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»Sie ist dreihundertsiebenunddreißig Jahre alt. Da ist es wohl ein bisschen spät, um noch von zu Hause wegzulaufen.«
»Sie tut ja nich von zu Hause weglaufen. Sie tut sich nur ein paar Tage Ferien nehmen.«
»Für mich sieht’s aber sehr nach Weglaufen aus.«
»Wie tust du denn überhaupt wissen, wie’s Weglaufen geht, du Weichei? Du bist doch so alt, dass du höchstens noch kriechen kannst!«
»Psst!«, zischte Fiona, womit sie augenblicklich die Aufmerksamkeit ihrer beiden kleinen Gesellen auf sich zog, die in ein angespanntes, trotziges Schweigen verfielen. Wollte man beschreiben, wie Babbage und Squick fast ihre gesamte Zeit miteinander verbrachten, wäre »lauerndes Verharren« der treffende Begriff dafür. Doch im Augenblick hatte Fiona ganz andere Dinge im Kopf und wollte sich nicht aus dem Konzept bringen lassen.
»Ich hab’s euch beiden gesagt: Wenn ihr mir nachwinken wollt, habt ihr dabei mucksmäuschenstill zu sein, und falls das über eure Kräfte geht, kann ich euch auch jederzeit zum Palast zurückschicken.«
Der Kobold und der Elf warfen sich von ihren jeweiligen Positionen wütende Blicke zu; der eine hockte auf seinem angestammten Platz auf Fionas Schulter, während der andere um ihren Kopf herumflatterte. Fiona ignorierte sie beide und konzentrierte sich vielmehr darauf, ob ihnen auf ihrem Weg durch den dichten, schattigen Wald nördlich des Königspalastes auch niemand folgte. Normalerweise hätte sich niemand über Fionas Fortbleiben Gedanken gemacht, und es wäre ganz bestimmt auch niemandem in den Sinn gekommen, sie aufzuhalten, doch hatte sie erst jüngst feststellen müssen, dass am Königshof der Sommerfeen längst nicht mehr alles seinen »normalen« Gang lief.
»Eure Hoheit«, meldete sich der Elf schon wieder mit vorwurfsvoll klingender Stimme zu Wort, »ich glaube wirklich, es wäre besser…«
Fiona bedachte ihn mit einem süßen, aber auch leicht bedrohlichen Lächeln.
»Babbage, mein lieber Freund, wenn du nicht binnen der nächsten fünf Sekunden die Klappe hältst, könnte es sein, dass ich es mir doch noch überlege und dich glatt mitnehme. «
Das daraus resultierende Schweigen verlieh dem Lächeln auf ihren Lippen einen noch keckeren Schwung. Sie konnte Squick neben ihrem Ohr kichern hören, schenkte ihm aber keine Beachtung, denn sie hatte es sich schon vor geraumer Zeit zur Gewohnheit gemacht, ihren Kobold nicht auch noch in seinem Tun und Treiben zu bestätigen – was man mit Kobolden überhaupt nie tun sollte. Damit setzte man ihnen nur Flausen in den Kopf.
Der Elf flatterte weiterhin um ihren Kopf herum und warf ihr tadelnde Blicke zu, aber Missbilligung machte Fiona nichts aus. Über die Jahre hatte sie sich damit abgefunden, was die Leute über sie dachten. Babbage hingegen lebte in ständiger Heidenangst davor, bei Queen Mab in Ungnade zu fallen, und deswegen hatte Fionas Drohung, ihn in die Welt der Menschen mitzunehmen, den kleinen Kerl auch augenblicklich zum Schweigen gebracht. Fionas Tante, die Königin, hatte ihren Untertanen schon vor Ewigkeiten sämtliche Ausflüge in das Reich der Menschen ausdrücklich verboten, und Babbage war viel zu feige, um einem Befehl von oben zuwiderzuhandeln – ganz im Gegensatz zu Fiona.
