IN DER MANGEL

 

Munir stand am Straßenrand, zog den Reißverschluss auf und nahm seinen Penis heraus. Er fühlte, wie der von der kalten Liebkosung des Windhauchs noch kleiner wurde, als wolle er sich angesichts all der vorbeikommenden Fremden verstecken.

Wenigstens hoffte er, dass es Fremde waren.

Bitte lass niemanden, der mich kennt, vorbeikommen. Oder, Allah bewahre, einen Polizisten.

Er zog an seinem schlaffen widerwilligen Glied und zwang seine Blase dazu, sich zu leeren. Er hatte in den letzten zwei Stunden zwei Flaschen Gatorade getrunken, damit seine Blase tatsächlich bis zum Platzen gefüllt war, aber jetzt konnte er nicht. Seine Blase war so fest verkrampft wie sein Kiefer.

Links von ihm schaltete die Ampel, wo die 45. Straße auf den Broadway trifft, auf Rot und der Verkehrsfluss kam zum Erliegen. Eine Frau in einem Taxi sah ihn durch das Fenster an und schreckte zurück, als sie sah, wie er sich vor ihr entblößte. Sie presste die Lippen aufeinander und schüttelte angewidert den Kopf, bevor sie sich abwandte. Er konnte fast hören, was in ihrem Kopf vorging: ›Ein Kerl in einem Anzug, der sich am Sonntagnachmittag im Theaterviertel öffentlich entblößt – New York geht noch weit schneller vor die Hunde, als ich dachte.‹

Aber für mich kann es schon nicht mehr viel schlimmer werden, dachte Munir.

Er schloss die Augen, um die hellen Einkaufspassagen und die vor ihm stehenden Autos nicht mehr zu sehen und versuchte, das Geräusch der schlurfenden Schritte der Fußgänger auf dem Weg zu den Nachmittagsvorstellungen auszublenden, aber eine Kinderstimme drang trotzdem zu ihm durch. »Guck mal, Mama. Was macht der Mann da?«

»Nicht hinsehen, Liebling«, sagte eine Frauenstimme. »Das ist jemand, der krank ist.«

Tränen sammelten sich hinter Munirs geschlossenen Augenlidern. Er unterdrückte ein gedemütigtes Schluchzen und versuchte sich in Gedanken an einen abgeschiedenen Ort zu versetzen, in sein eigenes Badezimmer, vor seine eigene Toilette. Er zwang sich zur Entspannung, und dann kam es endlich. Als die warme Flüssigkeit aus ihm herausströmte, brach auch das unterdrückte Schluchzen hervor, angetrieben zu gleichen Teilen von Scham und Erleichterung.

Er brauchte den Fluss nicht zu beenden. Als er die Augen öffnete und die glänzende Pfütze vor sich auf dem Asphalt sah, die Fahrer und die Beifahrer und die Passanten, die ihn alle anstarrten, versiegte der Strom von selbst.

Hoffentlich ist das jetzt genug, dachte er. Bitte, lass es genug sein.

Mit abgewandtem Blick schloss Munir den Reißverschluss und hastete über den Gehweg davon, wobei er wirklich aufpassen musste, nicht über die eigenen Füße zu stolpern, so schnell, wie er rannte.

 

Das Telefon klingelte, als Munir in die Wohnung zurückkam. Er drückte auf den Aufnahmeknopf seines Anrufbeantworters, während er den Hörer von der Gabel riss und gegen das Ohr presste.

»Ja?«

»Ziemlich enttäuschend, Muuunir«, erklang die mittlerweile vertraute, elektronisch verzerrte Stimme. »Habt ihr Araber alle so mickrige Würstchen?«

»Ich habe getan, was Sie wollten. Genau, wie Sie es gesagt haben.«

»Das war doch kein richtiges Pissen, Muuunir.«

»Es war alles, was ich hingekriegt habe! Bitte lassen Sie sie gehen!«

Er blickte auf die Fangschaltung hinunter. Eine Nummer war im LCD-Display erschienen. Die Vorwahl von Manhattan, wie bei allen vorherigen Anrufen. Aber die sieben folgenden Ziffern waren eine andere Nummer, die sich von den früheren unterschied. Wenn er zurückrief, würde er wieder nur einen öffentlichen Fernsprecher erreichen, wie all die Male zuvor.

»Geht es ihr gut? Lassen Sie mich mit meiner Frau sprechen.«

Munir wusste nicht, warum er das gesagt hatte. Es war doch klar, dass der Anrufer Barbara und Robby nicht zu einem Münzfernsprecher schleppen konnte.

»Sie kann im Moment nicht ans Telefon kommen. Sie ist äh … von etwas vollkommen gefesselt.«

Munir knirschte mit den Zähnen, als das wiehernde Lachen durch den Hörer hallte.

»Bitte. Ich muss wissen, ob es ihr gut geht.«

»Da musst du dich schon auf mein Wort verlassen, Muuunir.«

»Vielleicht ist sie ja tot.« Allah bewahre! »Vielleicht haben Sie sie und Robby ja bereits umgebracht.«

»Ach. Habe ich denn keine Bildchen geschickt? Magst du die kleinen Bildchen nicht?«

»Nein!«, schrie Munir, der eine Welle der Übelkeit unterdrücken musste. Diese Fotos – diese schrecklichen, abartigen Polaroid-Bilder. »Die reichen nicht. Sie können diese Fotos ja sofort gemacht und sie dann getötet haben.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung senkte sich zu einem bösartigen, gemeinen, knurrenden Tonfall.

»Du nennst mich einen Lügner, du lausiger, halsabschneiderischer, doppelzüngiger Araber? Wag es nie wieder, ein Wort zu bezweifeln, das ich dir sage. Wag es nicht einmal, daran zu denken, meine Worte anzuzweifeln. Oder ich werde dir zeigen, wer am Leben ist. Ich werde dir beweisen, dass deine weiße Schlampe und dein Bastardbalg noch am Leben sind, indem ich dir immer mal wieder ein Stück von ihnen schicke. Immer abwechselnd jeden Tag ein Stück per Express, damit es noch frisch und appetitlich ist. Zweifel weiter an dem, was ich sage, Muuunir, dann hast du deine Frau und dein Balg in Kürze wieder zurück. Komplett. Dann musst du nur noch herausfinden, welches Teil wohin gehört. Wie heißt es so schön in den Aufbauanleitungen: Eigenleistung erforderlich.«

Munir unterdrückte einen Aufschrei, als der Anrufer wieder loswieherte.

»Nein, nein. Bitte tun Sie ihnen nichts. Ich mach alles, was Sie wollen. Was soll ich tun?«

»Ah. Das klingt schon besser. Ich werde diesmal über diesen kleinen Fauxpas hinwegsehen. Ich bin großzügiger, als du es je warst – habe ich nicht recht, Muuunir? Und ganz bestimmt viel großzügiger, als es deine arabischen Kumpane waren, die meinen Bruder da unten im Golf massakriert haben.«

»Ja. Sicher, was Sie auch meinen. Was soll ich noch tun? Sie müssen es nur sagen.«

»Ich habe mich noch nicht entschieden, Muuunir. Ich muss noch darüber nachdenken. Aber währenddessen werde ich so nett sein und deinem Begehren entsprechen. Ja. Ich werde dir einen klaren Beweis schicken, dass deine Frau und dein Sohn noch am Leben sind.«

Munir sank das Herz in die Hose. »Nein! Bitte! Ich glaube Ihnen! Ich glaube es ja!«

»Ich schätze, das tust du wirklich, Muuunir. Aber der Glaube reicht manchmal einfach nicht, ist es nicht so? Ich meine, du glaubst doch auch an Allah, oder? Stimmt das nicht?«

»Ja. Natürlich glaube ich an Allah.«

»Dann sieh dir doch an, was du letzten Freitag gemacht hast. Überleg einfach und meditiere über das, was du da getan hast.«

Munir ließ den Kopf beschämt sinken und sagte gar nichts.

»Siehst du, jetzt weißt du, was ich meine, wenn ich sage, dass der Glaube allein manchmal nicht ausreicht«, fuhr die verhasste Stimme fort. »Denn wenn man glaubt, dann gibt es auch Zweifel. Und ich will nicht, dass du zweifelst, Muuunir. Ich will, dass du nicht den geringsten Schatten eines Zweifels hast, wie unglaublich wichtig es für dich ist, genau das zu tun, was ich dir sage. Denn wenn du beginnst zu glauben, dass es für deine Schlampe und deinen rattengesichtigen Sohn keinen Unterschied macht, dass sie wahrscheinlich schon tot sind und dass du mir sagen kannst, ich soll mich zum Teufel scheren, dann ist das nicht gut für die beiden. Deswegen muss ich dir beweisen, wie lebendig und munter sie sind.«

»Nein!« Ihm war schrecklich übel. »Bitte tun Sie das nicht!«

»Denk einfach dran: Du wolltest einen Beweis!«

Munirs Stimme war schon fast ein Schrei. »BITTE!«

Die Leitung klickte und war tot.

Munir ließ den Hörer fallen und begrub das Gesicht in den Händen. Der Anrufer war wahnsinnig, irre, auf gewalttätige Art übergeschnappt und aus irgendeinem Grund hasste er Munir mit einer Inbrunst, die dieser unerklärlich und absolut grauenhaft fand. Wer auch immer das war, er schien zu allem imstande und er hielt Munirs Frau und seinen Sohn irgendwo in der Stadt versteckt.

Die Hilflosigkeit übermannte ihn und er begann zu schluchzen. Plötzlich hörte er ein Hämmern an der Tür.

»Hallo. Was ist da drin los? Munir, alles klar?«

Munir erstarrte, als er die Stimme seines Nachbarn erkannte. Er richtete sich auf seinem Stuhl auf, schwieg aber. Charlie wohnte in der Wohnung nebenan. Ein pensionierter städtischer Angestellter, der sich mit Barbara und Robby angefreundet hatte. Ein harmloser Wichtigtuer, wie Barbara ihn genannt hatte. Er durfte Charlie nicht merken lassen, dass etwas nicht stimmte.

»Hey!«, rief Charlie und hämmerte wieder gegen die Tür. »Ich weiß, dass jemand da drin ist. Wenn du nicht aufmachst, geh ich davon aus, dass was nicht stimmt und wähl den Notruf. Also verkauf mich nicht für dumm.«

Das Letzte, was Munir jetzt brauchen konnte, waren die Leute vom sozialpsychiatrischen Dienst, die seine Wohnung auf den Kopf stellten. Sie würden die Polizei mitbringen und wer konnte wissen, was dieser Irre, der Barbara und Robby gefangen hielt, tun würde, wenn er das bemerkte. Er räusperte sich.

»Es geht mir gut, Charlie.«

»Unsinn«, gab der zurück und rüttelte am Türknauf. »Das klang eben ganz bestimmt nicht danach und jetzt klingt’s auch nicht so. Also mach die Tür auf, damit ich …«

Die Tür schwang auf und enthüllte Charlie Akers – fett, fast kahl, mit einem Zigarrenstummel im Mund, dem Comicteil der Zeitung in der Hand, zerknautschter blauer Hose, Unterhemd und Hosenträgern. Charlie schaute genauso schockiert drein, wie Munir sich fühlte.

In seiner Hast, zum Telefon zu kommen, hatte Munir beim Hereinkommen vergessen, die Tür hinter sich zu verriegeln. Eilig wischte er sich die Augen und erhob sich, um sie zu schließen.

»Jessas, Munir«, sagte Charlie. »Du siehst furchtbar aus. Was ist los?«

»Nichts, Charlie.«

»Verarsch mich nicht. Ich habe dich gehört. Das klang, als würde jemand auf Dir rumtrampeln. Kann ich helfen?«

»Es geht mir gut. Wirklich.«

»Ja, sieht man. Hast du Probleme? Brauchst du Geld? Vielleicht kann ich ja was tun.«

Das Angebot rührte Munir. Er kannte Charlie kaum. Wenn der ihm doch nur helfen konnte. Aber das konnte niemand.

»Nein. Nichts Derartiges.«

»Geht’s um Barbara und den Jungen? Ich habe sie schon seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen. Ist ihnen etwas passiert …?« Munir begriff, dass sein Gesicht ihn wohl verraten hatte. Charlie trat über die Schwelle und schloss die Tür hinter sich. »Hey, was ist los? Alles okay mit den beiden?«

»Bitte Charlie. Ich kann nicht darüber reden. Und das darfst du auch nicht. Vergiss die Sache einfach. Ich kriege das schon hin.«

»Ist das eine Sache für die Bullen? Ich habe Freunde auf dem Revier …«

»Nein! Nicht die Polizei! Auf keinen Fall. Ich bin gewarnt worden – auf ziemlich drastische Weise –, was passieren wird, falls ich zur Polizei gehe.«

Charlie ließ sich gegen den Türrahmen zurückfallen und starrte ihn an.

»Jessas … ist es so schlimm, wie ich glaube?«

Munir nickte stumm.

»Warte hier.«

Charlie verschwand durch die Tür. Nach weniger als zwei Minuten war er wieder zurück. Er hatte einen Notizzettel in der Hand.

»Mein Bruder hat mir das vor Jahren gegeben. Er meinte, wenn ich mal wirklich am Ende wäre und es gebe niemanden mehr, der mir helfen könne, dann sollte ich diesen Kerl anrufen.«

»Mir kann niemand helfen.«

»Mein Bruder sagte, der Kerl wäre in Ordnung, aber er hat auch gesagt, ich solle mich nur als allerletzte Lösung an ihn wenden, weil das teuer werden wird. Und er hat auch gesagt, dass ich dafür sorgen müsse, dass die Bullen nichts spitzkriegen, weil der Kerl keine Bullen mag.«

Keine Polizei … Munir streckte die Hand nach dem Zettel aus. Geld? Was interessierte ihn Geld, wenn es um Barbara und Robby ging?

Auf dem Zettel stand eine Telefonnummer. Und darunter zwei Worte: Handy man Jack.

 

Mir geht der Platz aus, dachte Jack. Er stand im Wohnzimmer seiner Wohnung und suchte nach einer freien Stelle, um seinen neuesten Schatz unterzubringen. Er hatte soeben seinen geheimen Sky-King-Magni-Glow-Schreib-Ring aus Missouri erhalten. Der Ring enthielt einen geheimnisvollen Lichtstrahler (»Er sendet ein merkwürdiges grünes Licht aus, mit dem du Morsezeichen übermitteln kannst!«). Der Plastikrubin ließ sich in drei Sektionen aufklappen, von denen eine das Flying-Crown-Siegel enthielt (»um Nachrichten zu verschlüsseln«), das Mittelteil war eine Dektoskop-Lupe (»um Fingerabdrücke zu identifizieren oder Nachrichten zu decodieren!«) und der äußere Teil war ein geheimer Stratosphären-Stift (»schreibt mit roter Tinte in jeder Höhe und auch unter Wasser!«).

Super. Absolut super. Das Super-Prunkstück in Jacks Ringsammlung. Viel komplexer als der Buck-Rogers-Saturnring oder der Shadow-Ring oder sogar sein Kix-Ring mit der eingebauten Atombombe. Er verdiente eine entsprechende Präsentation. Aber wo? Sein Wohnzimmer quoll über vor lauter tollen Sachen. Reklamefiguren, Cornflakes-Beilagen, Jugendzeitschriften-Gimmicks – furchtbarer kommerzieller Schund aus einer Zeit vor seiner Geburt. Warum sammelte er dieses Zeug? Auch jetzt, nach Jahren des Hortens, hatte er darauf noch keine Antwort gefunden. Also kaufte er weiter. Und weiter.

Jede freie Stelle in dem Konglomerat gold lackierter viktorianischer Möbel, das den Raum überfrachtete, war mit altem Schnickschnack und Sammlerstücken vollgestellt. Dokumente, die ihn als offizielles Mitglied der Shadow-Vereinigung, des Doc-Savage-Clubs, des Nick-Carter-Clubs, des Freunde-des-Phantoms, des G-J-M-Clubs der Grünen Hornisse und vielen anderen ehrwürdigen Vereinigungen auswiesen, reihten sich an den Wänden.

