3. Kapitel
Das Gespräch mit Schultz-Breitenberg brachte kein Ergebnis. Linda Scholz blieb bei ihrer Aussage, sie habe eine Stimme gehört und die Berührung einer kalten Hand gespürt. Thorsten Thorn erklärte noch einmal, dass er einen knallharten Schlag in die rechte Niere bekommen habe.
»Fühlt sich einer von Ihnen ernstlich krank?«, erkundigte sich Schultz-Breitenberg. Linda Scholz und Thorsten Thorn verneinten.
»Haben Sie eine Ahnung, was diese merkwürdigen Geschehnisse verursacht haben könnte?«
»Vielleicht spukt es im Galgenwirtshaus und in der Umgebung. So viele schlimme Dinge sind geschehen, seit wir hier sind«, sagte Linda Scholz.
»Erwarten Sie von mir, dass ich eine solche Erklärung akzeptiere?«, fragte der Regisseur schärfer, als er es beabsichtigt hatte.
Am Abend hielt er eine kleine Ansprache im Speisesaal. Es war drückend schwül, ein heißer Augusttag. Das Gewitter konnte jede Minute losbrechen.
»Meine Damen und Herren«, begann er. »Seit unserer Ankunft sind ein paar Dinge geschehen, die mir missfallen. Dazu gehören dieser alberne Spuk in der Nacht und andere Dinge, über die mir von verschiedenen Personen hier im Raum berichtet worden ist.«
Er nannte keine Namen.
»Ich ziehe daraus die Schlussfolgerung, dass entweder mehrere Mitglieder dieses Teams hochgradig hysterisch sind, oder dass jemand mit Absicht die Dreharbeiten sabotiert. >Das Galgenwirtshaus< ist ein Experiment der Centra-Film. Ich brauche wohl nicht darauf hinzuweisen, dass von diesem Experiment viel abhängt. Der Konkurrenzkampf in der Filmbranche ist hart. Die Centra-Studios können sich einen Fehlschlag nicht leisten. Und auch Sie, meine Damen und Herren, wollen von diesem Filmprojekt profitieren. Zum einen finanziell, zum anderen auf Grund der Publizierung Ihrer darstellerischen Leistung, die Ihnen weitere Angebote bringen wird. Wenn also jemand hier irgend etwas weiß, was zur Aufklärung der Vorgänge in den letzten vierundzwanzig Stunden beitragen kann, soll er jetzt reden.«
Niemand sagte ein Wort.
»Nun gut. Falls diese Spukgeschichte sich wiederholt, oder falls andere Dinge geschehen, die Unruhe stiften und die Dreharbeiten behindern, dann hat der Urheber die Konsequenzen zu tragen. Das sind: Erstens fristlose Entlassung, zweitens Schadenersatzforderungen. Es ist mir dabei völlig gleichgültig, um wen es sich handelt und welche Position er innehat. Das war alles, meine Damen und Herren.«
Schultz-Breitenberg ging an die Hotelbar. Er war für den Rest des Abends mürrisch und verdrossen. Thorsten Thorn, Linda Scholz, Thomas Leupolt und Leonora Rycka tranken noch ein Glas zusammen, dann gingen Thorn und Linda nach einem kurzen Spaziergang auf Thorns Zimmer.
Es war drückend heiß und schwül. Das blonde Mädchen und der schwarzhaarige Mann mit dem sympathisch-hässlichen Gesicht lagen nackt nebeneinander auf dem Bett. Thorn fuhr mit der Zeigefinger die Konturen von Lindas Gesicht nach.
»Du bist schön«, sagte er sanft.
»Manches an mir könnte besser sein«, antwortete Linda. »Mein Busen könnte größer sein, meine Beine länger. Manchmal frage ich mich, was das Publikum eigentlich an mir findet.«
»Frag, mich, ich kann es dir genau aufzählen.«
»Na, dann fang doch an.«
»Da sind zunächst deine Augen.«
Thorn küßte Lindas Augen. Er zählte die Nase, den Mund, das Kinn, den Hals auf. Linda lag mit geschlossenen Augen da, spürte Thorns Küsse. Ihr blondes Haar war über das Kissen ausgebreitet.
»Ich weiß nicht, was du an deinem Busen auszusetzen hast«, sagte Thorn.
Linda spürte seine Hände an ihren Brüsten, seine Lippen. Plötzlich hielt er inne. Sie merkte, wie er sich neben ihr aufrichtete, und öffnete die Augen. Thorn schaute angespannt zur Balkontür.
»Was ist denn, Thorsten?«
»Da ist jemand auf dem Balkon«, flüsterte er. »Jemand beobachtet uns.«
Er sprang vom Bett, war mit zwei langen Schritten bei der Balkontür, riß sie auf, trat hinaus. Linda hörte einen Fluch, ein Keuchen, dann einen entsetzten Ruf Thorns und gleich darauf einen gellenden Schrei. Im selben Augenblick brach das Gewitter los. Ein Blitz zuckte aus der schwarzen Wolkendecke, beleuchtete für Augenblicke grell die Szenerie.
Der Balkon war leer. Thorsten Thorn war aus dem zweiten Stock in den Hof gestürzt. Der Donner krachte ohrenbetäubend in der Finsternis, die dem grellen Licht des Blitzes folgte. Nackt wie sie war, rannte Linda auf den Balkon hinaus. Im Schein des nächsten Blitzes sah sie Thorsten Thorn auf dem asphaltierten Hof liegen.
Er war sechseinhalb Meter tief abgestürzt. Linda zog ihre roten Jeans und die Bluse über, lief barfuß aus dem Zimmer, die Treppe hinab und in den strömenden Regen hinaus. Wieder blitzte und krachte es. Zugleich strömte der Regen vom Himmel, als sei in den Wolken ein Damm gebrochen.
Linda beugte sich über Thorn. Er hockte völlig benommen im Regen.
»Thorsten, Liebling, ist dir etwas passiert?«
Thorn erhob sich, bewegte Arme und Beine, betastete seinen Körper.
»Ich glaube nicht. Ich bin auf allen vieren gelandet. Es ist nichts gebrochen, wie es scheint.«
Linda nahm seinen Arm und führte ihn durch den strömenden Regen ins Hotel. Thorn setzte sich in einen Sessel nahe der Rezeption. Er stand noch unter der Schockeinwirkung.
»Wie konnte das passieren? Bist du ausgerutscht, Thorsten?«
Thorsten Thorn sah Linda an. In seinen dunklen Augen flackerte Angst.
»Er hat mich über das Geländer gestoßen«, antwortete er.
»Er? Wer? Es war niemand auf dem Balkon, als ich hinauskam.«
Thorsten Thorn konnte keine weitere Auskunft geben, denn zwei Kameraleute und vier Schauspieler kamen die Treppe herunter. Ein Script-Girl und drei Schauspielerinnen folgten ihnen. Der Schrei, den Thorsten Thorn bei seinem Sturz ausgestoßen hatte, hatte sie alarmiert.
»Was war denn? Was ist passiert?«, fragte ein Kameramann.
»Ich habe mich zu weit übers Balkongeländer gelehnt, habe den Halt verloren und bin heruntergefallen«, antwortete Thorsten Thorn.
»Großer Gott! Sind Sie verletzt?«
»Nein, Nur Hautabschürfungen. Meine linke Seite schmerzt, aber das ist nur eine Prellung.«
»Da hatten Sie mehr Glück als Verstand, Thorsten. Sie hätten sich den Hals brechen können. Wie konnten Sie nur so unvorsichtig sein.«
Draußen krachten die Donnerschläge, zuckten die Blitze und tauchten für Bruchteile von Sekunden alles in grelles Licht. Der Regen rauschte. Plötzlich ertönte ein Poltern aus dem Speisesaal.
