jack beabsichtigte, vor ihm da zu sein, um Cirlot bei den Vorbereitungen zu überraschen. Dann würde er seine Rechnung mit ihm begleichen. Endgültig. Jack würde nicht zulassen, dass jemand seine Spur zu Gia und Vicky zurückverfolgte, vor allem nicht jemand, der einem seiner früheren Klienten die Zehen abgeschnitten hatte.

Eine halbe Stunde später auf seinem Weg durch die Stadt rief Jack erneut seinen Anrufbeantworter ab. George hatte ihm eine Nachricht hinterlassen und gebeten, er möge sofort zurückrufen. Als er das tat, hörte er eine merkwürdige Geschichte.

»Ich habe dich gebeten, was zu tun?«

»Ich soll dich in der leer stehenden Fabrikhalle nebenan treffen«, erzählte George. »Du hast gesagt, du hättest umdisponieren müssen, und es wäre wahrscheinlich sicherer, wenn du dich nicht im Restaurant sehen lässt. Ich soll also um halb elf in das Gebäude nach nebenan gehen und dir dort das Geld übergeben.«

Jack musste lächeln. Dieser Cirlot war schlauer, als er gedacht hatte.

»Klang das nach mir?«

»Schwer zu sagen. Die Leitung war ziemlich schlecht.«

»Was hast du gesagt?«

»Ich war einverstanden, aber die Sache kam mir komisch vor, weil es nicht das war, was wir ausgemacht hatten. Und außerdem hast du gesagt, du würdest eine Skimaske tragen, so wie gestern Nacht. Das kam mir auch komisch vor.«

»Guter Junge. Danke für den Anruf. Ruf mich wieder an, falls du noch einen Anruf von jemandem bekommst, der behauptet, ich zu sein.«

»Werde ich machen.«

Jack legte auf. Statt sich ein Taxi zu rufen, um nach Downtown zu fahren, ging er in die nächste Kneipe und bestellte ein frisch gezapftes Bier.

Die Sache wurde immer merkwürdiger.

Cirlot schien es mehr darum zu gehen, ihn zu berauben als ihn umzubringen – wenigstens, was heute Nacht anging. Tom Levinsons Worte kamen ihm wieder in den Sinn. Er sagt, er macht dich erst mal fertig, bevor er dich dann endgültig auf Eis legt.

Darum ging es also. Ein weiteres Teil passte in das Puzzle. Der Zementsack hatte ihn verfehlt. Na ja – niemand konnte davon ausgehen, dass man mit einem so unhandlichen Objekt ein bewegliches Ziel präzise treffen konnte. Aber der Schütze vor dem Hotel hatte ein Zielfernrohr gehabt. Jack war ein leichtes Ziel gewesen. Der Kerl hätte ihn nicht verfehlen können.

Es sei denn, er hatte das mit Absicht getan. So musste es sein. Cirlot spielte Psycho-Spielchen mit ihm, und wollte ihn so lange verunsichern, bis er eine Gelegenheit bekam, ihn zu demütigen, ihn bloßzustellen und wie einen Trottel dastehen zu lassen. Er wollte Gleiches mit Gleichem vergelten, bevor er Jack tötete.

Und ihn um das Honorar für einen seiner Aufträge zu bringen, wäre ein guter Anfang.

In Jacks Arger spielte leises Amüsement mit hinein.

Er setzt meine eigenen Methoden gegen mich ein.

Aber das würde er nicht lange tun. Jack hatte in diesen Dingen weit mehr Erfahrung. Es war sein Spiel. Er hatte es erfunden und er wollte verdammt sein, wenn er sich dabei von Cirlot schlagen ließe. Das Einfachste wäre es jetzt, Cirlot in der alten Fabrikruine gegenüberzutreten und es miteinander auszutragen.

Simpel, direkt, effektiv, aber stillos. Er musste sich hier etwas wirklich Originelles einfallen lassen. Ein Meisterstück.

Und dann, als er das Glas hob, um den letzten Schluck seines Biers zu leeren, wusste er auch wie.

 

Reilly wartete am Billardtisch darauf, dass er an der Reihe war. Eigentlich war ihm gar nicht danach. Jetzt, wo Reece und Jerry tot waren, waren alle frustriert und wütend. Seit gestern Nacht hatten sie nur noch ein Thema gehabt – wie konnten sie diesen Kerl mit der Maske finden? Den ganzen Tag über war nur einmal so etwas wie ein Lachen aufgekommen, und das war, als sie erfahren hatten, dass Reece mit wirklichem Namen Maurice hieß.

In diesem Moment rief Gus von der Bar herüber. Er hielt den Hörer des Telefons in die Luft.