Jacks Blick fiel auf die Shmoo-Uhr an der Wand über der Anrichte. Er hatte einen Termin mit einem neuen Kunden in etwa zwanzig Minuten. Deswegen hatte er keine Zeit, jetzt einen angemessenen Platz für den geheimen Sky-King-Magni-Glow-Schreib-Ring zu finden, also legte er ihn erst einmal neben den Captain-Midnight-Radio-Entzerrer. Er streifte sich ein rotes Lands-End-Sweatshirt übers Hemd und wandte sich zur Tür.

In der zunehmenden Dunkelheit draußen hastete Jack durch die westlichen 70er, vorbei an den angesagten Boutiquen und Snack-Bars, die auf die hier ansässigen Yuppies und ihre kaufkräftige Untergruppe, die Dinks – double income, no kids – abzielten. Das waren die Leute, die 9,50 Dollar für den letzten Schrei an der Upper West Side bezahlten – Kartoffelpüree.

Die Gäste standen dicht gedrängt um den Tresen in Tonys Kneipe. Hundert-Dollar-Hemden und Zweihundert-Dollar-Pullover quetschen sich hier zwischen Blaumänner. Julios Laden lag weit genug nördlich, um sich noch einen Teil seiner alten Kunden bewahrt zu haben, trotz der Invasion durch die Armani- und Donna-Karen-Klientel. Die Yuppies und Dinks hatten Julios Kneipe vor einer Weile für sich entdeckt. In ihren Augen hatte der Laden einen »rustikalen Charme«, das Essen war »authentisch« und die Atmosphäre »ungezwungen«.

Julio machten sie wahnsinnig.

Er stand hinter der Bar unter dem Schild MORGEN FREIBIER. Jack winkte ihm zu, damit Julio ihn sah. Als Jack an der Bar entlangging, schnappte er die Bemerkung eines blonden Yuppies in einem blauen Ralph-Lauren-Blazer auf, der einen Bierkrug in der Hand hielt und wohl schon ein- oder zweimal in den Laden gekommen war. Er sprach mit einem Paar und deutete auf Julios berühmte vertrockneten Topfpflanzen und Farne im Fenster.

»Sind sie nicht einfach fantastisch?«

»Warum besorgt er sich nicht einfach neue?«, fragte die Frau neben ihm. Sie nippte Weißwein aus einem angestoßenen Whiskeyglas. Als sie schluckte, zog sie eine Grimasse.

Julio achtete darauf, nur den sauersten Chablis am Markt auszuschenken.

»Ich glaube, das ist eine künstlerische Aussage«, meinte der Mann.

»Und was will er damit sagen?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber sind sie nicht einfach fantastisch?«

Jack wusste, was er damit sagen wollte: Leute ohne Schwielen an den Händen sollen draußen bleiben – das hier ist eine Arbeiterkneipe. Aber die Botschaft kam nicht an. Julio war absichtlich unhöflich zu ihnen, und er hatte seine Aushilfe angewiesen, das ebenfalls zu sein, aber es half nicht. Die Schnösel hielten das für einen Teil der Show. Sie nahmen es mit Begeisterung auf.

Jack stieg über das Seil, das den hinteren Teil der Sitzplätze absperrte, und ließ sich in der unbeleuchteten Ecke an seinem üblichen Tisch nieder. Als Julio hinter der Bar hervorkam, winkte der blonde Mann ihn zu sich herüber.

»Können wir da hinten auch einen Tisch bekommen?«

»Nein«, sagte Julio.

Der muskulöse kleine Wirt schob sich an ihm vorbei und nickte Jack zu, als er seinen Platz als Begrüßungskomitee an der Tür einnahm.

Jack zog einen Walkman aus der Tasche und streifte sich die beiden kleinen Kopfhörer über, während er in Gedanken noch einmal die beiden Telefonate durchging, die zu diesem Treffen geführt hatten. Das erste lief über den Anrufbeantworter, den er in einem ansonsten leeren Büro an der 10th Avenue laufen ließ. Er hatte ihn heute Morgen aus einem Münzfernsprecher heraus abgerufen und gehört, dass jemand, der sich Munir Habib nannte, mit konzentrierter, kaum akzentuierter Stimme gesagt hatte, er brauche seine Hilfe. Dringend. Er hatte erklärt, wie er an die Nummer gekommen sei. Er hatte keine Ahnung, was Jack für ihn tun könne, aber er war verzweifelt. »Bitte retten Sie meine Familie!«, hatte er gesagt.

Dann hatte Jack selbst ein paar Anrufe getätigt. Die Angaben des Mannes erwiesen sich als richtig, also rief er ihn zurück. Anhand der wenigen Einzelheiten, die er Habib am Telefon erklären ließ, kam Jack zu dem Schluss, dass der tatsächlich ein potenzieller Kunde sein könnte. Er hatte das Treffen bei Julio angesetzt.

Ein kleiner Mann um die vierzig betrat die Kneipe und sah sich unsicher um. Sein heller Kamelhaarmantel war stark zerknittert, als habe er darin geschlafen. Seine Haut zeigte die Farbe von Milchschokolade, er hatte ein kantiges Gesicht und wache Augen, die so schwarz leuchteten wie das glatte, pomadisierte Haar auf seinem Kopf. Julio sprach ihn an, sie wechselten ein paar Worte, dann lächelte Julio und schüttelte ihm die Hand. Er führte ihn nach hinten zu Jack, klopfte ihm auf den Rücken und behandelte ihn wie einen verschollen geglaubten Verwandten. Aus der Nähe wirkte der Mann schon fast wie ein wandelnder Leichnam. Aber auch wenn er aufmerksamer gewesen wäre, hätte er wohl nicht die geringste Ahnung gehabt, dass er soeben fachmännisch gefilzt worden war. Julio deutete auf den Stuhl gegenüber von Jack und gab diesem hinter dessen Rücken ein OK-Zeichen, als sich der Neuankömmling setzte.

Als Julio zur Bar zurückkehrte, hielt ihn der Blonde in dem Blazer erneut auf.

»Wieso dürfen die da sitzen und wir nicht?«

Julio fuhr herum und fauchte ihn an. Er war mehr als einen Kopf kleiner als der Mann, aber sehr muskulös und verströmte eine Aura kaum kontrollierbarer Gewalt. Das war nicht gespielt. Julio hatte neuerdings wirklich schlechte Laune.

»Noch eine Frage wegen den Tischen da und Sie landen auf der Straße, verstanden? Dann sind Sie raus und ich will Sie hier drin nie wieder sehen!«

Als Julio weiterging, drehte sich der Blonde zu seinen Begleitern um.

»Dieser Laden ist einfach genial.«

Jack wandte seine Aufmerksamkeit dem Klienten zu. Er streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich bin Jack.«

»Munir Habib.« Die Hand war kalt und verschwitzt. »Sind Sie derjenige, der …?«

»Bin ich.«

Eine kurze Pause, dann: »Ich hatte eigentlich jemand anderes …«

»So geht es allen.« Die Leute erwarteten immer jemanden, der größer war, imposanter, bedrohlicher. »Aber das hier ist das, womit Sie leben müssen. Haben Sie die Anzahlung bei sich?«

Munir sah sich verstohlen um. »Ja. Das ist viel Geld, um es in bar mit sich herumzutragen.«

»Hier ist es sicher. Behalten Sie es noch. Ich habe noch nicht entschieden, ob wir ins Geschäft kommen. Worum geht es?«

»Wie ich schon am Telefon sagte, sind meine Frau und mein Sohn entführt worden und werden als Geiseln festgehalten.«

Eine Entführung. Es war eine von Jacks Regeln, sich aus Entführungen rauszuhalten. In letzter Zeit waren sie richtig in Mode gekommen. Meist ging es dabei um Drogen. Das lockte die Bundesbehörden an und die konnte Jack noch weniger gebrauchen als die normalen Polizisten. Aber dieser Munir hatte ihm hoch und heilig versichert, dass er sich nicht an die Polizei gewendet hatte. Angeblich hatte er viel zu viel Angst vor den Drohungen des Kidnappers. Jack wusste noch nicht, ob er ihm glaubte.

»Warum haben Sie sich an mich gewandt statt an die Polizei?«

Munir griff in seine Jacke und zog mehrere Fotos heraus. Seine Hand zitterte, als er sie Jack reichte.

»Deswegen.«

Das erste Bild zeigte eine attraktive Blondine um die dreißig in einer weißen Bluse und einem dunklen Rock, die gefesselt und geknebelt auf einem Stuhl vor einer kahlen weißen Wand saß. Ein roter Plastiktrichter war durch das Klebeband in ihren Mund geschoben worden. Eine Flasche mit flüssigem Rohrreiniger lag auf ihrem Schoß. Jack bemerkte ihre Augen – hellblau und vollkommen panisch. ›Achtung – ätzend‹ stand in Blockbuchstaben am unteren Rand des Fotos.

Jack zog eine Grimasse und sah sich das zweite Foto an. Zuerst wusste er gar nicht, was er da sah, wie bei einem der Fotos, die man erhält, wenn die Kamera versehentlich ausgelöst wird. Ein großes Fleischerbeil füllte den überwiegenden Teil des Bildes aus, aber der Rest war –

Er unterdrückte ein Keuchen, als er den nackten Bauch eines kleinen Jungen erkannte, die haarlose Scham und den winzigen Penis, der auf einem Holzbrett lag, in aussagekräftiger Nähe zu dem Beil.

Gut. Er hatte also nicht die Bullen gerufen.

Jack reichte ihm die Fotos zurück.

»Wie viel verlangen sie – die Entführer?«

»Ich glaube nicht, dass es sich um ›sie‹ handelt. Ich glaube, es ist nur einer. Und er scheint auch kein Geld zu verlangen. Wenigstens bisher noch nicht.«

»Das heißt ein Psychopath?«

»Ich glaube schon. Er scheint Araber – alle Araber – zu hassen, und hat sich ausgerechnet mich herausgesucht.« Munirs Gesicht verzog sich plötzlich zu einer weinerlichen Miene: »Warum gerade mich?«

Jack wurde klar, dass Munir kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Er wollte verhindern, dass er jetzt plötzlich in Tränen ausbrach.

»Ganz ruhig, Mann«, sagte er sanft. »Ganz ruhig.«

Munir rieb sich mit der Hand durch das Gesicht, und als er Jack danach wieder ansah, wirkte er zwar verheult, aber gefasst.

»Ja. Ich muss die Ruhe bewahren. Ich darf nicht die Nerven verlieren. Das bin ich Barbara schuldig. Und Robby.«

Jack hatte plötzlich die schreckliche Vorstellung, Gia oder Vicky könnten in der Gewalt eines der Psychopathen sein, mit denen er im Laufe der Zeit zu tun gehabt hatte, und wusste in diesem Moment, dass er den Auftrag annehmen würde. Der Kerl war in Ordnung.

»Jemand, der Araber hasst. Vielleicht ein fanatischer Jude?«

»Nein. Kein Jude. Jedenfalls glaube ich das nicht. Er redet immer wieder von einem Bruder, der im Golfkrieg umgekommen ist. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass ich kein Iraker bin, sondern amerikanischer Bürger genau wie er. Aber selbst wenn ich das nicht wäre, so stamme ich doch ursprünglich aus Saudi Arabien. Mein Volk war ein Verbündeter der Vereinigten Staaten, meine Leute haben Seite an Seite mit seinem Bruder gegen Saddam gekämpft. Aber er scheint das nicht zu verstehen. Er sagt, ein Araber hat seinen Bruder getötet und soweit es ihn betrifft, ist Araber Araber.«

»Fangen Sie ganz am Anfang an«, sagte Jack. »Gab es irgendwelche Anzeichen, dass so etwas passieren könnte?«

»Nichts. Alles war so wie immer.«

»Was ist mit jemandem aus der alten Heimat?«

»Ich habe keine ›alte Heimat‹. Ich habe fast mein ganzes Leben in Amerika verbracht, nicht in Saudi Arabien. Mein Vater war Repräsentant der saudischen Ölindustrie hier in den Staaten. Ich bin in New York aufgewachsen. Ich ging hier aufs College, als er zurückbeordert wurde. Ich habe zwei Jahre in dem Land gelebt, in dem ich geboren wurde, und habe dann eingesehen, dass Amerika meine Heimat ist. Ich habe den Hadsch gemacht, dann bin ich nach New York zurückgekehrt. Ich habe hier die Schule beendet und mich einbürgern lassen.«

»Könnte trotzdem jemand von da drüben sein. Ich meine, Ihre Frau sieht nicht so aus, als würde sie von da stammen.«

»Barbara stammt aus Westchester.«

»Könnte nicht die Heirat mit so jemandem einen dieser Fundamentalisten …?«

»Nein. Auf keinen Fall.« Munirs Mine wurde hart. Er war sich dessen ganz sicher. »Ein Araber würde nie das tun, was dieser Mann mir angetan hat.«

»Seien Sie sich da nicht so sicher.«

»Er hat mich dazu gezwungen … ich musste …« Der Satz wollte Munir nicht über die Lippen kommen. »Ich musste … Schweinefleisch essen. Und dazu Alkohol trinken – Schweinefleisch!«

Jack hätte beinahe laut aufgelacht. Aber dann fiel ihm ein, dass Munir wahrscheinlich Moslem war – ziemlich sicher war er Moslem. Aber trotzdem, was war daran so schrecklich? Jack konnte sich erheblich schlimmere Dinge vorstellen, zu denen man Munir hätte zwingen können.

»Was mussten Sie tun? Ein Schinkensandwich essen?«

»Nein, Rippchen. Er befahl mir, am letzten Freitag gegen Mittag in ein bestimmtes Restaurant an der 47. Straße zu gehen und da etwas zu kaufen, was er ›einen Bogen Babyrippchen‹ nannte. Und dann musste ich mich draußen auf die Straße stellen, alles aufessen und das mit einer Flasche Bier hinunterspülen.«

»Haben Sie das getan?«

Munir senkte den Kopf. »Ja.«

Jack war versucht zu fragen, ob es ihm geschmeckt habe, unterdrückte jedoch den Impuls. Einige Leute nahmen so etwas sehr ernst. Er hatte nie begriffen, warum manche Menschen ihre Essgewohnheiten durch etwas bestimmen lassen, was vor Hunderten oder Tausenden von Jahren von Leuten in einem Buch niedergeschrieben worden war, die damals noch nicht einmal Toiletten besaßen. Aber andererseits verstand er auch sonst sehr viel bei anderen Menschen nicht. Er war der Erste, der das zugeben würde. Und was sie aßen oder nicht aßen, und aus welchen Gründen, war dabei die unwichtigste Überlegung.

»Also haben Sie Schweinefleisch gegessen und Alkohol getrunken, um das Leben Ihrer Frau und Ihres Kindes zu retten. Niemand wird Ihnen deswegen die Todesschwadron auf den Hals hetzen. Oder doch?«

»Er hat mich gezwungen, die Wahl zwischen Allah und meiner Familie zu treffen«, erklärte Munir. »Vergeben Sie mir, aber ich habe mich für meine Familie entschieden.«

»Ich bezweifle, dass Allah oder irgendein vernünftiger Mensch Ihnen vergeben würde, wenn Sie das nicht getan hätten.«

»Aber begreifen Sie denn nicht? Ich musste es am Freitag tun.«

»Und?«

»Da hätte ich stattdessen im Gebet in der Moschee sein sollen. Das ist eine der fünf Pflichten. Kein Muslim würde einen Glaubensgenossen zwingen, so etwas zu tun. Ich versichere ihnen, der ist kein Araber. Sie müssen sich nur den Mitschnitt anhören, dann wissen Sie das auch.«

»Gut. Dazu kommen wir gleich.« Munir hatte Jack erzählt, dass er seit gestern die Anrufe des Irren auf seinem Anrufbeantworter mitschnitt. »Er ist also kein Araber. Wie sieht es mit Feinden aus? Gibt es da jemanden?«

»Nein. Wir führen ein ruhiges Leben. Ich leite die Revision bei Saud Petroleum. Ich habe keine Feinde. Und auch nicht viele Freunde. Wir leben ziemlich zurückgezogen.«

Wenn das stimmte – und Jack hatte im Laufe der Jahre auf die harte Tour gelernt, dass man den Aussagen eines Klienten nie uneingeschränkt vertrauen sollte –, dann war Munir tatsächlich das Opfer eines Psychopathen. Jack hasste es, mit solchen Menschen zu tun zu haben. Sie hielten sich nicht an Regeln. Sie hatten meist ihre eigene merkwürdige Logik. Bei solchen Leuten konnte alles passieren. Wirklich alles.

