5. Kapitel

 

Beim Frühstück waren alle bedrückt und schweigsam. Der plötzliche Tod des Hotelinhabers Rüger hatte die Zuversicht, die am Tag zuvor aufgekommen war, jäh zerstört. Die Dreharbeiten dieses Films standen unter einem Unstern, das war klar. Was würde hoch geschehen?

Linda Scholz saß Thorsten Thorn und Dr. Heydenreich schweigend gegenüber. Sie sprach nicht über die Ereignisse der Nacht, über die schrecklichen Träume und makabren Erlebnisse, da sie um Thorsten Thorns Leben fürchtete. Der Hexer konnte ihn ebenso ermorden wie den unglücklichen Hotelbesitzer.

Dr. Heydenreich schwieg, weil er sich entschlossen hatte, seinen eigenen Augen nicht zu trauen. Er wollte noch am gleichen Tag nach Hause zurückkehren und sich in die psychotherapeutische Behandlung eines Kollegen begeben.

Thorsten Thorn hatte die ganze Nacht hindurch tief und fest geschlafen. Die unheimlichen Ereignisse seit der Ankunft des Filmteams im Hotel erschienen ihm heute unter einem anderen Aspekt. Irgendwie musste es doch eine natürliche Erklärung geben!

Thorn brannte darauf, die Dreharbeiten an diesem Tag wieder aufzunehmen. Dr. Heydenreichs Erklärung, er sehe keinen Anlass zur Sorge und er müsse nach Hause zurückkehren, unterstützte Thorn. Der gequälte Blick, den der Psychiater ihm zuwarf, entging ihm.

Nach dem Frühstück begann die Arbeit. Schultz-Breitenberg wollte endlich die schon zweimal verschobene Szene des Kampfes zwischen dem Hexer und seinem Anhang und den Spessarträubern abdrehen.

Kurz nach 8.30 Uhr war alles drehbereit. Thorsten Thorn mit seinem schwarzen Umhang, bleich geschminkt, ein Feuermal auf der linken Gesichtshälfte, stand vor dem Galgenwirtshaus. Die Gruppe der sieben Hexen, die Leonora Rycka anführte, kam über den Hügel. In halber Höhe des Abhangs stand der verwitterte alte Galgen. Der erste Aufnahmewagen war in Thorns Nähe postiert, der zweite wartete dem Galgen gegenüber.

»Ruhe!«, brüllte der Regieassistent ins Megaphon. »Einstellung 503 - Anfang. Kamera Eins: An!«

Der Kameramann auf dem Aufnahmewagen in halber Höhe des Abhangs nahm den Galgen auf, dann die Hügelkuppe, auf der jetzt die Hexen erschienen. Langsam, gemessenen Schrittes kamen sie näher.

»Kamera Zwei!«

Die zweite Kamera nahm Thorsten Thorn und das Galgenwirtshaus auf.

Als die Hexen sich auf halbem Weg zwischen Hügelkuppe und Wirtshaus befanden, brüllte der Regieassistent ins Megaphon: »Räuber - an! Einstellung und Aufnahme Kamera Eins.«

Die Kamera vollführte einen Schwenk von der Hexengruppe zur Hügelkuppe. Dort erschienen jetzt Thomas Leupolt und elf Spessarträuber. Thomas Leupolt deutete mit dem Schwert auf die Hexen.

»Kamera Zwei - an.«

Thorsten Thorn breitete die Arme aus, spreizte den schwarzen Umhang. Großaufnahme. Auf dem Hügel bäumte sich Thomas Leupolts Pferd auf, warf fast den Reiter ab. Leupolt zügelte es. Er und die Räuber preschten auf die Hexen los.

»Los, Verstärkung.«

Fünf weitere Hexendarstellerinnen kamen aus dem Haus geeilt, bildeten einen Halbkreis um Thorsten Thorn. Nur wenige Meter trennten die Räuber jetzt noch von den Hexen, die vor ihnen flüchteten.

