12
Graham war es ernst damit gewesen, dass er nicht auf sie warten wollte. Sie musste sich richtig sputen, um ihn einzuholen, als er mit langen Schritten dem Straßenrand zustrebte, um ein Taxi anzuhalten. Sowie der Fahrer – übrigens einer von den Anderen, der Erste, dem sie in dieser Stadt begegnet war – sie am Eingang des Central Park an der 79th Street abgesetzt hatte, legte Graham sogar noch einen Schritt zu. Wenn Fiona ein Mensch gewesen wäre, hätte sie schon bei der ersten Abzweigung nicht mehr gewusst, welche Richtung er eingeschlagen hatte, aber sie war ja nun mal eben kein Mensch und hatte darüber hinaus auch nicht vor, sich abschütteln zu lassen. Stattdessen murmelte sie ein Dankgebet für ihre elfenhafte Zähigkeit und Behändigkeit – ebenso wie für Missys Tennisschuhe –, während Graham und sie immer tiefer in den Park eindrangen, die gepflasterten Wege verließen und ausgetretenen Trampelpfaden folgten, die sie in den urwüchsigeren, mit Niederwald und Dickicht bewachsenen Teil der Anlage führten. Fiona war auch froh darüber, dass ihr vorzügliches Nachtsichtvermögen die sich herabsenkende Dunkelheit durchdrang, so dass sie nicht Gefahr lief, den breiten Rücken ihres Führers aus den Augen zu verlieren, denn sonst wäre es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, ihm zu folgen.
Sie wusste auch, was ihm den Weg wies. Der Geruch in seiner Nase. Ihre eigene verfügte nicht auch nur annähernd über die notwendige Sensibilität, um die Partikel in der Luft zu wittern, die ihr verrieten, ob Andere oder Dämonen kürzlich in der Nähe gewesen waren oder ob hier jemand geblutet hatte, aber sie wusste, dass Grahams Riechorgan das unterscheiden konnte. Sie konnte es an seiner Schulterhaltung erkennen und an dem Spannungsfeld spüren, das sich immer stärker um ihn herum aufbaute, je näher er der Stelle kam, die Walker ihm genannt hatte.
Als sie sich dem Fundort der Leiche so weit genähert hatten, dass Fiona in einiger Entfernung gedämpfte Stimmen und flackernde Lichter zwischen den Bäumen erkennen konnte, brauchte sie allerdings nicht die feinen Organe eines Wolfes, um auch so zu ahnen, dass die Sache ernst war. Selbst ohne geschärfte Sinne konnte sie den Tod riechen; ein Geruch, der einerseits ihre Verärgerung über Graham ein wenig verdampfen, andererseits aber auch das Rumoren in ihrem Magen zurückkehren ließ.
Fast lautlos trat sie mit Graham aus dem dichten Unterholz hervor und auf eine leicht hügelige Lichtung, die vor der Anspannung angesichts der Präsenz des Todes und der Reaktion der Lebenden darauf beinahe zu glühen schien.
Am anderen Ende der Lichtung stand Walker; er hatte ihnen den Rücken zugekehrt, aber man konnte sehen, dass er den Kopf gesenkt hielt und in eine Unterhaltung mit einer kleinen, dunkelhaarigen Frau mit einem hübschen Gesicht und schmalen, in blutbeschmierten Handschuhen steckenden Händen vertieft war.
In dem Augenblick, als Fiona die Lichtung betrat, hatte er sie auch schon gewittert. Sein Kopf schoss hoch und wandte sich mit einem erbosten Ausdruck im Gesicht ihr zu.
»Was zum Teufel macht die denn hier?«
Dann kam er so schnell auf sie zu, dass Fiona nicht einmal Zeit blieb, hinter Grahams Rücken zu verschwinden. Sie konnte die Augen der Frau, mit der Walker gesprochen hatte, erstaunt hinter ihren Brillengläsern blinzeln sehen, doch im Augenblick war Fiona mehr daran interessiert, die Theorie von Tess und Missy auf die Probe zu stellen. Sie sah Walker direkt ins Gesicht, versuchte, sich keine Nuance des Ausdrucks darin entgehen zu lassen. Eine Sekunde lang erkannte sie nichts außer seiner altbekannten Verstimmung, doch als ihr prüfender Blick sich auf seine Augen konzentrierte, nahm sie noch etwas anderes wahr – einen Funken von Besorgnis, von Bangen.