Ein Kameramann und ein Schauspieler gingen hinein, um nachzusehen. Sie kamen bald zurück.
»Lindas Bild..., das Gemälde jener Roxane von Falkenfels ist heruntergefallen.«
»Wenn es weiter nichts ist«, meinte Thorsten Thorn. Schwankend und noch immer blass erhob er sich. »Ende der Vorstellung. Die Akteure gehen zurück auf ihre Plätze.«
Linda folgte ihm die Treppe hinauf. Im ersten Stock bog Thorn in den Hotelflur ab. Nach seinem Schrei und dem Füßetrappeln auf der Treppe hatten viele die Zimmertüren geöffnet, standen im Flur und debattierten, was jetzt wohl geschehen wäre.
Viktor Schultz-Breitenberg kam Linda und Thorsten entgegen.
»Können wir Sie einen Augenblick allein sprechen?«, fragte Thorn.
Schultz-Breitenberg gab die Tür frei. Sein Bett war zerwühlt. Er setzte sich auf die Couch, bot Thorn und Linda Platz an.
»Was gibt's?«, fragte der Regisseur.
Thorn berichtete kurz von seinem Sturz. Schultz-Breitenberg schenkte ihm einen doppelten Kognak ein, für sich und Linda gleich auch einen.
Thorn leerte das Glas in einem Zug.
»Sie wissen noch nicht, wie es zu dem Sturz kam«, sagte Thorsten Thorn. »Ich sah eine dunkle Gestalt auf dem Balkon, als ich mit Linda im Bett lag. Natürlich rannte ich gleich hinaus. Ein Mann stand vor mir. Er war bleich und hatte ein Feuermal auf der linken Gesichtshälfte, das konnte ich erkennen, denn für einen Augenblick stand er im Lichtschein, der aus dem Zimmer fiel. Er war groß, so groß wie ich. Ich packte ihn am Kragen, und er packte mich. Seine Hände waren kalt wie Eis. Er hatte Bärenkräfte, denn er hob mich hoch wie eine Puppe und warf mich über das Balkongeländer hinunter in den Hof. Es war reines Glück, dass ich unverletzt davonkam.«
Schultz-Breitenberg musterte Thorn skeptisch.
»Sie drehen morgen nicht«, sagte er. Er sah auf die Uhr. »Das heißt eigentlich heute, denn es ist schon halb eins. Ich werde einen Arzt bestellen. Vielleicht haben Sie sich doch verletzt, Thorsten.«
»Sie glauben mir nicht! Sie glauben, ich stünde unter einem Schock oder ich hätte mir den Kopf angeschlagen. Linda, sag du es Viktor. Was hast du gesehen und gehört?«
Auch Linda war nun blass geworden.
»Ich habe niemanden gesehen außer dir, als du hinausliefst. Dann hörte ich dich schreien. Als ich auf den Balkon kam, war er leer.«
Thorn konnte es nicht begreifen.
»Hier geht doch irgend etwas vor«, rief er. »Gestern dieser Unheimliche, der stöhnte und mit seinen Ketten rasselte. Die Vorfälle bei den Dreharbeiten. Die Kröten. Mein Sturz vom Balkon. Ich glaube nicht an Geister, Viktor, aber jetzt fange ich an, an meinem Verstand zu zweifeln.«
»Sie brauchen Ruhe«, sagte Schultz-Breitenberg. »Einer von den Arbeitern wird bei Ihnen im Zimmer Wache halten, Thorsten.«
»Ich bin doch kein kleines Kind, das im Dunkeln Angst hat.«
»Nun brausen Sie doch nicht gleich auf. So ein Sturz aus dem zweiten Stock ,ist keine Kleinigkeit. Der Mann soll Sie beobachten, denn ich möchte nicht, dass Sie um sieben Uhr tot im Bett liegen. Es ist möglich, dass Stunden später durch ein Blutgerinnsel im Gehirn Komplikationen auftreten. Also widersprechen Sie mir nicht, wenn ich jemand zu Ihnen schicken will.«
Thorsten Thorn erklärte sich einverstanden.
»Gehen Sie einstweilen schon, Thorsten. Schicken Sie Reuter, den Regieassistenten, zu mir. Wir sprechen uns morgen wieder. Jetzt habe ich mit Linda noch etwas zu bereden.«
Thorn nickte und verließ das Zimmer. Draußen schauten ihn alle neugierig an, doch niemand stellte ihm eine Frage. Er traf den Regieassistenten auf der Treppe und schickte ihn zu Schultz-Breitenberg.
Als der Regieassistent eintrat, hörte er, wie Schultz-Breitenberg zu Linda Scholz sagte: »Es war also sicher niemand auf dem Balkon. Ist Ihnen in der letzten Zeit etwas an Thorsten aufgefallen? Redet er merkwürdig oder benimmt er sich seltsam?«
»Nein, er ist wie immer. Bis auf heute Mittag, diesen unerklärlichen Schlag, den er bekommen haben will. Vielleicht hat er recht. Vielleicht spukt es hier wirklich. Bedenken Sie doch, was alles schon geschehen ist, seit wir da sind, Viktor.«
»Linda, ich habe mich bereit erklärt, einen Horror-Film zu machen. Aber nie und nimmer werde ich an Geister oder Gespenster glauben. Thorsten ist überarbeitet, oder er hat sich bei dem Sturz doch den Kopf angeschlagen. Ihre Nerven sind wohl auch nicht die besten in der letzten Zeit. Soll ich Ihnen eines von den Script-Girls schicken, damit Sie nicht allein zu sein brauchen?«
»Das ist nicht nötig, Viktor.«
Linda Scholz ging. Schultz-Breitenberg und der Regieassistent Reuter blieben allein zurück.
»Irgend etwas geht hier vor«, sagte der Regisseur. »Je mehr ich davon mitbekomme, um so weniger gefällt es mir. Sag ein paar zuverlässigen Männern Bescheid, Rainer, sie sollen ein Auge auf alles haben, besonders nachts. In der letzten Zeit ist zuviel passiert, als dass alles Zufall sein könnte. Dahinter steckt eine Absicht. Ich werde es herausfinden.«
Der robuste, rotblonde Rainer Reuter fragte: »Die Konkurrenz, Chef?«
Der Regisseur zuckte mit den Schultern.
»Bevor morgen früh die Dreharbeiten beginnen, rufen wir Dr. Heydenreich an, den Psychiater. Mir scheint, die Scholz und der Thorn sind nervlich ziemlich mitgenommen. Die beiden fangen tatsächlich an, Gespenster zu sehen.«
*
Linda Scholz war nicht so zuversichtlich und selbstsicher, wie sie sich bei Schultz-Breitenberg gegeben hatte. In ihrem Zimmer angekommen, sah sie zunächst überall nach, selbst unter dem Bett, obwohl sie sich dabei lächerlich vorkam. Sie verschloss die Tür von innen. Die Rollläden hatte sie fest heruntergelassen. Draußen blitzte es immer noch, der Donner krachte. Doch das Gewitter zog schon weiter. Die aufzuckenden Blitze wurden seltener, der Donner krachte weiter entfernt. Der Regen ließ allmählich nach.