»Na gut. Zurück zum Anfang. Wann haben Sie zum ersten Mal bemerkt, dass etwas nicht stimmte?«

»Als ich Dienstagabend von der Arbeit nach Hause kam und die Wohnung leer vorfand. Ich habe den Anrufbeantworter abgehört und eine elektronisch verzerrte Stimme sagte mir, dass sie meine Frau und meinen Sohn in ihrer Gewalt habe und dass ihnen nichts passiere, solange ich alles tun würde, was mir gesagt wird und die Polizei außen vor bliebe. Und falls ich doch auf die Idee komme, die Bullen zu rufen, dann sollte ich vorher einen Blick auf die Kommode im Schlafzimmer werfen. Da lagen dann die Fotos.« Munir rieb sich mit der Hand die Augen. »Ich habe die ganze Nacht dagesessen und gewartet, dass das Telefon klingelt. Schließlich hat er Freitagmorgen angerufen.«

»Und Ihnen befohlen, Schweinefleisch zu essen.«

Munir nickte. »Er wollte mir nichts über Barbara und Robby sagen, nur, dass sie noch leben und hofften, dass ich ›keinen Scheiß baue‹. Ich habe getan, was er mir gesagt hat, dann bin ich nach Hause gelaufen und habe versucht, es wieder zu erbrechen. Er hat mich angerufen und mir gesagt, ich hätte mich ›brav verhaltene Er sagte, er würde wieder anrufen, um mir zu sagen, was ich als Nächstes tun solle. Er meinte, er würde mich noch ›richtig in die Mangel nehmen‹.«

»Was mussten Sie dann als Nächstes tun?«

»Ich sollte einer Frau am helllichten Tag die Handtasche entreißen, sie über den Haufen rennen und abhauen, und mich dabei auf keinen Fall erwischen lassen. Er sagte, die Fotos, die er mit gezeigt habe, seien das VORHER. Wenn ich erwischt würde, würde ich die NACHHER-Fotos bekommen.«

»Also sind Sie für einen Tag zum Handtaschendieb geworden. Und wie es aussieht, waren Sie erfolgreich.«

Munir senkte den Kopf. »Ich schäme mich so … die arme Frau.« Seine Miene wurde hart. »Dann hat er das andere Bild geschickt.«

»Ja? Zeigen Sie her.«

Munir schien plötzlich verlegen. »Es … Ich habe es zu Hause.«

»Ich muss alles wissen, wenn ich Ihnen helfen soll«, sagte Jack. Er streckte ihm die Hand entgegen. »Geben Sie schon her.«

Mit offensichtlichem Widerwillen griff Munir in die Manteltasche und reichte ihm ein weiteres Polaroid. Jack verstand augenblicklich sein Zögern.

Es war die gleiche blonde Frau wie auf dem ersten Foto, aber diesmal war sie nackt und lag mit gespreizten Armen und Beinen auf einer Matratze, das dunkle Schamdreieck der Kamera zugewandt. Ihre Augen leuchteten vor Verlegenheit. Ein gleichfalls nackter kleiner Junge hockte ängstlich neben ihr.

Ich hätte schwören können, sie wäre blond, stand am unteren Rand.

Jacks Kiefer schmerzte, so sehr presste er die Zähne aufeinander. Er reichte das Foto zurück.

»Und was ist gestern passiert?«

»Ich musste um Viertel vor drei auf der Straße vor dem Imperial Theater urinieren.«

»Super«, sagte Jack. »Das ist kurz vor der Nachmittagsvorstellung vom Phantom der Oper.«

»Das stimmt. Aber ich würde es wieder tun, wenn ich damit Barbara und Robby befreien könnte.«

»Sie müssen vielleicht noch viel schlimmere Dinge tun. Ich bin mir da sogar sicher. Ich glaube, dieser Kerl will Ihre Grenzen austesten. Er will sehen, wie weit zu gehen Sie bereit sind, was Sie alles tun würden.«

»Aber wo wird das enden?«

»Vielleicht damit, dass Sie jemanden umbringen.«

»Ihn? Jederzeit! Ich …«

»Nein. Jemand anderen. Einen Fremden. Oder noch schlimmer – jemanden, den Sie kennen.«

Munir wurde bleich. »Nein. Sie meinen doch nicht wirklich …« Seine Stimme verebbte.

»Wieso nicht? Der Kerl hat Sie an den Eiern. Eine solche Macht kann einen stabilen Menschen krank machen und jemanden, der bereits krank ist, noch viel kränker.« Er beobachtete Munirs Gesicht, den Abscheu, der darauflag, während der Mann die Tischdecke anstarrte. »Was würden Sie tun?«

Eine Pause, während der Munir von irgendwo ganz weit weg zurückkehrte. »Was?«

»Wenn es so weit ist. Wenn er sagt, dass Sie wählen müssen zwischen dem Leben Ihrer Frau und Ihres Kindes und dem Leben von jemand anderem. Was würden Sie tun?«

Munir zögerte nicht. »Ich würde natürlich den Mord begehen.«

»Und das nächste unschuldige Opfer? Und das danach und das danach? Wann sagen Sie, dass es reicht, dass jetzt Schluss ist?«

Munir wich aus. »Ich … ich weiß es nicht.«

Eine schwierige Frage. Jack überlegte, was er tun würde, wenn es um Gia und Vicky ginge. Wie viele unschuldige Menschen müssten sterben, bevor er nicht mehr mitmachen würde? Wie lautete die Zahl? Jack hoffte, dass er das nie herausfinden müsste. Vielleicht sähen dann einige Serienmörder wie Waisenknaben neben ihm aus.

»Kommen wir zum Mitschnitt.«

Munir zog eine Kassette aus der Manteltasche und schob sie über den Tisch. Jack steckte sie in den Walkman. Vielleicht würde er ein Gefühl für diesen Kerl bekommen, wenn er ihm zuhörte.

Er gab Munir einen der beiden Kopfhörer und hielt sich den anderen ans Ohr, dann drückte er auf PLAY.

Die Stimme auf dem Band war elektronisch verzerrt. Dafür konnte es zwei mögliche Gründe geben. Einer war natürlich der, dass man so keine Stimmmusteranalyse erstellen konnte. Aber vielleicht hatte er auch Angst, dass Munir seine Stimme erkennen könnte. Jack lauschte auf den harten Südstaatenakzent. Durch die Hintergrundgeräusche ließ sich nicht sagen, ob der authentisch war oder nicht, aber an dem blanken Hass, der darin mitschwang, konnte kein Zweifel bestehen. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Stimme.

Da war etwas … etwas an diesem Kerl … langsam entwickelte sich ein Bild …

 

Munir konnte sich nur schwer auf das Band konzentrieren. Schließlich hatte er sich diese verhasste Stimme nun schon so oft angehört, dass er jedes schmutzige Wort, jede stimmliche Nuance bereits auswendig kannte. Außerdem fühlte er sich hier unwohl. Normalerweise ging er nie in eine Gaststätte, in der Alkohol ausgeschenkt wurde. Das Trinken und das Lachen an der Bar – das war vollkommen fremd für ihn. Also konzentrierte er sich auf diesen Fremden, der ihm da gegenübersaß.

Dieser Mann, der sich Handyman Jack nannte, war alles andere als eindrucksvoll. Er war zwar größer als Munir, vielleicht 1,78 Meter, mit schlanker, drahtiger Figur. In keiner Weise bemerkenswert. Dichtes braunes Haar und diese sanften braunen Augen – hätte er nicht ganz allein hier hinten gesessen, wäre er wahrscheinlich vollkommen unauffällig. Munir hatte eine Heldengestalt erwartet – wenn auch keinen Schwarzenegger-Typ, dann doch zumindest jemanden, der clever, schnell und gefährlich war. Dieser Mann war nichts von alledem. Wie sollte er Barbara und seinen Sohn aus den Klauen des Peinigers befreien? Es schien kaum möglich.

Und doch, als er ihm so dabei zusah, wie er mit geschlossenen Augen das Band abhörte und hier und da zurückspulte, um sich einen Satz oder einen Ausdruck noch einmal anzuhören, wurde ihm klar, dass dieser Mann eine stillschweigende Zuversicht ausstrahlte, einen Hauch von brennender Intensität hinter der durchschnittlichen Oberfläche. Und Munir erkannte, dass es vielleicht einen Grund dafür gab, warum sich Jack so kleidete. Alles, was er tat, schien auf Unauffälligkeit bedacht. Er erkannte, dass dieser Mann jemanden den ganzen Tag verfolgen konnte, ohne dass man ihn je bemerken würde.

Als das Band durchgelaufen war, nahm der Fremde den Kopfhörer ab, holte die Kassette aus dem Abspielgerät und starrte sie an.

»Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte er schließlich.

»Was meinen Sie damit?«

»Er hasst Sie.«

»Das ist mir klar. Er hasst alle Araber. Das betont er oft genug.«

»Nein. Er hasst Sie

»Natürlich. Ich bin Araber.« Worauf wollte er hinaus?

»Wachen Sie auf, Munir. Ich sag Ihnen, dieser Kerl kennt Sie und er hasst Sie von Grund auf. Das hat nichts mit Arabern oder dem Golfkrieg oder dem anderen Blödsinn zu tun, den er Ihnen da aufgetischt hat. Das ist eine persönliche Sache, Munir. Es geht nur um Sie.«

Nein. Das war unmöglich. Er hatte nie jemanden getroffen oder jemanden auch nur flüchtig gekannt, der ihm oder seiner Familie so etwas antun könnte.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete er. Seine Stimme klang heiser. »Das kann nicht sein.«

»Denken Sie darüber nach«, sagte Jack mit leiser Stimme und beugte sich vor. »In gerade mal drei Tagen hat dieser Kerl Sie dazu gezwungen, Ihren Gott zu beleidigen, andere Menschen, sich selbst zu erniedrigen und wer weiß, was sonst noch kommt. Das ist pure Bösartigkeit, Munir. Kalte, kalkulierte Bosheit. Vor allem diese Sache, als er Sie gezwungen hat, Schweinefleisch zu essen und Bier zu trinken, während Sie eigentlich in der Moschee hätten sein müssen. Ich wusste nicht, dass Sie Freitagmittag beten. Er schon. Das verrät mir, dass er mehr als nur ein bisschen über Ihre Religion weiß, dass er wahrscheinlich sogar darüber recherchiert hat. Er tut das nicht aus einer spontanen Eingebung heraus. Er verfolgt einen Plan. Er dreht Sie nicht einfach nur so zum Spaß durch die ›Mangel‹.«

»Was für einen Sinn kann es denn für ihn haben, mich zu quälen?«

»Quälen? Wo leben Sie denn? Dieser Kerl will Sie vernichten. Und was das Motiv angeht, ich schätze, er ist auf Rache aus.«

»Weshalb?« Das war so frustrierend. »Ich befürchte, mit dieser Idee, dass ich diesen Mann irgendwie kennen könnte, befinden Sie sich auf dem Holzweg.«

»Vielleicht. Aber da war etwas in Ihrem letzten Gespräch, das merkwürdig ist. Er sagte, dass er viel großzügiger sei, als Sie es je sein würden. Das ist nichts, was ein Unbekannter sagen würde. Und in diesem Zusammenhang hat er auch das Wort Fauxpas benutzt. Er versucht zwar, wie ein Hinterwäldler zu klingen, aber die, die ich kenne, führen dieses Wort wohl nicht in ihrem Wortschatz.«

»Aber das muss doch noch nicht heißen, dass er mich persönlich kennt.«

»Sie sagten, Sie sind Abteilungsleiter in dieser Ölfirma.«

»Saud Petroleum. Ich koordiniere die Geschäfte hier in den Staaten.«

»Was ja wohl auch bedeutet, dass Sie Leute einstellen oder entlassen, vermute ich.«

»Ja natürlich.«

»Na also. Da werden Sie diesen Scheißkerl finden – in Ihren Personalakten. Das ist der sprichwörtliche verbitterte Angestellte oder Ex-Angestellte. Oder ehemalige Angestellte in spe. Jemand, den Sie entlassen haben, oder nicht eingestellt haben, oder jemand, den Sie bei einer Beförderung übergangen haben. Ich persönlich würde zuerst die Entlassungen überprüfen. Manche Leute nehmen es sehr persönlich, wenn man sie feuert.«

Munir versuchte sich an Streitigkeiten mit Angestellten in seiner Abteilung zu erinnern. Ihm fiel nur eine ein, und das war so eine Lappalie –

Jack schob die Kassette über den Tisch.

»Wenden Sie sich an die Bullen«, sagte er.

Die Angst legte sich um Munirs Kehle und drückte zu.

»Nein! Er wird das herausfinden! Er …«

»Ich kann Ihnen da nicht helfen. Das ist nicht mein Gebiet. Sie brauchen mehr, als ich Ihnen bieten kann. Sie brauchen offiziellen Beistand. Sie brauchen einen Haufen von Bürohengsten, die die Akten all Ihrer augenblicklichen und ehemaligen Mitarbeiter unter die Lupe nehmen. Ich kann da nichts machen. Ich habe keine Leute dafür, ich komme nicht an die entsprechenden Daten heran. Das brauchen Sie aber alles, wenn Sie Ihre Familie heil wiedersehen wollen. Das FBI hat Erfahrung mit solchen Sachen. Die bleiben im Hintergrund und machen die Recherchearbeit, während alle Verhandlungen mit dem Kerl über Sie laufen.«

»Aber …«

Er erhob sich und legte Munir im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter.

»Viel Glück.«

Dann ging er davon … mischte sich in die Menge an der Bar … und war verschwunden.

 

Charlie steckte den Kopf durch die Tür, gerade als Munir seine Haustür aufschloss.

»Dacht’s mir doch, dass du das bist«, sagte er. Er hatte einen Expressumschlag in der Hand. »Das ist vorhin eingetroffen. Hab dafür unterschrieben.«

Munir riss es ihm aus der Hand. Sein Herz begann zu rasen, als er den Absender G. I. Golf las.

»Danke Charlie«, keuchte er und stürzte buchstäblich in seine Wohnung.

»Hey, wart mal. Hast du …?«

Die zugeschlagene Tür schnitt Charlies Frage ab, während Munirs Finger sich mit dem Umschlag abmühten. Endlich fand er die Perforierung und riss den Umschlag auf. Er sah hinein. Die Sendung schien leer. Nein, das konnte nicht sein. Er drehte den Umschlag um und schüttelte.

Ein Foto fiel heraus und flatterte zu Boden.

Munir ging in die Hocke und hob es auf. Er stöhnte, als er Barbara erkannte. Sie lag nackt, geknebelt und gefesselt auf der Matratze, wie beim letzten Mal, aber diesmal war sie allein. Etwas Weißes lag auf ihrem Bauch. Munir sah genauer hin.

Es war eine Zeitung. Eine Tageszeitung. Die Post. Sie hatte die gleiche Schlagzeile wie die, die er am Morgen am Kiosk gesehen hatte. Barbara starrte in die Kamera. Aufgewühlt. Wütend. Sie lebte.

Munir hätte am liebsten geweint. Er hielt sich das Foto an die Brust und schluchzte einmal auf, dann sah er noch einmal genau hin, ob das auch kein Trick war. Nein, das war nicht gefälscht. Wie sollte man das auch bei einem Polaroid anstellen?

Unten stand wieder eine dieser unsäglichen Unterschriften: Sie hat zugesehen.

Zugesehen? Wobei? Was sollte das heißen?