»Sprengladung. Feuerwerk.«

Thorn winkte mit der Hand. Zwischen den Hexen und ihren Verfolgern wurde elektrisch die vorher vergrabene Sprengladung gezündet. Es knallte, Rauch stieg auf. Zugleich

loderten Flammen auf, bildeten eine Linie. Die Räuber zügelten ihre Pferde, brüllten durcheinander.

Fast hatten die fliehenden Hexen Thorn und seine Gruppe erreicht.

»Jörn Freydag, Räuber, Action!«

Auf einen anfeuernden Ruf Leupolts hin trieben die Räuber ihre Pferde durch die Feuerlinie. Sie preschten auf die Hexengruppe zu, die sich nun vereinigten.

»Kampfszene.«

Die Räuber schlugen mit den Schwertern in die Luft, schrien, trieben ihre Pferde im Kreis. Plötzlich ließen sich zwei aus dem Sattel fallen. Einer rannte davon, der andere blieb im Gras liegen. Er hatte einen Behälter panchromatischen Blutes zerdrückt, das ihm jetzt über Gesicht und Hals rann.

Auch andere Räuber bluteten.

Leupolt sprang aus dem Sattel, zückte das Schwert.

»Sehr gut. Flucht.«

Die Räuber stoben davon. Während Kamera Eins die Fliehenden aufnahm, schminkte der Maskenbildner Thomas Leupolt zurecht. Dann lag der blonde Mann blutbeschmiert und mit zerfetzten Kleidern am Boden. Es sah aus, als sei seine Kehle auf gerissen.

Kamera Zwei wurde an ihn herangefahren. Das Auge an die Gummilinse gepresst, nahm der Kameramann den >Toten< aus nächster Nähe auf.

»Das war schon recht gut. Auf ein paar Kleinigkeiten müssen wir noch achten.«

Schultz-Breitenberg erklärte, was ihm aufgefallen war.

»Das Ganze noch einmal. Mit etwas Glück haben wir die Szene beim zweiten Mal im Kasten.«

So war es auch. Die Mittagspause wurde eine Dreiviertelstunde verschoben. Dann notierte das Script-Girl: 8.45 Uhr -13.50 Uhr. Einstellung 503. Okay. Zwei Aufnahmen. Eins fehlerhaft, zwei brauchbar. Zwei kopieren. Szenen: Hexen ziehen zum Galgenwirtshaus, wo Hexer und andere Hexen auf sie warten. Räuber greifen an. Kampf zwischen Gruppe um Hexer und Räuber. Materialverbrauch: 508 Meter. Anmerkung: Trickeffekte (Studio) werden eingefügt.

»So, Kinder, das haben wir. Nach dem Essen geht es auf Burg Falkenfels weiter.« Schultz-Breitenberg war sehr zufrieden mit der Leistung dieses halben Drehtags. »Jetzt habt ihr mal gesehen, wie so ein Spuk zustande kommt.«

Irgendwo in dem alten Haus gellte ein schauriges Gelächter. Als es verhallte, sahen die Schauspieler und die Mitglieder des technischen Stabes einander an.

»Schau mal rein, Rainer«, forderte Schultz-Breitenberg den Regieassistenten auf.

Der rotblonde junge Mann ging ins Galgenwirtshaus. Schon kurze Zeit später kam er wieder heraus, zuckte mit den Schultern.

»Also wieder keiner zusehen«, sagte Schultz-Breitenberg grimmig. »Irgendwann erwische ich diesen Burschen, und dann zerkrümele ich ihn.«

Sie fuhren ins Hotel. Ein paar Männer und Frauen aus der Stadt warteten im Foyer. Sie musterten die Filmleute feindselig.

»Was haben die? Wir haben den Hotelbesitzer doch nicht umgebracht«, murrte einer der Schauspieler.