Das gab ihrem Optimismus Auftrieb, und sie machte gerade den Mund auf, um Walker etwas zuzurufen, als eine Bewegung von Graham sie verstummen ließ. Er hielt eine Hand hoch, als wollte er den Werwolf besänftigen.
»Spar dir deine Worte«, sagte er.
»Ich habe mich deswegen schon mit ihr auseinandergesetzt und musste mich leider überzeugen lassen. Du hast mir am Telefon gesagt, an dieser Leiche käme dir irgendwas faul vor. Falls ›irgendwas faul‹ bedeuten sollte, dass da möglicherweise ein Dämon im Spiel war, brauchen wir sie hier.«
»›Seltsam‹ kann ja wohl alles bedeu…«
»Aber nichts mit Wölfen«, schnitt die Frau mit der Brille ihm das Wort ab. Ihre Stimme klang deutlich von der gegenüberliegenden Seite der Lichtung herüber.
»Verzeih mir, lieber Leitwolf, aber ich kann dir versichern, dass es keiner aus unserem Rudel gewesen ist. Auch kein einzeln umherstreunendes Tier oder ein ortsfremdes. Diesen Mord hat kein Wolf begangen.«
Graham sah die Frau an und nickte wie zum Zeichen, dass er es ihr nicht übel nahm, sich in seinen Schlagabtausch mit Walker eingemischt zu haben.
»Schon gut, Annie. Ich möchte nur über alles unterrichtet werden. Wenn es denn kein Wolf war, könnte es sonst ein Anderer gewesen sein? Eine Wildkatze? Ein anderes Werwesen? Etwa ein Vampir?«
Annie schüttelte den Kopf.
»Auf keinen Fall. Schon die Menge Blut, die am Tatort zurückgeblieben ist, schließt einen Vampir als Täter aus. Okay, ich bin Biologin, keine Medizinerin, und es ist schon eine ganze Weile her, seit ich einen Anatomiekurs besucht habe, aber ich weiß noch genug darüber, um zu dem Schluss zu kommen, dass dies kein gewöhnlicher Mord gewesen ist. Sieh dir das hier mal an.«
Graham näherte sich der Frau und der Leiche, wobei er sorgsam darauf achtete, nicht etwa auf irgendetwas zu treten, was nach einer Spur aussah oder mit dem Fuß in eine der Lachen aus gerinnendem Blut zu geraten, von denen ausgehend sich dunkelrot gefärbte Rinnsale fächerförmig in alle Richtungen verteilten. Fiona beeilte sich, ihm zu folgen und musste wiederum versuchen, das unangenehme Gefühl zu verdrängen, ein zutiefst verstimmter Walker würde ihr wie ein Schatten folgen.
Fiona blieb stehen, als auch Graham das tat; keinen halben Meter von der leblos am Boden liegenden Gestalt entfernt. Als sie einen Blick auf die Leiche warf, war ihr erster Gedanke, dass sie nicht unbedingt gewusst hätte, ob es sich dabei um einen Menschen handelte oder nicht – doch das war ihr ja schon im Vorwege gesagt worden. Der Tote sah aus, als läge er in Klumpen da, in drei oder vier großen Stücken, deren Zusammengehörigkeit mehr durch ihre räumliche Nähe zueinander erkennbar war als durch physiologische Gegebenheiten. Irgendetwas hatte sich durch Fleisch und Knochen und Sehnen gefressen und alles fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Fiona konnte etwas ausmachen, was einmal blauer Jeansstoff gewesen sein konnte, in dem schwachen Licht aber nun schwarz aussah, und die blutverkrusteten, strähnigen Klümpchen neben Grahams linkem Stiefel mochten vor ein paar Stunden noch menschliches Haar gewesen sein, aber nun konnte man ihnen nur noch mit sehr viel gutem Willen dieses Etikett anheften.
Fiona holte tief Luft und ballte die Hände zu Fäusten, damit sie sie nicht dauernd auf ihren Bauch presste und damit verriet, dass ihr unwohl zumute war. Doch ihr Magen reagierte darauf, indem er zu einem Knoten zusammenschnurrte und sich dann unter Protest bis in die Nähe ihres Rückgrats zurückzog.