Es war ein Uhr. Linda starrte in die Dunkelheit. Sie zwang sich zur Ruhe, zwang sich, an angenehme Dinge zu denken. Sie brauchte ihren Schlaf, denn Schlaf war das beste Schönheitsmittel. Irgendwann fielen ihr die Augen zu. Der Donner drang nur noch ganz leise in ihr Bewusstsein, verrollte in der Ferne.
Linda Scholz glitt vom Dämmerschlaf in einen tiefen, festen Schlaf. Zugleich begann ihr Traum.
*
Nach dem Gewitter war die Luft frisch und würzig. Es roch nach Humuserde, Waldluft, harzigem Holz. Die Vögel zwitscherten, und die Sonnenstrahlen machten aus jedem Tautropfen einen prächtigen Edelstein.
Roxane von Falkenfels hörte den Klang der Jagdhörner. Graf Bodo, ihr Vater, und die übrige Jagdgesellschaft waren weit entfernt. Roxane war das recht so. Sie liebte es, allein durch den Wald zu reiten.
Diesmal hatte sie einen besonderen Grund, sich von den anderen zu trennen. Sie trieb ihren grauen Zelter über die Waldwiese zu dem Windbruch. Roxane stieg aus dem Sattel, band ihr Pferd an.
Kurz danach hörte sie einen Reiter. Sie verbarg sich hinter einem Baumstamm.
Es war Arno von Schönhall, der da näher ritt, ihr Bräutigam. Er trug ein grünes Wams mit weiten Ärmeln, Kniehosen und hohe Schnürschuhe. Ein breites, federgeschmücktes Barett beschattete sein Gesicht. Er hielt eine Armbrust in der Hand. Ein kurzer Sauspieß steckte mit dem Schaft in einer Lederscheide am Sattel. Ein Dolch baumelte an Arno von Schönhalls Gürtel.
Er sah sich um.
»Roxane? Roxane!«
Roxane antwortete nicht, schmiegte sich enger an den Baumstamm. Arno ging auf das Spiel ein. Er band seinen Fuchs neben ihrem Zelter an, sah sich um. Er war ein guter Spurenleser und sah sofort das niedergetretene Gras, die Fährte, die zu dem einzigen noch stehenden Baum im Windbruch führte.
Doch er tat so, als habe er nichts bemerkt, suchte da und dort. Roxane musste lachen, denn er tappte absichtlich ungeschickt umher. Da kam Arno auf sie zu. Sie trat hinter dem Baum hervor.
»Wen sucht Ihr, Herr Jägersmann?«
»Die Tochter des Grafen von Falkenfels. Doch ich nehme auch mit einer so hübschen Waldnymphe vorlieb, wie Ihr es seid.«
Arno zog Roxane an sich, und sie küssten sich. Sein kurz gestutzter Kinnbart kitzelte sie. Nebeneinander saßen sie auf dem weichen, trockenen Moospolster, den Rücken gegen einen gestürzten Baum gelehnt. Sie sahen in den blauen Himmel, zu dem Regenbogen, der sich über den Wald spannte.
»Wie schön so ein Regenbogen ist«, sagte Roxane versonnen.
»Wenn ich könnte, ich würde ihn dir vom Himmel holen.«
Von fern hörten sie das Gekläff der Hunde, das Signal der Jagdhörner. Arno horchte auf, als er die wohlbekannten Klänge vernahm.
»Sie haben einen Hirsch erlegt«, sagte er. Und nach einer Weile: »Der Kerl mit dem Feuermal hat sich heute wieder im Wald herumgetrieben. Dein Vater ist viel zu nachsichtig mit ihm. Er gehört längst an den Galgen.«
»Vater hält nichts von diesem Altweibergeschwätz über Zauberkunst und Hexerei«, antwortete Roxane. »Signefeu ist ein Schankwirt wie tausend andere auch. Er hat das Galgenwirtshaus gepachtet, das, wie du weißt, zum Besitz meines Vaters gehört. Gewiss, mit seinem Feuermal sieht er aus wie ein Kinderschreck, doch was hat das schon zu bedeuten?«
»Die Leute sagen, er ist ein Hexenmeister, Roxane. Er ist Herr eines Hexenzirkels, sagen sie, und er und seine Hexen treiben schlimme Dinge in den Vollmondnächten. Sie verehren den Teufel, feiern wilde Orgien im Wald, verhexen Vieh und Mensch, säen Krankheit, Not, Tod und Unglück.«
Roxane fror trotz des warmen Sonnenscheins.
»Geschwätz!«, sagte sie heftig. »Es gibt keine Beweise.«
»Beweise? Auf der Folter würde Gilbert Signefeu schon gestehen. Unterzieht ihn doch der Hexenprobe.«
»Nein. Er zahlt seine Pacht und den Zehnten. Er hält das Wirtshaus instand. Er ist ein treuer Untertan meines Vaters, des Grafen.«
»Ein Untertan des Satans ist er. Du weißt doch, wie er dich immer ansieht, Roxane, mit seinen dunklen, glühenden Augen. Vielleicht verhext er dich eines Tages noch.«
Roxane lachte glockenhell.
»Du bist ja eifersüchtig, Arno. Eifersüchtig auf einen Schankwirt, der einen üblen Leumund hat. Du Dummer! Eher friert der Fluss und brennt zugleich, als dass ich Gilbert Signefeu ein Zeichen meiner Gunst zukommen lasse. Und jetzt lass uns von etwas anderem reden. Hast du am Hofe des Herzogs nichts anderes gelernt, als zu Jungfrauen von Hexern und Hexen zu reden?«
Arno küsste Roxane wieder. Sie saßen noch eine Weile beieinander, doch als Arnos Zärtlichkeiten zudringlicher wurden, erhob sich Roxane.
»Noch sind wir nicht verheiratet, Arno von Schönhall. Du musst Geduld haben.«
Roxane schwang sich in den Sattel und preschte davon. Arno von Schönhall jagte hinter ihr her. Er sah manchmal einen Schimmer ihres blonden Haares oder ihres himmelblauen Reitkleides zwischen den Bäumen. Doch er konnte sie nicht einholen, denn sie war eine ausgezeichnete Reiterin.
Sie erreichten die Jagdgesellschaft, die Treiber mit der Hundemeute, die Damen und Herren, die Graf Bodos liebstem Zeitvertreib frönten, der Jagd. Roxane ritt an die Seite ihres Vaters, des graubärtigen, stämmigen Grafen Bodo. Er hatte ihre Abwesenheit kaum bemerkt, so fesselte ihn das Waidhandwerk.
Arno, von Schönhall hielt sich etwas hinter Bodo von Falkenfels und seiner Tochter. Plötzlich hörten sie seinen ärgerlichen Ruf. Graf Bodo wandte sich im Sattel um.
»Was gibt es?«
»Dort drüben in dem Gehölz, der Hexer Signefeu.«
»Was? Das ist unmöglich, Arno. Ich weiß, dass Ihr diesen Mann nicht leiden könnt, doch allgegenwärtig ist er wohl kaum. Vor einer halben Stunde noch sahen wir ihn drei Meilen zurück.«
»Ein guter Läufer kann das schaffen. Er stand dort in dem Stangengehölz und winkte mir zu.«
»Was sollte er hier? He, Treiber, habt ihr in dem Gehölz dort einen Mann gesehen?«
»Nein, Herr. Die Hunde wollten nicht hinein in das düstere Stangengehölz. Vielleicht ist ein Keiler oder ein Bär darin, oder sonst etwas.«
»Das sagt ihr jetzt? Verfluchte Bande. Los, abgesessen! Wer geht zuerst hinein? König der Jagd wird, wer das Untier da drinnen zur Strecke bringt.«
Die Hunde scharten sich um das Gehölz. Sie kläfften wild, aber keiner drang hinein, als sei dort etwas, das sie fürchteten. Die Jagdgesellschaft rückte im Halbkreis gegen das Gehölz vor. Wenn das Tier, das darinnen Zuflucht gesucht hatte, die Flucht ergriff, gab es eine wilde Hatz.