Sie hörte auf, das zurückgelegte Stück Weges weiter nach etwaigen Verfolgern abzusuchen und setzte ihren Marsch fort, wobei sie mit ihren veilchenblauen Augen nun vielmehr den Wald zu beiden Seiten des Pfades nach unerwünschten Begleitern absuchte; doch alles verharrte in unirdischer Stille – ungefähr eine Viertelminute lang.
»Ich persönlich tät gegen einen kleinen Ausflug nichts einzuwenden haben, Prinzessin«, ließ sich Squick vernehmen, und Fiona brauchte nicht einmal seitwärts nach ihm zu schielen, um sehr wohl zu wissen, dass er von seinem Stammplatz auf ihrer Schulter aus Babbage höhnische Blicke zuwarf, während er weiterredete:
» Am Hof tun die Dinge in letzter Zeit … richtig kompliziert laufen. Ein kleiner, erquickender Aufenthalt im dummen Menschenreich ist genau, was wir brauchen täten, um unsere Stimmung wieder zu heben.«
Nun schoss ihm Fiona doch einen Blick von der Seite zu.
» Wer hat denn von ›uns‹ gesprochen?«
Der Kobold blickte schockiert drein.
»Aber Missy Fiona! Du musst uns mitnehmen tun! Wer soll dich denn beschützen tun, wenn ich nich da ist? Im Menschenreich kann’s ganz schön gefährlich, richtig richtig gemeingefährlich werden!«
»Ich glaube, damit komme ich schon alleine klar, Squick. Viel gefährlicher, als das Leben am Hofe zu werden droht, kann’s schon nicht sein.«
Sie musste angesichts des Wahrheitsgehaltes ihrer eigenen Worte schmunzeln. Für jemanden, der wie sie am Hof aufgewachsen war, war das Leben nie ganz ohne gewisse Bedrohungen verlaufen – ständig hatte es Intrigen und Vertrauensbrüche gegeben, um die sich gekümmert werden musste, Widersacher, denen man tunlichst aus dem Wege gehen und Loyalitäten, die man ebenso tunlichst in Frage stellen sollte, aber in jüngster Zeit waren den Risiken des politischen Lebens unerwartete Zähne gewachsen, Zähne, die erst einen Tag zuvor versucht hatten, sich sozusagen in die nichts Böses ahnende Fiona zu verbeißen.
Ihr Mund verzog sich vor lauter Verdruss, als sie sich noch einmal ins Gedächtnis rief, wie sie in einem abseitsgelegenen Alkoven von einem besonders ambitionierten Höfling in die Enge getrieben worden war. Jedermann in der Anderwelt, dem Reich der Elfen und Feen, wusste, dass die Königin vorhatte, noch vor dem nächsten Mondwechsel aus der Reihe ihrer ungefähr zwei Dutzend Nichten und Neffen ihren Thronfolger zu bestimmen, und es schien einiges darauf hinzudeuten, dass diese Wahl sehr wohl auf Fiona fallen könnte, so dass sich allerhand mögliche Freier dazu berufen fühlten, sie mit ihren Avancen zu umgarnen. Niemand schien ihren Einwänden, dass sie nämlich keinerlei Ambitionen hätte, den Königsthron der Sommerfeen zu besteigen, Glauben schenken zu wollen, auch besagter Höfling nicht, so dass Fiona erst der Kragen hatte platzen und sie ihr Knie in seinen Unterleib hatte rammen müssen, damit er es endlich kapierte und von ihr abließ. Doch so weit hätte es gar nicht erst kommen müssen, um Fiona davon zu überzeugen, dass es an der Zeit für einen ausgedehnten Aufenthalt in einem fremden Land war.
Nur befand sich ihr ausgewählter Urlaubsort leider auf der königlichen Liste der verbotenen Reiseziele.