Es war eigentlich nicht so sehr Blut, das Fiona so zu schaffen machte; es war vielmehr die Leere dieser Hülle, die einmal ein Mensch gewesen war. Es war nichts Menschliches davon übrig geblieben – als hätte die Seele angesichts der Schändung ihres früheren Zuhauses sich vom Wind so weit und so schnell forttragen lassen wie nur möglich. Normalerweise klammerte sich die Seele eines Menschen hartnäckig an ihren Körper, an die Welt, in der sie gelebt hatte. Deswegen gab es bei den Menschen ja auch so viele Geistergeschichten. Doch in diesem Fall war nicht einmal eine Spur von Lebenshauch übrig geblieben. Was vielleicht eine Gnade war, denn wenn Fiona ihren eigenen Leib derart massakriert gesehen hätte, würde auch sie ihr Heil in der Flucht gesucht haben.
»Ich gebe zu, dass es auf den ersten Blick so aussieht, als wäre dies das Werk eines Wolfes oder möglicherweise einer Raubkatze. Hier sind Abdrücke von Klauen.« Annies Stimme war wie ein Kommentar aus dem Off, der schon vor einer Weile eingesetzt hatte, den Fiona aber jetzt erst wahrnahm.
»Aber ich habe noch nie von einem Tier mit solchen Krallen gehört, geschweige denn selbst eines gesehen. Dafür sind sie viel zu lang, im Schnitt mindestens zwanzig Zentimeter, obwohl es so aussieht, als gäbe es zwei etwas kürzere, die nicht so häufig benutzt wurden, hier nämlich« – sie zeigte zuerst auf die Stelle, an der der Hals des Opfers sich befunden haben musste und dann auf eine Stelle unterhalb des Brustkorbes, wo die beiden größten Teile der Leiche voneinander getrennt worden waren – »und dort. Jedes Wesen mit solchen Klauen würde im Verhältnis mindestens drei Meter lang sein müssen, und der größte Wolf, von dem ich je habe berichten hören, maß gerade mal zweieinhalb.«
Graham schien die Szene mit einer Art kühler Distanziertheit zu betrachten; seine innere Anspannung verriet sich nur dadurch, dass er die Hände zu Fäusten geballt hielt und jedes Mal, wenn er unwillkürlich die Zähne zusammenbiss, seine Kinnlade zuckte.
Annie schüttelte den Kopf.
»Auffällig ist, dass der Uterus und die Gedärme intakt zu sein scheinen; an die Oberfläche gezerrt zwar, aber intakt. Auf jeden Fall sieht es fast so aus, als wären einzelne Innereien angekaut oder abgetrennt worden, um den Eindruck zu erwecken, als wären sie angefressen worden, aber dieses Mädchen ist niemandes Abendessen gewesen. Das macht es ziemlich unwahrscheinlich, dass sie einem Amok laufenden Anderen zum Opfer gefallen ist. Bei so einer vorläufigen Untersuchung kann ich natürlich noch nichts Endgültiges sagen, aber ein erfahrener Gerichtsmediziner könnte uns genaueren Aufschluss geben.«
Fiona zog die Stirn in Falten und trat noch näher heran. Diese Annie hatte recht. Obwohl zum Teil noch Kleiderfetzen und die Reste des halb herausgetrennten Magens darauf klebten, konnte sie den wurstartigen Verlauf der Gedärme in dem klaffenden Loch der Bauchhöhle noch gut erkennen, und die Spalte über ihrer Nasenwurzel vertiefte sich zu einer Furche. Raubtiere bevorzugten die Mägen ihrer Beute als Quell für Vitamine und Mineralstoffe, die sie in den noch unvollständig verdauten letzten Mahlzeiten ihrer Opfer fanden, so dass der Magen für gewöhnlich als Erstes gefressen wurde, doch hier sah der gesamte Verdauungsapparat relativ unversehrt aus – abgesehen davon, dass er aus dem Körper herausgetrennt worden war.