»Na, hat keiner den Mut, hineinzugehen? Gut, dann werde ich selbst es tun.«
»Nein, Graf Bodo. Ich will gehen.«
Arno von Schönhall löste den kurzen Sauspieß vom Sattel. Er lockerte den Dolch in der Scheide.
»Glaubtest du nicht, dort Signefeu zu sehen?«, flüsterte Roxane ihm zu.
Arno lachte böse. Er hielt den Spieß fest in der Hand.
»Falls er's ist«, antwortete er ebenso leise, »wird er allerhand zu erklären haben.«
Arno von Schönhall verschwand in dem Gehölz. Lange, bange Minuten vergingen. Schon wurde Graf Bodo ungeduldig. Da ertönte aus der Mitte des Gehölzes ein gellender Schrei, der in einem Röcheln erstickte.
»Mein Gott!«, rief eine der Damen.
Graf Bodo zögerte keinen Augenblick.
»Los, Männer«, rief er, »worauf wartet ihr noch? Los, stehen wir ihm bei.«
Es krachte im Unterholz, Äste brachen. Dann stürmte ein Keiler aus dem Gehölz hervor. Wenige Schritte vor Jägern und Hunden blieb er stehen. Es war der größte Keiler, der je in diesem Revier gesehen worden war. Seine Lichter schienen zu glühen. Seine Hauer waren blutbeschmiert. Er war tiefschwarz, nur auf der linken Seite der Schnauze hatte er einen großen, roten Fleck.
Winselnd, mit eingezogenen Schwänzen, wichen die Hunde zurück. Wie gebannt blickten die Treiber und Jäger auf den mächtigen Keiler.
Dann ritt Graf Bodo auf ihn los. Aber vor dem Keiler scheute sein Pferd, stieg wiehernd auf der Hinterhand hoch, und Graf Bodo wurde aus dem Sattel geschleudert. Der Spieß entfiel seiner Hand. Wehrlos lag er vor dem mächtigen Tier.
Ein vielstimmiger Entsetzensschrei wurde laut. Doch der Keiler griff den Grafen nicht an. Er machte kehrt und stürmte ins Gehölz zurück. Graf Bodo war der erste, der ihm folgte, humpelnd, doch den Sauspieß fest in der Hand.
Mitten im Gehölz fanden die Jäger Arno von Schönhall, grässlich zugerichtet. Er war tot. Graf Bodo sah auf ihn nieder.
»Tausend Dukaten dem, der dieses schwarze Untier zur Strecke bringt«, rief er. »Los, Jäger, los, Treiber, wollt ihr die Bestie entkommen lassen, die Arno von Schönhall das Leben genommen hat?«
Mit halbem Herzen machten sich die Jäger an die Verfolgung. Auch die Treiber hatten keine Eile. Zu deutlich stand ihnen noch das Bild das mächtigen Untiers mit den blutbeschmierten Hauern und den glühenden Lichtern vor Augen.
»Er sah den Hexer dort im dunklen Gehölz, kurz vor seinem Tod«, flüsterte ein alter Treiber seinen Kameraden zu. »Es sollte mich nicht wundern, wenn dieser Keiler nur mit einer geweihten Silberkugel getötet werden könnte.«
Die Treiber bekreuzigten sich. Als sie mit ihren winselnden, verängstigten Hunden im Tannenwald ankamen, fanden sie von dem schwarzen Keiler keine Spur mehr.
Auf einer aus Stangen gefertigten Tragbahre wurde Arno von Schönhalls Leiche nach Burg Falkenfels gebracht. Die Beisetzung fand in aller Stille statt. Der Abt des nahen Klosters hielt die Totenmesse und die Ansprache vor der Gruft. Graf Bodo von Falkenfels und seine Tochter Roxane standen in der vordersten Reihe der Trauernden.
Vier Träger brachten den Sarg in die Gruft. Sie kamen wieder heraus, und die Tür wurde verschlossen.
Roxane stand noch vor der Gruft, als die ändern schon gegangen waren. Schmerzerfüllt blickte sie auf das Gemäuer der von einem Kreuz gekrönten Gruft, in der Arno von Schönhalls sterbliche Überreste lagen.
Plötzlich hörte sie leise Schritte hinter sich. Roxane wandte den Kopf. Da stand ein Mann, hochgewachsen, bleich, dunkel gekleidet.
Ein Feuermal entstellte seine linke Gesichtshälfte. Sein Blick war auf Roxane gerichtet.
»Ihr, Signefeu?«
»Ja, Roxane von Falkenfels. Ich bin es, Euer ergebener Verehrer Gilbert Signefeu. Ich muss mit Euch sprechen, Roxane. Schon lange suchte ich die Gelegenheit, doch immer waren andere um Euch. Ich liebe Euch, Roxane.«
»Wie? Das sagt Ihr mir hier, am Grabe meines Bräutigams? Ihr vergesst wohl Euren Stand, Gilbert Signefeu. Es sind böse Gerüchte über Euch im Umlauf. Ihr habt großes Glück, dass mein Vater ein so freidenkender Mann ist, sonst hättet Ihr schon längst mit dem Galgen Bekanntschaft gemacht, der Eurer Schenke den Namen gab.«
Gilbert Signefeus Blick schien Roxane zu durchbohren. Es war ihr, als wären diese dunklen Augen ein Schacht, in den sie fiel. Plötzlich verließen sie der Abscheu und die Empörung, die sie angesichts der Störung am Grabe Arno von Schönhalls empfunden hatte.
Ohne rechte Überzeugung sagte sie: »Geht, Gilbert Signefeu, und ich will Eure Worte vergessen. Eher friert der Fluss und brennt zugleich, als dass ich Euch ein Zeichen meiner Gunst gewähre.«
Ein dämonisches Feuer flackerte in Signefeus Augen.
»Kommt, Roxane«, sagte er.
Roxane gehorchte. Wie von einer fremden Kraft angetrieben, folgte sie dem hochgewachsenen Mann. Sie gingen durch den Wald und über die Felder, bis zu dem sonnenbeschienenen Fluss.
Gilbert Signefeu sah das blonde Mädchen an. Seine Hände führten seltsame Gesten aus. Er zeichnete Figuren in die Luft. Seltsame, unverständliche Worte kamen aus seinem Mund. Es war Roxane, als verdüstere sich das Sonnenlicht.
»Seht den Fluss, Roxane!«
Die Sonne stand heiß und grell am Himmel, denn es war Juli. Doch den Fluss überzog eine dicke Eisschicht, wie im kältesten Winter. Auf dem Eis begannen blaue und rote Flammen zu tanzen. Sie wirbelten umher, bildeten ein gespenstisches Geisterballett. Ein Singen und Klingen erfüllte die Luft, eine wilde, diabolische, nie gehörte Melodie.
Roxane von Falkenfels erschauerte bis ins Mark. Gilbert Signefeu klatschte in die Hände. Roxane blinzelte, als sei sie gerade aus einem Traum erwacht. Der Fluss lag im Sonnenlicht, glänzte wie ein silberner Spiegel, genau wie zuvor. Außer dem Zirpen der Grillen und dem Zwitschern einer Lerche war kein Ton zu vernehmen.