In diesem Moment klingelte das Telefon. Munir riss den Hörer von der Gabel. Er drückte auf den Aufnahme-Knopf des Anrufbeantworters, sobald er die verzerrte Stimme hörte.

»Genug geflennt, Muuunir?«

»Ich – ich weiß nicht, was Sie meinen. Aber danke für das Foto. Ich bin wirklich erleichtert zu wissen, dass meine Frau noch am Leben ist. Vielen Dank.«

Er wollte ihn anbrüllen und ihm sagen, dass er sich nach dem Tag sehnte, an dem er ihm gegenüberstehen und ihm die Haut in Stücken vom Leib schneiden würde, aber natürlich sagte er nichts. Es würde Barbara und Robby nur schaden, wenn er diesen Irren noch weiter aufbrachte.

»Du dankst mir?« Die Stimme am Telefon klang verwirrt. »Was soll das heißen: ›Danke‹? Hast du den Rest nicht gesehen?«

Munir überlief es eiskalt. Er versuchte zu sprechen, aber die Worte wollten nicht herauskommen. Etwas steckte in seiner Kehle fest. Schließlich vermochte er doch ein paar Worte zu krächzen.

»Was für ein Rest?«

»Ich glaube, du solltest dir den Umschlag noch einmal sehr genau ansehen, Muuunir. Sieh genau hin, bevor du mir dankst. Ich rufe später noch mal an.«

»Nein.«

Die Leitung war tot.

Panik erfasste Munir, als er auflegte und zu dem Umschlag zurückhastete. Hast du den Rest nicht gesehen? Welchen Rest? Oh Allah, bitte, was meint er damit? Was sollte das heißen? Er griff sich den stabilen Karton. Ja, da war noch etwas. Eine kleine Ausbuchtung, wo sich etwas in einer Ecke verklemmt hatte. Er klopfte mit dem offenen Umschlag auf den Boden.

Einmal. Zweimal.

Es purzelte etwas heraus. Etwas in einem kleinen Ziplock-Beutel.

Klein. Zylindrisch. In einem blass-schmutzigen Rosa. Blutigrot am ausgefransten Ende.

Munir rammte sich die Rückseite seiner Faust vor den Mund. Um den Schrei zu unterdrücken. Und den Brechreiz.

Die Unterschrift unter dem Foto kam ihm wieder in den Sinn.

Sie hat zugesehen.

Das Telefon klingelte.

 

»Beruhigen Sie sich, Mann«, sagte Jack zu dem schluchzenden Häufchen Elend vor ihm. »Alles wird wieder gut.«

Jack glaubte das nicht und er bezweifelte auch, ob Munir sich davon überzeugen ließ, aber er wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Es war schon schwer genug, mit einer schluchzenden Frau umzugehen. Was sollte man dann mit einem weinenden Mann machen?

Er war auf dem Heimweg von Gias Haus am Sutton Square zu seiner eigenen Wohnung gewesen und hatte noch mal am St. Moritz angehalten, um seinen Anrufbeantworter abzuhören. Dazu benutzte er nie das Telefon in seiner Wohnung und er streute seine Anrufstellen auch immer so weit es nur irgend ging und rief nie in regelmäßigen Abständen an. Aber wenn er sich am Südende des Central Parks befand, dann ließ er selten eine Gelegenheit verstreichen, aus der Lobby des Plaza oder eines ähnlich teuren Hotels aus anzurufen.

Er hörte Munirs tränenerstickte Stimme. »Bitte … ich weiß niemanden, den ich sonst anrufen könnte. Er hat Robby wehgetan! Er hat meinen Jungen verstümmelt! Bitte helfen Sie mir, ich flehe Sie an!«

Jack konnte nicht sagen, was ihn dazu trieb. Er wollte es nicht, aber einen Augenblick später ertappte er sich dabei, dass er Munir zurückrief, dem hysterischen Mann seine Adresse entlockte und jetzt hier war. Er hatte sich ein Paar dünne Lederhandschuhe übergestreift, als er das Apartmenthochhaus in der Nähe der Vereinten Nationen betreten hatte, in dem sich Munirs Wohnung befand. Er war sich sicher, dass diese Angelegenheit doch bei den Behörden landen würde, und wollte nichts hinterlassen, was auf ihn deuten könnte, vor allem keine Fingerabdrücke.

Munir war so glücklich, ihn zu sehen, so unglaublich dankbar, dass Jack ihn sich fast vom Hals halten musste.

Er geleitete ihn in die Küche und fand da ein schweres Fleischerbeil. Einige tiefe Einkerbungen, die frisch waren, verunzierten die Tischplatte. Schließlich gelang es Jack, ihn zu beruhigen.

»Wo ist er?«

»Da.« Er deutete auf das oberste Kühlschrankfach. »Ich dachte, wenn ich ihn vielleicht kühl genug halten kann …«

Munir sackte am Tisch in sich zusammen und legte die Stirn auf die Arme auf der Tischplatte. Jack öffnete das Gefrierfach und nahm den Plastikbeutel heraus.

Es war ein Finger. Ein Kinderfinger. Der linke kleine Finger. Sauber abgetrennt. Wahrscheinlich mit dem Fleischerbeil auf dem Foto mit dem spezielleren anatomischen Teil des Jungen, das Jack vorher an diesem Abend gesehen hatte.

Dieser Hurensohn.

Und dann war da noch das Foto von der Mutter des Jungen. Und die Zeile darunter.

Jack spürte, wie die Schwärze aus seinem Innern hochwallte. Er drängte sie zurück. Er durfte sich hier nicht hineinziehen lassen. Er durfte das nicht persönlich nehmen. Er drehte sich um und sah, wie Munir ihn anstarrte.

»Sehen Sie das?«, fragte Munir und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Sehen Sie, was er mit meinem Jungen gemacht hat?«

Jack schob den Finger hastig wieder in das Gefrierfach.

»Passen Sie auf. Das hier tut mir wirklich leid, aber es ändert nichts an dem, was ich Ihnen gesagt habe. Sie brauchen immer noch mehr Hilfe, als ein Einzelner Ihnen geben kann. Sie brauchen die Polizei.«

Munir schüttelte heftig den Kopf. »Nein! Sie kennen seine neueste Forderung noch nicht! Die Polizei kann mir dabei nicht helfen! Das können nur Sie! Bitte, hören Sie sich das an!«

Jack folgte ihm einen Flur entlang. Er kam an einem Zimmer vorbei, in dem ein aufblasbares Kampfflugzeug an der Decke hing und eine riesige New-York-Giants-Fahne an die Wand geheftet war. In einem anderen Zimmer wartete Jack, während Munirs zitternde Finger sich mit dem Bandgerät abmühten. Schließlich lief es an. Jack erkannte Munirs Stimme kaum, die dem Anrufer ihre Wut und ihren Abscheu entgegenschleuderte. Dann lachte der andere.

»ANRUFER: Nun, es sieht so aus, als hättest du mein kleines Präsent bekommen.

MUNIR: Sie widerliches, abscheuliches, verkommenes …

ANRUFER: Halt, Muuunir. Wir wollen doch nicht zu persönlich werden. Das hat nichts mit dir und mir zu tun. Das ist eher eine Frage internationaler Diplomatie.

MUNIR: Wie … (ersticktes Schluchzen) wie konnten Sie nur?

ANRUFER: Das war ganz einfach, Muuunir. Ich habe ganz einfach daran gedacht, wie deine Leute meinen Bruder abgemurkst haben, und da ging das wie von selbst. Das ist auch etwas, was du dir von jetzt an hinter die Ohren schreiben solltest.

MUNIR: Lassen Sie sie gehen und nehmen Sie mich dafür. Sie können mich als Gefangenen haben. Sie können … Sie können mich auch in Stücke schneiden, wenn es Ihnen darauf ankommt. Aber bitte, ich flehe Sie an, lassen Sie meine Frau und meinen Sohn gehen.

ANRUFER (lacht): Dich in Stücke schneiden? Muuunir, du kannst wohl hellsehen oder so was. Genau das habe ich mir auch überlegt! Ist das nicht erstaunlich?

MUNIR: Sie meinen, Sie lassen Sie gehen?

ANRUFER: Irgendwann – wenn ich dich lange genug durch die Mangel gedreht habe. Aber lass uns nicht vom Thema abkommen. Also von dir in Stücken. Das ist doch mal eine Idee. Nur dass ich das nicht tun werde. Du wirst das tun.«

MUNIR: Was meinen Sie damit?

ANRUFER: Genau das, was ich gerade gesagt habe, Muuunir. Ich will ein Stück von dir. Einen von deinen Fingern. Ich überlasse dir die Wahl, welchen. Aber ich will, dass du ihn dir abhackst, damit du ihn mir morgen Früh zuschicken kannst.

MUNIR: Das können Sie doch nicht ernst meinen.

ANRUFER: Und ob ich das kann. Ich meine das vollkommen ernst, darauf kannst du wetten.

MUNIR: Aber wie soll ich das machen? Ich kann das nicht.

ANRUFER: Dann überlegst du dir besser etwas, Muuunir. Oder das nächste Päckchen, das du bekommst, fällt ein wenig größer aus. Da ist dann eine ganze Hand drin, (lacht) Na ja, vielleicht keine ganze Hand. Einer der Finger fehlt ja schon.

MUNIR: Oh nein! Bitte! Es muss doch …

ANRUFER: Ich rufe morgen wieder an, um dir zu sagen, wo du den Finger hinschicken sollst. Und komm gar nicht erst auf den Gedanken, zur Polizei zu gehen. Wenn du das tust, dann ist das nächste Paket viel größer. Etwa kopfgroß. Viel Spaß beim Schnippeln, Muuunir.

Munir schaltete das Gerät aus und wandte sich zu Jack.

»Verstehen Sie jetzt, warum ich Ihre Hilfe brauche?«

»Nein. Ich habe Ihnen doch gesagt, die Polizei ist viel besser dazu ausgerüstet, diesen Kerl zur Strecke zu bringen.«

»Aber würden die mir auch helfen, mir meinen Finger abzuschneiden?«

»Vergessen Sie’s!«, sagte Jack und schluckte schwer. »Ganz bestimmt nicht.«

»Aber ich kann es nicht selbst tun. Ich habe es versucht, aber ich kann die Hand nicht ruhig halten. Ich will es ja, aber ich schaffe es nicht allein.« Munir sah ihm fest in die Augen. »Bitte. Sie sind meine letzte Hoffnung. Sie müssen es tun.«

»Ziehen Sie mich da nicht hinein.« Jack wollte weg von hier. Augenblicklich. »Nur um das klarzustellen: Nur weil Sie mich brauchen, heißt das noch lange nicht, dass Sie mir Vorschriften machen können. Nur weil ich das tun könnte, heißt das noch nicht, dass ich es tun muss. Und in diesem Fall bezweifle ich ernsthaft, ob ich das tun könnte. Also behalten Sie Ihre Finger, rufen Sie den Notruf an und lassen sich helfen.«

»Nein!« Der Ärger überdeckte die Angst und die Qual in Munirs Stimme. »Ich werde nicht das Leben von meiner Frau und meinem Kind riskieren!«

Er begab sich wieder in die Küche und hob das Beil. Jack war plötzlich in Alarmstimmung. Der Kerl war nun offensichtlich mit den Nerven am Ende. Bei dem war im Augenblick alles möglich.

»Ich war bisher nicht Manns genug, das selbst zu tun«, sagte er und hob das Beil, »aber ich sehe, dass ich weder von Ihnen noch von jemand sonst Hilfe erwarten kann. Also muss ich es eben doch selbst machen!«

Jack blieb abwartend stehen und sah zu, wie Munir die linke Hand auf die Tischplatte legte, die Finger abspreizte und die Hand so drehte, dass der Daumen an seiner linken Hüfte entlang deutete. Jack machte keinen Versuch, ihn aufzuhalten. Munir tat das, was er für das einzig Richtige hielt. Er hob das Fleischerbeil über den Kopf. Da verharrte es einen Augenblick regungslos, wie ein Lemming, der Fracksausen bekommt, dann rammte Munir mit einem Wimmern der Angst und des Ekels das Beil in seine Hand.

Beziehungsweise in die Tischplatte, wo eben noch seine Hand gewesen war.

Weinend brach er dann auf dem Stuhl zusammen. Sein kummervolles, selbstverachtendes Schluchzen war zum Steinerweichen.

»Na gut, verdammt noch mal«, sagte Jack. Er wusste, es würde ihm nur Arger einbringen, aber er ertrug es nicht mehr. Er versetzte der Wand einen Tritt. »Ich werde es tun.«

 

»Bereit?«

Munirs linke Hand war auf die Tischplatte geschnallt. Munir selbst war mit jedem Schmerzmittel abgefüllt, das sich in der Hausapotheke finden ließ – Novalgin, Tramal, Codein. Einige waren Generika. Jack war das egal. Er wollte Munirs Schmerzempfinden so weit wie möglich herunterfahren. Wenn der Kerl doch trinken würde. Er hätte es bei Weitem vorgezogen, das bei jemandem zu tun, der alkoholisiert war. Oder unter Drogen stand. Jack hatte Valium besorgen wollen. Aber Munir hatte Nein gesagt. Kein Alkohol. Keine harten Schmerzmittel.

Sturer Kerl.

Jack hatte noch nie jemandem den Finger abgehackt. Er wollte es richtig machen. Mit einem Schlag. Ohne einen zweiten Versuch. Ein Zentimeter zu weit nach rechts, und Munir würde nur das erste Glied des kleinen Fingers verlieren. Ein Zentimeter zu weit nach links, und der Ringfinger wäre auch mit weg. Also hatte Jack sich eine Führung gebastelt. Er hatte ein Schneidebrett aus Plastik gefunden, hatte an einer Seite eine Einkerbung hineingeschnitzt und hielt das Brett jetzt aufrecht, wobei die Einkerbung genau über der Wurzel von Munirs kleinem Finger stand, der Rest der Hand befand sich sicher auf der anderen Seite des Bretts. Um den Finger sauber abzutrennen, musste er jetzt nur noch so kräftig wie möglich direkt am Brett entlang hacken.

Das war alles.

So einfach.

»Ich bin bereit«, sagte Munir.

Er war schweißgebadet. Seine dunklen Augen sahen zu Jack auf, dann nickte er, stopfte sich einen Putzlappen in den Mund und wandte den Kopf ab.

Super, dachte Jack. Freut mich, dass du bereit bist. Aber was ist mit mir?

Jetzt oder nie!

Er richtete das Schneidbrett aus, hob das Beil …

Er konnte es nicht tun.

Es muss sein.

Er holte tief Luft, verstärkte seinen Griff …

… und rammte die Schneide in die Wand.

Munir sprang auf, drehte sich herum und riss sich den Lappen aus dem Mund.

»Was …? Wieso?«

»Das funktioniert so nicht.« Jack ließ das Schneidbrett fallen und begann, in der Küche auf und ab zu tigern. »Es muss noch einen anderen Weg geben. Er lässt uns nach seiner Pfeife tanzen. Wir spielen die ganze Zeit nach seinen Regeln.«

»Es gibt keine anderen«, sagte Munir.

»Doch, gibt es.«

Jack tigerte weiter durch den Raum. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, dass man sich nicht vom Gegner alle Karten zuteilen lassen durfte. Er sollte meinen, dass er die Karten kontrollierte, während man sich aus seinem eigenen Spiel bediente.

Munir bewegte die Finger. »Bitte. Ich kann es nicht riskieren, diesen Wahnsinnigen zu erzürnen.«

Jack wirbelte zu ihm herum. Er hatte so etwas wie eine Idee.

»Wollen Sie, dass ich Ihnen bei dieser Sache helfe?«

»Ja. Natürlich.«

»Dann machen wir es auf meine Weise. Und zwar nur auf meine Weise.« Er begann die Fesseln zu lösen, mit denen Munirs Hand auf der Tischplatte fixiert war. »Als Allererstes mache ich Sie mal los. Und dann telefonieren wir ein bisschen rum.«

 

Munir verstand das alles nicht. Er saß wie betäubt da und nippte an einem Glas Milch, um seinen Magen zu beruhigen, der aufgrund der Angst und viel zu vieler Pillen aus dem Gleichgewicht geraten war. Jack telefonierte, aber die Worte ergaben für ihn keinen Sinn.