»Hey, Reilly! Dein Typ wird verlangt!«

»Ach ja? Von wem?«

»Er sagt, ich soll dir sagen, es ist der Kürbiskopf.«

Reilly stolperte beinahe über sein Queue, so eilig hatte er es, zum Telefon zu kommen. Cheeks und die anderen folgten ihm auf dem Fuße.

»Ich krieg dich, du Arschloch!«, fauchte er, kaum dass er den Hörer am Ohr hatte.

»Ich weiß, dass du das wirst«, sagte eine Stimme am anderen Ende der Leitung. »Weil ich dir nämlich erzählen werde, wo ich bin. Wir müssen uns treffen. Heute Nacht. Bei unserem letzten Aufeinandertreffen hast du zwei Leute verloren und ich wäre beinahe draufgegangen. Was hältst du von einem Waffenstillstand? Wir können bestimmt einen Weg finden, die Geschäfte so aufzuteilen, dass wir dabei beide unseren Schnitt machen.«

Reilly schwieg, während er versuchte, die Ruhe zu bewahren. War dieser Scheißkerl – wahnsinnig? Ein Waffenstillstand? Nach dem, was er gestern angerichtet hatte?

»Sicher«, quetschte er hervor. »Lass uns reden.«

»Gut. Nur du und ich.«

»Einverstanden.« Einen Teufel werde ich tun! »Wo?«

»Die alte Bruchbude, in der wir gestern waren – neben dem High water. Passt halb elf?«

Reilly sah auf seine Uhr. Damit hatte er noch anderthalb Stunden. Massig Zeit.

»Sicher.«

»Gut. Und denk dran, Reilly: Du kommst allein oder der Waffenstillstand gilt nicht mehr.«

»Verstanden.«

Er legte auf und wandte sich seinen angeschlagenen Jungs zu. So wie Rafe, Tony und Cheeks alle mit Verbänden herumliefen und Cheeks die Hand in Gips hatte, machten sie einen jämmerlichen Eindruck. Kaum zu glauben, dass das alles auf das Konto von einem einzigen Kerl ging. Aber dieser eine Kerl war ein bösartiger Bastard voller Tricks. Sie würden diesmal kein Risiko eingehen. Kein Gerede.

Keine Kompromisse. Kein Zögern. Keine Gnade. Sie würden sich mit allem, was sie hatten, auf ihn stürzen.

»War das wirklich der Kerl?«, fragte Cheeks.

»Ja«, sagte Reilly mit einem Lächeln. »Und heute Abend machen wir Kürbismus.«

 

»Aldo, dieser Mann besteht darauf, mit dir zu sprechen!«

Aldo D’Amico funkelte seine Frau wütend an und nahm den Eisbeutel von seinem Gesicht. Er hatte mörderische Kopfschmerzen wegen der Abschürfungen und den Nähten auf seinem Schädel. Seine Nase machte ihn wahnsinnig. Doppelt gebrochen. Aufgrund der Schwellung hörte er sich an, als habe er eine schwere Grippe.

Er grübelte zum hundertsten Mal über den Kerl in der Wäscherei nach. Hatte das Schlitzauge ihm eine Falle gestellt? Aldo wollte das glauben, aber irgendwie passte es nicht zusammen. Wenn der es auf Aldo abgesehen hätte, dann hätte in der Wäscherei eine Armee von Schlitzaugen auf ihn gewartet, nicht ein einziger Weißer. Der aber wirklich verdammt schnell gewesen war! Blitzschnell. Eine Kopfnuss und ein Tritt und Joey war ausgeschaltet, und dann hatte er sich mit irrem Blick auf Aldo gestürzt. Nein. Das war keine Falle gewesen. Nur irgend so ein durch geknallter Typ. Aber das machte die Sache um nichts besser.

»Maria, ich habe dir doch gesagt, ich bin nicht zu sprechen!«

Es war schon schlimm genug, dass er sich zum Gespött der Leute gemacht hatte, weil er dumm genug gewesen war, sich verprügeln und das Auto stehlen zu lassen, und schlimmer war natürlich noch, dass er für das fehlende Geld und den Stoff geradestehen musste. Warum konnte Maria da nicht wenigstens eine so einfache Anweisung befolgen? Er hätte heute Nacht gar nicht erst kommen sollen. In Franny’s Loft in der Greene Street wäre er bestimmt besser aufgehoben. Franny tat, was man ihr sagte. Das sollte sie auch besser. Schließlich bezahlte er ihre Miete.

»Aber er sagt, er weiß, wo dein Auto ist.«

Aldos Hand schoss vor. »Her damit! Hallo?«

»Entschuldigen Sie, Mr D’Amico.« Die Stimme am anderen Ende klang sehr unterwürfig. »Es tut mir außerordentlich leid, was da heute in der Wäscherei passiert ist. Wenn ich gewusst hätte, dass es sich um jemanden wie Sie handelt, dann hätte ich keinen Arger gemacht. Aber das wusste ich nicht, müssen Sie wissen, aber ich werde nun mal so leicht wütend, und es tut mir wirklich sehr leid …«

»Wo ist der Wagen?«, fragte Aldo mit drohender Stimme.