Gegen 15.00 Uhr traf das Filmteam auf Burg Falkenfels ein. Zunächst sollte die Hinrichtung zweier Hexen gedreht werden, danach die Gerichtsverhandlung und die Verurteilung Gilbert Signefeus, Roxane von Falkenfels' und einer Hexe.

Im Burghof war der Scheiterhaufen bereits errichtet. Auf Anordnung des Regisseurs wurden Linda Scholz und Liliane Hillfahrt Rücken an Rücken an den Pfahl auf dem Scheiterhaufen gestellt, die Stricke und Ketten lose um ihre Hand-und Fußgelenke geschlungen.

Statisten umringten den Scheiterhaufen, unter ihnen Richter mit weißer Halskrause und zwei Henkersknechte mit freiem Oberkörper und roten, spitzen Kapuzen, die brennende Fackeln in den Händen hielten. Ein Priester betete in lateinischer Sprache. Aus den Fenstern der Burg und von den Quergängen sahen weitere Statisten als Zuschauer zu.

Für die Massenszene der Hinrichtung waren zweihundert Statisten angereist. Ihre Platzierung nahm einige Zeit in Anspruch.

Auch diese Szene wurde ohne Ton gedreht. Trotzdem musste Linda den Text sprechen, denn die Mimik musste mit dem später synchronisierten Text übereinstimmen.

»Weh mir, dass ich so unschuldig sterben muss!«, rief Linda Scholz. »Fluch über dich, Gilbert Signefeu. In alle Ewigkeit sollst du im Höllenfeuer brennen!«

Ein Herold las das Urteil vor. Der gramgebeugte Graf Bodo von Falkenfels, der Vater der Unglücklichen, wurde aufgenommen. Dann stießen die Henker die Fackeln in den Scheiterhaufen. Flammen loderten, Rauch stieg auf.

Doch nur auf einer Seite des Scheiterhaufens. Als das Surren der Kameras verstummte, stiegen Linda Scholz und Liliane Hillfahrt auf der nicht brennenden Seite herunter. An ihrer Stelle wurden zwei Puppen an dem Pfahl festgebunden.

Die Menge der Statisten brach in Beifall aus, als die Flammen sich prasselnd ins dürre Holz fraßen, jetzt schon die Füße der Puppen, der gefesselten Hexen, umzüngelten.

»So soll es aller Hexenbrut ergehen!«, rief der oberste Richter.

Plötzlich griff er sich an die Brust. Sein Gesicht verfärbte sich. Er brach zusammen. Gleichzeitig stürzten die beiden Henker, rangen röchelnd nach Luft.

Schultz-Breitenberg wurde aufmerksam, drängte sich durch die Menge. Nur die Kamera, die den brennenden Scheiterhaufen aufnahm, lief jetzt.

»Albert! Albert, was ist mit Ihnen?«

rief der Regisseur und beugte sich über den am Boden liegenden Mann in der Richterrobe.

Thorsten Thorn kam hinzu.

»Das sieht aus wie ein schwerer Herzanfall«, sagte er. »Bringt ihn weg.«

Die beiden Schauspieler, die die Henker spielten, krümmten sich am Boden.

»Luft!«, röchelte der eine. »Luft!«

Hilfreiche Hände rissen ihnen die roten Kapuzen weg.

»Vielleicht ist das Holz imprägniert und der Rauch verursacht diese Erstickungsanfälle«, rief der Produktionsleiter, der gleichfalls hinzugetreten war. »Lassen Sie die Männer wegbringen und die ändern zurücktreten. Die Szene muss abgebrochen werden.«

«Kommt gar nicht in Frage«, antwortete Schultz-Breitenberg scharf. »Bringt die Männer in die Burg. Die andern alle zwei Meter zurücktreten!«

Der Regieassistent wiederholte die Anordnungen durch das Megaphon. Die meisten hatten gar nicht mitbekommen, was vorgegangen war. Die unzureichend informierten Statisten hielten den Abtransport des Richters und der Henker für einen regulären Teil der Aufnahme.