»Hallo, Pete … ich bin’s, Jack … ja, richtig, der Jack … Pass auf. Ich brauche ein Teil aus deinem Warenlager … nur ein kleines Stück. Simple Sache … Gut. Du schaffst das in ein, zwei Stunden. Die Sache ist die, ich brauch es bis morgen Früh. Kriegst du das hin? … Klasse. Ich komme nachher vorbei. Ach übrigens – wie viel? … Sagen wir zwei und das Geschäft ist geritzt … Gut. Bis dann.«

Dann legte er auf, konsultierte ein kleines Adressbuch und rief eine andere Nummer an.

»Hey, Teddy. Ich bin’s. Jack … Ja, ich weiß, aber das hier kann nicht bis morgen Früh warten. Was hältst du davon, gleich mal kurzfristig für mich aufzumachen? Ich brauche ungefähr zehn Minuten … das nützt mir gar nichts, Teddy, es muss wirklich sofort sein. Augenblicklich … Na gut, in zwanzig Minuten.«

Jack legte auf und nahm Munir das Glas aus der Hand. Munir spürte, wie er am Arm hochgezogen und zur Tür geführt wurde.

»Können Sie uns Zutritt zu Ihrem Büro verschaffen?«

Munir nickte. »Ich brauche meine Zugangskarte und die Schlüssel, aber sonst … sicher lassen die mich rein.«

»Dann holen Sie die Sachen. Gibt es hier einen Hinterausgang?«

Munir führte ihn mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage und von da zur Hintertür hinaus. Ein Taxi brachte sie zu einem Gemischtwarenladen in der Bleecker Street. Im Laden brannte Licht, aber das Schild an der Tür verkündete: Geschlossen. Jack bedeutete dem Taxifahrer zu warten und klopfte an die Tür. Ein ausgemergelter kleiner Mann ohne jedes Haar, nicht einmal Augenbrauen, öffnete die Tür.

»Du hättest doch einbrechen können, Jack. Mich hätte das nicht gekratzt. Aber ich brauche meinen Schlaf.«

»Ich weiß, Teddy«, erwiderte Jack. »Aber ich brauche Licht für diese Sache und dadurch hätte ich dann unliebsames Aufsehen erregen können.«

Munir folgte Jack zur Malerabteilung am Ende des Ladens. Sie blieben vor den Farbtonmustern stehen. Jack nahm die braune Musterpalette und drehte sich zu ihm um.

»Gib mir die Hand.«

Verblüfft sah Munir, wie Jack die Farbkarten eine nach der anderen gegen seinen Handrücken hielt und sie dann wieder verwarf. Schließlich fand er doch, was er wollte.

»Bingo. Genau der richtige Farbton.«

»Wir sind hier, um Farbe zu kaufen?«

»Nein. Wir kaufen Fleisch – um genau zu sein, Fleisch in der Farbe Goldmokka 169. Also los.«

Und dann ging es schon weiter. Sie winkten Teddy zum Abschied zu und stiegen zurück ins Taxi.

Diesmal ging es zur East Side, die 1st Avenue hoch zur 31. Straße. Jack rannte mit der Farbkarte in ein Gebäude und kam sofort wieder mit leeren Händen zurück. Er sprang wieder ins Taxi.

»Gut. Dann fahren wir jetzt in Ihr Büro.«

»Mein Büro? Warum?«

»Weil wir jetzt ein paar Stunden Zeit haben und die genauso gut damit verbringen können, dass wir uns jeden ansehen, den Sie im Laufe des letzten Jahres entlassen haben.«

Munir hielt das für verlorene Liebesmühe, aber er hatte sich in Jacks Hände begeben. Er musste ihm vertrauen. Und so erschöpft er auch war, an Schlaf war jetzt nicht zu denken.

Er gab dem Fahrer die Adresse zu seinem Büro.

 

»Der hier klingt vielversprechend«, meinte Jack. »Erinnern Sie sich an ihn?«

Bis zu diesem Zeitpunkt war Munir nie bewusst geworden, wie viele Leute er im Laufe eines Jahres anstellte oder entließ. Wegrationalisierte, wie man das heute nannte. Er war verblüfft.

›Richard Hollander‹ lautete der Name auf dem Aktendeckel. Mit dem Namen konnte er nichts anfangen, aber als er die Arbeitsbeurteilungen sah, fiel es ihm wieder ein.

»Nicht der. Jeder andere, aber nicht der.«

»Ach ja? Warum nicht?«

»Er war so …« Während Munir nach dem richtigen Wort suchte, versuchte er, sich an alles zu erinnern, was ihm zu Hollander einfiel, aber das war nicht viel. Der Mann hatte nur kurz in der Firma gearbeitet, und während der ganzen Zeit hatte er sich durch nichts hervorgehoben. Dann fand er das Wort, das er suchte. „… ineffektiv.«

»Ach wirklich?«

»Ja. Er kriegte nie etwas geregelt. Jeder Auftrag und jeder Bericht, mit dem er betraut wurde, kam entweder zu spät oder war unvollständig. Seine Zeugnisse waren ausgezeichnet – sehr guter Abschluss an einer renommierten Universität und solche Sachen – aber es gelang ihm einfach nicht, sein theoretisches Wissen in die Praxis umzusetzen. Deswegen wurde er dann auch freigestellt.«

»Und was passierte dann? Gebrüll, Beschimpfungen, Drohungen oder so was?«

»Nein.« Munir erinnerte sich, wie er Hollander in Kenntnis gesetzt hatte. Der Mann hatte nur genickt und begonnen, seinen Schreibtisch auszuräumen. Er hatte nicht einmal nach dem Grund gefragt. »Er wusste, dass seine Leistungen miserabel waren. Er hat die Kündigung wahrscheinlich erwartet. Außerdem hatte er keinen Südstaatenakzent. Er ist es nicht.«

Munir gab den Aktendeckel zurück, aber statt ihn wegzulegen, öffnete Jack ihn erneut und ging ihn noch einmal durch.

»Ich wäre mir da nicht so sicher. Einen Dialekt kann man nachmachen. Und wenn ich einen Mann rauspicken sollte, der aus Rachedurst den Verstand verliert, dann wäre das so jemand: unverheiratet, lebt alleine …«

»Wo steht, dass er allein lebt?«

»Das steht da nicht. Aber als Kontakt bei einem Unfall ist seine Mutter in Massachusetts angegeben. Wenn es einen Partner oder auch nur jemanden gibt, der mit ihm zusammenwohnt, dann wäre der doch angegeben, meinen Sie nicht? ›Keine ausgleichenden Einflüsse^ wie die Psychiater in so einem Fall sagen. Und dann seine bevorzugten Freizeitbeschäftigungen: Schwimmen und Joggen. Das ist der typische Einzelgänger.«

»Aber das macht ihn doch noch nicht zu einem Psychopathen. Ich schätze, Sie sind auch ein Einzelgänger, und Sie …«

Die Worte versiegten, als Munir diesen Gedanken zu Ende dachte.

Jack grinste. »Richtig, Munir. Denken Sie mal drüber nach.«

Er griff nach dem Telefon und tippte eine Nummer ein. Nach einem Moment sprach er mit tiefer, respekteinflößender Stimme: »Dies ist ein Notfall. Bitte nehmen Sie ab. Dies ist ein Notfall.« Einen Augenblick später legte er auf und schrieb etwas auf einen Notizblock. »Ich habe mir die Adresse von diesem Typen vorsorglich aufgeschrieben. Es ist fast vier Uhr nachts und Mr Hollander ist nicht zu Hause. Sein Anrufbeantworter läuft, aber selbst wenn er erst mal wartete, wer dran ist, hätte er doch auf diese Notfallnachricht reagiert, oder?«

Munir nickte. »Höchstwahrscheinlich. Aber was, wenn er da gar nicht mehr wohnt?«

»Das ist natürlich eine Möglichkeit.« Jack sah auf seine Armbanduhr. »Aber jetzt muss ich erst mal ein Paket abholen. Sie bleiben hier und warten neben dem Telefon. Ich rufe Sie an, sobald ich es habe.«

Bevor Munir noch weitersprechen konnte, war Jack bereits verschwunden und er blieb allein in seinem Büro zurück und starrte auf die Familienfotos, die auf seinem Schreibtisch aufgestellt waren. Er begann zu weinen.

 

Das Telefon riss Munir aus einem leichten Dämmerzustand. Verwirrt fuhr er auf. Was tat er im Büro? Er sollte zu Hause sein …

Dann fiel ihm alles wieder ein.

Jack war am Apparat. »Treffen Sie mich vor der Tür.«

Unten auf der Straße warteten zwei Gestalten auf ihn. Im Osten wurde es langsam heller. Eine der Gestalten war Jack, die andere ein magerer Mann von Munirs Größe mit schulterlangem Haar und einem Ziegenbärtchen. Jack verzichtete auf Vorstellungen. Stattdessen führte er sie um die Ecke zu einem kleinen Imbiss. Er starrte durch das offene Fenster auf die Lichter im Innern.

»Hier dürfte es hell genug sein.«

Er bestellte zwei Kaffee und zwei Cheeseburger und brachte sie zum hintersten Tisch in dem leeren Imbiss. Jack und der Fremde rutschten auf die Bank auf der einen Seite des Tisches, Munir setzte sich ihnen gegenüber. Immer noch keine Vorstellung.

»Also gut, Munir«, sagte Jack. »Leg die Hand auf den Tisch.«

Munir gehorchte und legte die linke Hand mit offener Handfläche auf den Tisch. Er fragte sich, was das wohl werden mochte.

»Dann wollen wir mal die Ware sehen«, sagte Jack zu dem Fremden.

Der magere Mann zog ein kleines längliches Päckchen aus der Tasche. Es schien in braune Papierhandtücher eingewickelt. Er wickelte das Teil aus und legte es neben Munirs Hand.

Es war ein Finger. Nicht Robbys Finger. Der hier war anders. Der eines Erwachsenen.

Munir zog seine Hand zurück auf seinen Schoß und starrte auf den Tisch.

»Na, komm schon, Munir«, sagte Jack. »Wir müssen die Farbe überprüfen.«

Vorsichtig schob Munir seine Hand wieder auf den Tisch und starrte das andere Ding verstohlen an. Es sah so echt aus.

»Er ist zu lang und die Farbe passt nur so ungefähr«, sagte Jack.

»Das ist gut genug«, sagte der Fremde. »Dafür, dass es so schnell gehen musste, ist das sogar verdammt gut.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Jack und reichte ihm einen Umschlag. »Das war’s dann.«

Der Mann mit dem Ziegenbärtchen nahm den Umschlag, schob ihn in sein Hemd, ohne den Inhalt zu kontrollieren, und ging, ohne sich zu verabschieden.

Munir starrte auf den Finger. Das getrocknete Blut auf der Schnittfläche, die feine Zeichnung des Knöchels und des Fingernagels – selbst bis zum Dreck unter dem Fingernagel – es war unglaublich. Er sah fast echt aus.

»Das wird nicht funktionieren«, sagte er. »Egal, wie echt der auch aussieht, wenn der Kerl herausfindet, dass es eine Attrappe ist …«

»Attrappe?«, fragte Jack und rührte Zucker in seinen Kaffee. »Wer sagt, dass das eine Attrappe ist?«

Munir riss die Hand vom Tisch und wich zurück. Er wollte im Plastikbezug der Sitzbank versinken, bis er aus der anderen Seite wieder herauskam, er wollte fort von diesem Mann und dem schrecklichen Teil, das da auf dem Tisch lag. Er richtete seinen Blick auf die Bank neben sich und zwang sich dazu, ein paar Worte hervorzustoßen. Trotz des Brechreizes, der ihn zu übermannen drohte.

»Bitte … nehmen Sie … das weg.«

Er hörte das leise Rascheln von Papier, das zusammengefaltet und über den Tisch gezogen wurde, und dann Jacks Stimme.

»Okay, Sie Mimose. Sie können wieder hinsehen. Es ist weg.«

Munir hielt seinen Blick weiter abgewandt. In was war er da hineingeraten? Um seine Familie vor einem brutalen Irren zu schützen, hatte er sich in die Hände eines anderen Irren begeben. In was für einer Welt lebte er eigentlich?

Er spürte, wie sich ein Schluchzen in seiner Kehle aufbaute. Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr geweint. Bis letzte Woche. Aber seit Tagen konnte er die ganze Zeit nur noch weinen. Oder schreien. Oder beides.

Er sah Jacks Hand, die ihm einen Kaffee hinschob.

»Hier. Trinken Sie das. Sie brauchen eine Menge davon. Sie müssen wach bleiben.«

Eine verrückte Hoffnung regte sich in Munir.

»Meinen Sie … Meinen Sie, der Mann am Telefon könnte mit Robby das Gleiche gemacht haben? Vielleicht ist er zu einer Leichenhalle gegangen und …«

Jack schüttelte langsam den Kopf, als würde ihn die Bewegung schmerzen. Einen Augenblick konnte Munir durch die Mauer hindurchblicken, die Jack um sich aufgebaut hatte. Munir sah Mitleid.

»Quälen Sie sich nicht selbst«, sagte Jack.

Er hat recht, dachte Munir, dieser Irre am Telefon macht seinen Job auch so schon gut genug.

»Das wird nicht funktionieren«, wiederholte Munir und kämpfte gegen die Schwärze der Verzweiflung an. »Er wird merken, dass er getäuscht worden ist und dann muss mein Junge dafür büßen.«

»Egal, was Sie tun, er wird immer einen Vorwand finden, um Ihrem Sohn etwas anzutun. Oder Ihrer Frau. Das ist doch das, worum es bei der ganzen Sache geht – er will, dass Sie leiden. Aber diese Laune von ihm gibt uns eine Chance herauszufinden, wer er ist und wo er sich versteckt.«

»Wie das?«

»Er will Ihren Finger. Wie soll er den kriegen? Er kann uns ja schlecht eine Adresse geben, wo wir den hinschicken sollen. Also muss er eine Übergabe arrangieren – irgendeinen Ort, wo wir den Finger ablegen und er ihn dann abholt. Und da erwischen wir ihn dann und zwingen ihn, uns zu verraten, wo er Ihre Familie gefangen hält.«

»Und was ist, wenn er sich weigert, das zu verraten?«

Jacks Stimme war sanft, sein Nicken fast unmerklich. Munir schauderte, als er sah, was sich in diesem Augenblick alles in seinen Augen spiegelte.

»Ach … er wird es uns schon verraten.«

»Ich glaube, ich werde das nicht tun«, sagte Munir und starrte auf seine Finger – auf alle zehn. »Ich vermute, er hält mich für einen Feigling, weil er alle Araber für Feiglinge hält. Das hat er gesagt. Und er hatte recht. Ich konnte es nicht tun.«

»Verdammt«, sagte Jack, »ich konnte es auch nicht tun, und dabei war es nicht mal meine Hand. Aber ich bin sicher, Sie hätten es schließlich doch getan, wenn mir keine Alternative eingefallen wäre.«

Hätte ich das wirklich getan?, überlegte Munir. Wäre ich dazu imstande gewesen?

Vielleicht hätte er es getan, nur um diesem Wahnsinnigen am Telefon seinen Mut zu beweisen. Im Laufe der Jahre hatte Munir miterlebt, wie sich das Bild des Arabers in den Augen der westlichen Welt aufgrund der Terrorangst immer weiter verzerrt hatte: Ein Araber war jemand, der Schulbusse in die Luft sprengte und Flugzeuge entführte und hilflose Fluggäste mit Pistolen schlug. Arabische Männer versteckten sich bei ihren Anschlägen hinter den Röcken unbewaffneter Frauen und Kinder. Deswegen war Munir so glücklich gewesen, als der Mut und die Geschicklichkeit der saudischen Kampfpiloten während des Golfkrieges überall im amerikanischen Fernsehen zu sehen waren. Jetzt konnte alle Welt sehen, wie arabische Kämpfer sich tapfer einem Feind entgegenstellten, der zurückschoss.