Einige Jahre zuvor hatte es nämlich einen Zwischenfall gegeben, bei dem ein Neffe der Königin von mehreren Menschen dabei beobachtet worden war, wie er mitten in New York City seinem Vergnügen nachging, und seitdem ahndete Queen Mab jegliche Verstöße gegen das Reiseverbot zwischen der Anderwelt und der Welt der Menschen mit besonderer Strenge. Und die meisten ihrer Untergebenen hüteten sich denn auch tunlichst davor, das Missfallen ihrer Herrscherin zu erregen.
Dabei wäre kaum zu befürchten gewesen, dass irgendwelche unangenehmen Folgen daraus erwachsen könnten, dass ihr Neffe sich am falschen Ort hatte sehen lassen, denn die meisten Menschen hatten bereits vor Jahrhunderten aufgehört, an die Existenz von Elfenwesen – Feen, wie sie sie gemeinhin nannten – zu glauben, aber Mab ging lieber auf Nummer sicher.
Nichtsdestotrotz vermochte Fiona überhaupt nicht einzusehen, inwiefern ihr kleiner Ausflug in die Welt der menschlichen Wesen eine wie auch immer geartete Bedrohung darstellen könnte. Es war ja nicht so, dass irgendeiner der Menschen, denen sie dort begegnen würde, damit rechnete, auf offener Straße einer Fee in die Arme zu laufen, und indem sie ein bisschen Magie anwendete – wofür sie gar nicht einmal tief in das Zauberkästlein der Elfenwesen zu greifen brauchte –, würde sie schon dafür zu sorgen wissen, dass man nichts anderes in ihr sah als eine ganz normale Menschenfrau.
Und selbst ohne Zaubertricks würde ihr Aussehen sie nicht verraten. Sie hatte den Körperbau eines Menschen, trug nur einen Kopf auf den Schultern, hatte zwei Arme, zwei Beine und besaß auch nicht mehr Augen und Nasen und so weiter als für Menschen erforderlich. Zudem befand sie sich mit ihrer Körpergröße von ungefähr einem Meter zweiundsechzig im für Menschenfrauen durchaus akzeptablen Bereich. Ihr schwarzes Haar mochte ein wenig zu lang sein, denn sie trug es bis zu den Hüften wie die meisten Elfen, aber das war nun gewiss nichts, was blankes Entsetzen hätte auslösen können. Und was ihre Haut betraf, die heller war als die der Durchschnittsmenschen, so konnte sie immer behaupten, aus Furcht vor Hautkrebs zu viel Sonne zu vermeiden. Zwar waren Elfen dagegen ohnehin immun, doch sie hatte gelesen, dass die Menschen in ständiger Angst davor lebten. Der Hauptgrund dafür, ihr Aussehen ein wenig den menschlichen Gegebenheiten anpassen zu müssen, lag in dem dezenten magischen Glanz, mit dem die Natur ihr Wesen erfüllt hatte. Dieser innere Glanz ließ ihre Haut mehr an Mondschein erinnern als an helle Pfirsichfarbe, und aus ihren klaren, veilchenblauen Augen strahlte das Glitzern der Sterne. Dies waren die Eigenheiten, die sie zu verraten drohten, doch ihrer Erfahrung nach ließen sich die Menschen ziemlich leicht etwas vormachen, und während sie in seliger Ahnungslosigkeit ihrem täglichen Treiben nachgingen, konnte sie in aller Seelenruhe ein paar Einkäufe erledigen und das eine oder andere Konzert besuchen. Das hatte sie schon bei früheren Gelegenheiten getan und nie Probleme damit bekommen, so dass sie sich auch dieses Mal nicht vorstellen konnte, wo welche auftauchen sollten.
»Und ich sage euch, ich habe kein gutes Gefühl dabei«, mäkelte Babbage, der die friedvolle Stille der Waldlichtung offenbar keine Sekunde länger mehr ertrug. Fiona hatte sich ohnehin schon gewundert, dass er es überhaupt so lange ausgehalten hatte. Ein Elf war nicht gerade für seine Schweigsamkeit bekannt.