Die Kameras begannen wieder zu surren. Schultz-Breitenberg ließ die Szene abdrehen. Erst als die Flammen schon in sich zusammensanken und die Aufnahmen beendet waren, ging der Regisseur in das Gebäude der Burg, in dem das Verwalterehepaar wohnte.

Die beiden Henkerdarsteller hatten sich wieder etwas erholt. Sie saßen schwer atmend am Tisch, das Gesicht noch vom Schreck und vom Luftmangel gezeichnet. Der Darsteller des Richters lag mit geschlossenen Augen auf der Couch.

Thorsten Thorn stand vor ihm. »Was ist mit ihm?«, fragte der Regisseur. »Ist es schlimm?«

»Albert Seipel ist tot«, erwiderte Thorn.

Die erste Reaktion des Regisseurs war Unglauben.

»Das gibt es doch nicht.«

Er fühlte dem auf der Couch Liegenden den Puls, legte das Ohr an seine Brust.

Erschüttert richtete der Regisseur sich auf.

»Er ist tot«, sagte er leise. »Schon der dritte Tote bei diesem Film. Das erste Mitglied unseres Filmteams, das sterben musste.«

Marksen, der Produktionsleiter, kam herein. Er sah Schultz-Breitenbergs und Thorns Gesichter, sah die Frau des Schlossverwalters leise schluchzen. Er verstand.

»Da ist etwas passiert im Burghof«, sagte der große, schlanke, kahlköpfige Produktionsleiter leise. »Sie konnten den Höllenlärm nicht hören, weil dieses Zimmer auf der dem Hof abgewandten Seite des Gebäudes liegt. Als der Scheiterhaufen fast heruntergebrannt war, wirbelte etwas die brennenden Holzscheite, die Reiser und das Geäst auseinander wie ein Wirbelsturm. Etliche Darsteller trugen Brandwunden davon, die zum Teil nicht gerade harmlos sind. Die verkohlten Puppen wurden quer durch den Hof geschleudert. Und wieder gellte dieses teuflische Gelächter.«

»Sind schwere Verletzungen vorgekommen?«, fragte der Regisseur.

»Zwei junge Schauspielerinnen haben böse Gesichtsverbrennungen erlitten. Die Leute weigern sich, die Dreharbeiten fortzusetzen. Erstellen sie die makabren Geschehnisse der letzten Tage geklärt wissen. Wenn sie jetzt noch erfahren, dass Albert Seipel tot ist...«

»Die Dreharbeiten werden unterbrochen«, sagte der Regisseur. »Unter diesen Umständen kann ich die Fortsetzung nicht mehr verantworten. Wir verständigen die Kriminalpolizei.«

 

*

 

Die Schauspieler und die Mitglieder des Drehstabes saßen im Hotel. Zusammen mit dem Regisseur führten zwei Kriminalbeamte Verhöre durch. Während die ändern im Speisesaal oder im Restaurant darauf warteten, in das für die Verhöre reservierte Nebenzimmer gerufen zu werden, waren Linda Scholz und Thorsten Thorn in Thorns Zimmer.

Zwei Männer und drei Frauen waren mit Brandwunden in die Klinik eingeliefert worden. Es war kurz vor 17.30 Uhr.

»Es ist unglaublich«, sagte Thorsten Thorn zu Linda, »aber es gibt nur eine Erklärung für all diese Geschehnisse: Gilbert Signefeu, der Hexer, ist aus seiner Gruft gestiegen. Er lebt. Er will dich haben, Linda.«

Linda Scholz nickte.