»Falls bei dieser Sache etwas schiefgeht, weil ich Sie um Hilfe gebeten habe, dann … Ich könnte mir das nie verzeihen.«

»So dürfen Sie nicht denken. Das fuhrt zu nichts. Und Sie müssen der Realität ins Auge sehen: Egal, was Sie tun – ob Sie sich jetzt einen Finger abschneiden, oder zwei, Ihr Bein, ob Sie einen Menschen töten oder ganz Manhattan in Schutt und Asche legen – es wird nie genug sein. Er wird immer mehr fordern, bis Sie tot sind. Sie müssen es jetzt stoppen, bevor es noch schlimmer wird. Verstehen Sie das?«

Munir nickte. »Aber ich habe solche Angst. Mein armer Robby … er muss solche Schmerzen haben und so viel Angst. Und Barbara …«

»Genau darum geht es. Wenn Sie nicht wollen, dass das immer so weitergeht, dann müssen Sie in die Offensive gehen. Jetzt. Also lassen Sie uns jetzt in Ihre Wohnung zurückfahren und dann sehen wir mal, wie die Übergabe des Fingers erfolgen soll.«

 

Als sie wieder in Munirs Wohnung waren, bandagierte Jack Munirs Hand dick mit Mullbinden, um eine Verletzung vorzutäuschen. Während sie darauf warteten, dass das Telefon klingelte, ging Jack mit dem Finger ins Badezimmer und wusch ihn.

»Es soll doch so überzeugend wie möglich aussehen«, sagte er. »Sie wirken nicht wie jemand, der dreckige Fingernägel hat.«

Es war schon nach neun, als der Anruf schließlich kam. Munir biss die Zähne zusammen, als er die verhasste Stimme hörte.

Jack stand neben ihm, hielt ihn am Arm und hörte durch den Kopfhörer mit, den er in den Anrufbeantworter gestöpselt hatte. Er hatte Munir angewiesen, was er sagen sollte, und zusammen hatten sie geübt, wie er das sagen sollte, wie es klingen musste.

»Nun, Muuunir. Hast du den Finger für mich?«

»Ja«, sagte er in dem erstickten Tonfall, den sie geübt hatten. »Ich habe ihn.«

Es folgte eine Pause am anderen Ende der Leitung, als sei der Anrufer überrascht über die Antwort.

»Du hast es getan? Du hast es tatsächlich getan?«

»Ja. Sie haben mir keine Wahl gelassen.«

»Das hätte ich nicht erwartet. Wieso klingst du so komisch?«

»Codein. Gegen die Schmerzen.«

»Ja. Ich wette, das tut weh. Aber so soll es auch sein. Schmerzen sind gut für dich. Und denk einfach dran: Dein Kleiner hat das ohne Codein durchgemacht.«

Jacks Griff auf seinem Arm verstärkte sich, als Munir auffahren wollte. Jack drückte ihn wieder auf seinen Stuhl zurück.

»Bitte tun Sie Robby nichts mehr.« Diesmal war der erstickte Klang in Munirs Stimme nicht gespielt. »Ich habe getan, was Sie gesagt haben. Jetzt lassen Sie die beiden gehen.«

»Nicht so schnell, Muuunir. Woher soll ich wissen, dass du dir wirklich den Finger abgeschnitten hast? Du würdest mich doch nicht verarschen, oder?«

»Ob, bitte. Ich würde bei etwas so Wichtigem nicht lügen.«

Aber genau das tue ich, dachte er. Vergib mir, mein Sohn, wenn das hier schiefgeht.

»Na, wir werden ja sehen. Also hör zu, was du jetzt tun wirst: Du packst deine Gabe in eine braune Butterbrottüte und gehst Richtung Downtown. Du gehst zu dem Briefkasten an der Ecke, wo Lafayette Street, Astor Place und die 8. Straße aufeinandertreffen. Da legst du die Tüte auf dem Briefkasten ab, dann gehst du einen halben Block weiter und bleibst vor dem Astor-Place-Theater stehen. Hast du das verstanden?«

»Ja. Ich glaube schon.«

»Natürlich hast du das. Selbst ein Holzkopf wie du sollte das hinkriegen.«

»Aber wann soll ich das tun?«

»Punkt zehn.«

»Heute Morgen?« Er sah auf seine Uhr. »Aber es ist schon fast halb zehn.«

»Wow! Er kann sogar schon die Uhr lesen! Was für eine überragende Intelligenz! Das stimmt, Muuunir. Und verspäte dich bloß nicht, sonst muss ich davon ausgehen, dass du mich angelogen hast. Und wir wissen doch beide, was dann passiert, nicht wahr?«

»Aber was, wenn …«

»Bis gleich, Muuunir.«

Die Leitung war tot. Mit hämmerndem Pulsschlag legte Munir den Hörer wieder auf und drehte sich zu Jack um.

»Wir müssen uns beeilen! Wir haben keine Zeit zu verlieren!«

Jack nickte. »Der Kerl ist nicht dumm. Er gibt uns keine Gelegenheit, ihm eine Falle zu stellen.«

»Ich brauche den … Finger«, sagte Munir. Selbst jetzt fand er den Gedanken noch irritierend, obwohl er Stunden Zeit gehabt hatte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass der Finger echt war. »Könnten Sie ihn in der Papiertüte verstauen?«

Jack nickte. Munir führte ihn in die Küche und reichte ihm eine Butterbrottüte. Jack ließ den Finger hineinfallen und gab ihm die Tüte zurück.

»Sie müssen allein kommen, also gehen Sie vor. Ich folge Ihnen ein paar Minuten später. Machen Sie sich keine Gedanken, falls Sie mich nicht sehen. Ich werde da sein. Und was Sie auch tun, halten Sie sich an die Instruktionen – sonst nichts. Haben Sie das verstanden? Nichts weiter. Die Improvisation ist meine Sache. Und jetzt los.«

Munir rannte auf die Straße hinunter und betete zu Allah, dass er umgehend ein Taxi finden möge.

 

Irgendwie kam Jacks Taxi vor dem von Munir im East Village an. Er bekam einen Schreck, als er ihn nicht finden konnte. Dann hielt ein Taxi mit quietschenden Bremsen und Munir sprang heraus. Jack sah zu, wie er zum Briefkasten hinüberrannte und die braune Papiertüte darauf ablegte. Jack verzog sich in eine Telefonzelle und tat so, als würde er telefonieren, während Munir zum Astor-Place-Theater weiterlief und vor einem Poster der Blue Man Group stehen blieb.

Jack begann eine angeregte Unterhaltung mit dem Freizeichen, während er die Umgebung musterte. Die Obdachlosen aus der Gegend schienen die einzigen Leute zu sein, die um diese Zeit auf der Straße waren. Entweder schlurften sie ziellos über die Straße, als wären sie von der strahlenden Morgensonne geblendet, oder sie kauerten sich irgendwo auf den Bürgersteig, wie abgelegte Lumpenbündel. Der Irre konnte einer von ihnen sein. Mit ein bisschen Dreck und abgerissenen Klamotten konnte man sich gut tarnen. Was sich schwerer verbergen ließ, war eine zielgerichtete Haltung. Jack hielt Ausschau nach jemandem, der so aussah, als habe er etwas vor.

Hollander … wenn es doch in der Personalakte auch ein Foto gegeben hätte. Jack war sich sicher, dass er hinter alldem steckte. Hätte er bloß vorher die Zeit gehabt, zu seiner Wohnung zu fahren. Vielleicht hätte er da die …

Und dann sah er ihn. Ein hochgewachsener bärtiger Mann, der von Osten die 8. Straße entlangkam und sich zwischen den Pennern hindurchschlängelte. Er war in eine schmutzige Armeejacke gequetscht, die ihm ein paar Nummern zu klein war und die Manschetten von mindestens drei der vielen Hemden, die er darunter trug, sahen unten aus den Ärmeln hervor. Der Hals einer Flasche billigen Fusels ragte wie ein Periskop aus einer der zerschlissenen Taschen und die durchgescheuerten Knie der grünen Arbeitshose enthüllten fadenscheinige Jeans darunter. Durchdringende blaue Augen unter einer Navymütze musterten die Umgebung.

Der Psychopath? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber eines war sicher. Dieser Kerl stromerte nicht haltlos herum – er hatte ein Ziel. Er steuerte direkt auf den Briefkasten zu. Als er dort ankam, blieb er stehen, blickte über seine Schulter dahin zurück, von woher er gekommen war, dann griff er sich die braune Papiertüte, die Munir dort abgelegt hatte. Er griff hinein, zog den mit Krepppapier umwickelten Inhalt heraus und begann, ihn auszupacken.

Plötzlich schrie er entsetzt auf und warf den Finger auf die Straße. Der rollte in einem Bogen in den Müll am Bordstein. Der Mann blickte wieder über die Schulter und fing an, mit stolpernden Schritten in die andere Richtung wegzurennen, auf Jack zu und weg von Munir.

»Scheiße!«, fluchte Jack vor sich hin und baute das Wort in sein Gespräch ein, konstruierte ein ganzes Satzgefüge daraus, während er die ganze Zeit so tat, als würde er die Vorgänge um den Briefkasten nicht bemerken.

Irgendetwas Merkwürdiges passierte hier. Aber was? Hatte der Psychopath jemand anderen vorgeschickt? Jack war klar, dass der Mann schlau war, aber er hatte erwartet, dass der den Finger persönlich und aus der Nähe sehen wollte, um sich davon zu überzeugen, dass er auch echt war.

Aber es konnte eben auch sein, dass der Penner wirklich der Psycho war und dass er vor ein paar Sekunden genau das getan hatte.

Er war jetzt beinahe auf gleicher Höhe mit der Telefonzelle. Jack sah keine andere Möglichkeit, als ihm zu folgen. Er würde ihm einen gewissen Vorsprung lassen und dann …

Er hörte schwere Schritte. Munir kam auf ihn zu – rannte auf ihn zu, raste mit gebleckten Zähnen und lodernden Augen über den Bürgersteig auf den Penner zu. Jack unterdrückte seinen ersten überraschten Impuls, sich zwischen die beiden zu werfen. Das würde auch nichts nützen. Munir war außer Kontrolle geraten und hatte sich zu sehr in Rage gebracht. Außerdem brachte es gar nichts, wenn er seinen Anteil an dieser Sache jetzt enthüllte.

Munir ergriff den weit größeren Mann am Ellbogen und wirbelte ihn herum.

»Wo sind sie?«, kreischte er. Sein Gesicht hatte hektische Flecken und winzige Speicheltropfen sammelten sich in seinen Mundwinkeln. »Los, sag es, du Schwein!«

Schwein? Vielleicht war das für einen Moslem eine tödliche Beleidigung, aber in dieser Gegend war man Härteres gewohnt.

Der Penner wich zurück und versuchte, Munir abzuschütteln. Sein offener Mund entblößte lückenhafte Reihen verfaulter Zähne.

»Hey, Mann …!«

»Sag es, oder ich bring dich um!«, brüllte Munir, ergriff den Mann an den Oberarmen und schüttelte ihn.

»Lass mich in Ruhe, Mann«, sagte der Kerl, als sein Kopf hin und her flog wie bei jemandem, dem man gerade von hinten in den Wagen gefahren ist. Wenn Munir so weitermachte, hatte der in Kürze bestimmt ein Schleudertrauma. »Ich weiß gar nicht, wovon du redest!«

»Doch, das tun Sie! Sie sind direkt auf das Paket losgegangen. Sie haben den Finger gesehen – jetzt sagen Sie mir auch, wo sie sind!«

»Hey, hör zu, Mann: Ich hab keine Ahnung, was du da sagst. Da is ‘n Typ auf der Straße auf mich zugekommen und hat mir gesagt, ich soll mal checken, was in der Tüte auf dem Briefkasten ist. Er hat mir dafür ‘n Fünfer gegeben und gesagt, ich soll hochhalten, was ich drin finde.«

»Wer war das?«, fragte Munir, ließ den Mann los und drehte sich um, um die 8. Straße zu überblicken. »Wo ist er?«

»Keine Ahnung.«

Munir griff sich den Kerl erneut, diesmal am Kragen seiner Militärjacke.

»Wie hat er ausgesehen?«

»Weiß ich nich’. Nur so’n Kerl. Was willst du überhaupt von mir, Mann? Ich hab nichts getan. Und ich will auch nichts mit abgeschnittenen Fingern zu tun haben. Und jetzt lass mich los.«

Jack hatte genug gehört. »Lassen Sie ihn gehen«, sagte er zu Munir, tat aber weiter so, als würde er in den Hörer sprechen.

Munir warf ihm einen verdutzten Blick zu. »Nein. Er kann uns sagen …«

»Er kann uns nichts sagen, was wir nicht schon wissen. Lassen Sie ihn los und fahren Sie zurück in Ihre Wohnung. Sie haben bereits genug Schaden angerichtet.«

Munir wurde blass und löste seinen Griff. Der Mann stolperte ein paar Schritte zurück, dann wandte er sich um und rannte die Lafayette Street hinunter. Munir sah sich um und bemerkte, dass alle Penner ihn anstarrten. Er blickte auf seine Hände – die freie und die bandagierte Hand – als hätten sie ihn verraten.

»Sie meinen doch nicht …?«

»Sehen Sie zu, dass Sie nach Hause kommen. Der wird Sie anrufen. Und ich auch.«

Jack sah hinter Munir her, der wie ein Schlafwandler auf die Bowery zutorkelte. Er hängte den Hörer ein und lehnte sich gegen die Wand der Telefonzelle.

Was für eine Katastrophe. Der Psycho hatte sie hereingelegt, indem er einen Penner damit beauftragt hatte, den Finger zu holen. Aber wieso konnte ein so gestörter Typ damit zufrieden sein, Munirs Finger aus einer solchen Entfernung zu sehen? Bisher hatte er eher den Eindruck gehabt, als wolle er ihn wirklich in seinen schmierigen Händen halten.

Aber vielleicht war ihm das auch nicht mehr wichtig. Weil es keine Rolle mehr spielte.

Jack zog den Notizzettel aus der Tasche, auf dem er sich Richard Hollanders Adresse notiert hatte. Es wurde Zeit, Saud Petroleums ehemaligem Angestellten einen Besuch abzustatten.

 

Munir tigerte in seiner Wohnung umher, wanderte ziellos von Raum zu Raum und verfluchte sich selbst. Er war so ein Trottel! So ein Idiot! Aber es war jetzt nicht mehr zu ändern. Er hatte die Nerven verloren. Als er sah, wie der Mann zu der Papiertüte ging und hineingriff, hatte sich alle Vernunft verabschiedet. Alles, was er noch vor sich gesehen hatte, war Robbys kleiner Finger, wie er gestern aus dem Umschlag herausgefallen war.

Danach war alles nur noch verschwommen.

Das Telefon begann zu klingeln.

Oh nein, dachte er. Das ist er jetzt wieder. Allah, lass ihn endlich zufrieden sein. Gewähre ihm die Gnade der Barmherzigkeit.

Er nahm den Hörer ab und hörte die Stimme.

»Das war ja eine ziemliche Show, die du da veranstaltet hast, Muuunir.«

»Bitte. Ich war aufgebracht. Sie haben meinen abgeschnittenen Finger gesehen. Werden Sie meine Familie jetzt freilassen?«

»Warte mal eine Minute, Muuunir. Ich habe zwar einen Finger durch die Luft fliegen sehen, aber ich weiß nicht sicher, ob das auch wirklich dein Finger war.«

Munir erstarrte mit dem Hörer am Ohr.