»Möglicherweise ist ein Tier durch irgendetwas vertrieben worden, ehe es sich an seiner Beute gütlich tun konnte?«
»Unwahrscheinlich. Dagegen spricht die Art der Verwundungen. Ein hungriges Raubtier hätte sich über den Unterleib hergemacht und wäre dabei geblieben, aber diese Wunden hier« – Annie zeigte auf das, was von dem Gesicht des Opfers übrig geblieben war – »haben kaum geblutet, was bedeutet, dass sie ihm zugefügt worden sind, als das Opfer bereits tot war und nachdem der Unterleib aufgetrennt wurde.«
Graham fluchte.
»Also definitiv kein hungriger Räuber?«
Annie nickte.
»Es ist, wie ich gesagt habe. Sonderbarerweise scheint es, als ob derjenige, der das hier angerichtet hat, uns glauben machen wollte, die Leiche wäre zum Teil gefressen worden, selbst aber kein Interesse daran gehabt hat. Als hätte jemand die Tötung durch ein Raubtier, etwa einen von uns Anderen, vortäuschen wollen.«
Fiona nahm den exponierten unteren Teil des Brustkorbs näher in Augenschein und wandte sich dann wieder Annie zu.
»Und Sie sind sich sicher, dass keine Körperteile fehlen?«
Die andere Frau schaute sie verwundert an.
»So sicher, wie ich mir nur sein kann. Eine schreckliche Schweinerei, aber es ist alles vorhanden.«
»Was ist mit dem Herz?«
»Die Brusthöhle ist der größte intakt gebliebene Körperteil. Sie können selbst sehen, dass nichts durch die Rippen oder das Brustbein gedrungen ist.«
»Aber wenn nun irgendwas von unterhalb der Rippen nach oben eingedrungen ist?«
Annie schaute noch verblüffter drein.
»Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen.«
Sie ging noch einmal neben der Leiche in die Knie, zog mit den Zähnen die Ärmel ihres bereits mit Blut befleckten Sweatshirts hoch und rollte den Stoff über den Ellbogen zusammen. Dann presste sie eine Hand auf die Brust der toten Frau, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, und schob die andere Hand immer tiefer in den Torso hinein, wobei ihre Augenlider vor lauter Konzentration zitterten.
»Es ist, als hätte jemand hier einen Tunnel hineingewühlt«, murmelte sie und hielt erst inne, als sie mit der Armbeuge gegen einen Rippenknochen stieß. Ihre Brille rutschte ihr von der Nase, und sie musste sich eine ihrer Locken aus dem Gesicht pusten.
»Sie hat recht. Kein Herz mehr da. Aber ich begreife nicht, wieso irgendetwas, das stark genug ist, sich so weit in den Körper hineinzuwühlen, nicht einfach die Brust aufgerissen und sich das Herz geholt hat. Das wäre doch sehr viel effizienter gewesen.«
»Dämonen kümmern sich nicht um Fragen der Effizienz«, seufzte Fiona. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, dass sie sich irrte.
Annie wurde ganz weiß im Gesicht.
»Ein Dämon? Sie glaubt, ein Dämon hätte das gemacht?« Hilfesuchend blickte sie ihren Rudelführer an.
Graham nickte grimmig.
»Das ist durchaus möglich. Es ist jüngst einer in der Stadt gesichtet worden. Wir hatten gehofft, ihn zu stellen, ehe so etwas passieren würde.«
»Aber es ist hier doch seit … seit ewig und drei Tagen niemand mehr von einem Dämon angefallen worden«, protestierte Annie.
»Wo soll der denn hergekommen sein? Ich dachte immer, Dämonen wären im Grunde nur dumm und brutal. Wie sollte so einer sich denn eine Möglichkeit einfallen lassen, sein Opfer so aussehen zu lassen, als wäre es von einem Anderen angefallen worden?«
»Dämonen können diese Welt nur auf das Geheiß eines Beschwörers betreten«, erklärte Fiona.