»Ihr ... Ihr seid ein Hexer, Signefeu«, stammelte Roxane.
Der hochgewachsene Mann verzog verächtlich die Lippen.
»Wie wäre es jetzt mit einem Zeichen Eurer Gunst, Roxane? Ich würde alles tun, um Eure Zuneigung zu erringen.«
Roxane blickte in die dunklen Augen. Wider Willen fühlte sie sich zu Signefeu hingezogen. Sie streifte ihren Handschuh ab, gab ihn dem Mann. Er führte ihn an die Lippen.
»Das Zeichen meiner Gunst«, flüsterte Roxane.
Sie wandte sich um, rannte davon. Sie raffte ihren schwarzen Rock, lief so schnell sie konnte.
Hinter sich hörte sie die Stimme Signefeus: »Morgen Abend bei der alten Eiche. Vergesst es nicht. Kommt!«
Es klang wie ein Befehl. Roxane wusste, dass sie kommen würde. Sie konnte nicht anders.
*
Es klopfte an der Tür. Linda Scholz erwachte, war im ersten Augenblick noch in ihrem Traum gefangen. Die Stimme des alten Max brachte sie in die Wirklichkeit zurück.
»Es ist sieben Uhr, Linda. Sie müssen aufstehen.«
Linda gähnte, reckte und räkelte sich im Bett. Die schlimmen Ereignisse seit ihrer Ankunft im Hotel kehrten wieder. Die Traumbilder verblassten.
Linda zog die Rollläden hoch. Sonnenlicht flutete ins Zimmer. Sie duschte, putzte die Zähne, zog sich an. Kurze Zeit später war sie im Speiseraum. Auch Thorsten Thorn war da.
»Das ist doch Unsinn, mich heute von den Dreharbeiten auszuschließen«, sagte er gerade zu Schultz-Breitenberg.
»Sie drehen nicht, bevor Dr. Heydenreich Sie nicht untersucht hat«, sagte der Regisseur bestimmt. »Es handelt sich hier nicht nur um einen Film mit Produktionskosten in Höhe von einer Million Mark, es handelt sich vielmehr um. Ihre Gesundheit, Thorsten.«
Verärgert setzte Thorsten Thorn sich an einen freien Tisch, an dem auch Linda Platz nahm. Der Regisseur begrüßte sie freundlich.
»Gut geschlafen, Linda?«
»Danke. Sie auch?«
Schultz-Breitenberg antwortete höflich. Thomas Leupolt erzählte ein paar Witze, um Stimmung in die Gesellschaft zu bringen. Leonora Rycka lachte ausgelassen, bemühte sich, die düstere Atmosphäre zu zerstreuen, die über den Filmleuten lastete. Doch nur wenige gingen darauf ein.
»Der Boden ist nass und matschig«, sagte Schultz-Breitenberg am Nebentisch. »Ich habe veranlasst, dass heute einige der Einstellungen in den Gewölben gedreht werden. Wir müssen uns ranhalten, denn wir sind bereits am ersten Drehtag in Verzug geraten.«
»Ja, das Wetter«, sagte der hagere Produktionsleiter. Er hieß Marksen. »Ich war von Anfang an dagegen, in Deutschland zu drehen.«
»Darüber haben wir genug diskutiert«, winkte der Regisseur ab. »Der Film kann nur in Deutschland gemacht werden. Die Szene, die wir gestern nicht hinbekamen, drehen wir morgen. Im August ist das Wetter auch in Deutschland beständig genug, um einwandfreie Außenaufnahmen zu garantieren. Das Wetteramt hat ein vierwöchiges Hoch vorausgesagt.«
»Hat es auch vorausgesagt, dass unsere Stars Gespenster sehen?«, fragte Marksen spitz.
Thorsten Thorn sprang auf. Sein Stuhl fiel zu Boden.
»Wollen Sie mir etwa unterstellen, ich hielte die Dreharbeiten absichtlich auf, Herr Marksen?«
Bevor Marksen antworten konnte, mischte Schultz-Breitenberg sich ein.
»Keinen Streit. Jeder tut seinen Job. Wir arbeiten miteinander, nicht gegeneinander. Von Ihnen, Herr Marksen, möchte ich keine spitzen Bemerkungen mehr hören. Und Sie, Thorsten, gehen nicht gleich hoch wie eine Rakete. Los, Leute, an die Arbeit.«
Zu Thorsten Thorn gewandt, fügte der Regisseur noch hinzu: »Ruhen Sie sich aus, Thorsten, machen Sie einen Spaziergang. Dr. Heydenreich wird gegen zwölf Uhr hier sein. Ich nehme an, Sie können heute Mittag schon wieder drehen.«
Er klopfte Thorsten Thorn freundschaftlich auf die Schulter und ging mit den anderen hinaus. Thorsten Thorn sah ihnen nach, wie sie durch die Tür des Speiseraums drängten. Linda gab ihm einen flüchtigen Kuss, dann war auch sie weg.
Thorn saß noch da, als zwei Kellner die Tische abzuräumen begannen. Dann erhob auch er sich, ging hinaus.
Die Luft war frisch und würzig, kein Wölkchen stand am Himmel. Thorn sah einen Bauern mit seinem Traktor vor das Hotel fahren. Der Mann trug einen verblichenen blauen Arbeitsanzug und derbe Schuhe. Er ging ins Foyer des Hotels. Neugierig geworden, folgte ihm Thorsten Thorn und wurde Zeuge, wie der Bauer mit dem Hotelbesitzer sprach.
»Du hast doch Telefon«, sagte der Bauer. »Ich muss den Tierarzt anrufen.«
»Was gibt's denn, Jochen? Das Vieh krank?«
Der Bauer nickte.
»Bei allen sechs Kühen war die Milch heute morgen ganz blutig. Hoffentlich gehen sie nicht ein. Hast du heute morgen den Sonnenaufgang gesehen, Rüger?«
»Nein«, antwortete der Hotelbesitzer. »Ich muss früh aufstehen, aber so früh doch nicht.«
Wieder nickte der Bauer.
»Der Himmel war gelb wie Schwefel«, sagte er. »So einen Sonnenaufgang habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Als stecke die Sonne den Horizont in Brand.«
Er senkte die Stimme. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu, Rüger. Ich sage dir, da ist Hexerei im Spiel. Das kommt alles nur, weil diese Filmleute den Film drehen über den Hexer Signefeu und die Grafentochter Roxane. Es bringt nichts Gutes, in den alten Geschichten herumzustöbern. Die wussten damals schon, warum sie den Signefeu einmauerten. Du weißt doch, was mit dem Mann geschah, der damals um 1900 das Galgenwirtshaus wieder herrichtete und bewohnen wollte?«
Der Hotelbesitzer winkte ab. Thorsten Thorn, der unbemerkt hinzugetreten war, stellte die Frage.
»Was war denn mit dem Mann?«
»Erhängt hat er sich«, antwortete der Bauer. »Und einen Brief hat er hinterlassen, er müsse es tun. Etwas zwinge ihn dazu. Seitdem wohnte niemand im Galgenwirtshaus. Es zerfiel wieder.«
Der Hotelbesitzer nahm den Bauern am Arm, führte ihn zum Telefon. Dann kam er zu Thorsten Thorn zurück.
»Die Landbevölkerung ist sehr abergläubisch«, sagte er.
»Bei allem, was hier so vorkommt, wundert mich das nicht«, antwortete Thorn. »Haben Sie einen Anhaltspunkt, wer für den Spuk in der vorletzten Nacht verantwortlich sein könnte?«
Der Hotelbesitzer zuckte zusammen.