»Ich weiß, Thorsten. Es ist schrecklich. Was können wir nur tun? Ob die Polizei etwas herausfindet?«

»Was soll sie denn herausfinden? Und selbst wenn, was kann sie tun? Ein paar vermoderte Knochen verhaften und anklagen? Anzeige wegen Hexerei erstatten? Das führt zu nichts, Linda. Schultz-Breitenbergs gute Absichten in allen Ehren, aber er verkennt die Situation völlig. Er vermutet Sabotage der Dreharbeiten durch einen menschlichen Widersacher.«

Linda Scholz legte den Mund an Thorsten Thorns Ohr. Mit leiser Stimme erzählte sie ihm von ihren Träumen und von dem Erlebnis, das sie in der vergangenen Nacht gehabt hatte. Sie berichtete ihm von Rügers Tod und der Gefahr, in der er schwebte, wenn sie nicht Gilbert Signefeus Gefolge beitrat.

»Hältst du mich jetzt für verrückt?«, fragte sie, als sie geendet hatte.

»Vor wenigen Tagen noch hätte ich es getan, wenn du mir eine solche Geschichte erzählt hättest, Linda. Doch jetzt nicht mehr. Wir müssen in die Stadt, müssen noch einmal im Archiv des alten Pfarrers nachsehen. Es muss ein Mittel geben, den Hexer zu erledigen. Das müssen wir finden.«

»Signefeu erwähnte eine geheimnisvolle Macht, die gegen ihn ankämpft. Vielleicht können wir uns mit ihr verbünden?«

»Davon weiß ich nichts. Außerdem«, fuhr Thorn fort, »wer garantiert uns, dass wir da nicht vom Regen in die Traufe kommen? Der Hexer konnte 1583 gefangengenommen, vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Er ist also nicht unbesiegbar.«

Sie beschlossen, gleich nach dem Gespräch mit den Polizeibeamten in die Stadt zu fahren. Thorn und Linda verließen das Zimmer, gesellten sich im Restaurant zu den anderen. Schweigsam und niedergeschlagen saßen alle an den Tischen. Selbst der sonst immer aufgekratzte Thomas Leupolt machte ein nachdenkliches Gesicht.

Endlich wurde Thorsten Thorn zum Verhör gebeten. Schultz-Breitenberg stand am Fenster. Die beiden Kriminalbeamten saßen am Tisch.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Thorn«, sagte einer der beiden.

Der andere stellte Thorn Fragen über den Spuk, der in der ersten Nacht im Hotel stattgefunden hatte. Als Thorn sagte, dass die geheimnisvolle Spukgestalt in einem verschlossenen Raum verschwunden sei, sahen die beiden Männer sich an. Mit solchen Aussagen konnten sie wenig anfangen.

»Am nächsten Tag hörte Linda Scholz dann Stimmen aus dem Nichts. Sie erhielten einen Faustschlag von einem Unsichtbaren und wurden in der Nacht vom Balkon gestürzt. Der Täter löste sich hinterher in Luft auf, wie es scheint. Bestätigen Sie diese Aussagen, Herr Thorn?«

Thorsten Thorn zündete sich eine Zigarette an und sagte dann: »Genauso war es, meine Herren.

Das alles mag Ihnen unwahrscheinlich klingen, aber hier geschehen übernatürliche Dinge. Auch ich habe die Stimme gehört, die zu Linda Scholz sprach. Ich bin überzeugt, dass der Hexer Signefeu am Werk ist.«

»Aber das ist doch Unsinn, Herr Thorn. Dieser Mann ist seit dreihundertneunzig Jahren tot. Nein, hier handelt es sich entweder um eine raffiniert eingefädelte Werbekampagne oder es gibt ein paar Verrückte im Filmteam.«

»Meinen Sie damit mich?«

Thorn sprach mit gleichgültiger Stimme, als stelle er eine alltägliche Frage.