»Wenn du dieses Tor durchschreitest, wirst du es bitter bereuen.«
»An allem hast du was zu meckern«, nuschelte Squick, »aber das tut man ja von dir nich anders kennen.«
»Einen Grund, etwas zu bereuen, hätte ich höchstens, falls mir die Königin dahinterkommt«, sagte Fiona.
»Aber das ist kaum anzunehmen, es sein denn, du erzählst meiner Tante etwas davon. Aber das wirst du ja wohl schön bleiben lassen, nicht wahr, Babbage?«
Der Elf reagierte darauf mit verstocktem Schweigen. Zum ersten Mal in seinem Leben hielt er freiwillig den Mund.
Fionas Hand schoss vor, nahm Babbages zartes Gewand zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt sich den Kobold genau vors Gesicht.
»Das wirst du doch, Babbage?«
Er blickte zwischen ihr und dem Tor auf der anderen Seite der Lichtung hin und her und ließ die Flügel sinken.
»Jawohl, Prinzessin Fiona. Ich werde der Königin nichts von deiner Unvorsichtigkeit und deiner törichten Exkursion in verbotene Gefilde erzählen.«
»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du mich nicht ›Prinzessin‹ nennen sollst«, ermahnte sie ihn und entließ das kleine Wesen mit einem Fingerschnipsen.
Von seinem Platz auf ihrer Schulter streckte Squick Babbage die Zunge heraus, als der ein paar Schritte weit durch die Luft geschleudert wurde und ein gekränktes Schniefen von sich gab.
»Du bist aber eine Prinzessin.«
»Gewiss – ebenso wie meine Kusinen. Von meinen zehn Vettern, die sich allesamt Kronprinzen nennen, ganz zu schweigen.«
Sie blickte um den Stamm einer alten Eiche herum, um sicherzugehen, dass sich auf der Lichtung auch nichts rührte. Bloß weil die Furcht vor Entdeckung sie nicht davon abhielt, das bewusste Tor zu durchschreiten, hieß das noch lange nicht, dass sie sich nicht alle Mühe geben würde, gar nicht erst entdeckt zu werden.
»Aber von denen hatte keiner Eltern, die gestorben sind und sie unmittelbar der Obhut der Königin überlassen haben. «
»Willst du es jetzt darauf anlegen, dass ich dich mitnehme, Babbage?«
»Mich kannst du doch mitnehmen tun!«, rief Squick ganz aufgeregt und hüpfte auf Fionas Schulter auf und ab.
Die Wiederholung ihrer Drohung brachte Babbage zum Schweigen, aber trotzdem war’s nun einmal geschehen: Er hatte sie an etwas erinnert, was sie mit aller Macht zu verdrängen versucht hatte, und nun würde dieser Satz für den Rest des Tages wie eine dunkle Wolke über ihr hängen. Dieser verflixte Plagegeist von einem Kobold!
Fiona wusste nur zu gut, dass sich eine unbequeme Wahrheit nicht einfach von selbst erledigte, indem man sie ignorierte, aber das hielt sie nicht davon ab, es dennoch auf diese Weise zu versuchen – jeden Tag aufs Neue. Sie verabscheute das Tun und Treiben bei Hofe, gleich, ob es sich dabei nun um den Hof der Sommerelfen, also den ihrer Tante, oder den der bösartigen Winterelfen handelte, der von Dionnu regiert wurde, Mabs früherem Ehemann und nach wie vor offiziell Fionas Onkel. Bei der Vorstellung, auf den Thron steigen zu müssen, wo doch, so lange sie zurückdenken konnte, zwischen den beiden Höfen bestenfalls so etwas wie eine zerbrechliche Koexistenz geherrscht hatte, bekam sie eine Gänsehaut – was genau der Grund dafür war, dass sie eine kleine Auszeit benötigte. Sie besaß weder die Engelsgeduld noch die Verschlagenheit, die man aufweisen musste, um als Herrscher des Elfenvolkes zu bestehen, und sie hatte auch keinerlei Ambitionen, sich eine dieser beiden Fertigkeiten anzueignen. Ihre Eltern mochten beide Sidhe gewesen sein – die edelsten unter den Feen und Elfen – doch manchmal konnte sie einfach nicht anders, als sich zu wünschen, stattdessen als Kind zweier Trolle oder Gnome oder Kobolde oder Lemuren zur Welt gekommen zu sein – oder sogar als Tochter einer Dryade mit einem Satyr. Jede Art von Fabelwesen unter der Sonne wäre ihr recht gewesen, solange es sich dabei bloß nicht um ein Mitglied eines der beiden herrschaftlichen Höfe handelte. Ja, pflegte sie manchmal zu sinnieren, das Leben als Feenprinzessin konnte ganz schön beschissen sein.