»Um Gottes willen, lassen Sie das bloß den Bauern nicht hören.«
Thorsten Thorn verließ das Hotel. Er machte einen Spaziergang über die sonnenbeschienenen Felder, zum Wald hinüber. Es war kühl im Schatten der Bäume, und die Waldluft roch würzig.
Nach dem Spaziergang fühlte sich Thorn ruhiger. Sicher gab es für die unheimlichen Vorkommnisse eine natürliche Erklärung. Es musste eine geben.
Thorsten Thorn studierte anschließend im Hotel bis zum Mittag seine Rolle. Gegen zwölf Uhr kam ein kleiner, magerer Mann in den Aufenthaltsraum, in dem sich Thorn befand. Er schüttelte ihm die Hand.
»Ich bin Dr. Heydenreich. Sie hatten einen Unfall, Herr Thorn?«
»Allerdings.«
Dr. Heydenreich begleitete Thorn auf sein Zimmer. Er untersuchte ihn gründlich, tastete seinen Kopf ab.
»Spüren Sie hier einen Schmerz?«
»Nein.«
»Oder da?«
»Nichts.«
Dr. Heydenreich packte das Stethoskop und die anderen Instrumente wieder ein. Er nahm ein kleines Diktaphon aus seinem Arztkoffer, schaltete es ein.
»Patient Thorsten Thorn äußerlich ohne Befund«, sagte er ins Mikrophon, »wobei noch keine endgültige Diagnose gestellt werden kann. Eine Fraktur erscheint ausgeschlossen.« Er schaltete ab. »Erzählen Sie mir doch, wie es zu dem Sturz vom Balkon kam. Herr Schultz-Breitenberg hat mir bereits am Telefon alles geschildert, doch ich möchte es gern noch einmal von Ihnen hören.«
Geduldig berichtete Thorn, wie er auf den Balkon hinausgestürzt war, wo der Mann mit dem Feuermal ihn angriff. Dr. Heydenreich unterbrach ihn nicht.
»Haben Sie in der letzten Zeit vielleicht ein Rauschgift genommen, Herrn Thorn?«
Thorn sprang auf.
»Jetzt reicht es mir. Muss ich mir denn von allen möglichen Leuten Unterstellungen bieten lassen, weil hier ungewöhnliche Dinge passieren? Ich bin nicht rauschgiftsüchtig, zum Teufel. Ich bin Schauspieler, kein Spinner und kein Fixer.«
»Vielleicht ist das die Wurzel des Übels.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Sie sind Schauspieler, Herr Thorn. Sie identifizieren sich mit Ihrer Rolle, leben sie teilweise, um es laienhaft auszudrücken. Vielleicht ist bei Ihnen durch die Identifikation mit der Rolle des Gilbert Signefeu eine Psychose entstanden, eine Form der Paranoia. Sie fühlen sich von dieser Figur verfolgt, die Sie darzustellen haben.«
»Wollen Sie damit etwa sagen, ich sei verrückt? Diesen Spuk im Hotelflur in der vorletzten Nacht haben alle miterlebt, nicht nur ich. Auch Linda Scholz hörte Stimmen. Irgend etwas geht hier vor, Dr. Heydenreich.«
Thorsten Thorn schwieg. Wenn er Dr. Heydenreich von dem Bauern berichtete, von dem schwefelgelben Sonnenaufgang und der blutigen Milch, dann würde der Arzt seine Annahme nur bestätigt sehen.
»Ich weiß, was Sie jetzt denken, Dr. Heydenreich«, sagte Thorn kühl. »Ich nehme an, dass Sie nicht nur Mediziner sind, sondern auch Psychiater. Es gab Fälle von Paranoia bei Schauspielern, sogar bei sehr bekannten. Bei mir ist es anders, Dr. Heydenreich. So sehr identifiziere ich mich mit keiner Rolle. Sollte es jemals so Weit kommen, dann werde ich diese Rolle abgeben, und wenn ich für den Rest meines Lebens durch Schadenersatzklagen wegen Kontraktbruchs ruiniert bin. Halten Sie besser Rücksprache mit den anderen Mitgliedern des Filmteams, ehe Sie ein vorschnelles Urteil fällen.«
»Sind Sie bereit, einige leichte Tests mitzumachen, Herr Thorn?«
»Nein, ich denke nicht daran. Ich will wieder an die Arbeit gehen, Schließlich bin ich Schauspieler, und da draußen wird gedreht, ein Film, in dem ich die Hauptrolle spiele. Beobachten Sie mich bei den Dreharbeiten, Dr. Heydenreich, dann werden Sie sich am ehesten ein Urteil bilden können, ob ich ... ob mein Gehirn normal funktioniert oder nicht. Diese Arbeit verlangt ein Höchstmaß an Konzentration. Ein ... ein Paranoiker könnte sie wohl kaum schaffen.«
»Sie legen meine Worte falsch aus, Herr Thorn. Auf Grund dessen, was Sie mir sagten, stellte ich lediglich eine Hypothese auf. Das war ganz und gar keine Diagnose.«
»Dann gibt es ja noch Hoffnung für mich«, meinte Thorsten Thorn spöttisch. »Es besteht also nur die Möglichkeit, dass ich falsch ticke, um es mit meinen Worten zu sagen?«
»So könnte man es sagen.«
Dr. Heydenreich lachte gezwungen.
»Sie werden heute nicht an den Dreharbeiten teilnehmen. Wir bleiben für den Rest des Tages zusammen. Wenn alles gut verläuft, wie ich annehme, können Sie morgen wieder an die Arbeit gehen. Heute nicht, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Die Centra-Film bezahlt mich, und ich bin es ihr schuldig, dass ich mich gründlich mit Ihnen befasse. Aber jetzt ist es Zeit zum Essen, Herr Thorn. Wir sehen uns dann im Speisesaal.«
Als der Psychiater gegangen war, saß Thorsten Thorn nachdenklich auf seinem Bett. Das hätte er sich denken können, als er Schultz-Breitenberg von seinem unheimlichen Erlebnis erzählte.
Es klopfte an der Tür. Auf Thorns .Herein' kam Linda Scholz ins Zimmer. Sie trug das historische Gewand der Roxane, einen Traum aus blauer Atlasseide mit wallenden Rücken und tiefem Ausschnitt. Linda hauchte Thorn einen Kuss auf die Lippen.
»Was vergräbst du dich bei dem schönen Wetter im Zimmer? Geh doch spazieren, geh schwimmen oder fahr in die Stadt. Der Marktplatz soll wirklich sehr hübsch sein. Wir sehen uns gleich beim Essen. Ich ziehe rasch meine Jeans an.«
Schon war sie wieder draußen. Thorsten Thorn erhob sich, trat ans Fenster und blickte hinaus. Er reckte und streckte sich. Bei dem strahlend schönen Wetter schienen ihm die Ängste und Zweifel der Nacht fern und ohne Belang.
Plötzlich streifte ein kalter Hauch seinen Nacken. Er wirbelte herum. Nichts war da. Trotzdem hatte er das Gefühl, etwas starre ihn an, belauere ihn. Er spürte, dass er nicht allein war.
Der kalte Schweiß brach ihm aus.