»Was … was meinen Sie damit?«

»Ich meine, woher soll ich wissen, dass das ein echter Finger war? Woher weiß ich, dass das nicht eines von diesen Gummidingern war, die man in jedem Ramschladen kaufen kann?«

»Er war echt! Ich schwöre es! Sie haben doch gesehen, wie der Mann reagiert hat!«

»Das war doch nur ein Penner, Muuunir. Diese Leute furchten sich vor ihrem eigenen Schatten. Was weiß der schon?«

»Oh bitte! Sie müssen mir glauben!«

»Das würde ich ja, Muuunir. Das hätte ich wirklich getan, wenn ich nicht gesehen hätte, wie du den Kerl danach angefasst hast. Es ist schon schlimm genug, dass du hinter ihm hergerannt bist, aber ich bin bereit, darüber hinwegzusehen. Ich bin weit großzügiger darin, Fehler zu vergeben, als du es bist, Muuunir. Was mich viel mehr stört, ist die Art, wie du ihn angefasst hast. Du hast mit beiden Händen gleichzeitig zugegriffen«

Munir spürte, wie sein Blut plötzlich weit schwächer pumpte.

»Was meinen Sie?«

»Na ja, ich konnte mir da nicht mehr vorstellen, dass ich da einen Mann sah, der sich gerade einen Finger abgehackt hat, Muuunir. Ich meine, du hast ihn festgehalten, als ob du zwei gesunde Hände hättest. Und das stört mich, Muuunir. Das stört mich kolossal.«

»Nein. Wirklich …«

»Ich muss dir also noch ein Paket schicken, Muuunir.«

»Oh nein! Tun Sie das nicht …«

»Doch. Ein kleines Andenken von deiner Frau.«

»Bitte nicht.«

Er verriet Munir, worin das Andenken bestehen würde, dann legte er auf.

»Nein!«

Munir stieß sich die Knöchel in den Mund und brüllte in seine Faust.

»NEIN!«

 

Jack stand vor der Tür von Richard Hollanders Wohnung.

Es war leicht gewesen, in das Gebäude zu gelangen. Die Adresse in der Personalakte hatte Jack zu einem heruntergekommenen Mietshaus in den westlichen 80ern geführt. Er suchte auf den Briefkästen im schmuddeligen Vestibül und fand R. Hollander immer noch als Mieter von Apartment 3B aufgeführt. Ein paar geübte Bewegungen mit dem eingekerbten Plastiklineal, das er meistens dabei hatte, und Jack stand im Haus.

Er klopfte. Es war nicht gerade ein Hämmern, aber doch drängend genug, um auch den vorsichtigsten Anwohner an den Spion zu locken.

Drei Versuche, keine Antwort. Jack machte sich mit seinen Dietrichen am Schloss zu schaffen. Ein Standardschloss. Es war eingerostet. Er brauchte fast eine Minute, und eine Minute war eine lange Zeit, wenn man in einem Korridor stand und sich am Schloss eines anderen zu schaffen machte. Viel nackter konnte ein voll bekleideter Mann sich in der Öffentlichkeit nicht vorkommen.

Schließlich schnappte der Bolzen zurück. Er zog die CZ75 9mm mit dem Schalldämpfer und betrat die Wohnung in gebückter Haltung.

Alles ruhig. Er brauchte nicht lange, um das Ein-Zimmer-Apartment zu untersuchen. Leer. Er schaltete das Licht an und begann eine gründliche Durchsuchung.

Ordentlich. Das Bett war gemacht, das Mobiliar abgestaubt, die Kleidung lag gefaltet in den Schubladen, es stand kein dreckiges Geschirr in der Spüle. Hollander hatte entweder eine Putzfrau oder einen Putzfimmel. Leute, die sich eine Putzfrau leisten konnten, lebten nicht in so einer Bruchbude, also wohl das Letztere. Nicht gerade das, was Jack von jemandem erwartet hätte, der entlassen wurde, weil er seinen Job nicht geregelt bekam.

Er musterte die Bücherregale. Ein paar Romane und Kurzgeschichtensammlungen – vor allem hochliterarisches Zeug – versprengt zwischen Fachbüchern über Betriebswirtschaft. Und ganz rechts am Rand drei Bücher über den Islam mit Titeln wie Einführung in den Islam und Islam für Anfänger:

Was an sich noch kein Beweis war. Vielleicht hatte Hollander sie gekauft, als er sich bei Saud Petroleum um den Job bewarb.

Vielleicht aber auch erst, nachdem er entlassen worden war.

Jack war bereit, Wetten auf die zweite Möglichkeit abzuschließen. Er hatte ein mieses Gefühl bei diesem Kerl.

Auf dem Tisch stand das Bild eines schlanken, blassen, blonden Mannes mit einer älteren Frau. Vielleicht Hollander und seine Mutter?

Jack durchsuchte die Schubladen und fand eine schwarze Kladde, ein Scheckbuch und einen Posten Briefe. Es schien, als würde Hollander tief im Dispo stehen. Seine MasterCard war fast bis zum Kreditlimit ausgereizt und er zahlte jeden Monat nur den Mindestbetrag zurück. Eine Menge Mahnungen jüngeren Datums und ein paar Absagen von Arbeitsvermittlungen. Er hatte nicht sonderlich viel Glück und vielleicht suchte Mr Richard Hollander ja einen Sündenbock dafür.

Zwischen dem hinteren Deckel und der letzten Seite war eine Quittung von der Brickell Immobiliengesellschaft über eine Tausend-Dollar-Kautionszahlung und die erste Miete für Loft Nr. 629. Datiert vom letzten Monat und ausgestellt auf Sean McCabe.

Loft 629. Wo zum Teufel war das? Und warum hatte Richard Hollander eine Quittung für jemanden anderen? Es sei denn, es war nicht die von jemand anderem. Er hatte also Loft 629 unter falschem Namen angemietet? Das würde erklären, warum es sich um eine Barzahlung handelte. Aber warum sollte jemand, der so gut wie pleite war, ein Loft für tausend Dollar mieten?

Zum Beispiel, um etwas unterzubringen, bei dem es zu gefährlich war, es in der eigenen Wohnung zu lassen. Entführte Menschen etwa.

Jack schrieb sich die Nummer der Brickell Immobiliengesellschaft auf. Die würde er später noch brauchen. Dann rief er Munir an.

Hysterie schlug ihm aus dem Hörer entgegen. Er flennte und jammerte, aber verstehen konnte man ihn nicht.

»Verdammt, beruhigen Sie sich! Was genau hat er gesagt?«

»Er hat gesagt … er will ihr … er will ihr … er will ihr …«

Es klang wie eine Schallplatte mit einem Sprung. Wenn Munir in der Nähe gewesen wäre, hätte Jack ihm einen Klaps gegen den Schädel versetzt, damit die Nadel weiterhüpfte.

»Er will was?«

»Er will ihr die Brustwarzen abschneiden.«

»Oh Gott. Warten Sie da! Ich rufe gleich zurück!«

Jack kramte noch einmal die Quittung für das Loft heraus und wählte die Nummer der Vermittlerin. Als das Telefon klingelte, fiel ihm ein, dass er sich noch gar keine Taktik überlegt hatte, wie er die Adresse aus der Frau herausbekommen sollte. Sie würde sie ja nicht jedem X-beliebigen geben. Aber vielleicht ja einem Polizisten …

Er hoffte, dass er sich da nicht verkalkuliert hatte, als eine freundliche weibliche Stimme nach dem dritten Klingeln antwortete. »Brickell Immobilien.«

Jack bemühte sich um einen kräftigen Brooklyn-Akzent.

»Hallo. Hier ist Lieutenant Adams vom 12ten Revier. Ich hätte gern die Geschäftsführung.«

»Das bin ich«, sagte die Stimme. Sie klang jetzt viel weniger freundlich. »Esther Brickell. Das ist meine Firma.«

»Gut. Also es geht um Folgendes: Wir haben hier einen Verdächtigen in einem Sexualmord, wissen jedoch nicht, wo er sich aufhält. Bei seinen Habseligkeiten haben wir jedoch eine von ihrer Firma ausgestellte Quittung gefunden.«

»Von der Brickell Immobiliengesellschaft?«

»Sie sagen es. Glatte tausend Dollar für ein Loft 6-2-9. Klingelt da was?«

»Nicht auf Anhieb. Wir arbeiten mit Datenbanken. Alle unsere Mietverträge sind codiert.«

»Schön. Dann dauert es ja nur ein paar Sekunden, bis Sie mir die Adresse rausgesucht haben.«

»Ich fürchte, das kann ich nicht tun. Wir vertreten strenge Datenschutzprinzipien und geben nie irgendwelche Informationen über unsere Klienten heraus. Und ganz bestimmt nicht über das Telefon. Alle unsere Transaktionen sind streng vertraulich. Ich hoffe, Sie verstehen das.«

Super, dachte Jack. Sie fühlt sich dem Beichtgeheimnis verpflichtet.

»Was ich verstehe«, raunzte Jack, »ist, dass da draußen ein durchgeknallter Irrer rumläuft, und dass Sie Informationen zurückhalten, die zu seiner Festnahme notwendig sind. Also hören Sie mir mal gut zu, Süße, die Schweigepflicht gilt nicht für Immobilienmakler. Ich brauche die Adresse von Loft 6-2-9, das Sie an …«, er sah auf die Quittung, „… Sean McCabe vermietet haben. Und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt. Ist das klar?«

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich kann das nicht machen. Guten Tag, Lieutenant – wenn Sie denn wirklich einer sind.«

Scheiße! Aber Jack war noch nicht bereit aufzugeben. Er brauchte die Adresse.

»Ja, ich bin sehr wohl ein Lieutenant. Und glauben Sie es mir, Süße, wenn Sie nicht hier und jetzt mit der Adresse rüberkommen, dann kriegen Sie Arger. Wenn Sie meine Zeit damit verschwenden, dass ich einen Richter suchen muss, der mir den Durchsuchungsbeschluss für Ihren Laden unterschreibt, und wenn Sie mich dazu zwingen, in Ihren mickrigen Schuppen zu kommen, um mir diese popelige Adresse selbst zu holen, dann fahre ich schwere Geschütze auf. Ich werde mit Uniformierten und Steuerprüfern und allem Pipapo kommen und dann nehmen wir Ihren Laden gründlich auseinander. Und ich meine wirklich gründlich. Und das dauert. Und solange wir das tun, können Sie ja allen Ihren zukünftigen Klienten erklären, was wir da tun und warum wir es tun – und ich hoffe, dass die Ihnen das auch glauben. Und wenn wir das, was wir suchen, nicht in Ihrem Computer finden, dann beschlagnahmen wir den. Und behalten ihn erst mal eine Weile. Vielleicht kriegen Sie ihn dann nächstes Jahr zurück. Vielleicht aber auch nicht.«

»Einen Augenblick«, sagte sie.

Jack wartete und hoffte, dass sie nicht auf einer anderen Leitung gerade mit ihrem Anwalt sprach und seine leeren Drohungen überprüfte, oder sich auf dem 12ten Revier erkundigte, ob es da einen unausstehlichen Lieutenant namens Adams gab.

»Die Adresse ist an der White Street«, war sie plötzlich kalt und kurz angebunden wieder da. »18-20-2 / 2D.«

»Dan–«

Sie hatte bereits aufgelegt. Egal. Er hatte, was er wollte.

White Street. Das war in Tribeca, der angesagten Gegend unterhalb der Canal Street. Da unten gab es eine Menge Lofts. Direkt um die Ecke, wo er und Munir dieses Spielchen mit dem Briefkasten gespielt hatten. In einer Stunde konnten sie den Kerl haben.

Er tippte Munirs Nummer ein.

»18-20-2 White Street«, sagte er ohne Vorspiel. »Fahren Sie da sofort hin.«

Für Erklärungen war keine Zeit. Er legte auf und rannte zur Tür.

 

18-20-2 sah aus wie eine leer stehende Fabrik. Was es wahrscheinlich auch war. Vier Stockwerke hoch und keine Fenster im Erdgeschoss. Vielleicht eine alte Manufaktur. WOHNUNGEN ZU VERMIETEN stand auf dem Schild neben der Eingangstür. Das Gebäude schien leer. Hatte die Frau in der Maklerfirma ihn mit einer falschen Adresse in die Irre geführt?

Mit dem altbewährten Lineal im behandschuhten Griff sprang Jack aus dem Taxi und rannte zur Tür. Eine massive Stahltür, ein Überbleibsel aus Fabriktagen. Über den Riegel war eine Stahlplatte geschweißt, um ein Aufbrechen zu verhindern. Jack steckte das Lineal ein und sah sich das Schloss selbst an. Ein massives Schlage-Schloss. Selbst unter idealen Bedingungen eine schwierige Sache. Aber hier auf dem Bürgersteig mit der Zeit im Nacken und den fortwährend vorbeifahrenden Autos war es mehr als nur schwierig.

Er lief die Vorderseite des Hauses ab und sprintete durch die Seitenstraße, die zur Rückseite führte. Hier gab es auch eine Tür, über der aber eine große rote Alarmsirene hing.

2D … der erste Stock war also in mindestens vier kleine Lofts unterteilt. Falls Hollander hier hauste, dann hatte er sicherlich das Billigste gemietet. Je weiter man im Alphabet vorankam, desto weiter nach hinten lagen auch die Wohnungen und der Blick ging auf den Hinterhof hinaus.

Jack trat ein paar Schritte zurück und schaute nach oben. Die Fenster im ersten Stock links waren verwaist. Die auf der rechten Seite waren komplett mit Bettlaken verhängt.

Direkt vor diesen Fenstern entlang führte ein Fallrohr nach unten. Jack untersuchte das Rohr. Das war nicht dieses weiche Aluminiumzeug, das sich dellte wie eine Bierdose. Das hier war gutes altes verzinktes Eisenblech. Er zerrte an den Befestigungen. Sie wackelten in der Wand.

Es war nicht ideal, aber er musste es riskieren.

Er begann zu klettern, sich am Rohr hochzuziehen, indem er es mit Knien und Ellbogen fest umklammerte, während er mit Zehen und Fingernägeln Halt an den Befestigungen suchte. Das Rohr knarrte und stöhnte und auf halbem Weg nach oben löste es sich um ein paar Zentimeter aus der Wand, aber es hielt. Augenblicke später hockte er vor den verhängten Fenstern im ersten Stock.

Wie ging es weiter?

Manchmal war der direkte Weg der beste. Er klopfte gegen die Scheibe, die ihm am nächsten war. Sie war einen halben Meter hoch, fast einen Meter breit und seit Langem nicht mehr geputzt worden. Nach ein paar Sekunden klopfte er erneut. Schließlich hob sich zögerlich eine Ecke des Lakens und ein Mann starrte zu ihm heraus. Blondes Haar, weit aufgerissene blaue Augen und ein blasses, unrasiertes Gesicht. Die Augen weiteten sich und die Gesichtsfarbe wurde um einige Schattierungen blasser, als er Jack sah. Er sah nicht ganz so aus wie der Mann auf dem Foto in Hollanders Wohnung. Aber er konnte es sein. Problemlos.

Jack lächelte und winkte ihm freundlich zu. Er hob die Stimme, damit er auch durch die Scheibe zu hören war.

»Guten Morgen. Ich würde gern mit Mrs Habib sprechen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Der Zipfel des Lakens fiel wieder herunter und der Kerl verschwand. Was bestätigte, dass er Richard Hollander gefunden hatte. Jeder andere hätte gefragt, was zum Teufel er da machte und wer Mrs Habib sei.

Also musste Jack schnell reagieren. Wenn er Hollander richtig eingeschätzt hatte, würde der jetzt in größter Hast die Treppe hinunterstolpern, um zu fliehen. Was Jack ganz recht war. Aber es bestand auch die geringe Möglichkeit, dass er sich noch ein paar Sekunden Zeit ließ, um der Frau oder dem Jungen etwas Schreckliches, vielleicht sogar Tödliches anzutun. Jack erwartete keine physische Gegenwehr – ein armseliger Wurm, der sich an jemandem rächen wollte, indem er dessen Frau und Kind entführte, war kaum der Typ für eine handgreifliche Auseinandersetzung.

Jack stützte sich mit den Händen an der Regenrinne ab, setzte einen Fuß auf das schmale Fensterbrett und richtete einen Tritt gegen die unterste Fensterscheibe.