Und gerade weil sie nun auch wieder darüber nachdachte, bestärkte sie das nur in ihrem Entschluss, gegen sämtliche Regeln zu verstoßen und die Gelegenheit zu ergreifen, sich ihre bitter benötigten Urlaubstage zu gönnen. In der Welt der Menschen konnte sie für eine Weile untertauchen, ein Niemand sein. Sie würde nicht weiter auffallen, und nachdem ihr magischer Glanz in der fremden Umgebung weitgehend von ihr gewichen war, würde sie, selbst, wenn sie es darauf anlegte, kaum imstande sein, viel Aufsehen zu erregen. Es klang alles perfekt.
Sie blickte sich ein letztes Mal sorgfältig um, setzte Squick neben sich auf den Boden, schulterte dann ihre kleine Reisetasche und winkte dem Elfen und dem Kobold zum Abschied fröhlich zu.
»Macht’s gut, meine kleinen Freunde«, rief sie und eilte auf das schimmernde Tor der Anderwelt zu, hinter dem die unkomplizierte, überschaubare Welt der Menschen sie erwartete.
Tobias Walker hatte seit mindestens drei Monaten keinen Sex mehr gehabt. Er wusste nur zu gut, dass man das kaum als Notfall bezeichnen konnte, aber er empfand es dennoch als symptomatisch für sein gesamtes derzeitiges Leben. Nicht nur, dass er während der ganzen Zeit keinen Sex gehabt hatte – was bei einem unvermählten Werwolf in der Blüte seiner Jugend durchaus kein Grund sein musste, sich Sorgen zu machen –, aber er war in diesem Zeitraum außerdem nicht ein einziges Mal verabredet gewesen, hatte nicht eine einzige Nacht durchgemacht, nicht ein einziges Baseballspiel von Anfang bis zum Ende verfolgt oder einen Tag blaugemacht. Konnte es da verwundern, dass seine Stimmung sich von Minute zu Minute verschlechterte, während er um drei Uhr morgens seine Patrouillenrunde im Park machte?
Rein dienstplanmäßig war dies noch nicht einmal seine Runde, was nur noch zusätzlich zu seiner miesen Laune beitrug. Als Beta-Tier des Silverback-Clans – somit unterstand er in der Rangfolge lediglich dem Rudelführer, dem Alpha-Tier – war Walker zum Anführer der vorwiegend aus Wölfen bestehenden polizeilichen Sicherheitstruppe von Manhattan ernannt worden, was bedeutete, dass es ihm oblag, die Schichten einzuteilen und damit auch dafür zu sorgen, dass er selbst gelegentlich mal einen freien Tag bekam – theoretisch zumindest. An diesem Abend hätten ihm nach einer doppelten Nachtschicht in seinem eigentlichen Revier, dem Central Park, fünf Stunden Durchschlafen – geradezu dekadent! – vergönnt sein sollen, doch das Rudelmitglied, das für die heutige Nachtschicht hier oben im Inwood Hill Park eingeteilt gewesen war, war zu Walkers Pech urplötzlich trächtig geworden, so dass ihr Lebenspartner sich strikt geweigert hatte, sie aus dem Haus zu lassen.