»Lass die Finger von Roxane«, sagte eine dumpfe Stimme. »Sonst wirst du es mit dem Leben bezahlen.«
Thorsten Thorn nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte: »Wer bist du und was willst du? Was habe ich dir getan?«
»Weißt du nicht, wer ich bin? Du hast mich in meiner leiblichen Existenz gesehen, heute Nacht. Roxane gehört mir. Rühr sie nie wieder an, sonst wirst du sterben.«
Etwas streifte an Thorsten Thorn vorbei. Es war, als flimmere die Luft im offenen Fenster.
Thorn stürzte ans Fenster, stemmte sich mit beiden Händen auf das Fensterbrett und schrie aus Leibeskräften: »Signefeu! Signefeu!«
Gellendes Gelächter antwortete ihm.
*
Auf dem Balkon nebenan standen zwei junge Schauspielerinnen, brünett die eine, rothaarig die andere.
»Was machen Sie denn, Thorsten?«, fragte die Rothaarige.
Es kostete Thorn viel Willenskraft, sich wieder in die Gewalt zu bekommen.
»Was soll ich schon machen?«, meinte er ein wenig gereizt. »Ich lerne meine Rolle.«
Er trat zurück ins Zimmer, steckte sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. Ich bin nicht verrückt, hämmerte er sich immer wieder ein, ich bin nicht verrückt. An wen sollte er sich wenden? Wer konnte ihm helfen?
Plötzlich kam ihm eine Erleuchtung. Das geheimnisvolle Wesen beanspruchte Linda Scholz, die es als Roxane bezeichnete, für sich. Alle Attacken auf Thorn, von dem Fausthieb angefangen bis zu der Warnung vor wenigen Minuten, waren eine Reaktion auf Zärtlichkeiten, die Thorn und Linda ausgetauscht hatten.
Er musste herausfinden, was dahinter steckte. Der alte Pfarrer in der Stadt fiel Thorn ein. Der Drehbuchautor hatte in der Pfarrhauschronik gestöbert und von dem Pfarrer manches Interessante erfahren.
Thorn zog ein frisches Hemd an, steckte Schlüssel und Autopapiere ein und ging in den Speisesaal.
Während des Essens fühlte er sich wie ausgeschlossen. Die ändern lachten, scherzten, sprachen über ihre Arbeit. Drei Einstellungen hatten sie am Vormittag abgedreht. Am Nachmittag sollten Außenaufnahmen auf Burg Falkenfels gedreht werden.
Thorns Fehlen hatte den ursprünglichen Drehplan erheblich verändert. Thorn spürte, wie Dr. Heydenreichs und Schultz-Breitenbergs Blicke auf ihm ruhten. Der eine sah ihn forschend an, der andere besorgt.
Nach dem Essen wartete Thorn nicht, bis die kurze Mittagspause der ändern vorbei war. Er bot Dr. Heydenreich an, mit ihm in die Stadt zu fahren. Der Psychiater stimmte sofort zu.
Wenige Minuten später saßen sie in Thorns hellrotem Wagen und fuhren los. Der asphaltierte, schmale Weg führte am Waldrand vorbei.
Thorn sah fünf Autos und einen Ambulanzwagen am Straßenrand stehen. Er hielt, stieg aus. Eine Gruppe von Männern stand im Wald. Thorn erkannte den Polizeihauptmeister, der am Tag zuvor im Galgenwirtshaus mit ihm und dem Regisseur gesprochen hatte, als man den Toten abholte.
Er trat zu den Männern. Dr. Heydenreich folgte ihm.
Thorn sah einen Mann am Boden liegen. Zwei Sanitäter standen bei ihm. Zwei andere Männer, offensichtlich Ärzte, beugten sich über den am Boden Liegenden. Sie hatten sein Hemd geöffnet, untersuchten ihn.
Man brauchte kein Arzt zu sein, um zu sehen, dass der Mann tot war. Die roten Strangulationsmale eines Stricks zogen sich um seinen Hals. Das Gesicht war blaurot verfärbt, der Mund geöffnet. Einen Augenblick sah Thorn die schwärzliche Zunge im Mund, dann nahm ihm einer der Ärzte die Sicht.
Am Boden, lagen ein durchschnittener Strick und ein umgestürzter Plastikeimer.
»Wer war der Mann?«, fragte Thorn den Polizeihauptmeister.
»Der Irre, der mehrfach hier in der Gegend gesehen wurde«, antwortete dieser. »Der Förster hat ihn vor einer Dreiviertelstunde gefunden.«
Einer der beiden Ärzte trat zu der Gruppe.
»Einwandfrei Tod durch Strangulation«, sagte er. »Er warf den Strick über den Ast der Eiche, befestigte das Ende an der Wurzel dort. Dann stellte er sich auf den umgestülpten Eimer, legte sich die Schlinge um den Hals und trat den Eimer weg. Exitus. Ich sehe ihn mir in der Anatomie noch einmal genauer an, aber ich glaube nicht, dass ich etwas feststellen kann.«
Die beiden Sanitäter legten den Selbstmörder auf die Bahre, breiteten ein weißes Laken über ihn und trugen ihn zum Ambulanzwagen. Die anderen Männer gingen zu ihren Autos. Auch Thorn und Dr. Heydenreich fuhren los.
Der Psychiater stellte Thorn einige Fragen über den Toten, aber Thorn antwortete ausweichend. Wozu dem Psychiater von dem Mann erzählen, der in panischem Entsetzen vor etwas Unheimlichem, Unsichtbarem geflohen war. Der Schrei, den Thorn in jener Nacht gehört hatte, hallte ihm noch in den Ohren.
»Signefeuuuu!«
Kurze Zeit später erreichen Thorsten Thorn und der Psychiater die Stadt. Enge, verwinkelte Gässchen führten zum Marktplatz, der noch genauso so aussah wie im 16. Jahrhundert.
Thorn parkte, stieg aus. Der Psychiater, ein begeisterter Freund alter Häuser und Gebäude, erzählte Thorn eine Menge über die Fachwerkhäuser, die Kirche, die aus dem 15. Jahrhundert stammen sollte, das alte Rathaus und den Brunnen mitten auf dem Marktplatz. Thorn hörte kaum hin.
»Wo ist das Pfarrhaus?«, fragte er einen Passanten.
Dieser deutete auf ein hohes, schmalbrüstiges, schiefergedecktes Haus gegenüber der Kirche.
»Dort, dieses Haus.«
»Was haben Sie vor, Thorn?«, wollte Dr. Heydenreich wissen.
»Ich möchte mir die alte Stadtchronik ansehen. Vielleicht können wir ein paar interessante Dinge erfahren über diesen Gilbert Signefeu, den ich im Film darstellen soll.«
Eine weißhaarige Haushälterin brachte die Männer zum Pfarrer. Benefiziat Hammer war ein kahlköpfiger, knorriger, alter Mann. Seine großen Hände mit den breiten Handgelenken sahen wie aus Tonerde geformt aus. Hammer wirkte eher wie ein alter Bauer als wie ein Geistlicher.
»Was kann ich für Sie tun, meine Herren?«, fragte er freundlich.
»Wir gehören zu den Leuten, die beim Galgenwirtshaus und auf Burg Falkenfels einen Film drehen«, sagte Thorn. »Ich spiele die Rolle jenes Gilbert Signefeu, der 1583 wegen Hexerei lebendig eingemauert wurde.«
Ein Schatten flog über das Gesicht Benefiziat Hammers.
»Es wäre besser gewesen, diese Dinge ruhen zu lassen. Dieser Drehbuchautor sagte mir, er schreibe ein historisches Werk über Hexenprozesse in Deutschland. Hätte ich gewusst, dass er an einem Filmdrehbuch arbeitet, nie hätte er die Informationen von mir bekommen.«
In knappen Sätzen erzählte Thorsten Thorn dem Pfarrer alles, was sich seit der Ankunft der Filmgesellschaft ereignet hatte. Hammer hörte schweigend zu, ohne Thorn zu unterbrechen.