»Sie müssen gerufen werden, und sowie sie einmal gerufen worden sind, sind sie an denjenigen, der sie gerufen hat, gebunden, bis sie von ihm entweder freigegeben oder verbannt werden. Wenn ein Dämon, der sich in der Gewalt seines Beschwörers befindet, den Befehl bekommt, jemanden umzubringen, denjenigen jedoch nicht zu fressen, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als genau das zu tun, und dass der Körper des Opfers dabei in mehrere Teile zertrennt worden ist, hat genug Schaden angerichtet, um zu dem Schluss zu führen, der Dämon hätte auch noch seinen Spaß dabei gehabt. Doch sobald der Körper erst einmal zerlegt war, ist es wahrscheinlich viel leichter gewesen, von unten an das Herz zu gelangen.«
»Nicht, dass ich mir gewünscht hätte, es wäre ein Anderer gewesen«, sagte Graham, »aber die Tatsache, dass dies nicht der Fall ist, macht die ganze Angelegenheit sehr viel komplizierter. «
»Das will ich nicht unbedingt sagen. Dass einer von uns mitten während der Verhandlungen durchdreht, hätte uns in eine höchst prekäre Lage gebracht, also sollte man es vielleicht von der positiven Seite betrachten.«
Graham ignorierte Annies Vorschlag und sah wieder Fiona an.
»Wäre es sehr anstrengend für Sie, zu versuchen, für uns eine Spur aufzunehmen?«
Fiona zuckte die Achseln.
»Nicht besonders. Man sagt uns Elfen nach, uns wohne eine Verbindung zu dämonischen Dingen inne, also dürfte es mir nicht allzu viel Energie abverlangen, die Spur eines Dämons aufzunehmen – was wahrscheinlich auch der Grund dafür ist, dass wir aus den Kriegen mit ihnen siegreich hervorgegangen sind.«
»Aber Sie sind sich nicht ganz sicher, ob das klappt?«
Sie blickte etwas entmutigt drein.
»Wie ich ja bereits gesagt habe, hat man da, wo ich herkomme, schon seit ein paar Jahrtausenden keinen Dämon mehr gesichtet. Ich kann mich dabei nur darauf stützen, was ich gehört habe, und nicht auf eigene Erfahrung, aber ich denke, dass das schon mehr ist, als das, was Sie mitbringen. «
»Was also werden Sie jetzt tun?«
Fiona ging im Geiste ihre Möglichkeiten durch.
»Nun, zunächst muss ich noch ein wenig zusätzliche Energie schöpfen. Ich habe sämtliche Energie verbraucht, die ich mir von zu Hause mitgebracht hatte, und ich bin nicht mehr dazugekommen, frische Energie aufzuladen, seit … seit ich zuletzt einen Bann ausgesprochen habe.«
»Und Sie können nur Energie aufladen, indem Sie sie jemandem wie Walker entziehen?«
Wie sehr wünschte sich Fiona, Missy wäre hier, um ihrem Göttergatten einen weiteren raschen Tritt zu versetzen, dieses Mal jedoch ein wenig höher als ans Schienbein.
»Ich nehme gar nichts von jemandem wie Walker; Elfen stehlen keine Energie von anderen Wesen, sondern beschränken sich auf die Energie, die um sie herum manifest ist. Die Energie, die ich dadurch, dass ich Herrn Knurrhahn geküsst habe, in mir aufnehmen konnte, entsprang aus dem Kuss an sich und kam nicht von Walker. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Anziehungskraft zwischen uns die einzige Energiequelle zu sein scheint, die ich auf dieser Seite der Grenze anzapfen kann, aber ich habe mir das nicht so ausgesucht.«
Graham sah sie argwöhnisch an.
»Also versorgen Sie sich nicht bei ihm?«
»Sehe ich für Sie etwa wie ein Vampir aus? Sind etwa sämtliche Werwölfe so paranoid, oder ist heute einfach nur mein Glückstag?«
Annie unterdrückte ein Lachen. Walker blickte sie nur an, und man sah, wie es in ihm gärte.
»Das hat sie ganz gewiss nicht von sich behaupten können. « Graham wies auf die weibliche Leiche.
»Falls Sie uns also helfen könnten, herauszufinden, wer oder was für ihren Tod verantwortlich ist und uns zeigen, wie wir denjenigen finden, ohne dass noch jemand dabei zu Schaden kommt, werden Sie es dann tun?« An Walker gewandt fügte er hinzu:
»Küss sie.«
»Wie bitte?«
»Küss sie. Los, ran.«
»Du willst dich wohl über mich lustig machen?«
»Sehe ich so aus, als wäre ich zu Scherzen aufgelegt, Walker? Ich kann es auch als klaren Befehl aussprechen, falls dir das lieber ist.«
»Ach, bitte tun Sie das«, hauchte Fiona fast unhörbar.