Das stieß bei Walker durchaus nicht auf Unverständnis; seine eigenen wölfischen Instinkte hätten ihn ähnlich reagieren lassen, wenn er eine Partnerin gehabt hätte. Es musste irgendwie mit dem Y-Chromosom zusammenhängen, dass Wölfe sich in rasende Urtiere verwandelten, wenn es um die Unversehrtheit ihrer Partner ging – aber Walker war eben noch ein Single. Was blieb ihm also, um sich damit die Nacht um die Ohren zu schlagen? Eine ganze Stadt, die er zu überwachen hatte – und das im Rahmen eines Polizeiaufgebots, dessen Personaldecke eigentlich viel zu dünn war, um einer solchen Aufgabe gewachsen zu sein.
Er knurrte und vergrub die Hände in den Taschen, während er durch den Park stapfte und mit seinem scharfen Blick unablässig die Umgebung nach etwas Auffälligem absuchte.
Man sollte glauben, dass das mittlerweile für ihn zur Gewohnheit geworden war. Seit sechs Monaten ging das nun schon so, seit nämlich der Hohe Rat der Anderen gemeinsam mit seinen über den gesamten Erdball verteilten Partnerorganisationen in geheime Verhandlungen mit den Menschen getreten war. Die Brisanz dieser Gespräche erforderte eine – wenn auch noch so gezwungene – Atmosphäre des gegenseitigen Wohlwollens, falls die Verhandlungspartner zu einem Konsens gelangen wollten, mit dem verhindert werden konnte, dass auf einer der beiden Seiten Blut floss. Doch wenn sich Vampire und Gestaltverwandler als Vertreter der Anderen auf der einen Seite mit politischen Repräsentanten der Menschen auf der anderen zu Gesprächen trafen, konnte nur allzu leicht Blutvergießen dabei herauskommen, sinnierte Walker – so sehr er und die Seinen sich auch bemühten, dies abzubiegen.
Von dem Ausgang dieser Verhandlungen hing die Zukunft ab – nicht nur für die Anderen, die endlich den ersten Schritt unternommen hatten, um ihr ewiges Versteckspiel zu beenden, sondern auch für die Menschen, die nun die Erkenntnis verdauen mussten, dass viele der Wesen, die sie in ihrem Wunsch, sich in Sicherheit zu wähnen, kurzerhand dem Reich der Fantasie zugeordnet hatten, in Wirklichkeit mitten unter ihnen existierten. Das bedeutete, dass die Menschen nun gefordert waren, ihre jahrhundertealten Urängste mitsamt ihrem Aberglauben endgültig über Bord zu werfen und jenen Wesen, die viele von ihnen nach wie vor als Ungeheuer betrachteten, die gleichen Rechte einzuräumen, die sie auch für sich selbst beanspruchten. Daher schien es paradoxerweise für die Anderen durchaus angeraten, ihre eigenen Sicherheitsvorkehrungen ein wenig zu forcieren, damit dafür Sorge getragen war, dass niemand von ihnen aus der Reihe tanzte und irgendetwas anstellte, womit er den Menschen Angst einjagte, wodurch sich diese auf den Plan gerufen fühlen konnten, zu einem erneuten Kreuzzug gegen ihre vermeintlichen Widersacher zu blasen.
Das Ratskonzil der Anderen hatte den Silverback-Clan damit beauftragt, dafür zu sorgen, dass sämtliche Anderen sich botmäßig verhielten und ja nichts anstellten, was die Menschen dazu veranlassen könnte, die Verhandlungen mit ihnen abzubrechen. Da Walker das Beta-Tier seines Rudels und hauptberuflich Chef der Wachmannschaft des größten ausschließlich von Anderen frequentierten Privatclubs diesseits des Ozeans war, schien er wie prädestiniert dafür, die Arbeit des Sicherheitsdezernates zu koordinieren, und das war auch der Grund dafür, dass er nun seine dritte Schicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden absolvierte, anstatt zu Hause in die Federn zu kriechen.