»Nein. Aber dieser Irre, der sich' später erhängte, war hier in der Gegend. Vielleicht gibt es einen weiteren Wahnsinnigen, vielleicht sogar zwei, die aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen diesen makabren Zauber veranstalten.«

»Und diese Männer sind wohl unsichtbar und gehen durch Wände, was?«

Thorsten Thorn wusste, dass er die Kriminalbeamten nicht überzeugen konnte. Er erwähnte Lindas Träume und ihr Erlebnis in der letzten Nacht nicht, denn er hatte keine Lust, ihr in einer Nervenklinik Gesellschaft zu leisten.

»Meine Herren, die Lage ist ernst, ernster als Sie glauben. Was werden Sie tun?«

Die beiden Kriminalbeamten hoben gleichzeitig die Schultern.

»Unsere Aufgabe ist es nachzuprüfen, ob ein Verbrechen vorliegt. Wenn ja, dann müssen wir den Täter verhaften. Doch bis jetzt gibt es keine Anhaltspunkte für ein Verbrechen. Der Tote vor der Gruft starb an Herzversagen, der Irre erhängte sich, der Hotelbesitzer erlitt im Bett einen Herzschlag und der Schauspieler Albert Seipel starb ebenfalls den Herztod. Für den Spuk und diese makabren Phänomene, die wir dahingestellt sein lassen wollen, sind wir nicht zuständig.«

»Werden Sie wenigstens die Angelegenheit weiter untersuchen?«

»Selbstverständlich. Wir werden diese Nacht sogar in diesem Hotel verbringen. Aber ehrlich gesagt, Herr Thorn, glauben Sie dieses krause Zeug denn wirklich, das Sie da von sich gegeben haben?«

Jetzt mischte Schultz-Breitenberg sich ein.

»Glauben Sie, Sie hören hier Grimms Märchenstunde?«, rief der dicke Mann zornig. »Ich glaube auch nicht an übernatürliche Dinge, doch irgend etwas geht hier vor. Ich werde herausfinden, um was es sich handelt.«

Thorns Vernehmung war beendet. Er verließ den Raum. Nach ihm kam Linda Scholz an die Reihe. Schon nach fünf Minuten war sie fertig.

»Die beiden von der Kripo scheinen das Ganze als eine Art Gag aufzufassen«, sagte sie bitter. »Sie vermuten wohl einen geschmacklosen Reklamerick, um den Film ins Gespräch zu bringen.«

»Für Schlagzeilen ist auf jeden Fall gesorgt«, meinte Thorn. »Eines ist sicher: Der Schrecken ist noch lange nicht vorbei, im Gegenteil. Der Höhepunkt steht uns noch bevor.«

Linda Scholz wusste, dass Thorn recht hatte.

 

*

 

Es war bereits dunkel, als Linda Scholz und Thorsten Thorn in die Stadt kamen. Thorn parkte seinen hellroten Wagen auf dem Marktplatz. Er klingelte am Pfarrhaus. Die alte Haushälterin ließ ihn und Linda ein. Der Benefiziat war nicht da, er machte seinen Abendspaziergang.

»Am besten, Sie gehen ihm entgegen«, meinte die Haushälterin. »Er geht die Allee am Fluss entlang. Es ist möglich, dass er sich dann noch eine Weile in die >Ratsstube< setzt und ein Viertel Wein trinkt.«

Die beiden befolgten ihren Rat. Sie gingen vom Pfarrhaus quer über den Marktplatz, durch enge und winklige Gässchen hinunter zum Fluss. Einige Leute begegneten ihnen in der Pappelallee, ein paar Liebespaare saßen auf den Bänken.

Von dem Benefiziat war keine Spur zu sehen.

»Er wird schon in der >Ratsstube< sein«, sagte Linda.

In der >Ratsstube< sagte die Kellnerin, der Benefiziat sei vor wenigen Minuten nach Hause gegangen. Die Männer in der Gaststube, Honoratioren und Geschäftsleute der Stadt, musterten Thorn und Linda feindselig.

Als die beiden das Lokal verließen, sahen sie eine Gruppe von Menschen um Thorns Wagen. Schweigend warteten sie. Hinter Thorn und Linda kamen Männer aus der >Ratsstube<.