Urplötzlich explodierte das Glas über ihm nach außen, als ein Hieb mit einer rostigen Brechstange Jacks Gesicht nur um Zentimeter verfehlte und ihn mit Glasscherben überschüttete.

Wobei auch die armseligste Ratte zu kämpfen beginnt, wenn man sie in die Ecke drängt, schoss es durch Jacks Gedanken.

Jack schwang sich um das Fallrohr zu dem Fenster auf der anderen Seite. Die Brechstange verschwand wieder durch das Loch in Laken und Fensterscheibe. Als Jack sein Gewicht auf das gegenüberliegende Fensterbrett verlagerte, wurde ihm klar, dass sich seine Silhouette von innen vor dem Fenster abzeichnen musste. Aber da war es schon zu spät. Das Brecheisen fuhr auf Hüfthöhe durch das Fenster und erwischte ihn am Bein. Jack stöhnte vor Schmerz auf, als die Kante der Stange seine Jeans zerfetzte und das Fleisch des Oberschenkels aufriss. In einem plötzlichen Wutausbruch griff er sich die Brechstange und zog.

Das Laken löste sich und fiel auf Hollander. Mit panischen Bewegungen versuchte der, sich zu befreien und ließ dabei seine Waffe los. Jack zog sie ganz aus dem Fenster und ließ sie nach unten auf die Straße poltern. Dann kickte er die restlichen Glassplitter aus dem Fensterrahmen und schwang sich in den Raum.

Hollander versuchte, durch die Tür zu fliehen, etwas mit der rechten Hand umklammernd. Jack sprintete hinter ihm her, wobei sein Verstand Momentaufnahmen seiner Umgebung registrierte: ein großer, leerer Raum; ein Beistelltisch; zwei Stühle, drei Matratzen auf dem Fußboden, von denen die erste leer war, auf die zweite war ein kleiner Junge gefesselt, auf der dritten lag eine nackte Frau mit blutender Brust. Jack rannte schneller und holte Hollander kurz vor der Tür ein. Er duckte sich, als Hollander herumwirbelte und mit einem Fleischerbeil nach seinem Kopf zielte. Jack schnappte sich Hollanders Handgelenk mit seiner linken Hand und hieb ihm die rechte Faust mitten ins bleiche Gesicht. Das Beil entfiel Hollander und er ging in die Knie.

»Ich gebe auf«, sagte Hollander, hustete und spuckte Blut. »Es ist vorbei.«

»Nein«, sagte Jack und zerrte ihn auf die Füße. Die Dunkelheit wallte in ihm auf, wisperte auf ihn ein, übernahm die Kontrolle.

»Ist es nicht.«

Die großen blauen Augen blickten verwirrt drein. »Was? Was nicht?«

»Es ist nicht vorbei.«

Jack schlug ihm mit der Linken in den Magen und als Hollander sich zusammenkrümmte, versetzte er ihm einen rechten Haken, der ihn gegen die Tür warf.

Hollander würgte und stöhnte, als er wieder zu Boden sank.

»Das können Sie doch nicht tun«, jammerte er. »Ich habe mich ergeben.«

»Und das soll reichen? Sie haben tagelang mit den perversesten Tricks gearbeitet und kaum läuft es mal nicht mehr so, wie Sie sich das vorstellen, da soll schon Schluss sein? Feierabend? Game over? Das glaube ich nicht. Das glaube ich ganz und gar nicht.«

»Doch. Sie müssen mir meine Rechte vorlesen und mich verhaften.«

»Ach, so ist das. Sie halten mich für einen Polizisten.«

Hollander sah ihn verständnislos an. Er schürzte die Lippen und setzte zu einer Frage an, die erstarb, bevor er sie gestellt hatte.

»Bin ich aber nicht«, erklärte Jack. »Muuunir hat mich geschickt.«

Jack wartete ein paar Herzschläge, in denen Hollanders Blick dahin wanderte, wo Munirs nackte Frau und sein verstümmeltes Kind gefesselt auf den Matratzen lagen, und sah, wie die nackte Panik in seinen Augen hochstieg. Als sie angekommen war, als Jack sich sicher war, dass Hollander gerade einen kleinen Vorgeschmack von dem bekommen hatte, was Munir jetzt seit Tagen durchmachte, rammte Jack dem Drecksack die Handkante unter die Nase, sodass es seinen Kopf gegen den Türrahmen schmetterte. Er wollte es wieder und wieder tun, so lange, bis diese hirnlose Hülle nur noch aus unzusammenhängenden Knochensplittern bestand, aber er kämpfte gegen diesen Drang an und hielt sich zurück, als Hollanders Augen sich verdrehten und er ganz zu Boden sackte.

Zuerst kümmerte er sich um die Frau. Sie sah ihn aus angstgeweiteten Augen an.

»Es ist alles in Ordnung«, versicherte er ihr. »Munir ist unterwegs. Es ist vorbei.«

Sie schloss die Augen und begann, durch den Knebel hindurch zu schluchzen.

Wahrend Jack versuchte, die Knoten an ihren Handgelenken zu lösen, warf er auch einen Blick zu dem frischen Blut auf ihrer linken Brust. Die Brustwarze war noch nicht abgetrennt, aber ein kurzer Schnitt zog sich am äußeren Rand entlang. Ein blutiges Rasiermesser lag neben ihr auf der Matratze.

Hätte er nur ein paar Minuten später gegen die Fensterscheibe geklopft …

Sobald ihre Hände frei waren, setzte die Frau sich auf und riss sich den Knebel aus dem Mund. Tränen standen in ihren Augen, aber sie blieb stumm. Schluchzend machte sie sich an den Fesseln um ihre Knöchel zu schaffen. Jack hob das losgerissene Bettlaken vom Boden auf und legte es ihr um die Schultern.

»Dieser Verbrecher … dieses Monster«, sagte sie. »Er hat behauptet, wir seien meinem Mann egal, er würde nicht kooperieren und sich weigern, seinen Forderungen nachzukommen.«

Jack sah zu Hollanders bewusstloser Gestalt hin. Kannte der denn gar keine Grenzen?

»Er hat Sie belogen. Munir ist fast wahnsinnig geworden und hat alles gemacht, was dieses Arschloch von ihm verlangt hat.«

»Hat er sich wirklich den …«

»Nein. Aber das hätte er getan, wenn ich ihn nicht davon abgehalten hätte.«

»Wer sind Sie?«

»Niemand.«

Er ging zu dem Jungen. Dessen Augen waren trübe, die Haut fleckig, die Stirn heiß. Ein Bausch blutdurchtränkter Watte umgab seine linke Hand. Jack zog ihm den Knebel aus dem Mund.

»Wo ist mein Papa?«, fragte er heiser. Nicht, Wer sind Sie? oder Was ist los? Er dachte nur an seinen Vater. Jack hoffte, dass er eines Tages auch so einen Sohn haben würde.

»Er ist gleich da.«

Jack begann, die Arme des Jungen loszubinden. Einen Augenblick später half ihm Barbara dabei, dann lagen sich Mutter und Sohn weinend in den Armen. Jack fand ihre Kleider und reichte sie ihnen.

Während die beiden sich anzogen, schleppte Jack Hollander zu Barbaras Matratze hinüber und stopfte ihm ihren Knebel in den Mund. Als er damit fertig war, ihn mit ihren Fesseln zusammenzuschnüren, hörte er jemanden gegen die Haustür hämmern. Er schob die Frau und den Jungen ins Treppenhaus hinaus, dann ging er nach unten und fand einen sehr nervösen Munir auf dem Bürgersteig vor.

»Wo …?«

»Oben.«

»Ist mit ihnen alles …?«

Jack nickte.

Er trat einen Schritt zur Seite, um Munir vorbeizulassen, dann wartete er eine Zeit lang vor der Tür, damit sie miteinander allein sein konnten. Nach fünf Minuten humpelte er wieder nach oben. Noch war es nicht vorbei. Der Junge war krank und musste ärztlich behandelt werden. Nur würde man in jedem Krankenhaus sofort wegen Kindesmisshandlung ermitteln, sobald man Robbys linke Hand sah. Und das würde einen Behördenmarathon in Gang setzen, der schließlich zu Jack führen mochte.

Aber Jack kannte einen Arzt, der niemanden informieren würde. Informieren konnte. Man hatte ihm schon Vorjahren die Approbation entzogen.

 

Jack saß neben Barbara und Munir und wartete. Doc Hargus hatte zuerst Barbaras Brust genäht, weil die frische Wunde leicht zu behandeln war. Bei Robby würde der Fall anders liegen, meinte er.

»Ich verstehe das immer noch nicht«, sagte Munir. Es schien das hundertste Mal zu sein, aber tatsächlich hatte er es wohl höchstens zwanzigmal gesagt. »Richard Hollander … wie konnte er mir so etwas antun? Oder sonst jemandem? Ich habe ihm nie etwas getan.«

»Sie haben ihn entlassen«, sagte Jack. »Wahrscheinlich hatte er schon seit Jahren eine Schraube locker und stand kurz vor dem Zusammenbruch, und als er dann seinen Job verlor, hat ihm das den Rest gegeben.«

»Aber Menschen werden doch jeden Tag entlassen. Deswegen entführen und foltern sie doch keine anderen Leute …«

»Der war ein wandelndes Pulverfass. Sie hatten nur das Pech, die Lunte zu sein. Es war seine erste Anstellung. Er musste jemandem die Schuld geben – jemand anderem als sich selbst – und da ist er auf Sie verfallen. Suchen Sie da nicht nach Logik. Der Kerl ist verrückt.«

»Aber dieses Ausmaß an Grausamkeit …«

»Vielleicht hättest du freundlicher zu ihm sein sollen, als du ihn entlassen hast«, sagte Barbara. Die Worte entsetzten Jack und erinnerten ihn an Munirs Flehen, als er ihn gestern Nacht angerufen hatte.

Bitte retten Sie meine Familie!

Jack fragte sich, ob das überhaupt möglich war, ob Munirs Familie jetzt noch zu retten war. Der Zersetzungsprozess hatte eingesetzt, als Barbara und Robby gekidnappt wurden. Vielleicht wäre alles noch zu retten gewesen, bis zu dem Zeitpunkt, als das Beil Robbys Finger abgetrennt hatte. Das war wahrscheinlich der Todesstoß gewesen. Selbst wenn danach nichts Schlimmeres mehr passiert wäre, würde dieser fehlende Finger ein beständiges Mahnmal sein, und irgendwie wäre es Munirs Schuld. Wenn er zur Polizei gegangen wäre, wäre es seine Schuld; und es war seine Schuld, weil er es nicht getan hatte. Munir würde sich immer schuldig fühlen; und tief in ihrem Innern würde Barbara ihn auch dafür verantwortlich machen. Und später, vielleicht erst in ein paar Jahren, würde auch Robby ihm die Schuld geben.

Weil immer einer der Finger an Robbys linker Hand fehlen würde, weil immer diese Narbe auf Barbaras linker Brust blieb, immer der irregeleitete unterdrückte Gedanke in der Nacht, dass Munir vielleicht nicht genug getan hatte, dass Robby vielleicht noch alle zehn Finger hätte, wäre Munir etwas kooperativer gewesen.

Sicher, jetzt waren sie zusammen und sie umarmten sich und weinten und küssten sich, aber später würde Barbara erste Fragen stellen: Hättest du nicht mehr tun können? Warum hast du dir den Finger nicht abgehackt, als er das von dir verlangt hat?

Sogar jetzt deutete Barbara schon an, dass er bei der Entlassung sanfter mit Hollander hätte umspringen müssen. Die übliche Steigerung davon war: Wenn du das getan hättest, wäre all das hier nicht passiert.

Die einzelnen Beteiligten waren zwar noch am Leben, aber Munirs Familie war schon so gut wie tot. Er wusste es nur noch nicht.

Und das machte Jack traurig. Denn es bedeutete, dass Hollander gewonnen hatte.

Doc Hargus schlurfte aus dem Hinterzimmer. Er hatte ein stark faltiges Gesicht und einen weißen Schnauzbart.

»Er schläft jetzt«, sagte er. »Wahrscheinlich wird er die Nacht über durchschlafen.«

»Aber seine Hand«, meinte Barbara. »Konnten Sie den Finger …?«

»Es war völlig unmöglich, den Finger wieder anzunähen. Das hätten die selbst in der besten Klinik nicht geschafft. Nicht, nachdem er eine Nacht in einem Expressbrief gelegen hat. Ich habe den Stumpf sauber vernäht. Vielleicht kann man das in ein paar Jahren kosmetisch nachkorrigieren, aber medizinisch ist das erst mal vollkommen ausreichend. Im Augenblick ist er ziemlich betäubt durch Antibiotika und Schmerzmittel.«

»Ich danke Ihnen, Doktor«, sagte Munir.

»Und was ist mit Ihnen?«, fragte der Doc Barbara. »Wie fühlen Sie sich?«

Sie legte ihre Hand auf die Brust. »Ganz gut … glaube ich.«

»Okay. Die Fäden können in fünf Tagen gezogen werden. Bei Robby sollten wir damit ungefähr zehn Tage warten.«

»Wie können wir das je wieder gut machen?«, fragte Munir.

»Indem Sie bar zahlen«, sagte Hargus.

Als er ins Hinterzimmer zurückschlurfte, wo Robby schlief, presste Barbara den Kopf an die Schulter ihres Ehemannes.

»Oh Munir, ich kann noch nicht glauben, dass es vorbei ist.«

Jack beobachtete sie und wusste, dass er sich sein Honorar noch nicht vollständig verdient hatte.

Retten Sie meine Familie …

Es war noch nicht zu spät. Noch hatte Hollander nicht gewonnen.

»Es ist noch nicht vorbei«, sagte Jack.

Beide drehten sich zu ihm um.

»Wir haben immer noch Richard Hollander gefesselt in diesem Loft. Was machen wir mit ihm?«

»Ich will diesen Kerl nie wieder sehen«, sagte Barbara.

»Also lassen wir ihn laufen?«

»Nein!«, stieß Munir zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich will, dass er hängt! Ich will ihn auf dem elektrischen Stuhl sehen! Er soll für das bezahlen, was er Robby angetan hat! Und Barbara!«

»Glauben Sie wirklich, dass er dafür bezahlen muss, wenn Sie ihn der Polizei übergeben? Ich meine, wie viel Vertrauen haben Sie in die Gerichte?«

Sie blickten ihn an. Ihre ausdruckslosen Gesichter zeigten ihm, dass es damit nicht weit her war. Sie hatten kein Vertrauen in das Rechtssystem. Gar kein Vertrauen.

»Ihre einzige andere Möglichkeit besteht darin, zurückzugehen und sich selbst darum zu kümmern.«

Munir nickte langsam, den Mund zu einer dünnen Linie zusammengepresst, die Augen zu Schlitzen verengt. »Ja … das sollten wir tun.« Er stand auf. »Ich gehe zurück. Er muss … zur Rechenschaft gezogen werden. Ich werde sichergehen, dass so etwas nie wieder vorkommt.«

Barbara stand auf, in ihren Augen blitzte die Mordlust.

»Ich komme mit.«

»Aber Robby …«

»Ich werde hierbleiben«, sagte Jack. »Er kennt mich ja bereits. Wenn er aufwacht, werde ich da sein.«

Sie zögerten.

Retten Sie meine Familie …

Wenn die Habibs eine Chance haben sollten, dann mussten sie sich zusammen um Hollander kümmern und die bislang noch ungestellten Fragen beantworten, indem sie ihre offene Rechnung mit ihm beglichen. Bis in jedes Detail.

»Gehen Sie schon«, sagte Jack. »Ich war nie ein besonders guter Pfadfinder. Ich weiß nicht, wie lange meine Knoten halten werden.«

Jack sah ihnen hinterher, wie sie Hand in Hand aus dem Haus eilten. Vielleicht würde das ihre Ehe retten, vielleicht auch nicht. Er war sich nur bei einem sicher: Er war froh, dass er jetzt nicht in Richard Hollanders Haut steckte.

Er stand auf und machte sich auf die Suche nach Doc Hargus. Der Doc hatte immer ein gutes Bier im Kühlschrank.