Während er an einer Weggabelung den in nördliche Richtung führenden Pfad wählte, ließ Walker im Geiste noch einmal all die Veränderungen, die im Verlaufe der vergangenen Monate mit ihm und den Seinen vorgegangen waren, Revue passieren. Keiner der Anderen war so recht auf diese neuen Gegebenheiten vorbereitet gewesen. Gewiss war in ihren Kreisen bereits während des zurückliegenden Jahrhunderts gelegentlich darüber spekuliert worden, ob man sich eines Tages nicht doch der Menschheit offenbaren sollte, doch hatte es sich dabei mehr um eine theoretische Diskussion, eher um eine etwas müßige Erwägung zukünftiger Möglichkeiten im Sinne von »was wäre, wenn« gehandelt. Jedenfalls hatte diese Debatte nicht den Schock verhindern können, der alle traf, als bekannt wurde, dass eine fanatische Sekte, die sich »Das Licht der Wahrheit« nannte, genügend Beweise für die Existenz der Anderen gesammelt hatte, um diese an die Öffentlichkeit zu zerren, gleich, ob die Anderen darauf nun vorbereitet waren oder nicht, womit den Betroffenen die Entscheidung darüber, ob man von sich aus die Initiative ergreifen und sich den Menschen offenbaren sollte, aus den Händen genommen war.
Besagte Erkenntnis hatte jedenfalls den Hohen Rat der Anderen zu der Überzeugung geführt, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, die ersten Schritte zu unternehmen, damit man eines Tages seinen Platz in der von Menschen dominierten Welt beanspruchen konnte. Die Verhandlungen, die nunmehr im Gange waren, stellten das Resultat dieser Einsicht dar, und sie verliefen unter strenger Geheimhaltung, weil selbst die größten Optimisten unter den Mitgliedern des Ratskonzils sich denken konnten, dass es alles andere als ratsam war, sich den Menschen Knall auf Fall zu offenbaren, ohne sich vorher von Seiten ihrer Herrschenden der Zusage versichert zu haben, dass man die Rechte der nicht-menschlichen Wesen zu respektieren gedachte. Man wollte diesen entscheidenden Schritt zwar mit Zuversicht angehen, doch nicht in blindem Vertrauen.
Und so trafen die Anderen gewisse Vorkehrungen, indem sie etwa dafür sorgten, dass keiner von ihnen eine Dummheit machte – etwa einen Menschen attackierte. Man ging sogar so weit, sich nicht auf zehn Schritte an jeglichen Vertreter der menschlichen Rasse heranzuwagen, der tot, verwundet oder in sonst irgendeiner Weise angeschlagen war. Das Letzte, was man jetzt gebrauchen konnte, war ein Abbruch der Verhandlungen von Seiten der Menschen, und Walker durfte sich in der Gewissheit sonnen, dass er nicht nur persönlich sein Bestes tat, um dies zu verhindern, sondern auch dafür sorgte, dass sich mindestens drei seiner Untergebenen in diesem Augenblick ebenfalls tüchtig ins Zeug legten.
Glücklicherweise blieb alles einigermaßen ruhig – so ruhig sogar, dass Patrouillengänge rund um die Uhr wahrscheinlich gar nicht unbedingt notwendig waren, aber man konnte ja nie wissen, wann das Unglück, dem man aus dem Wege gehen wollte, schlief und wann es zuzuschlagen trachtete.
Oder wann jemand Zeter und Mordio schrie.
Noch ehe das Kreischen einer weiblichen Stimme verhallt war, hatte Walker schon blitzschnell eruiert, woher der Schrei kam, auf der Stelle kehrtgemacht und war in die entsprechende Richtung losgewetzt, wobei er wie ein fliehender Schatten zwischen den Bäumen hindurchsprintete und die Flüche, die er dabei ausstieß, als verklingende Wortfetzen hinter ihm herflogen.