»Das würde für mein Ego Wunder wirken.«
»Ich habe keine Zeit, dich deswegen lange in den Arsch zu treten«, knurrte der Leitwolf. Grahams Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen und schienen in der Finsternis um sie herum beinahe zu glühen.
»Nicht, dass mir das nicht einen Heidenspaß bereiten würde, aber mit jeder Sekunde, die wir damit vergeuden, uns hier herumzuzanken, wird die Spur ein bisschen kälter, und derjenige, der dieses Mädchen auf dem Gewissen hat, hat umso länger Zeit, sich ein neues Opfer zu suchen. Also halt jetzt gefälligst die Klappe und küss die gottverdammte Prinzessin.«
Fiona blieb gar keine Zeit, sich gegen den Zusatz zu ihrem Titel zur Wehr zu setzen. Mit einem unterdrückten Fluch fuhr Walker herum, griff sie bei den Armen und verstrickte sie in einen furiosen, aggressiven, knochenmarkschmelzenden Kuss, der sie von innen her aufleuchten ließ wie das Rockefeller Center zur Weihnachtszeit.
Sie hatte tatsächlich das Gefühl, sich in eine gewaltige Glühbirne verwandelt zu haben – als würde ihr Kopf hell genug erstrahlen, um den gesamten Central Park zu beleuchten. Es haute sie jedes Mal aufs Neue um, wie eine einzige Berührung der Lippen dieses widerlichen, sturen und engstirnigen Werwolfs mit den ihren ihre ganze Welt auf den Kopf stellen konnte. Sie entstammte schließlich einer langen Ahnenreihe von Elfen edler Geburt, den Sidhe, und jeder einzelne Tropfen Blut in ihren Adern sollte so launenhaft sein wie das von ihresgleichen. Die Magie, die sie bei Walker empfand, hätte für sie eigentlich höchstens ein flüchtiges Amüsement sein dürfen, nachdem sie nach höheren Weihen und anderen Lippen strebend weiterziehen sollte, doch allein schon der Gedanke daran ließ ihren Magen wieder diese unangenehmen kleinen Kapriolen vollführen. Sie wollte von niemand anderem mehr geküsst werden, wollte von niemand anderem mehr berührt werden, wollte niemand anderes Geschmack auf den Lippen schmecken, wollte niemand anderen, der ihren Mund mit Honig und Kaffee und warmer, wohltuender Männlichkeit erfüllte.
Sie verwünschte ihn in die Hölle und zurück.
Als seine Zunge endlich damit fertig war, in ihrem Mund sein Gebiet zu markieren und seine Lippen sich endlich von den ihren lösten, wusste Fiona, dass sie wie ein radioaktives Isotop strahlte und im Gesicht den Ausdruck einer Dreijährigen hatte, die sich aufs Zubettgehen freut. Sie unterzog sich nicht einmal der Mühe, Walker wütend anzublicken, sondern drehte sich nur auf ihren Absätzen um und trat zwei Schritte näher an die Leiche heran, um nun ihrerseits daneben in die Knie zu gehen und sie sich noch einmal näher anzusehen.
Es dauerte ein paar Minuten, bis ihr Blut zu kochen aufhörte und nur noch vor sich hinsiedete; dann erst kam ihr der schlichte, aber wirksame Zauberspruch wieder in den Sinn, mit dem man eine jede an der Leiche haftende Restspur eines Dämons sichtbar machen konnte. Sie holte tief Luft, schloss die Augen, zwang mittels ihres Willens die aus dem Kuss gewonnene Energie, die richtige Form anzunehmen und ließ sie dann behutsam über die tote Frau und den Erdboden um sie herum streichen. Sie sagte sich, dass dieses bedauernswerte Menschenwesen bereits genug durchgemacht und nun wenigstens eine zartfühlende Behandlung verdient hatte.
Der unüberhörbar angehaltene Atem und die geflüsterten Kommentare um sie herum verrieten Fiona schon bei geschlossenen Augen, dass der Zauberspruch seine Wirkung nicht verfehlt hatte. Als sie die Augen aufmachte, musste sie allerdings einen Fluch unterdrücken – der gesamte Körper der Toten war von den ekelhaft grünlichen Absonderungen des Dämons übersät. Am schlimmsten war es in den Wunden; von dem Residuum der Energie des Dämons schien in ihnen eine krabbelnde, pulsierende Bewegung zu herrschen wie auf einem Ameisenhaufen. Der Dämon hatte ihren Körper entweiht und ihre Seele so gründlich ausgetrieben, dass nicht ein Fitzelchen von der Person, die sie einmal gewesen war, übrig blieb; sie war nurmehr ein Haufen Fleisch, der morbid in der Dunkelheit schimmerte.