Wenn Thorn und Linda zum Pfarrhaus wollten, mussten sie an der Menge vorbei. Linda blieb stehen.

»Das sieht böse aus, Thorsten.«

»Geh weiter, Linda, die Leute sind verwirrt, verängstigt und aufgebracht. Vor allem keine Angst zeigen, das wird als Schuldbewusstsein ausgelegt.«

Entschlossen gingen sie auf die Menge zu. Ein breiter, stämmiger Mann mit derbem, rotem Gesicht trat Thorsten Thorn in den Weg.

»Warum kommt ihr jetzt auch noch hierher? Ihr habt genug Unheil gestiftet mit eurem verdammten Film.«

»Reden Sie keinen Unsinn!«, erwiderte Thorn scharf. »Gerade wir haben am meisten unter dem Spuk zu leiden. Wir sollten zusammenhalten und die dunklen Mächte gemeinsam bekämpfen.«

»Hören Sie, ich bin der Bürgermeister dieser Stadt. Ich werde dafür sorgen, dass Sie und die ändern von hier verschwinden, damit endlich Gras über die alten Geschichten wächst. Mit eurer Ankunft hat der Spuk angefangen. Der Hexer ist erzürnt, weil ihr ihn im Film verunglimpft.«

»Das scheint mir eine reichlich unwahrscheinliche Erklärung zu sein. Was ist denn in der Stadt geschehen, dass ihr alle so aufgebracht seid?«

Mehrere in der Menge, die jetzt Thorsten Thorn und Linda Scholz umringte, lachten. Sie schrien durcheinander, voller Wut, Hass und Angst.

»Was geschehen ist, fragt er? Die Sonne geht schwefelgelb auf, Kühe geben blutige Milch, stinkender Unrat kommt aus der Wasserleitung.«

»Aus dem Nichts ertönen Stimmen, Gelächter. Bei den Bauern am Stadtrand ist das Vieh in den Ställen verreckt.«

»Hexen sind auf Besen durch die Luft geflogen.«

Linda drängte sich an Thorsten. Die hassverzerrten Mienen, die blinde Wut in den Gesichtern der Männer und Frauen erschreckte sie zutiefst.

»Wissen Sie jetzt, was alles geschehen ist?«, fragte der Bürgermeister. »Es ist nicht nur Signefeu. Er hat seinen Hexenzirkel wieder errichtet. Es sind Hexen in der Stadt, die uns alle verderben wollen, und wir kennen sie nicht.«

»Drei haben wir in einem Schuppen eingesperrt«, rief ein Mann.

Ein kleiner Anstoß genügte, um die Menge zu blinder Mordgier anzustacheln. Die Angst vor dem Übernatürlichen verbündete sich mit dem Hass auf die vermeintlich Schuldigen.

»Wir sind genauso von diesem Hexenzauber betroffen wie ihr«, versuchte Thorn noch einmal, vernünftige Argumente vorzubringen. »Wir sind nicht die Ursache dieses Übels.«

Der Bürgermeister drängte ihn zur Seite. Er zog Linda Scholz in den Lichtschein, der aus einem Fenster fiel.

»Die kenne ich doch. Natürlich, das Gemälde im Hotel. Das ist Roxane von Falkenfels. Die Geliebte des Hexers ist zurückgekehrt.«

Drohend drängte sich die Menge vor. Thorsten Thorn sprang vor Linda, schob sie in einen Hauseingang. Schreie wurden laut.

»Schlagt die Hexe tot!«

»Hängt sie auf!«

»Werft sie in den Fluss!«

»Ihr Idioten«, schrie Thorn. »Zurück! Zurück!«

Der Bürgermeister wollte Thorn ins Gesicht schlagen. Dieser fing den Schlag auf, riss das Knie hoch und versetzte dem Angreifer einen wuchtigen Kinnhaken. Der Bürgermeister ging in die Knie.