»Das ist sehr, sehr schlimm«, sagte er, als Thorn geendet hatte. »Ich hörte schon viele Gerüchte, die in der Stadt umherschwirren. Doch ich hielt das meiste für Gerede. Da Sie jetzt aber alles bestätigen, bedeutet das, dass...«
»... Gilbert Signefeu aus seiner Gruft gestiegen ist«, beendete Thorsten Thorn den Satz.
Benefiziat Hammer nickte. Dr. Heydenreich lachte spöttisch.
»Sie werden doch nicht solchen Unsinn glauben! Wir leben im 20. Jahrhundert. Hexerei und Zauberei gibt es nicht.«
»So? Glauben Sie? Das Böse ist in mancherlei Gestalt gegenwärtig. Kommen Sie, meine Herren, ich will Ihnen etwas Interessantes zeigen.«
Der Benefiziat erhob sich mühsam, humpelte, auf seinen Stock gestützt, aus dem Zimmer. Er führte die Besucher in den ausgebauten Keller unter dem Pfarrhaus. Auf Regalen standen dort in der kühlen, trockenen Luft alte in Leder gebundene Folianten. Der Benefiziat deutete auf einen im obersten Regal. Thorsten Thorn holte ihn herunter. Der Benefiziat öffnete die alte Akte.
Thorsten Thorn sah dem alten Mann über die Schulter, aber er konnte nicht entziffern, was auf dem vergilbten Pergament stand, denn der Text war in lateinischer Sprache abgefasst. Der Anfangsbuchstabe jedes Abschnittes war jeweils mehrere Zentimeter hoch, kunstvoll verschnörkelt und verziert.
»Das ist ein Protokoll der Verhandlung gegen Gilbert Signefeu, drei Hexen und die unglückliche Roxane. Leider ist das Protokoll nicht vollständig. Doch hören Sie hier eine Textstelle, die die Untaten des Hexers beschreibt:... auch plagt er gar viel Mensch und Tier mit arger, garstiger Krankheit und Not. Er konnte fliegen durch die Luft und war nicht zu sehen am hellen Tag, dieweil er unsichtbar geworden durch Kräfte, die ihm der Böse verliehen. Am Tag, an dessen Abend der Hexensabbat stattfinden sollte, ging die Sonne schwefelgelb auf, als stiege sie direkt aus der Hölle, und die Kühe gaben blutige Milch. Wer sich aber Signefeus Feindschaft zugezogen, den brachte er sicher in den Tod. Er zog gar viele Weiber an, die ihm als Hexen anhingen, und das Burgfräulein Roxane, die seine Buhlin war. - Finden Sie es nicht merkwürdig, dass Dinge, die sich jetzt tatsächlich ereignen, in dieser jahrhundertealten Chronik aufgeführt sind, Dr. Heydenreich?«
»Vielleicht kannte auch der Bauer, der von dem Sonnenaufgang und den Kühen erzählte, die Chronik«, meinte der Psychiater unsicher.
»Oder nehmen Sie diese Stelle, die einen Spuk Signefeus beschreibt:... tappte der Hexer stöhnend, kettenrasselnd und eisenklirrend durch die Burg Falkenfels, setzte jeden in Angst und Schrecken, der seiner angesichts ward. Denn Tür und Tor waren fest verschlossen, kein Mensch und kein Tier konnten in die Burg dringen. - Hier folgt eine Liste derer, die des Bundes mit Signefeu und der Hexerei verdächtig waren. Zum Schluß stehen die Kosten, die die Hinrichtung verursachten. Sie sehen, auch unsere Vorfahren sahen schon aufs Geld und führten genau Buch. Hier steht es: ... drei Fuder Holz für die Verbrennung der Hexen Roxane von Falkenfels, Maria Steyrer und Anna Müllerin, Ehegespons des Müllers Josef. Per Fuder 6 Franken. 3 Franken für Strick und Ketten, die Hexen an den Pfahl auf dem Scheiterhaufen zu binden. 2 Dukaten endlich für den Henker und seinen Knecht. 12 Franken wurden für Stein und Mörtel bezahlt, den Hexenmeister einzumauern. 4 Franken Arbeitslohn erhielten die Männer, die seine Gruft unter dem Galgenwirtshaus verschlossen. - So steht es hier geschrieben.«
»War das Einmauern damals eine übliche Bestrafung für Hexen und . Hexenmeister?«
»Nein, es sollte in diesem Fall wohl eine besonders schwere Strafe sein. Der Mörtel für die Mauer, die den Hexer einschloss, wurde mit einem besonderen Wasser angerührt. Es sollte sie für Signefeus schwarze Künste undurchdringlich machen. Es muss etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein, dass Signefeu lebendig eingemauert wurde, denn normalerweise wurden Verbrecher, Zauberer und Hexer in dieser Gegend durch den Strang hingerichtet.«
»Selbst wenn wir diesen Humbug in Erwägung ziehen wollten«, sagte Dr. Heydenreich, »welche Pläne sollte Gilbert Signefeu denn dann Ihrer Ansicht nach heute verfolgen, Benefiziat? Was geht nach Ihrer Meinung vor?«
Der alte Mann schloss den ledergebundenen Folianten.
»Das ist schwer zu sagen«, antwortete er. »Wie es scheint, wurde Signefeu aus der Gruft befreit, was ihm ohne Hilfe nicht möglich gewesen wäre. Er verursachte den Tod der Männer, die ihn befreiten. Er wird seinen Hexenzirkel wieder errichten. Doch da ist noch etwas. Entweder ist er noch nicht im Vollbesitz seiner Kräfte, oder etwas leistet ihm Widerstand, kämpft gegen ihn. Sonst hätte er Thorsten Thorn heute mittag nicht nur gewarnt. Ferner ist mir rätselhaft, warum Signefeu solches Interesse an Linda Scholz hat. Ihre zufällige Ähnlichkeit mit Roxane ist meines Erachtens kein ausreichender Grund.«
»Was können wir jetzt tun?«, fragte Thorsten Thorn.
Der alte Mann zuckte mit den Schultern.
»Seit dem Tod des Hexers wurde schon oft versucht, den Spuk im Galgenwirtshaus zu beschwören, doch ohne Erfolg. Ich nehme an, dass die Hexen, die zu Signefeus Zirkel gehörten und nicht, verbrannt wurden, in manchen Nächten immer noch das Galgenwirtshaus heimsuchen. Ich weiß nicht, was geschehen wird oder was sie tun können. Ich für meine Person werde beten.«
Thorsten Thorn und der Psychiater verabschiedeten sich von dem alten Pfarrer. Er brachte sie bis zur Haustür. Dort stellte er Thorsten Thorn noch eine Frage.
»Stimmt es, dass der Vater von Linda Scholz von Hardenberg hieß?«
»Ich glaube schon. Linda stammt aus der ersten Ehe ihrer Mutter mit von Hardenberg. Nach der Scheidung nahm Lindas Mutter ihren Mädchennamen wieder an, Scholz, und auch die Kleine bekam diesen Namen. - Weshalb wollen Sie das wissen? Ist das wichtig?«
»Es ist nur so eine Idee von mir«, antwortete der Benefiziat. »Falls es eine Bedeutung hat, werden Sie es erfahren. Leben Sie wohl.«