Fiona erschauderte voller Abscheu angesichts der Erkenntnis dessen, was sie als Nächstes zu tun hatte. Der Gedanke, sich noch näher mit den fauligen Ausscheidungen des Dämons beschäftigen zu müssen, ließ ihr die Galle hochkommen, aber sie hatte ja keine andere Wahl. Sie musste sich Klarheit verschaffen. Zischend blies sie die Luft zwischen den Zähnen hervor und leitete rasch etwas von ihrer Energie um, um sich einen inneren Schutzschild aufzubauen, bevor sie eine Hand ausstreckte, um das verseuchte Fleisch zu berühren.
Sie vernahm ein tiefes, unterdrücktes Stöhnen und fragte sich, ob es ihr selbst entschlüpft war. Der Eiter des Dämons fühlte sich schleimig an und brannte wie Säure. Bei der Berührung durch ihre Finger loderte er auf, und ein paar Sekunden lang konnte Fiona ein Muster aus Symbolen erkennen, das sich in die Haut der Leiche gebrannt hatte. Mit einem heftigen Fluch riss sie die Hand wieder weg und fiel nach hinten über, wobei sie wenig grazil zu Walkers Füßen landete.
»Was zum Teufel war das denn?«, verlangte er zu wissen und streckte die Arme aus, um ihr auf die Beine zu helfen.
»Dämonenmale, auch Dämonenglyphen genannt. Und eine Erklärung dafür, warum Annie glaubt, jemand hätte es so aussehen lassen wollen, als stecke einer der Anderen dahinter. «
»Das hat tatsächlich jemand so darstellen wollen?«, knurrte Graham.
»Absolut.« Fiona blickte sich um, bis sie einen Ast von ungefähr der Dicke ihres Fingers und der Länge ihres Unterarms fand. Dann stellte sie sich an eine sandige Stelle des Waldbodens und fing an, eine Reihe von Linien und Kurven, die aussahen wie ein fremdartiges Alphabet, in den Boden zu kratzen.
»Da ich nicht mit Blut zeichne, kann ich euch die Glyphen zeigen, ohne tatsächlich etwas mit ihnen auszulösen. Es sind insgesamt fünf. Diese« – sie zeigte auf die ersten beiden – »symbolisieren den Namen des Dämons. Es dürfte nicht sein voller Name sein, und vielleicht noch nicht einmal Teil seines richtigen Namens, aber es wird eine Benennung sein, die sein Beschwörer für seinen Beschwörungsakt ausgewählt hat. Echte Dämonennamen haben Macht über die, die sie tragen, und damit haben die Beschwörer sie in ihrer Gewalt, also wird der richtige Name laut ausgesprochen, wenn die Beschwörung erfolgt, doch wenn die magischen Zeichen niedergeschrieben werden, werden sie durch Symbole ersetzt. Es gibt Tausende von Zeichen, die irgendwelche Namen bedeuten, aber mir ist nicht bekannt, was genau die Bedeutung von diesen hier ist. Dazu müsste ich mich erst ein wenig schlau machen. Die dritte und die vierte Glyphe sind jedenfalls der Befehl. Die dritte ist das Todeszeichen, was bedeutet, dass es sich um den dritten Befehl handelt – nämlich zu töten.«
»Und die vierte?«
»Die steht für Mimikry und Täuschung. Der Dämon sollte denjenigen, der diese Leiche findet, glauben machen, es handele sich um die Tat eines Anderen.« Fiona sah Graham eindringlich an.
»Wer immer das getan hat, weiß von den Verhandlungen und möchte, dass sie zu keinem Ergebnis führen.«
»Schweinerei«, schimpfte Graham.
»Was ist denn mit der letzten dieser Glyphen? Du hast doch gesagt, es wären fünf.«
Fiona blickte nicht Walker an, sondern wieder zur Erde, während sie seine Frage beantwortete.