Männer drangen auf den Schauspieler ein. Thorn war ein großer, durchtrainierter Mann. Zudem erfüllte ihn jetzt eine wilde Wut über soviel Dummheit und Unverstand. Er schlug und trat um sich.

Obwohl seine Gegner ihm heftig zusetzten, blieb er auf den Beinen. Wenn du zu Boden gehst, treten sie dich tot, war sein einziger Gedanke.

Thorn hörte Linda hinter sich schreien. Dann krachte eine Faust an sein Kinn. Er taumelte nach rückwärts, versuchte immer noch, die Männer zurückzuhalten, die in den Hauseingang drängten. Der Bürgermeister kam an Thorn vorbei, packte Linda am Arm.

Plötzlich stieß der Mann einen Schmerzensschrei aus, stolperte zurück. Es sah so aus, als wollte er das Gesicht vor Schlägen schützen, die ein Unsichtbarer ihm versetzte. Wieder schrie er, krümmte sich auf dem Pflaster, die Hände an den Unterleib gepresst.

Die Leute vergaßen für einen Augenblick Thorn und Linda, betrachteten den wimmernden Bürgermeister.

Ein Mann drängte sich durch die Menge, schwang einen derben Knotenstock. Es war der Benefiziat.

»Was macht ihr denn da? Ihr seid wohl verrückt geworden. Haltet ein! Zurück!«, rief er.

Ein blonder junger Bursche wollte den Geistlichen zur Seite drängen.

»Das ist nichts für Sie. Gehen Sie aus dem Weg!«

»Was? An einem alten Mann willst du dich vergreifen, du Lump, du! Dir werd' ich's zeigen!«

Der Benefiziat hatte den Stock gehoben. Der Junge wich erschrocken zurück.

Der alte Pfarrer hatte durch sein beherztes Eingreifen die Lage entschärft. Noch einmal drohte er mit dem Knotenstock.

»Geht nach Hause. Die beiden hier sind nicht schuld an dem, was geschehen ist.«

Thorn wischte sich das Blut aus dem Gesicht.

»Danke«, sagte er. »Sie sind im rechten Moment gekommen.«

»Gehen wir ins Pfarrhaus«, antwortete der Pfarrer.

Thorn und Linda folgten ihm. Die Menge machte, wenn auch murrend, eine Gasse für sie frei. Die schwere, eichene Tür des Pfarrhauses fiel hinter ihnen ins Schloss.

Der Benefiziat führte Thorn und Linda in sein Arbeitszimmer. Thorn legte den Kopf in den Nacken, damit seine Nase zu bluten aufhörte. Er spürte zwar überall Schmerzen, wo Schläge ihn getroffen hatten, aber es war noch alles heil. Linda Scholz war mit dem Schrecken davongekommen.

»So ein Wahnsinn, da geben diese Leute uns die Schuld an den Ereignissen«, empörte sich Thorn. »Was haben ich und Linda mit dem Hexer Signefeu und seinem Hexenzirkel gemeinsam?«

»Sie wohl nichts, Herr Thorn, Linda schon etwas.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Mein Hobby ist die Ahnenforschung. Ich habe recherchiert. Gottfried von Falkenfels, der Bruder jener unglücklichen Roxane, hatte mehrere Kinder. Ich habe den Stammbaum durch die Jahrhunderte verfolgt. Es war schwierig, denn die Töchter der Sippe derer von Falkenfels nahmen durch Heirat alle möglichen Namen an. Trotzdem fand ich heraus, dass Siegfried von Hardenberg, Linda Scholz' Vater, von der Familie derer von Falkenfels abstammt. Linda ist eine Nachfahrin jener Roxane von Falkenfels, die 1583 wegen Hexerei und Buhlschaft mit Gilbert Signefeu auf dem Scheiterhaufen sterben musste.«