»Ich habe ihn sicher abgestellt und ich will ihn zurückgeben, zusammen mit dem Geld und der – äh, der Wäsche und dem anderen Zeug im Kofferraum, wenn Sie wissen, was ich meine, und ich glaube, das tun Sie.«

Das kleine Arschloch hatte Angst. Gut. Er hatte eine solche Scheißangst, dass er alles zurückgeben wollte. Sogar noch besser. Aldo seufzte erleichtert auf.

»Wo ist der Wagen?«

»Ich sitze gerade darin. Wissen Sie, ich habe Sie über das Autotelefon angerufen. Aber ich werde ihn irgendwo abstellen und Ihnen sagen, wo Sie ihn abholen können.«

»Sie werden ihn nirgendwo abstellen! Jemand könnte ihn aufbrechen, bevor ich dahin komme, und dann wären Sie schuld daran! Wir treffen uns …«

»Oh nein! Ich lasse mich nicht abknallen!«

Doch, das wirst du, dachte Aldo und erinnerte sich daran, wie ihm der Kerl Joeys Knarre an den Kopf gehalten hatte.

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, sagte Aldo beschwichtigend. »Sie haben sich entschuldigt und Sie geben den Wagen zurück. Es war ein Versehen. Wir sind quitt. Außerdem gefällt es mir, wie schnell sie sind. Sie haben Joey wirklich alt aussehen lassen. Sie haben mir damit sogar einen Gefallen getan. Das hat mir gezeigt, wie schlecht es um meinen Personenschutz bestellt ist.«

»Tatsächlich?«

»Ja, ich könnte jemanden wie Sie gebrauchen. Was halten Sie davon, Joeys Stelle zu übernehmen?«

»Sie meinen als Ihr Leibwächter? Ich weiß nicht, Mr D’Amico.«

»Denken Sie darüber nach. Wir reden darüber, wenn wir uns heute Abend treffen. Wo soll das sein?«

»Hmm, wie wäre es mit dem Highwater Diner. Das ist an der …«

»Ich weiß, wo das ist.«

»Gut, daneben ist ein leer stehendes Fabrikgebäude. Wie wäre es, wenn wir uns da treffen?«

»Fein. Wie spät?«

»Halb elf.«

»Das ist aber ziemlich knapp …«

»Ich weiß. Aber so ist mir wohler dabei.«

»Wie gesagt, machen Sie sich keine Sorgen! Wenn Aldo D’Amico jemandem sein Wort gibt, dann ist das so sicher wie das Amen in der Kirche!«

Und ich verspreche dir, du Psycho, du bist schon so gut wie tot!

»Okay, aber nur für den Fall, dass wir uns nicht einigen können, werde ich eine Skimaske tragen. Ich schätze, Sie haben sich mein Gesicht in der Wäscherei nicht sonderlich gut eingeprägt und ich will Ihnen keine Gelegenheit geben, das doch noch zu tun.«

»Ganz wie Sie wollen. Wir sehen uns um zehn Uhr dreißig.«

Er legte auf und rief zu seiner Frau hinüber: »Maria! Hol Joey an den Apparat! Sag ihm, er soll sofort herkommen!«

Aldo ging zu seiner Ankleide und zog die kleine Jennings.22 er Automatik heraus. Er wog sie in der Hand. Klein, leicht und mit Hochgeschwindigkeitsmunition geladen. Perfekt für den Einsatz aus nächster Nähe. Und Aldo wollte ganz nah vor diesem Typen stehen, wenn er abdrückte.

 

Kurz vor zehn kletterte Jack auf das Dach des Highwater Diners und bezog seinen Beobachtungsposten gegenüber der alten Fabrikhalle. Er sah, wie Reilly und fünf seiner Jungs – also die ganze Bande – kurze Zeit später auftauchten. Sie betraten das Gebäude durch den Hintereingang. Zwei von ihnen schleppten sich mit großen Seesäcken ab. Offenbar wurden da schwere Geschütze aufgefahren. Kurze Zeit später kamen Aldo und drei seiner Handlanger. Sie bezogen Posten in der Seitenstraße unter Jack und außer Sicht von der anderen Seite.

Es schien, als habe niemand vor, zu spät zu kommen.