»Diese letzte Glyphe ist die Signatur des Beschwörers – aber keine Signatur, wie ihr sie euch vorstellt«, fügte sie rasch hinzu, ehe er nach dem Namen fragen konnte.
»Man kann darin nicht so etwas lesen wie ›Bob Smith, Zauberer, Chelsea‹; sie ist mehr ein Symbol, wie ein Familiensiegel. Es findet sich kein Name darin, nur Zeichen, die für etwas stehen. Dieses hier stellt zum Beispiel Macht dar, Tod, Feuer und Luft, was alles Mögliche über alle und jeden aussagen kann.«
»Mit anderen Worten – wir haben keinen Anhaltspunkt?« Graham fuhr sich mit der Hand durchs Haar und rannte im Kreise umher. Seine Frustration ließ ihn fast so hell schimmern wie die Absonderungen des Dämons.
»Nein, so habe ich das nicht gemeint. Ich sage nicht, ich weiß, wo wir den Dämon und seinen Beschwörer in ebendiesem Augenblick finden können, aber wir wissen nun mehr als noch vor einer halben Stunde, und wir haben Kopien von ihren Glyphen. Es gibt gewisse Örtlichkeiten, wo ich sie nachschlagen und mehr darüber erfahren kann. Obwohl die Namenssymbole für Dämonen einzig und alleine seinem Beschwörer zu eigen sind, folgen sie doch gewissen Regeln, damit sie so universell anwendbar sind, dass auch wirklich jeder Dämon ihnen gehorcht. Und das sollte uns weiterhelfen.«
»Kann ich mir kaum vorstellen.«
Annie zuckte mit den Schultern und streifte ihre Gummihandschuhe ab, wobei sie das Innere nach außen kehrte.
»Aber immer noch besser, als gar nichts in der Hand zu haben, oder?«
»Sicher, so wie den Spatzen, der besser ist als die Taube auf dem Dach.« Zähneknirschend verschränkte Graham die Hände hinter dem Kopf.
»Wie lange werden Sie brauchen, um diese Zeichen genau zu entschlüsseln?«
Fiona hätte sich gern um die Antwort gedrückt, aber er hatte die Frage ja partout stellen müssen.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ein paar Tage. Das hängt von den Quellen ab, die ich auftreiben kann.«
Seine Augen blitzten auf.
»Beeilen Sie sich bitte. Wenn er kann, wird Walker Ihnen helfen.« Er warf dem anderen Wolf einen herausfordernden Blick zu, als wolle er ihm bedeuten, ja keine Widerworte zu geben.
»Was für Probleme ihr beide auch miteinander haben mögt – jetzt müsst ihr die einfach mal vergessen und eure Arbeit machen.«
Auch in Walkers Augen flackerte es golden, aber er gab nur ein kurzes Nicken von sich.
»Also gut«, sagte Fiona. Sie war sich nicht so sicher, ob es wirklich gut werden würde, aber sie wusste mit Bestimmtheit, dass Graham das bestimmt nicht gerne hören wollte.
»Schön. Walker, du nimmst sie mit zu dir nach Hause. Ihr braucht jetzt beide etwas Schlaf. Annie, dich möchte ich bitten, hier bei der Leiche zu bleiben. Ich werde Adam in der Klinik anrufen und ihm sagen, er solle sofort herkommen, sowie seine Schicht vorüber ist. Er wird die Tote dann in die Leichenhalle bringen und eine genaue Autopsie durchführen. Möglicherweise entdeckt er etwas, das uns entgangen ist.«
»Einen Versuch ist es allemal wert. Zumindest ist er Doktor der Medizin und hat in diesem Falle mehr Ahnung als ich mit meinen zwei Doktortiteln.«
Fiona senkte den Blick, als Walker die Hand um ihren Ellbogen legte.
»Komm«, sagte er mürrisch, »wir fahren nach Hause.«
Er hörte sich aber gar nicht so an, als würde er ihr am liebsten an die Kehle gehen, und Fiona beäugte ihn dementsprechend argwöhnisch. Das kam ihr so ganz und gar nicht wie der Werwolf vor, den sie kennengelernt hatte. Sie wollte gerade den Mund aufmachen, um ihren Argwohn zu äußern, beschloss aber dann, einem geschenkten Wolf nicht in den Schlund zu gucken.