Exakt um halb elf schlenderte eine einsame Gestalt in einem dunklen Mantel, Jeans und etwas, das wie eine Strickmütze aussah, über den Bürgersteig vor dem Highwater Diner. Sie blieb einen Augenblick stehen, und starrte durch das Fenster hinein. Jack hoffte, dass George sich außer Sicht halten würde, wie er ihm gesagt hatte. Die dunkle Gestalt ging weiter. Auf Höhe der Fabrik schaute der Mann sich um und steuerte dann auf das Gebäude zu. Als er sich dem klaffenden Loch des Vördereingangs näherte, zog er sich die Mütze über das Gesicht. Jack konnte die Zeichnung nicht genau erkennen, aber es schien ihm eine billige Imitation der Maske, die er am Abend zuvor getragen hatte. Alles, was nötig war, war etwas orange Farbe …

Bist du dir wirklich sicher, dass du heute Nacht als Handyman Jack auftreten willst, Kumpel?

Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, einen Warnruf auszustoßen und die Scharade zu beenden. Aber dann dachte er an ein Leben im Rollstuhl aufgrund eines herabgestürzten Zementsacks, an Levinsons fehlende Zehen, an Kugeln, die durch Vickys und Gias Wohnung peitschten.

Er blieb stumm.

Er sah zu, wie sich die Gestalt durch die Überreste der Eingangstür schob und im Innern des Gebäudes verschwand. In der Seitenstraße erhoben sich Aldo und Joey aus ihren Verstecken und sahen sich fragend an. Jack wusste, was Aldo jetzt dachte: Wo ist mein Auto?

Aber dann hechteten sie in Deckung, als die Schießerei begann. Es war nur ein kurzer Feuerstoß, aber sehr laut und sehr heftig. Jack unterschied das Geräusch von einzelnen Schüssen, Feuerstöße aus zwei Maschinenpistolen und mindestens zwei, vielleicht auch drei Schrotflinten, die alle zugleich feuerten. Kaum mehr als ein zusammenhängendes, andauerndes Mündungsfeuer aus dem Innern. Dann Stille.

Langsam und vorsichtig kamen Aldo und seine Jungs aus ihrem Versteck. Sie flüsterten und schienen ratlos. Einer von ihnen trug eine Uzi, ein anderer eine abgesägte Pumpgun. Jack sah zu, wie sie in der Halle verschwanden, dann hörte er Rufe und meinte sogar, das Wort »Auto« verstanden zu haben.

Dann brach die Hölle los …

Es schien, als tobe sich ein sehr kleiner, aber sehr bösartiger Hurrikan im Erdgeschoss der alten Fabrik aus. Der Lärm war ohrenbetäubend, die Lichtblitze durch die leeren Fenstereinfassungen waren wie ein halbes Dutzend Diskokugeln, die aus dem Takt geraten waren. Das Chaos wütete in unverminderter Heftigkeit weiter. Für Jacks Empfinden musste es zwanzig Minuten angedauert haben, seiner Uhr zufolge waren es aber nur fünf. Dann wurde es ruhiger und schließlich … Stille. Nichts rührte sich.

Nein. Halt. Jemand kroch da aus einem Seitenfenster und fiel in die Seitenstraße. Jack kletterte nach unten, um nachzusehen.

Reilly. Er blutete aus Mund, Nase und Bauch. Und er hatte Schmerzen.

»Ich brauche einen Krankenwagen, Mann!«, stöhnte er, als sich Jack über ihn beugte. Seine Stimme war kaum hörbar.

»Aber sicher doch, Matt«, sagte Jack.

Reilly sah zu ihm auf. Er riss die Augen auf. »Bin ich tot? Ich meine … wir haben dich da drin in Stücke geschossen.«

»Du hast den falschen Mann in Stücke geschossen, Reilly.«

»Ist ja egal … du kannst die Gegend hier haben … ich bin raus … ruf mir nur einen Krankenwagen. Bitte!«

Jack starrte einen Moment zu ihm hinunter. »Sicher?«

Jack streckte die Hände unter Reillys Armen hindurch und hob ihn hoch. Der Verletzte verlor fast das Bewusstsein, so sehr schmerzte es ihn, bewegt zu werden. Aber er war noch so klar, dass er bemerkte, dass Jack ihn nicht zur Straße hin schleppte.

»Hey … wo willst du mit mir hin?«

»Nach da hinten.«

Jack hörte Sirenen näher kommen. Er beeilte sich.

»Ich brauche einen Arzt … einen Krankenwagen.«

»Keine Angst. Irgendwann kommt schon einer.«

Er ließ Reilly in der hintersten Ecke der Seitenstraße am Ende der Fabrikruine fallen und ließ ihn dort liegen.

»Hierher wird dann der Krankenwagen für dich kommen«, sagte Jack. »Das wird der gleiche sein, den du für den kleinen Wolansky-Jungen gerufen hast, nachdem du ihn letzten Monat überfahren hast.«

Dann ging Jack zum Highwater Diner, um Tram anzurufen und George zu sagen, dass die beiden seine Hilfe nicht mehr benötigten.